Ich sage Hallo und dann NICHTS - Lilly Axster - E-Book

Ich sage Hallo und dann NICHTS E-Book

Lilly Axster

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Beschreibung

Nichts trifft Viel Jecinta, 15, unauffällig, angepasst, kein Alleinstellungsmerkmal, das mittlere Kind, Eltern aus zwei Kontinenten, Afrobeat und Deutschrap, weder glücklich noch unglücklich, Kleidung am liebsten unisex, keine Klimaaktivistin aber gegen Plastikflaschen, kurz: ein einziges Dazwischen. So kann das nicht weitergehen. Wenn sich schon nichts im Leben tut, dann gleich ordentlich nichts. So lautet der Entschluss, selbst der Name muss dran glauben, wird zu einem Buchstaben verkürzt. J., englisch Jay also. Als Nichts tut sich auch nicht viel mehr im Leben, bis auf ein paar anstrengende Gespräche mit Eltern und Lehrenden. Aber mit einer knallgelben Jacke und einer Person darin, die seit Kurzem in der Klasse ist, ändert sich alles: Leo, kurz für Leonie. Eine Person, die überallhin zu passen scheint, die bestimmte Fragen stellt und andere nicht, die in der einen Situation erschrickt und in einer ähnlichen ein anderes Mal nicht. Eine Person, die Vieles in sich zu vereinen scheint – und dies auch tatsächlich tut, in einer WG lebt, Betreuer:innen hat, so einiges schon erlebt und überlebt hat. Ein Nichts trifft also auf ein Viel. Währenddessen zerbröselt zuhause ein für immer fix geglaubtes Gefüge – Trennung der Eltern, die ältere Schwester verkrümelt sich, der jüngere Bruder versucht auf seine Art, damit klarzukommen. Aus Nichts wird also Viel. Ein intensiver Jugendroman über Identität, Gemeinschaft, Familienfragen, Freundschaft und Liebe. Stell dir vor, du holst die Sterne vom Himmel und dann weißt du nicht, was du mit ihnen machen sollst

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2023

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlagbild: Louis Hofbauer

Grafische Gestaltung und Satz: Nele Steinborn, Wien

Schrift: Aldus nova, Providence, Realist

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-4153-7 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-4160-5 (E-Book)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Social Media: Tyrolia Verlag Kinderbuch

Lilly Axster

Ich sageHallo und dannNICHTS

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Eins

»Ich hab nichts für Pürat«, jammert Cliff. Ma verspricht, den besten Faschingspiraten aus ihm zu machen, im Übrigen heiße es Pirat. Kim fragt, ob sie das Auto ausborgen könne am Wochenende. Ma nickt.

Ich würde auch gerne das Auto ausborgen, aber ich habe nichts vor. Also brauche ich weder ein Auto, noch könnte ich überhaupt fahren, und auf ein Faschingsfest gehe ich erst recht nicht. Ich wüsste nicht, als was ich mich verkleiden soll. Mein letztes Faschingsfest war eine Kinderparty, da war ich sieben. Ich sitze also einfach da, ein Teil dieser Familie.

»Und: Was bringt euer Tag?«, fragt Ma.

Ich würde gerne interessante Dinge sagen, schon am Frühstückstisch, aber mir fällt nichts ein. Allen hier fällt nichts ein.

»Gib mir doch die Marmelade«, murmelt Kim. An ihrem Kinn ist ein Krümel hängen geblieben. Ich warte, dass er hinunterfällt. Aber er fällt und fällt nicht.

»Starr mich nicht so an«, sagt sie. Ich schaue in die andere Richtung. Später ist der Krümel weg.

Dann streicht Ma mir über die Haare. Wahrscheinlich, damit ich auch vorkomme, zwischen Fasching und Auto, kleinem Bruder und großer Schwester. Würden die beiden nicht links und rechts von mir sitzen, könnte ich es genießen. Aber so, vor Publikum, nicht. Endlich zieht Ma die Hand wieder zurück.

Jeden Morgen unter der Woche Frühstück zu viert, immer um dieselbe Zeit. Zitronentee, Müsli, Toast mit Marmelade oder Ei, manchmal Ugali. Mein Vater ist selten dabei. Er startet entweder früher als alle oder deutlich später.

›Jetzt geht es dann los bei dir‹ sagt Kim mindestens ein Mal pro Woche. Sie hat damit angefangen, als ich dreizehn geworden bin. Wenn ich wissen will, was genau losgeht, gibt sie keine weitere Auskunft. Typisch große Schwester, volljährig, als wenn das ihr Verdienst wäre. Da aber nichts losgeht, seit ich dreizehn bin, seit ich vierzehn bin, bin ich wohl kein richtiger Teenager.

›Kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen‹ sagen meine Eltern. Sie würdigen meinen ›Zwischenzustand‹, wie sie es nennen, mit Sätzen wie ›Medium ist die Krönung‹, obwohl sie nicht viel Fleisch, schon gar nicht Steaks essen. Nach rare und medium käme jedenfalls well done, also alles bestens.

Sie und ihre vielen Bekannten und unsere Verwandten finden, ich sei so wie mein Name – offen, unkompliziert und immer ein Ja im Rücken: Jecinta, J_ecint_a, J_a. Ich fühle mich eher wie das Dazwischen, -ecint-, jedenfalls kein J_a, kein Nein, maximal ein Vielleicht. Aber die Erwachsenen schütteln den Kopf und sagen Sachen wie ›Keine falsche Bescheidenheit‹ oder ›Um dich muss man sich keine Sorgen machen.‹

Das genau ist mein Problem. Ich biete keinerlei Anlass zur Sorge. Nicht einmal schlechte Noten. Oder besonders gute, sodass alle darüber nachdenken müssten, ob ich hochbegabt bin und mit fast fünfzehn schon auf die Uni gehen oder ein Start-up gründen sollte. Keine einzige Katastrophe. Oder ein Rekord in irgendetwas. Immer einfach nur dazwischen.

Zwei

Im Bus auf dem Weg zur Schule liest Zineb aus einer retro Zeitschrift vor, unser Bus-Ritual, so ein royal celebrity Heft. Alle in dieser Zeitschrift haben ein besonderes Leben, geheim gehaltene Kinder, Geliebte an jedem Finger oder jedenfalls Probleme beim Sex. Wir können nicht einmal das Wort aussprechen, ohne rot zu werden. Geschweige denn, dass Zineb oder ich Probleme beim Sex hätten. Wie denn, mit wem denn.

Zineb identifiziert sich immer abwechselnd mit denen, die sich vor lauter Tragik von allen Brücken dieser Welt stürzen wollen, und mit jenen, die so verliebt und glücklich sind, dass sie vergessen, zu frühstücken und aufs Klo zu gehen. Ich zähle mich weder da noch dort dazu.

Eine Doppelseite mit süßen Hundefotos irgendwelcher Zweite-Reihe-Promis nimmt Zineb als willkommenen Anlass, um von ihrer Hündin Mimmi zu erzählen und deren verletzter Pfote, die gestern auch schon verletzt war, aber seit gestern hat sie sich entzündet und das Ganze ist ein Wahnsinn.

»Es ist passiert, als Mimmi meine Tante gesehen hat, sie ist übergeschnappt vor Freude und herumgerannt und dabei in den Karton mit dem Altglas getapst, völlig drüber, und Schnitt in der Pfote, alle Freude dahin, wir sind gerannt, um Verbandszeug zu holen, aber auf Fell hält ja kein Pflaster, überall Blut. Dann ist meine Tante in Ohnmacht gefallen, lag in Mimmis Blut, du kannst dir das nicht vorstellen, ein absoluter Albtraum. Dabei war sie – also Mimmi – gerade erst wieder gesund. Unser Nachbar hatte sie getreten, habe ich dir doch erzählt oder habe ich das nicht erzählt, einfach so, ohne dass sie etwas getan hätte, an den Zaun gepinkelt höchstens, und der tritt zu. Dann hat er sich noch beschwert – über ›Kimmi‹ – er kann sich nicht merken, dass sie Mimmi heißt, ruft sie extra an den Zaun und tritt dann zu. Ihre Rippe war schwer geprellt, hat die Tierärztin festgestellt, dann, endlich wieder alles in Ordnung, passiert die Sache mit der Scherbe …«

Der Bus hält. Schule. Fast alle steigen aus und trotten den Schulhof hinauf, der von der Straße bis zu den großen Eingangstüren ziemlich ansteigt. Alle Bänke auf dem Hof haben verschieden lange Beine, damit sie auf der Schräge gerade stehen.

Geografie plätschert dahin, als Victoria, die schräg hinter Zineb sitzt, unvermittelt laut in die Klasse sagt: »Zineb liest ein Pornoheft, ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt.«

Einige lachen.

»Hahaha, royal porn«, motzt Zineb und hält die Illustrierte hoch, »oder was meinst du genau?« Dann legt sie los und beschreibt umfassend die aktuellen Dramen an diversen Königshäusern. Je mehr sie redet, desto mehr Stöhngeräusche und einschlägige Beckenbewegungen kommen von einigen aus der Klasse. Zineb schaut zu mir herüber. Als ob ich das stoppen könnte. Außerdem weiß ich nicht, was mir peinlicher ist, Zinebs öffentliche Klatsch- und Tratscheinlage oder die feixenden Anderen.

»Brauchst du eine Vorlage?«, legt Victoria nach.

»Sag was«, fordert Zineb mich auf.

Wenn ich nur wüsste, was.

Jemand grunzt.

»Jecinta weiß, dass ich diese Berühmte-Leute-Hefte immer von der Nachbarin bekomme, wenn sie sie ausgelesen hat.« Niemand hört diesen Satz. Er geht im allgemeinen Lärmpegel unter.

Die Lehrerin wartet, bis Victoria und die anderen sich wieder einkriegen, und fordert uns auf, einen Zeitungsartikel aus den späten 1960er Jahren zusammenzufassen. Chan faselt etwas von Leuten, die sich damals an allen möglichen Orten der Welt angekettet haben, quasi der Klebe-Aktivismus des letzten Jahrhunderts. Niemand achtet mehr auf Zineb und ihre Illustrierte.

Endlich ist die Stunde aus, große Pause. Zineb packt ihren Rucksack und ist im Nu draußen auf dem Gang.

»Warte auf mich!«

Sie denkt nicht daran zu warten und ist im allgemeinen Pausengewühl auf und davon.

hey zineb, sorry wegen vorhin. echt, ich wollte etwas sagen, aber alles ging so schnell, victoria – du – victoria – du – und ich dazwischen, wie käse zwischen toastscheiben, zerschmolzen und ganz labbrig

Keine Antwort.

Um nicht einfach mit dem Telefon in der Hand auf dem Gang herumzustehen und auf eine Nachricht von Zineb zu warten, verziehe ich mich ins Erdgeschoss in eine Ecke der Aula und erstelle eine neue Liste:

Wieso meinen Eltern immer Essen einfällt, wenn sie etwas Persönliches sagen wollen, weiß ich nicht.

Dann doch eine Antwort von Zineb:

auf welcher seite stehst du: victoria oder ich???

Kein Emoji, nicht einmal ein unzufriedener Hund.

Noch immer ist große Pause. Während ich die Treppen wieder hinauf in den dritten Stock gehe, starte ich drei Anläufe, um Zineb zu schreiben, aber ich lösche alles gleich wieder.

Auf dem Gang vor unserer Klasse lehnt Victoria an einem der Tische. Um sie herum Remi, Chan, Zineb und noch ein paar andere. Die Neue steht etwas entfernt an die Wand gelehnt. Gelbe Windjacke, extrem gelb, sie trägt sie auch in der Klasse, zieht sie nie aus. Jetzt schon die ganze Woche. Also seit sie aufgetaucht ist. Sie sieht aus, als wäre sie selbst ein Stück Wand, als stünde sie immer schon dort.

»Kopf oder Zahl?«, fragt Victoria.

Zineb und einige andere sagen »Zahl«, Chan und Remi »Kopf«. Remi schaut zu mir: »Kopf oder Zahl?« Bevor ich entscheiden kann, hat Victoria die Münze geworfen. Alle, die auf Zahl gesetzt haben, zücken ihre Handys und treffen sich – ich weiß nicht wo. Habe ja den Anfang dieser Pausenversammlung verpasst. Jedenfalls schreiben sie alle gleichzeitig.

Die gelbe Jacke ist weg. Zineb ist vertieft in den Chat, sie sieht mich nicht oder will mich nicht sehen. Wo steht sie? Wo stehe ich? Was soll das jetzt? Ich will solche Spielchen nicht. Weil ich nicht weiß, wohin mit mir, gehe ich schon ins Klassenzimmer. Bin die erste. Am liebsten würde ich mich kurz wegbeamen.

ENTSCHLUSS

Ab heute bin ich NICHTS.

Wenn schon ewiges Mittelfeld, weder Kopf noch Zahl, keine beste Freundin, keine größte Feindin, kein Teil vom ›Pausenclub‹, dann wirklich NICHTS.

Ich will nirgends mehr dazugehören. Ich tu nichts mehr von dem, was alle tun: chatten, posten, liken, Fotos verschicken, sich für das eine oder das andere Geschlecht interessieren. NICHTS pfeift auf ›jetzt gehts dann los‹, NICHTS ist kein heißer Scheiß.

Ich brauche das alles nicht. Ich spiele nicht mehr mit.

Entschluss fertig.

Es fühlt sich gut an.

Nach und nach kommen meine Mitschüler:innen herein. Ich schaue zu, wie sie sich setzen. Ich sehe sie mit einem neuen Blick. Sie wissen nichts von meinem Entschluss. NICHTS steht für sich. Ich merke, dass ich lächle, vor mich hin lächle. Ich werde nicht mehr tragen, was sie alle tragen, keine angesagte Marke, keine Jeans, keine Crop-Tops, keine Sneakers. Ich bin anders. Aus Jecinta mache ich J. Bei nur einem Buchstaben gibt es kein Dazwischen. Und kein J_a im Rücken, wie die Erwachsenen das so gerne hätten. Nein. Nur ein Buchstabe, J.

Drei

»Ich bin weder dein Postschalter noch ein Altpapiercontainer«, beschwert sich Ma, während sie alte Zeitungen in eine Schachtel packt, »staple deine leeren Kleiderversandschachteln meinetwegen in deinem Zimmer bis unter die Decke, aber nicht hier im Flur.«

Kommentare von Erziehungsberechtigten zum Thema Kleidung sind das Überflüssigste, das es gibt. Habe noch kein einziges Tutorial zum Problemfeld Paketlieferungen und Vorgesetzte – also Eltern – gefunden.

»Dann hättest du jetzt nichts, um die Zeitungen runterzutransportieren«, sage ich und schnappe mir den neu gelieferten Karton.

»Ich transportiere gar nichts hinunter, Jecinta, ich versuche nur, nicht auf einem Müllhaufen zu leben. Das ist sowieso ein Unding, der ganze Aufwand an Postwegen, wenn du das halbe Zeug immer zurückschickst. Könnt ihr nicht einfach in ein Geschäft gehen, Sachen anprobieren und kaufen oder nicht kaufen?«

»Im Geschäft gibt es diese Auswahl nicht. Erstens. Zweitens sind im Geschäft zu viele Leute. Im Geschäft kann man nicht tagelang überlegen, ob die Sachen die richtigen sind. Das war Drittens.«

So viele Schachteln sind es außerdem nicht und wieso mischt Ma sich überhaupt ein. Und: Was kann ich dafür, dass die Pakete meistens am Vormittag geliefert werden. Soll ich sie vielleicht in die Schule liefern lassen?

Ich schiebe die neue Schachtel demonstrativ langsam, abwechselnd mit dem linken und dem rechten Fuß durch den Flur in mein Zimmer. Ich schließe die Tür, dann öffne ich sorgfältig jede zugeklebte Stelle, lege den Kartondeckel zur Seite und und ziehe eine Jeans und einen neongrünen Gürtel aus der Schachtel. Levis statt Replay! Wer trägt Levis?!

Ich trage sowieso keine Jeans mehr. Diese Bestellung ist noch aus der Zeit vor meinem Entschluss. Ganz kurz schlüpfe ich in die Hose hinein, quasi aus Gewohnheit, nur mal schauen, fädle den Gürtel ein, öffne die Zimmertür, die Bahn ist frei. Den Weg ins Bad zum großen Spiegel lege ich mit abwechselnd kleinen und großen Schritten, Grätschen und Sprüngen zurück. Die Jeans dehnt und spannt nicht, wie sie soll. War ja klar. Kann sie auch nicht. Ist ja die falsche. Will ich sowieso nicht. Ich ziehe sie wieder aus, packe sie und den Gürtel zurück in die Box.

Mein Entschluss steht fest. Ich ziehe nur noch nichts an. Nichts im Sinn von keine Marke, kein Label, keine Lieblingssachen, keine meine Sachen, einfach Sachen. Ich mache mein eigenes Ding, ehrlich nichts, nada, nothing, keine Pakete mehr, Ma wird nichts mehr zu meckern haben, kein Altpapier, keine Pappschachteln.

Ich gehe zu meinem Kleiderschrank, nehme den ganzen Stapel Jeans und lege ihn auf die Rücksendebox. Die T-Shirts, Pullis und Printmuster-Sachen türme ich auf die Jeans obendrauf. Nur Unterwäsche, Socken, Schwimmzeug und Pyjamas bleiben im Schrank. Dann Schuhe anziehen, den Hausschlüssel vom Schreibtisch fischen, die Kiste nehmen und los.

Wegen des Kleiderbergs vor der Nase sehe ich nichts, aber die Füße kennen das Treppenhaus im Schlaf. Die Haustür steht offen, Bahn frei für den Weg zum Altkleidercontainer. Dort angekommen, halte ich einen kurzen Moment lang inne. Wieder zurückgehen? So tun, als wäre nichts gewesen? Meine Sachen zurück in den Schrank räumen? Selbst die Levis wieder mit nach Hause nehmen?

Nichts da.

Ich schaue mich um. Niemand in der Nähe. Ich schiebe den Runddeckel nach oben. Der Container ist ziemlich voll, ich greife zu, ein Teil, noch ein Teil, noch eins. Nach fünfzehn Teilen, die miteinander keinen Sinn machen, habe ich genug. Ich lege sie auf einem Mauervorsprung ab. Dann werfe ich meine mitgebrachten Jeans, Shirts und Hoodies in den Container. Ein paar Mal muss ich den Deckel rauf- und runterbewegen, die Jeans zusammendrücken, noch einmal schieben und dann ist endlich alles drin. Ich schnappe meine neuen alten Sachen vom Mauervorsprung und gehe noch beim Paketshop vorbei, die Levis-Retour-Sendung abgeben.

Zu Hause lese ich nochmal Zinebs Nachricht: … auf welcher seite stehst du … Das könnte ich genauso fragen! Ich gebe mir einen Ruck und schreibe: auf deiner. Ich warte. Keine Reaktion. Wenigstens einen winkenden Hund oder ein zufrieden mampfendes Einhorn könnte sie schicken, sogar irgendetwas von Mimmi schreiben, Details über die verletzte Pfote und was Mimmi gefressen und wen sie angebellt hat. Und was Zineb ohne Mimmi täte und umgekehrt.

Genug gewartet. Ich deaktiviere alle Messenger-Apps auf meinem Telefon. Wenn schon NICHTS, dann richtig. Bin nur noch per SMS zu erreichen. Klingt wie aus dem vorvorigen Jahrhundert, wahrscheinlich weiß niemand mehr, wie simsen geht. Aber so könnte Zineb mir doch noch irgendwann heute, Freitag, oder in diesem Leben etwas schreiben. Wenn sie es probiert und merkt, dass ich nicht online bin und nirgends mehr erreichbar. Dann könnte sie eine SMS schreiben. Ein Smiley schicken.

Ich mache einen ersten Test mit Remi. Er hat mich immerhin gefragt ›Kopf oder Zahl?‹ Er antwortet immer. Aber SMS? Egal. Ich versuche es:

was war dein pizzastückrekord? sonstige rekorde? wie viele stofftiere hast du (ohne mogeln)? wie viele nachrichten pro tag kriegst du? wie wichtig ist dir mode (0 – 10)? zwischen nichts und alles: wo stehst du (0 – 10)?

Wie lange er wohl braucht, um seine Stofftiere zu zählen? Es piepst:

11

zu wenig

28

keine

2,7

keine angabe

aber: reihenfolge der antworten entspricht nicht der reihenfolge der fragen. ehrlich – remi

Ich schicke ein paar Smileys zurück.

Und schreibe noch eine SMS. An Zineb:

es war einmal ein nachbar, der die hündin hinterm zaun immer ›kimmi‹ statt ›mimmi‹ nannte. eines tages rief er wieder ›kimmi!‹, aber es klang wie ›kill me!‹ die wuschelige hündin mit den treuen augen kam angelaufen und biss den nachbarn tot

Abschicken? Löschen?

Speichern!

Hallo, ich möchte mich kurz vorstellen. Ich bin neu hier. Seit dieser Woche. Ich weiß nicht, ob die anderen mich so anschauen wegen der gelben Jacke oder ob ich mir die Blicke sowieso einbilde.

Am liebsten würde ich in mich selbst hineinkriechen und eine andere Stimme aus meinem Inneren vorschieben, irgendeine souveräne Stimme, die sagt: Was immer ihr seht oder über mich denkt: Ich bin jetzt hier und basta.

Vier

Der 1. Tag als J.

Am Montag nach diesem Freitag und meinem Entschluss fragt niemand nach meinem Sweatshirt, auf dem riesengroß Wrangler steht. Erste Mutprobe bestanden. Wrangler. Nicht mal Levis. Oder Replay. Sowieso nicht Diesel. Viel zu teuer, gibt niemand weg.

Die anderen fragen auch nicht nach, wieso ich so eine altmodische Wollhose trage. Während alle vor Beginn der ersten Stunde noch herumstehen, muss ich die Hose – das Markenschild ist herausgetrennt – immer wieder hinaufziehen. Das passiert mir sonst nie, dass eine Hose zu weit ist. Eine ungewohnte Bewegung, links und rechts den Hosenbund greifen und raufziehen.

Später, als ich das Sweatshirt während der Stunde ausziehe, weil mir heiß ist, kommt eine gemusterte Bluse zum Vorschein, mit großen Knöpfen. Auch dieses weitere Kleidungs-Nichts scheint nicht aufzufallen.

Zineb hätte sicher einen Kommentar dazu abgegeben, aber sie ist nicht da, keine gemeinsame Busfahrt heute, wahrscheinlich ist irgendwas mit Mimmi. Remi ist mit der Mathearbeit beschäftigt, deren Ergebnis er für ungerechtfertigt hält. Chan schläft oder hat jedenfalls die Augen zu. Victoria nimmt sowieso von nichts Notiz, das mit mir zu tun hat.

100% Zufallskleidung

Drüberstehen

Freiheit

Kein Druck

No jeans

No label

j_a nein

Nicht auf Z warten

Nie mehr (?) Hausaufgaben machen

Nichts Besonderes mehr mögen (Pommes????)

Ich speichere die Liste unter NICHTS.

In Biologie taucht Zineb endlich auf, mit einer Bescheinigung von der Tierklinik. »Ich bin so erleichtert, Mimmi ist okay«, teilt Zineb dem Biolehrer mit, laut, dass alle es hören.

Ich freue mich. Für Zineb. Für Mimmi. Überhaupt.

Kann NICHTS sich eigentlich freuen?

Die Klasse wird in zwei Gruppen geteilt, Mädchen und Jungs. Ich mache nicht mit. Auf die Nachfrage des Lehrers, was mit mir sei, erkläre ich, dass ich weder in die Mädchen-, noch in die Jungengruppe gehe, weil ich mich weder noch zugehörig fühle. Ich höre mich das sagen, als sei es schon immer so gewesen. Es klingt gut. Meine Stimme ist einigermaßen laut und fest. Alle schauen mich an, glaube ich. Mein Herz klopft vor lauter Neu, vor lauter Nein und NICHTS, das schon, aber ich habe alles im Griff.

»Aha«, meint der Lehrer, aber zu einer Gruppe müsse ich gehen, es sei ihm auch recht, wenn ich lieber bei den Jungs mitmachen wolle. Ich schüttle den Kopf. Niemand macht einen blöden Kommentar. Er erklärt die Aufgabe und bittet die anderen, sich an die Arbeit zu machen. Ich entschuldige mich kurz, gehe aufs WC, um Zeit zu gewinnen.

Als ich zurückkomme, wartet der Biolehrer vor der Klassentür auf mich. »Was genau ist dein Problem, Jecinta?«

»Ich bin Jay, das muss reichen, ansonsten bin ich nichts von beidem oder nichts von einer anderen Kategorie, also geschlechtermäßig, gender, meine ich, jedenfalls nicht das eine oder andere und auch nicht unisex, sondern einfach nichts. Kümmern Sie sich nicht um mich.«

»Doch, ich kümmere mich sehr wohl um dich, ich muss mich kümmern, ich bin dein Biolehrer. Und wer oder was ist Jay?«

Was soll man da machen. Ich schaue neutral, ohne noch etwas zu sagen. Er erzählt mir von trans*, inter* und nicht-binären Jugendlichen. Das weiß ich doch alles. Er legt mir nahe, mit meinen Eltern zu reden. Oder mit einer Vertrauensperson. Ich will aber nicht. Es gibt nichts zu sagen. Ich könne auch jetzt zur Schulsozialarbeiterin gehen. Oder mit wem immer ich reden wolle. Nur eines könne ich nicht tun: Nichts. Schon gar nicht auf Dauer.

Wenn der wüsste, dass das genau das ist, was ich tue und fortan tun werde: Nichts.

Zineb kommt hinaus auf den Gang und fragt, wo ich bleibe. Das ganze Wochenende hat sie sich nicht gemeldet. Jetzt lasse ich sie noch ein bisschen zappeln und reagiere einfach nicht.

Sie geht wieder in die Klasse zurück.

Mit Zineb und mir ist das so eine Sache. Wenn Zineb sauer ist, gibt es kein Pardon. Das sieht dann so aus: Ich stehe am Ende vom Hof an der Straße und warte auf sie, um gemeinsam den Bus zu nehmen. Alle möglichen Leute kommen vorbei, auf dem Weg nach Hause. In Grüppchen. Klar. Ich kann diese Grüppchen nicht ausstehen. Alle sind Teil von einem Grüppchen. Nur ja nicht allein auf dem Hof stehen. Lächerlich. Ich will kein Grüppchen.

Irgendwann kommt auch Zineb aus der Schule auf den Hof. Sie wird überholt von Remi und Chan. Die beiden winken mir zu. Das geht, ist kein Grüppchen, ist okay. Nett. Normal. Ich winke zurück. Klar.

Zineb sieht mich. Übersieht mich absichtlich. Biegt an der Straße links ab. Obwohl sie nach rechts müsste. Wo ich stehe. Sie winkt nicht, ruft nicht. Als wäre ich nicht da. Als wüsste sie nicht, dass ich auf sie warte, dass hier der Bus fährt. Als wäre sie wer weiß was Besonderes. So ist Zineb. Ich laufe ihr nicht hinterher, sicher nicht.

Damit ich nicht so übrig geblieben aussehe, tu ich so, als wartete ich auf jemand anders. Obwohl alle schon weg sind. Egal. Ich stehe unten an der Straße und schaue nach links, nach rechts, nach links, nach rechts. Eigentlich komplett umsonst, weil a) sowieso niemand mehr da ist und b) ich auf niemand warte und c) ich Jay, ein Buchstabe, bin. Also.

Den Hof hinunter kommt die gelbe Windjacke. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sie noch nicht vorbeigekommen war. ›Ich bin Leo.‹ So hat sie sich in der Klasse vorgestellt. Eigentlich heißt sie Leonie.

Sie stellt sich neben mich, grußlos. Übernimmt meine Blicke nach links, nach rechts, links, rechts. »Wartest du auf jemanden?«, fragt sie plötzlich nach einer gefühlten Ewigkeit und mit einer Stimme, die nicht zu ihrem Äußeren passt. Dabei fällt mir auf, dass ich mich an ihre Stimme gar nicht erinnern kann, so wenig, wie sie im Unterricht sagt. Ohne sie anzuschauen, antworte ich: »Ich warte auf nichts.«

»Langweilig«, sagt sie, den Blick unverändert auf die Straße gerichtet.

Jetzt schaue ich hinüber zu ihr. Sie trägt das selbstverständlichste aller Gesichter und sagt: »Ich wette, du wartest auf die Liebe.« Mein System wechselt auf Alarm. Was wird hier gespielt?

»Wie peinlich ist das denn!«, ruft sie unvermittelt und jault laut auf. Es klingt wie ein alter Fußfallfan beim Gegentor.

Dann stehen wir eine Weile nur herum. Ich möchte ihr erklären, dass ich nur zufällig noch hier bin und dass ich sonst mit Zineb gemeinsam nach Hause fahre und nicht so allein hier herumstehe.

»Ich glaube, sie kommt nicht mehr«, sagt sie.

»Wer?«

»Die Liebe.« Sie haut sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche: »Wieder nicht.«

Ich bin zu perplex, um etwas zu sagen. Ich haue auch mit meiner rechten Faust in meine linke Handfläche. Sie erschrickt. Keine Ahnung, wieso. Ich habe ja nur ihre Bewegung nachgemacht. Sie rennt los, läuft über die Straße, ohne links und rechts zu schauen, irgendwie panisch, und verschwindet gegenüber in einer Toreinfahrt.

Ich warte eine Weile. Dann folge ich ihr über die Straße in die Einfahrt. Drei Hinterhauseingänge mit je mindestens zwanzig Klingeln. Keine Spur von der gelben Jacke. Vielleicht ist sie durch die Wohnanlage und auf der anderen Seite hinausgelaufen. Irgendwo läutet ein Handy. Woanders bellt ein Hund. Ich gehe wieder auf die Straße und nehme den nächsten Bus nach Hause.

Beim Abendessen fragt Ma, ob es etwas Neues gäbe. Pa schüttelt den Kopf, »Alles wie immer, alles bestens, ein guter Tag«, Kim ist nicht da und Cliff sagt »Nö.« Sonst nichts. Wie immer. Typisch Cliff.

»Kannst du bitte noch etwas mehr als ›Nö‹ sagen, einfach eine Silbe mehr!« Pa ist genervt.

»Nein«, sagt Cliff. Nur »Nein.« Und nach einer Ewigkeit: »Lalalalalalalalalalalalalala. Das sind viele Silben.«

»Hör auf mit dem Quatsch«, fordert Pa.

»Laflaflaflaflaflaflaflaflaflaflaflaf.«

»Wenn du uns unbedingt auf die Nerven gehen willst, sprich es bitte wenigstens richtig aus: Love heißt das, nicht Laf«, weist Pa ihn zurecht.

»Soll ich etwas sagen oder nicht?«, murmelt Cliff.

Dann ist da wieder diese Stille am Familientisch. Diese Abwesenheit im Blick von Ma, dieser merkwürdige Zug um Pa’s Mund.