Ich spüre das, was ihr nicht sagt - Susanne Panter - E-Book

Ich spüre das, was ihr nicht sagt E-Book

Susanne Panter

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Beschreibung

Familiengeheimnisse und Tabus aufarbeiten

Die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte kann sich zur emotionalen Achterbahnfahrt entwickeln. Susanne Panter – erfahrene Herkunftsberaterin und Mediatorin – thematisiert einfühlsam blinde Stellen, Brüche oder Wunden im Familiensystem. Sie begleitet kompetent auf dem Weg der Herkunftsklärung und damit auf dem Weg zu sich selbst. Neben praktischem Wissen für eine Personensuche und vielen Fallgeschichten erklärt sie auch die systemischen Strukturen von Familien und was Menschen davon abhält ein Tabu aufzudecken sowie welche »Risiken und Nebenwirkungen« die Suchenden erwarten können.

• Dieses Buch möchte Mut machen, sich Familiengeheimnissen aktiv zuzuwenden.

• Es zeigt den Prozess, den Menschen durchlaufen, wenn sie sich mit den Wunden in ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen.

• Mit Beispielen und konkreten Anleitungen wird deutlich gemacht, wie Wunden heilen können, wenn man sie an die Luft lässt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 198

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Familiengeheimnisse und Tabus aufarbeiten

Die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte kann sich leicht zur emotionalen Achterbahnfahrt entwickeln. Die erfahrene Herkunftsberaterin und Mediatorin Susanne Panter thematisiert einfühlsam blinde Stellen, Brüche oder Wunden im Familiensystem. Sie begleitet kompetent auf dem Weg der Herkunftsklärung und damit auch auf dem Weg zu sich selbst. Außerdem erklärt sie systemische Strukturen, gibt praktische Tipps für eine Personensuche und informiert darüber, welche »Risiken und Nebenwirkungen« bei der Suche auftreten können.

Dieses Buch

• macht Mut, sich Familiengeheimnissen aktiv zuzuwenden,

• zeigt den Prozess, den Menschen durchlaufen, wenn sie sich mit den Wunden in ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen,

• veranschaulicht mit vielen Fallgeschichten und konkreten Anleitungen, wie Heilung möglich wird.

Susanne Panter ist ausgebildete Mediatorin und hilft seit über 20 Jahren dabei, dass Familienangehörige wieder in Kontakt kommen, wenn dieser verloren ging. Sie gründete Deutschlands ersten privaten Personensuchdienst und hat bisher rund 4.500 Einzelschicksale betreut. Von 2016 bis 2022 entstand die Reihe »Die Aufspürerin«, bei der sie vom SWR regelmäßig mit der Kamera begleitet wurde. Es ist für Susanne Panter jedes Mal ein Herzensprojekt, anderen zu helfen, die weißen Flecken in ihrer Biografie mit Farbe zu füllen. Deshalb ist »Im eigenen Leben zu Hause sein« das Motto ihrer gemeinnützigen Firma, der »Herkunftsberatung«.

www.herkunftsberatung.de

SUSANNE PANTER

Ich spüre das, was ihr nicht sagt

Wunden in der eigenen Familiengeschichte erkennen und Heilung finden

Für meine Oma Hilde. Ich hätte dich gerne kennengelernt.

Inhalt

Einleitung

Beruf kommt von rufen

4 500 Geschichten und Schicksale

»Alles, was nicht gesagt wird, wird übertragen«

Man bemerkt die Wunde erst, wenn man die Narbe entdeckt

Die Silberfäden der DNA

Die Wirkung von Tabus und Scham

Wenn leise Zweifel auf laute(r) Widerstände stoßen

Will man Licht ins Dunkel bringen?

Ähnlichkeiten zum Trauerprozess

Wenn sich das Gehirn selbst widerspricht

Hindernisse und Hürden

Die Suche nach der eigenen Identität

Die besondere Situation von Adoptierten

Die besondere Situation nichtehelich Geborener

Bindung

Leben mit dem Geheimnis

Die Familie als System

(Familien-)Systeme streben nach Ausgeglichenheit

Familie: ein komplexes System oder nur kompliziert?

Genogramme – Wie Sie Ihr Lebenspuzzle zusammensetzen: eine Anleitung

Erstellen eines Genogramms: Schritt 1 – Formalia

Erstellen eines Genogramms: Schritt 2 – Den richtigen Personen die richtigen Fragen stellen

Erstellen eines Genogramms: Schritt 3 – Dranbleiben, es geht auch ohne Ihre Familie

Nicht die Ahnen finden, sondern sich selbst

Die Blickrichtung macht den Unterschied

Zu Risiken und Nebenwirkungen: Dos and Don’ts bei der Herkunftsklärung

Der Weg der Suche

Wo fängt man an?

Kontakt zu unbekannten Angehörigen aufnehmen

Das Gefühl anzukommen

Familienaufstellungen

Mit dem Thema abschließen – mit jeder Körperzelle

Die Systeme ordnen sich neu

Perspektivwechsel

Vom »richtigen« Zeitpunkt einer Herkunftsklärung bei Adoption – aus Sicht der annehmenden Eltern

Wenn die ganz frühe Aufklärung versäumt wurde

Die Mitwisser: Mitgefangen, mitgehangen?

Anhang

Wissenswertes zu rechtlichen Grundlagen

Anlaufstellen und Beratungsmöglichkeiten

Dank

Literaturverzeichnis

Über die Autorin

Einleitung

Sie kennen sicher die Suchbilder aus Kinderzeitschriften, die als Zeitvertreib gedacht und deren Motive oft wenig spektakulär sind. Auf den ersten Blick sehen beide Bilder gleich aus, doch in eines der beiden sind mehrere kleine Veränderungen eingearbeitet. Diese gilt es zu finden und einzukreisen. Fühlen Sie sich in dem Bild mit den Veränderungen zu Hause? Oder im Original, im vermeintlich fehlerlosen Bild?

Ich habe diese Bilder als Kind geliebt. Manchmal entdeckte ich die eingezeichneten Veränderungen auf Anhieb. Bei den richtig kniffligen Suchbildern aber war nicht auf den ersten Blick zu erkennen, welches nun das mit und welches das ohne Manipulation war. Es dauerte eine Weile, bis endlich alle vom Original abweichenden Stellen identifiziert und eingekreist waren. So manches Mal war ich drauf und dran aufzugeben, wenn sich die Abweichungen vom Originalbild einfach nicht zeigen wollten. Irgendwann waren jedoch alle Unterschiede gefunden und sobald die beiden Bilder, die sich vorher so glichen, vor mir lagen und die Veränderungen mit einem Kringel markiert waren, empfand ich ein befriedigendes Gefühl.

Heute empfinde ich diese Suchbilder als schöne Metapher für das Leben mit dem Unausgesprochenen und dem Leben nach der Öffnung von Tabus oder der Klärung von Familiengeheimnissen. Mein Anliegen mit diesem Buch ist es, Sie zu motivieren, nach den Veränderungen in Ihrem Bild zu suchen. Ich möchte Sie dazu anregen, den Mut aufzubringen, um jede Abweichung und Ungereimtheit einen Kreis zu zeichnen, sich danach das Bild – Ihr Bild – anzuschauen und ein befriedigendes und beruhigendes Gefühl zu genießen.

Beruf kommt von rufen

Ich selbst habe zwei elterliche Scheidungen miterlebt und bin ab dem Teenageralter mit meiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Die scheidungsbedingten Kontaktabbrüche waren die ersten beiden Kreise in der Aufarbeitung meiner Familiengeschichte. Mit Anfang dreißig begann meine Arbeit, Menschen dabei zu helfen, ihre biologische Abstammung aufzuklären und den Fragen zu ihrer eigenen und der Biografie ihrer Vorfahren auf den Grund zu gehen.

Ich empfinde es so, dass mein Beruf mich in gewisser Weise gerufen hat, also eine Berufung für mich ist. Hermann Hesse hat in seinem Gedicht »Stufen« den schönen Ausdruck des »Lebens Ruf an uns« geprägt – darin finde ich mich heute sehr gut wieder.

Nach dem Abitur hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon, welchen Beruf ich einmal ergreifen wollte. Meine Freundin machte eine Banklehre. »Das kann nicht schaden und dauert nur zwei Jahre«, war mein Gedanke und ich bewarb mich ebenfalls. Nach der abgeschlossenen Ausbildung wusste ich zwar immer noch nicht, was ich zukünftig arbeiten wollte – aber wenigstens, dass Bankkauffrau nicht meine Berufung war. Auch keine der darauffolgenden Arbeitsstellen gab mir beruflich eine Heimat. Ich hatte schon immer den Anspruch, dass meine Arbeit etwas mit mir zu tun haben sollte. An meinem Lebensende möchte ich auf meine Arbeit zurückblicken und sagen können, dass sie mich erfüllt hat.

Ich schloss ein Abendstudium zur Kommunikationswirtin ab und da ich immer noch nicht wusste, was mein Beruf werden sollte, folgte darauf ein Jahr Sprachaufenthalt in New York City, denn ordentliches Englisch kann man immer gebrauchen. Dass es meinen Beruf offiziell noch gar nicht gab, wusste ich damals nicht.

Erst mit Anfang dreißig markierte ein Theaterabend mit einer Freundin aus Kindertagen den Beginn meines eigentlichen Berufsweges. Beim Sekt in der Pause fragten wir uns, was unsere früheren Weggefährtinnen und -gefährten wohl heute machten. Wir überlegten, ein Ehemaligentreffen unseres damaligen Kinderladens zu organisieren. So entstand die Idee, dass es eigentlich ein Unternehmen geben müsste, das nicht nur Menschen sucht, die sich aus den Augen verloren haben, sondern auch gleich ihr Wiedersehen organisiert. Also gründete ich Deutschlands ersten privaten Personensuchdienst.

Ein Berliner Stadtmagazin und eine Frauenzeitschrift berichteten über meine Arbeit und als ich in Jürgen Flieges Talkshow eingeladen wurde, folgte ein Auftrag dem nächsten. Doch es waren keine Ehemaligentreffen, die ich auf die Beine stellen sollte – stattdessen bekam ich Aufträge, bei denen Familienangehörige gesucht wurden: Väter, die im Leben meiner Klientinnen und Klienten nie sichtbar gewesen waren, Mütter und Geschwister von Adoptierten. Ohne mir Gedanken über das Warum zu machen, nahm ich mich dieser Themen an.

Dann dauerte es noch einmal 16 Jahre, bis die Herkunftsberatung entstand. Ich bildete mich zur zertifizierten Mediatorin weiter. Heute ist die Herkunftsberatung eine gemeinnützige GmbH.

4 500 Geschichten und Schicksale

Mittlerweile sind es gut 4 500 Schicksale, die ich begleiten durfte. Nach und nach wurde mir klar, dass viele der Geschichten meiner Klientinnen und Klienten auch irgendwo in meiner eigenen Familiengeschichte vorkommen: Meine Großeltern väter- und mütterlicherseits wurden vertrieben; in meinen Herkunftssystemen gab es Missbrauch, nichteheliche und wortwörtlich totgeschwiegene verstorbene Kinder, Alkoholismus, tabuisierte Euthanasie im Dritten Reichwegen angeblicher Geisteskrankheit und einen Suizid in den frühen 50er-Jahren, dessen Bugwelle sich bis heute auf meine Familie auswirkt.

Als Kind wurde über die meisten dieser Themen nicht mit mir gesprochen. Deshalb habe ich das Bild meiner Familie früher ganz anders wahrgenommen, als ich es heute tue. Über die Jahre habe ich immer wieder neue Abweichungen gefunden, sie hinterfragt und eingekreist. Mit jedem Kreis fühle ich mich vollständiger.

Viele meiner Klientinnen und Klienten berichten Ähnliches. Einer sagte mir, er fühle sich wie jemand, bei dem ein Stein nicht in Position gelegen habe, aber nun zurechtgerückt worden sei. Ausgesuchte Geschichten meiner Klientinnen und Klienten werden in diesem Buch beschrieben. Zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte habe ich Namen, Orte und andere personenbezogene Details verfremdet. Wichtig ist mir auch, hervorzuheben, dass mein Buch bei ernsthaften psychischen und physischen Problemen keine Therapie ersetzen kann. Falls sich grundsätzlich oder im Laufe der Lektüre seelische Nöte zeigen, ein Therapieplatz aber kurzfristig nicht zu bekommen ist, finden Sie im Anhang die Telefonnummer der Telefonseelsorge. Dort arbeiten kompetente und geschulte Menschen, die Tag und Nacht gerne Beistand leisten.

»Alles, was nicht gesagt wird, wird übertragen«

Mark Wolynn (2017) zitiert in seinem Buch Dieser Schmerz ist nicht meiner den Psychiater und Psychotherapeuten Dr. Naasson Munyandamutsa. Dr. Munyandamutsa stammte aus Ruanda und studierte und arbeitete in der Schweiz. Nach dem schrecklichen Völkermord in Ruanda 1994 mit fast einer Million Opfern in etwa hundert Tagen kehrte er in sein Heimatland zurück, um dort der traumatisierten Bevölkerung zu helfen. Es ist wohl auch seinem Einfluss zu verdanken, dass in Ruanda heute eine Kultur der Verarbeitung statt der Verdrängung zu beobachten ist. Auch ich möchte Menschen beim Verarbeiten ihrer Familiengeschichte unterstützen und sie motivieren, sich mit ihren individuellen Suchbildern zu beschäftigen.

Bei meinen Großeltern wurde eine Kultur des Verdrängens und Verschweigens gepflegt. Nachdem ich verstanden hatte, welche negativen Auswirkungen tabuisierte Familienthemen haben können, wurde mir klar, dass es das Gefühl ist, eine vernebelte Familiengeschichte zu haben, das seit zwanzig Jahren meine Motivation bildet, anderen dabei zu helfen, ihren Veränderungen in ihrem Bild, in ihrem Familiensystem, auf die Spur zu kommen.

Sind Sie vielleicht auch in einem Leben aufgewachsen, in dem auf den ersten Blick alles perfekt aussieht, doch in dem bei genauerer Betrachtung Abweichungen von diesem makellosen Bild deutlich werden? Abweichungen, die durch Geheimnisse, Lügen und Tabus entstanden sind und die man zunächst gar nicht erkennt, die aber irgendwie doch einfach da sind, die man nicht sieht, sondern nur spürt?

Mit meinem Buch möchte ich denjenigen Mut machen, die erkannt haben, dass in ihrer Familie irgendetwas anders ist, als man ihnen erzählt hat, die sich aber bisher noch nicht getraut haben, die vermuteten Abweichungen mit einem dicken Filzstift einzukreisen. Sind Sie selbst vielleicht schon seit einiger Zeit dabei, mit einem zarten Bleistift auf abweichende Stellen zu deuten? Ziehen Sie den Stift aber immer schnell wieder zurück, wenn Sie auf den geringsten Widerstand stoßen? Wagen Sie es aus Rücksicht auf andere nicht, Lücken zu schließen und mit Unklarheiten aufzuräumen, weil Sie ermahnt wurden, doch bitte keine Unruhe zu stiften? Manchmal sind es sogar Angehörige aus dem Jenseits, die gefühlt mit hochgezogener Augenbraue von oben herabschauen und streng »Na, na …« sagen. Viele meiner Klientinnen und Klienten berichten von halbherzigen Anläufen der Aufklärung, die schon im Keim wieder erstickt wurden – durch ein schlechtes Gewissen oder Skrupel vor tiefergehenden Nachforschungen.

Dieses Buch soll Sie ermutigen und verdeutlichen, weshalb es wichtig ist, sich den abweichenden Stellen in Ihrem eigenen Suchbild zuzuwenden. Mit praktischen Tipps und Beispielen aus 22 Jahren Herkunftsberatung möchte ich zum Gelingen der Aufklärung unausgesprochener Tabus in Ihrer Familie beitragen.

Man bemerkt die Wunde erst, wenn man die Narbe entdeckt

Oft werden unsere Gefühle und Handlungen durch etwas bestimmt, das wir uns nicht erklären können. Dass Sie dieses Buch in den Händen halten und darin lesen, könnte ein Indikator dafür sein, dass etwas auf Sie und Ihre Familie wirkt, das so nicht in Ihrer Familiengeschichte erzählt wird.

Einige wissen genau, wo der Hase in ihrer Familie im Pfeffer liegt. Andere haben nur ein Gefühl. Aber woher soll man wissen, ob esda etwas gibt? Wenn die folgenden Sachverhalte auf Sie zutreffen, kann es sein, dass es in Ihrer Familie vielleicht etwas aufzuarbeiten gibt:

wenn es schwerfällt, Beziehungen zu knüpfen und zu halten;wenn es schwerfällt, Nähe zuzulassen und in sie zu vertrauen;wenn die Beziehung zu den eigenen Kindern nicht recht gelingen mag;wenn Ehen scheitern oder berufliches Ankommen unmöglich scheint;wenn Sie wenig Selbstvertrauen haben;wenn Sie nicht richtig spüren, was Ihnen guttut und was nicht;wenn es Ihnen schwerfällt, zu Ihren Bedürfnissen zu stehen;wenn Sie es schwer aushalten, kritisiert zu werden;wenn Ihnen eine gute Beziehung wichtiger ist als Ihr Selbstwertgefühl, Sie alles dafür tun würden, um dazuzugehören;wenn es Ihnen schwerfällt, Lob anzunehmen und Sie immer Gründe suchen, warum das Lob vielleicht doch nicht gerechtfertigt sein könnte;wenn Sie Liebe nicht mit offenem Herzen einfach annehmen können, sondern nach Hinweisen suchen, dass diese Liebe nicht wirklich ernst gemeint sein kann;wenn Sie immer alles unter Kontrolle haben müssen und es Ihnen dadurch schwerfällt, sich zu entspannen;wenn Sie Schwierigkeiten haben, sich auf Beziehungen einzulassen;wenn Ihnen Anerkennung besonders wichtig ist;wenn Sie immer wieder zweifeln, ob Sie wirklich wollen, was Sie tun – oder ob Sie nur die Erwartungen anderer erfüllen.

Eigentlich sollte es gar keinen Bedarf nach diesem Buch und nach meiner Arbeit geben. Geheimnisse und Lügen sollten in keiner Familie Platz haben. Schlimm genug, wenn in Familien Dinge geschehen, die irritierend oder manchmal sogar grausam sind. Wenn diese Vorkommnisse dann aber zum Tabu erklärt werden, verstärkt sich die negative Wirkung, die sie ohnehin schon haben. Ein Tabu über ein schmerzliches Thema zu verhängen, ist auf lange Sicht so nützlich, wie nicht zum Zahnarzt zu gehen, weil man hofft, dass die Zahnschmerzen einfach von selbst verschwinden.

Die Krux ist, dass die Wunden oft erst bemerkt werden, wenn man die Narben entdeckt. Wenn man sich mit ungesunden Mustern beschäftigt und eine Lösung für sie sucht, lenkt das den Blick erst auf das, was man irgendwie schon immer gespürt, sich aber nie zu ergründen getraut hat.

Die Auswirkungen, die ein Tabu haben kann, sind manchmal sogar gesundheitlicher Art und können sich über mehrere Generationen erstrecken. Es gibt Ärzte, die Fragen nach den Vorfahren in ihre Diagnostik einbeziehen. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin und Diplom-Biologin Birgit Hickey hat gesundheitliche Probleme in ihrer Praxis schon häufig auf Familiengeheimnisse und Tabus zurückgeführt:

Schmerzen und andere chronische, das heißt häufig wiederkehrende oder anhaltende, Beschwerden, insbesondere Kopf- oder Rückenschmerzen, Migräne, Asthma oder Allergien;körperliche Symptome, die – selbst nach intensiver Diagnostik – keine organischen Ursachen zu haben scheinen, zum Beispiel Herzrhythmusstörungen oder Magen-Darm-Probleme;Symptome mit psychischem oder psychosomatischem Hintergrund, die zuvor therapeutisch nicht gelöst werden konnten, beispielsweise Ess- oder Schlafstörungen, Ängste oder Depressionen (Hickey 2022).

Auch ich kenne solche Fälle von chronisch kranken Klientinnen und Klienten. Das betrifft beispielsweise Claudia B., die 1961 geboren wurde, und bei ihrer Großtante aufwuchs. Sie leidet seit ihrer Kindheit an Asthma, ohne dass sie dafür bisher eine Erklärung finden konnte. Anfang der 80er-Jahre erfuhr sie als junge Erwachsene, dass ihre Mutter psychisch beeinträchtigt war. Die Mutter wohnte zeitlebens bei ihren Eltern. Da das Haus angeblich zu klein gewesen sei, habe Claudia nicht dort leben können. Außerdem hieß es, man wolle ihr ihre Mutter nicht »zumuten«. 

Wie für viele Kinder, die früh von einem oder beiden Elternteilen getrennt werden, war es für Claudia wichtig, »gehorsam« zu sein. In ihrem Lebensumfeld waren Fragen nach ihren leiblichen Eltern unerwünscht. Daher unternahm sie keine Versuche, ihre Herkunft zu ergründen. Diese Art von Gehorsam ist sehr bequem für die, die ein Tabu pflegen und schützen möchten. Doch aus welchen Gründen begehren Betroffene nicht oder oft erst sehr spät dagegen auf? Die Trennung von der Mutter fühlt sich für einen Säugling an, als sei er der Welt schutzlos ausgeliefert. Er empfindet deshalb buchstäblich Lebensgefahr, wenn er eine solche Trennung durchlebt. Wenn Sie selbst eine solche Erfahrung gemacht haben, wissen Sie, was ich meine: Durch diese prägende erste Lebenserfahrung kommt es vor, dass ein Kind ständig subtil fürchtet, diese erste Erfahrung könnte sich wiederholen: dass es noch einmal von seinen Bezugspersonen, von denen das eigene Überleben abhängt, getrennt werden könnte. Um das zu vermeiden, wird lieber »gehorcht«, werden Erwartungen, die an das Kind gestellt werden, bestmöglich von ihm er-füllt.

Claudias psychisch beeinträchtigte Mutter starb recht jung – zu früh, als dass Claudia die Chance gehabt hätte, sie auf eigene Initiative hin noch persönlich kennenzulernen. Claudia hat eine eigene Familie gegründet und sich nicht weiter mit dem Thema »leibliche Eltern« auseinandergesetzt – sicher auch, weil für sie keine Offenheit dafür seitens ihrer Großtante und der anderen Familienmitglieder zu erkennen war. Doch Anfang Juni 2019 starb ihre Großtante und Claudia wurde ein ganzer Koffer voller Briefe und Dokumente ihrer Mutter ausgehändigt: handschriftliche Notizen, amtliche Schreiben, Fotos mit und ohne Beschriftung, ordentlich gefaltete Briefe und abgerissene Zeitungsausschnitte. Sie hatte den Eindruck, als befinde sich das Leben ihrer fremden Mutter plötzlich in einem Koffer vor ihr – ein Leben, das wahrscheinlich genauso ungeordnet war wie die Archivalien dazu, die jetzt ungefragt und plötzlich in ihren Besitz kamen.

Claudia arbeitete sich Stück für Stück durch den Inhalt dieses Koffers. Mit mir nahm sie Kontakt auf, als sie in einem Dokument gelesen hatte, wie ihr möglicher Vater hieß. In den Papieren fand sie den Schriftverkehr zwischen ihrem Großvater und einem Rechtsanwalt, in dem es darum ging, Unterhaltszahlungen für Claudia zu erwirken. Der Dialog dazu endete, indem der Anwalt schrieb, dass er acht Männer gleichen Namens gefunden habe, die Claudias Vater sein könnten. Weiteres wurde dann offensichtlich nicht unternommen.

40 Jahre später war es nun meine Aufgabe herauszufinden, welcher dieser acht Namensträger Claudias leiblicher Vater war. Meine Klientin und ich gingen bei dieser Recherche gemeinsam einen langen Weg: Über Monate hinweg prüften wir die damaligen Adressen nach der Nähe zum Wohnort der Mutter und fragten, welche der infrage kommenden Männer damals unverheiratet und im ähnlichen Alter wie die Mutter waren. Von dem wahrscheinlichsten Kandidaten konnten wir nur noch die Sterbedaten ermitteln. Allerdings hatte er eine Tochter. Wir schrieben ihr einen Brief, in dem wir die Situation erklärten und fragten, ob sie dazu bereit sei, mit einem DNA-Test zu helfen. Die Tochter willigte ein und war selbst neugierig, ob Claudia und sie tatsächlich denselben Vater hatten.

Seit Claudia den besagten Koffer zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte, erlebte sie eine Phase großer Unsicherheit mit Momenten höchster Anspannung. Ihre Motivation und ihr langer Atem, den sie bei all dem zeigte, beeindruckten mich. Während wir auf die Auswertung des DNA-Tests warteten, schrieb sie in einer E-Mail: »Wenn Sie mich fragen, warum ich das alles mache, dann fällt es mir schwer, darauf eine einfache Antwort zu geben. Ich spüre jedoch, dass, wenn ich nichts in der Sache unternehme, eine Lücke beziehungsweise eine Unruhe in mir verbleiben werden, die ich schon viel zu lange ignoriert habe.« Unbewusst wusste Claudia aus meiner Sicht, dass sich Fragen und Wunden in ihrem Leben schließen oder heilen lassen könnten, wenn sie etwas über die Identität ihres leiblichen Vaters, der für sie bisher eine Leerstelle in ihrem Lebens- und Herkunftspuzzle bedeutete, erfahren würde.

Der DNA-Test bestätigte, dass Claudia auf der richtigen Spur war: Sie hatte ihren Vater gefunden. Auch wenn er nicht mehr lebte, konnte sie durch den Kontakt mit seiner Tochter, der sich gut entwickelte, endlich Zugang zu ihren väterlichen Wurzeln finden. Wie sie mir am Telefon berichtete, hatte sie auch in ihrer Asthmaerkrankung Erleichterung erfahren.

Die Silberfäden der DNA

Menschen, die nicht mit beiden Elternteilen aufgewachsen sind, können das Folgende wahrscheinlich problemlos nachvollziehen, andere benötigen etwas mehr Vorstellungsvermögen: Man stelle sich vor, dass aus dem Bauchnabel jedes Menschen zwei unsichtbare Bänder herauswachsen: eins führt zur Mutter, eins zum Vater. Das Band zur Mutter ist gar nicht so abstrakt, denn es ist als Nabelschnur bis kurz nach der Geburt sogar physisch vorhanden. Wenn man sich nun aber vorstellt, dass das Band auch nach der Durchtrennung der Nabelschnur unsichtbar weiter existiert, sind diese Bänder wie Silberfäden. Man kann sie vielleicht auch als »Silberfäden der DNA« bezeichnen. Denn zumindest genetisch ist jeder Mensch mit seinen biologischen Vorfahren verbunden.

Bei manchen Menschen sind beide Bänder, das mütterliche und das väterliche, abgetrennt worden. Bei manchen ist nur ein Band durchtrennt, oft das zum Vater und manchmal auch erst nach einigen Jahren, zum Beispiel durch eine Scheidung. Doch auch wenn das Band physisch durchtrennt wurde, besteht die Verbindung durch den unsichtbaren Silberfaden doch weiter – manchmal »nur« durch die Gene oder durch systemische Prozesse. Unter meinen Klientinnen und Klienten befinden sich einige Menschen, bei denen bereits in vorangegangenen Generationen ein Band durchtrennt wurde. Und obwohl in der Familie eigentlich alles in Ordnung zu sein scheint, wirkt dieser Schnitt wie ein »Phantomschmerz« bis in die späteren Generationen nach. Das lose Ende des Silberfadens webt sich unbemerkt – und nach seinen eigenen Regeln – in das Leben der späteren Generationen hinein. Sie müssen den Faden erst bemerken und sein Muster verstehen, um ihn dann behutsam aufzunehmen und an seinen Platz zu führen.

Wenn Sie an den eingangs beschriebenen Symptomen leiden, möchte ich Sie ermutigen, den Verläufen dieser beiden Silberfäden zu folgen: Wo hat der Faden einen Knoten, den es aufzudröseln gilt? Wo gibt es Schleifen, die von vermeintlich unerfreulichen (aber geradlinigen) Verläufen ablenken sollen? Gibt es gar offene Enden in Ihrem Familiensystem, die wieder miteinander in Verbindung gebracht werden müssen?

Ein Beispiel dafür, dass diese Silberfäden der DNA unsichtbar sichtbar sind, ist die Geschichte von Monika. Sie schrieb in ihrer ersten E-Mail an mich: »Anlass für meine Suche ist die Erfahrung, dass die fehlende Weitergabe der Familiengeschichte von Seiten meiner Mutter zu Belastungen in meinem Familiensystem führte. Diese möchte ich auflösen.« Ihre Tochter habe ein Krebsleiden überwunden und ihre Enkelin leide an einer psychischen Krankheit, die sie mir nicht näher nannte. Sie führte weiter aus, dass sie im Schrank eine Mappe mit einem Bündel vergilbter Papiere gefunden habe, nachdem ihre Mutter verstorben sei: verschlossene Umschläge mit alten Briefen. Ich konnte es gut nachfühlen, als sie mir später in unserem Vorgespräch sagte: »Da muss man sich erstmal überwinden, so einen Umschlag aufzumachen.« Als sie das erste Mal mit mir sprach, berichtete sie, dass ihre Mutter Ingeborg und auch die anderen Verwandten immer erzählt hätten, dass ihre Großmutter Hildegard verstorben sei, als Ingeborg drei Jahre alt war. Durch die entdeckten Papiere entfaltete sich nun ein ganz anderes Bild.

Ihre verstorbene Mutter Ingeborg hatte mit 21 erfahren, dass ihre Mutter 1940 gar nicht verstorben, sondern in eine psychiatrische Anstalt gekommen war. Ingeborg erhielt mit ihrer Volljährigkeit einen amtlichen Brief, in dem sie aufgefordert wurde, Unterhalt für ihre Mutter zu bezahlen, die weiterhin in dieser Einrichtung lebte. Was für ein Schock diese Information für ihre Mutter gewesen sein musste und warum sie nie etwas davon erzählt hatte, blieb meiner Klientin verborgen. Selbst ihren Ehemann, den Vater meiner Klientin, schien Ingeborg in dieses gut gehütete Geheimnis nicht eingeweiht zu haben. Aus den Papieren, die Monika fand, wurde zudem deutlich, dass Ingeborg ihre totgeglaubte beziehungsweise totgeschwiegene Mutter einige Male heimlich in der Psychiatrie besucht haben musste.

Bei meiner Arbeit geht es oft darum, dass Familiensysteme sich neu organisieren: indem ich einem System zugehörige Menschen finde und versuche, sie möglichst behutsam in das System zu integrieren. In Monikas Fall war das Tabu des dauerhaften Psychiatrieaufenthaltes ihrer Oma Hildegard – verbunden mit der Lüge ihres angeblich frühen Todes – nicht die einzige Verstrickung im Familiensystem.

Denn Hildegard hatte einen Bruder: Paul. Der Bruder war, so erzählte man sich, in der DDR