Ich will dir nah sein - Sarah Nisi - E-Book
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Sarah Nisi

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Beschreibung

Er will ihr nah sein, noch näher, immer noch näher. Bis es irgendwann nicht näher geht.

London, Fundbüro des öffentlichen Nahverkehrs. Lester Sharp kümmert sich um herrenlose Fundsachen: Handys, Schlüssel, Portemonnaies – besonders gern um Kleidungsstücke und medizinische Gerätschaften. Er ist auch privat ein Sammler und Sonderling, der sich schwertut mit Frauen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Als er der jungen Erin begegnet, weiß er zunächst nicht, wie er sich verhalten soll – findet aber schon bald eine Möglichkeit, ihr nah zu sein. Näher, als es ihr lieb sein kann...

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Zum Buch

Er will ihr nah sein, noch näher, immer noch näher. Bis es irgendwann nicht näher geht.

London, Fundbüro des öffentlichen Nahverkehrs. Lester Sharp kümmert sich um herrenlose Fundsachen: Handys, Schlüssel, Portemonnaies – besonders gern um Kleidungsstücke und medizinische Gerätschaften. Er ist auch privat ein Sammler und Sonderling, der sich schwertut mit Frauen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Als er der jungen Erin begegnet, weiß er zunächst nicht, wie er sich verhalten soll – findet aber schon bald eine Möglichkeit, ihr nah zu sein. Näher, als es ihr lieb sein kann …

Zur Autorin

Sarah Nisi lebt seit 2012 in London. In Hildesheim geboren, arbeitete die Wirtschaftsjuristin einige Jahre in Düsseldorf, bevor sie für ein Studium in Creative Writing in die britische Hauptstadt zog. Seitdem widmet die Deutsch-Britin den Großteil ihrer Zeit dem Schreiben.

Viele ihrer Kurzgeschichten wurden bereits in Anthologien verschiedener deutscher Verlage veröffentlicht – mit »Bühne frei« belegte sie den zweiten Platz des deutschen Agatha-Christie-Krimipreises. »Ich will dir nah sein« ist ihr erster Roman.

SARAH NISI

ICH

WILL

DIR

NAH

SEIN

PSYCHOTHRILLER

Ein Teil der Schauplätze dieses Psychothrillers entspricht ;realen Gegebenheiten. Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Das Zitat auf S. 5 ist folgender Ausgabe entnommen: Charlotte Perkins Gilman, »The Yellow Wall-Paper«. London: Penguin Classics bei Penguin Books Ltd., 2015, S. 13.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Juni 2021 Vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg. Copyright © 2021 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Arcangel Images / James MacKelly; Bjanka Kadic Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-641-24623-5V002www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

There are things in that paper that nobody knows but me,

or ever will.

Behind that outside pattern the dim shapes get clearer

every day.

It is always the same shape, only very numerous.

And it is like a woman stooping down and creeping about behind that pattern.

I don’t like it a bit.

»The Yellow Wallpaper«, Charlotte Perkins Gilman

Siebzehn Jahre zuvor

Er hat sich für den grünen Bademantel entschieden. Die Farbe wird in der Dunkelheit mit den Schatten der Nacht verschmelzen.

Es ist kurz vor zwei. Die meisten Nachtschwärmer sind zu Hause. Die Frühaufsteher noch nicht unterwegs. Es ist der richtige Zeitpunkt.

Vorsichtig öffnet er die Haustür. Kalte Luft strömt ihm entgegen. Gänsehaut überzieht seinen Körper. Er geht den schmalen Weg entlang zum Schuppen neben dem Haupteingang. Die Hausschuhe an seinen Füßen absorbieren jedes Geräusch auf den Betonplatten.

Er schließt die Augen. Die Themse ist nur einen Steinwurf entfernt. Wellen schlagen gegen die Kaimauer. Sein Gehirn braucht Umgebungsgeräusche, um sich fokussieren zu können.

Behutsam öffnet er die Tür zum Schuppen und greift nach der Mülltonne.

Die erste Phase seines Plans hat begonnen.

1

LESTER

05. September – 09:12 Uhr

Das Lost Property Office platzte aus allen Nähten. Mehr als 9 000 Regenschirme, 46 000 Taschen und 35 000 Handys waren im vergangenen Jahr neben unzähligen Schlüsseln, Büchern, Spielzeugen und Schmuck in den Räumen des Fundbüros der Londoner Verkehrsbetriebe, Transport for London, abgegeben worden. Alle verlorenen oder vergessenen Gegenstände, die in den Bahnen, Bussen, Taxis oder an den Haltestellen und Stationen gefunden wurden, endeten in diesen Katakomben. Ordentlich katalogisiert warteten sie darauf, von ihrem rechtmäßigen Besitzer in Empfang genommen zu werden. Doch in einer Stadt, in der alles ersetzbar war und viele Menschen ein Leben in Hektik führten, machten sich nur wenige die Mühe zu recherchieren, ob ihr verlorener Schal oder die Ohrringe gefunden worden waren. Je nach Wohnlage und Geldbeutel führte ein Abstecher auf die Oxford Street, die Kingsland Road in Dalston oder auf die Upper Street in Islington zu sofortigem Ersatz. Die Regale und Schubladen im Fundbüro quollen über.

Lester ging in den Raum mit den Fundstücken, die am Vortag abgegeben worden waren. Wie jeden Morgen war seine erste Aufgabe die Katalogisierung. Er schaute auf seine Armbanduhr. 09:12 Uhr. Das Wissen um die Uhrzeit strukturierte seine Gedanken. Half ihm, Erinnerungen zu sortieren. Ein paar Mal am Tag speicherte er das Datum und die Uhrzeit in seinem Kopf ab, als sei es eine Aktennummer. Mit Hilfe der Ziffern konnte er später einzelne Augenblicke wieder abrufen. 05. September – 09:12 Uhr: 05090912. Der Moment war jetzt registriert, genau wie die Fundstücke, um die er sich kümmerte. War der Moment im Nachhinein keine Erinnerung wert, löschte er die Zahl aus seinem Kopf. War die Erinnerung wichtig, wurde sie dauerhaft gespeichert.

Früher hatte ein kurzer Augenblick intensiver Konzentration gereicht, um den Moment zu konservieren. Jetzt war die Zahl sein Anker. Lester Sharp, die menschliche Stechuhr. Ein Leben voller Fragmente.

Neben seinem Schreibtisch stand der Container mit den Neuzugängen. Über tausend Gegenstände kamen an einem durchschnittlichen Tag im Lost Property Office dazu. Nach der zahlenmäßigen Erfassung mussten Lester und seine Kollegen eine kurze Beschreibung vornehmen und die Daten in das interne Computerprogramm eingeben – von den Angestellten noch immer Sherlock genannt, in Anlehnung an den ehemaligen Standort des Fundbüros in der Baker Street.

Seine Augen scannten den Inhalt des ihm zugeteilten Containers. Wenn er Glück hatte, würde es ein guter Tag. Man konnte nie wissen, was sich unter den Neuzugängen verbarg. Etwas wirklich Interessantes könnte auf ihn warten. Ein Schlüsselbund mit Adresse zum Beispiel. Einerseits gut für den Besitzer; er konnte auf diese Weise schnell ermittelt werden. Andererseits nicht so gut. Der Schlüssel könnte in falsche Hände geraten.

Er begann mit der Registrierung der Handys, Taschen und Geldbörsen. Deren Abholrate war verhältnismäßig hoch. Das Risiko, dass ein Fremder Zugriff auf private Fotos oder das Portemonnaie bekommen könnte, sowie der Wert der mobilen Telefone führten seit Jahren zu einer Abholquote von über vierzig Prozent. Aus diesem Grund pflegte er die Daten dieser Fundstücke als Erstes in das System ein – für den Fall, dass der Besitzer schon auf dem Weg war. Oder die Besitzerin.

Er griff nach einem Telefon. Das Display hatte einen Sprung. War es dem Eigentümer aus der Tasche gefallen?

Kategorie: Mobiles Telefon

Marke: iPhone 11

Fundort: Caledonian Road Station

Zustand: Beschädigt

Besonderes Merkmal: Kratzer (Display)

Seine Finger flogen über die Tastatur. Schnell noch die Seriennummer eingeben. Ein Routinefall. Persönliches Interesse auf einer Skala von 1 bis 10: eins.

Er hatte das Telefon im Kopf abgehakt, noch während er mit der Registrierung beschäftigt war. Kein Potential für ein neues Lieblingsstück.

Jeder Angestellte des Fundbüros der Londoner Verkehrsbetriebe hatte über die Jahre eine gewisse Zuneigung zu bestimmten Einzelstücken entwickelt. Gegenstände, die zu wertvoll waren, um sie nach drei Monaten zu entsorgen. So viel Zeit gab man den Besitzern, um den Weg in das Lost Property Office zu finden. Dann erst wurden die Fundsachen versteigert oder an eine gemeinnützige Organisation gespendet. Sehr persönliche Einzelstücke blieben jedoch in der Obhut des Fundbüros. Unangefochtenes Lieblingsobjekt aller Mitarbeiter: Thomas Frederick Johnston. Sieben Jahre lang hatte eine Urne ihre temporäre Ruhestätte im Lost Property Office gefunden. Die sterblichen Überreste des Mannes hatten ihre Kreise im Londoner Untergrund gezogen. So lange, bis ein aufmerksamer Finder die Asche in ihr neues Zuhause im Fundbüro überführte. Der schlichte Holzkasten mit dem aufgeprägten Namen hatte praktisch zum Inventar gehört. Erst vor kurzer Zeit hatten sich Angehörige aus Kanada gemeldet und Thomas Frederick Johnstons Asche abgeholt.

Ohne Pause arbeitete er sich durch die Mobiltelefone und Portemonnaies. Ein Schlüsselbund mit nur einem einzigen Schlüssel ließ ihn einen Augenblick innehalten. Niemand hatte nur einen Schlüssel, um sich Zugang zur Wohnung oder zum Haus zu verschaffen. Die meisten Bewohner sicherten ihre Häuser und Appartements mit mehreren Schlössern. Seine Finger umgriffen den Schlüssel. Wo gehörst du hin?

Vor seinem Auge entstand das Bild eines Hinterhauses, versteckt gelegen, nur durch das Haupthaus zu erreichen. Er stellte sich vor, wie er den Schlüssel im Schloss umdreht, vorsichtig die Tür öffnet, voller Erwartung auf die Geheimnisse des ahnungslosen Bewohners. Er läuft durch das Haus, streicht über die Möbel, berührt die Wäsche im Schrank. Geht auf Toilette. Er nimmt einen Gegenstand mit. Vielleicht das Buch vom Nachttisch. Oder er stellt es in den Schrank im Wohnzimmer. Nur eine kleine Veränderung. Ein Gruß von Unbekannt.

Er griff nach dem Beutel, in dem die Kollegen den Schlüssel verwahrt hatten. »Fundort: Notting Hill Gate Station« stand auf einem Aufkleber. Das Haupthaus verwandelte sich in eine Mews. Ehemalige Ställe, die zu sündhaft teuren Häusern umgebaut worden sind. Schmale Straßen, die sich durch den Stadtteil schlängeln, abgesperrt durch eine Schranke – für die man einen Schlüssel benötigt. Persönliches Interesse: null.

Sein Blick fiel auf einen Sportbeutel und eine Gehhilfe. Für medizinische Instrumente und Hilfsmittel hatte er eine Schwäche. Gegenstände, die zur Bekämpfung von Schmerz eingesetzt wurden, waren erhaben über alle anderen Gegenstände, erfüllten einen Zweck. Komplexer Schmerz durch Krankheit, Unfall oder Gewalt stand einem simplen Objekt gegenüber, das Abhilfe schaffte.

Zurzeit warteten hunderte Gehhilfen in den Regalen auf Abholung. Die Tube musste heilende Kräfte haben. Wie sonst war zu erklären, dass so viele Menschen ohne ihre Stöcke und Krücken aus dem Untergrund wieder ins Tageslicht traten? Vergaßen sie über die Freude, mit Sauerstoff gefüllte Luft zu atmen, dass sie gar nicht laufen konnten?

In der nächsten Sekunde hatte er die Gehhilfe vergessen. In dem Sportbeutel befand sich eine Hockeyausrüstung inklusive Schienbeinschoner. Und ein Rock. Er ließ seine Finger über den Stoff gleiten. Seine Nase zog den Geruch ein.

*

ERIN

In ihrem Fuß tobte der Schmerz. Nerven, Gewebe, Knochenhaut, Sehnen. Sie alle schrien nach Erlösung. Eine Erlösung, die sie nicht gewähren konnte. Nicht gewähren wollte. Zu viel stand auf dem Spiel.

»Tun Sie Ihrem Knochen einen Gefallen. Suchen Sie sich einen neuen Job.« Die Aussage ihres Arztes hatte sie erwischt wie eine Ohrfeige, die einfache Aneinanderreihung dieser Worte im tiefsten Inneren erschüttert. Weder Mitleid noch Empathie hatten sich in seine Stimme verirrt.

Tanzen forderte Leidensfähigkeit, doch der Applaus nach einem Auftritt machte alles wett. Ohne das Tanzen, die Show, den Drill – was wäre von ihr übrig? Ein trauriger, wütender Rest ihres Ichs. Mit dem Tanzen aufzuhören, überstieg ihre Vorstellungskraft.

»Sie meinen, einem Rennpferd mit einem gebrochenen Bein gibt man auch keine zweite Chance?« Sie hatte sich umgedreht und war gegangen. Nicht, ohne die Tür zu dem Sprechzimmer mit voller Kraft zuzuschlagen. Der Knall hallte noch immer in ihren Ohren.

Seit einer Verletzung im Fuß gehörte der Schmerz zu ihrem Leben. Eine Entzündung des Sesambeins. In vielen Fällen das vorzeitige Karriereende. Os sesamoideum. »Dieser Knochen ist die Schwachstelle der Tänzer.« Ein Achselzucken des Arztes.

In ihrem Beruf kam es nicht darauf an, ob man einen guten oder einen schlechten Tag hatte. Das persönliche Befinden interessierte weder die Kollegen noch die Kritiker und schon gar nicht die Zuschauer. Tanzen war ein Job. Man erwartete, dass sie funktionierte. Bei jedem Auftritt, ja, selbst bei den Proben war ein Tänzer gezwungen, das eigene Können unter Beweis zu stellen. Die Konkurrenz lauerte auf Fehler, und ein defekter Körper verursachte Fehler am laufenden Band.

Disziplin war die absolute Prämisse, genau wie die Bereitschaft, Schmerz zu ertragen. Doch diese Knochenentzündung ging an die Substanz. In den letzten Wochen hatte Erin ihrem Körper mehr als fünf Kilo abgerungen, in der Hoffnung, das geringere Gewicht würde ihren Fuß entlasten. An manchen Tagen hatte sie ab dem Nachmittag nichts mehr gegessen. Doch der Knochen zeigte sich unbeeindruckt. Der Schmerz blieb.

»Alles in Ordnung?« Der Makler riss sie aus ihren Gedanken. Für einen Moment hatte sie vergessen, dass sie auf dem Beifahrersitz seines Autos saß.

Eine Sekunde später trat er das Gaspedal durch. Die Ampel schaltete auf Rot. Sie schossen über die Kreuzung. »Das war knapp«, sagte er.

»Alles in Ordnung«, wiederholte sie seine Worte, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

Häuser und Menschen zogen an ihr vorbei, während das Auto sich durch den morgendlichen Berufsverkehr Londons quälte. Sie lehnte ihren Kopf gegen die Nackenstütze.

Die Laufzeit der neuen Show betrug nur wenige Wochen. Es war eine Sache der Willenskraft. Und der Betäubung. An die Zeit nach der Show durfte sie jetzt nicht denken. Ein Schritt nach dem anderen.

Bei der Sprungvorbereitung und beim Relevé wurden ihre Füße gefordert. Doch sie war mit einer guten Technik gesegnet. Trotz der Schmerzen würde ihr Körper funktionieren.

Plötzlich hupte ein Lastwagen. Ein Passant lief über die Straße. Ein Fahrradfahrer machte eine eindeutige Handbewegung. Auf den Straßen des East End herrschte Krieg.

»Danke für den Shuttle-Service.« Sie zwang sich, die Gedanken an ihren Fuß und die Premiere zu verdrängen. Jetzt waren andere Dinge wichtig. »Mit den Öffentlichen um diese Uhrzeit bis nach Limehouse zu fahren, wäre ein Albtraum geworden.«

»Kein Problem.« Der Makler setzte den Blinker und bog ab. »In zehn Minuten sind wir da.«

In ihrem Magen meldete sich ein Ziehen. Nichts weniger als die Wohnung in der perfekten Lage stand auf dem Spiel. Estate Agents waren die heimlichen Könige der Stadt. Sie entschieden, welchen Kunden welche Wohnungen gezeigt wurden und wer am Ende den Zuschlag bekam.

Aus dem Augenwinkel musterte sie den Makler. Er war ein paar Jahre älter als sie. Anfang dreißig. Seine braunen Haare könnten einen Schnitt gebrauchen. Dreitagebart. Beim Einsteigen hatte sie hinter dem Sitz ein Skateboard gesehen.

»Da vorne ist es.« Sein Zeigefinger deutete auf einen Punkt in der Ferne. Auf seinem Handgelenk entdeckte sie eine Tätowierung. Der Saum seiner Jacke verdeckte den größten Teil. Sie konnte nicht erkennen, was es darstellte.

Rhys White schien anders als seine glattgeleckten Kollegen, mit denen sie in der Vergangenheit zu tun gehabt hatte. Deren verschlagener Blick und die Gier nach Geld, die aus jeder Pore strömte, hatten sie abgestoßen. Glück gehabt!

Sie würde ihm eine Anzahlung anbieten. Zur Not würde sie ihren Charme spielen lassen.

So unauffällig wie möglich griff sie in ihre Jackentasche und zog eine Packung Ibuprofen hervor. Mit einer Hand drückte sie leise zwei Tabletten des Schmerzmittels aus der Verpackung. Das sollte ihren Fuß für die nächsten Stunden betäuben. Für die Laufzeit der Vorstellungen würde sie sich um stärkere Chemie kümmern müssen. Mit legalen Standardmedikamenten aus der Apotheke kam sie auf der Bühne nicht weiter.

Sie drehte den Kopf zum Fenster, damit der Makler nichts bemerkte, und schluckte die Pillen trocken hinunter.

2

Verlassen erstreckt sich die St. Marychurch Street vor ihm. Viktorianische Häuser wechseln sich mit Sozial- und Neubauten ab. Die Fenster der Wohnungen sind schwarz. Das hat er gehofft. Niemand ist wach. Nur eine Fledermaus zieht in einiger Entfernung ihre Kreise am Himmel.

An die Stille in Rotherhithe hat er sich noch immer nicht gewöhnt. Das Fehlen von Geräuschen befremdet ihn. Keine Geschäfte, Bars oder Restaurants sorgen für Unruhe. Nur das Pub an der Ecke, The Mayflower, gibt Trinkwilligen die Möglichkeit auf ein Pint. Doch das Lokal schließt um 23 Uhr. Danach befindet sich der im Londoner Südosten gelegene Stadtteil im Tiefschlaf.

Mit beiden Händen hebt er die Mülltonne an und trägt sie über das Kopfsteinpflaster zum Sands Films Studio auf der anderen Straßenseite. Sie ist nicht schwer. Er hat seit der letzten Leerung darauf geachtet, nicht zu viel hineinzufüllen.

In den bodentiefen Fenstern des Filmstudios überwachen drei Schaufensterpuppen mit toten Blicken das Geschehen auf der Straße. Das Licht einer Laterne fällt auf die reglosen Gesichter der Figuren. In ihren Kostümkleidern und Korsagen beobachten sie ihn mit zur Seite geneigten Köpfen.

Ihre Kleidung ist von Hand genäht. Das Filmstudio wirbt mit der Anfertigung der Kostüme. Jede Puppe hat ihren Platz: Die Rothaarige steht in der Mitte. Die Blonde links. Die Brünette rechts. Sie schauen ihn vorwurfsvoll an.

Mit eiligen Schritten läuft er an ihnen vorbei. Er spürt ihren Blick in seinem Rücken, so intensiv, dass es beklemmend ist.

Gerade als er sich in Sicherheit wähnt, es nur noch wenige Meter bis zur Eingangstür des Filmstudios sind, passiert es: Das Lachen einer Frau hallt durch die Nacht. Absätze auf Asphalt. Ein Rülpsen. Männer, die grölen.

Sein Mund wird trocken. Hinter der Straßenecke nähert sich eine Gruppe von Leuten. Jedes Geräusch kann Anwohner aufschrecken. Das Letzte, was er brauchen kann, ist ein neugieriger Nachbar am Fenster.

Vermutlich bleiben ihm nur ein paar Sekunden, bevor die Gruppe in die Straße einbiegt. Schweiß bricht aus seinen Poren. Ruhig, mahnt er sich. Kein Grund die Nerven zu verlieren. Er hat es fast geschafft. Sie werden sein Vorhaben nicht ruinieren.

Er stellt seine Mülltonne neben dem Eingang des Filmstudios ab und bleibt im Schatten der Hauswand stehen. Bevor er die Möglichkeit hat zu überlegen, wo er sich verstecken kann, biegen die Störenfriede um die Ecke. Zwei Paare, die Frauen eingehakt bei ihren Partnern, die Füße in High Heels gequetscht, im Kampf mit dem Kopfsteinpflaster.

Die Gruppe bewegt sich im Zeitlupentempo. Der Uhrzeit und dem schleppenden Gang der Männer zufolge, hat man sich mehr als nur ein Feierabendbier gegönnt. Von ihnen droht keine Gefahr. Selbst wenn sie ihn sehen – sie werden sich nicht an ihn erinnern.

Er schaut am Backsteinbau des Filmstudios hoch, während er darauf wartet, dass sie verschwinden. Der Schein der Laternen spiegelt sich in den Fenstern des Hauses. Früher wurde es als Getreidespeicher genutzt. Der Eigentümer seiner Wohnung hatte ihn mehrfach auf das denkmalgeschützte Gebäude hingewiesen. Als würde diese Tatsache den Wert aller Bauwerke in der Umgebung steigern, die hohen Mieten rechtfertigen.

Sein Blick bleibt an den roten Sprossen des Fensters über ihm hängen. Was sich wohl dahinter verbirgt? Das Atelier? Die Bibliothek? Die Schneiderei, in der die Kostüme angefertigt werden? Das winzige Kino oder … sie?

Die Eleganz, wie sie mit den Händen kommuniziert oder ihre Haare zurückstreicht. Ihr Gang. Ja, ihre ganze Art, sich zu bewegen. Stolz wie eine Katze. Und dabei stets auf der Hut. Wie ein Radar scheint sie alles um sich herum wahrzunehmen. Es macht ihn nervös. Es macht ihn an. Eine Gehörlose.

Seit er gegenüber eingezogen ist und sie zum ersten Mal gesehen hat, kann er den Eingang des Filmstudios nicht mehr aus den Augen lassen. Wann immer sie auf den Gehweg tritt, nach ihren Kindern schaut, mit einer Tasse Tee in der Hand, beobachtet er sie. Es fühlt sich an, als würde er sie seit Ewigkeiten kennen.

Wenn er im Bett ist, stellt er sich vor, wie sie hinter den Mauern des Gebäudes liegt und schläft. Denselben Mauern, vor denen er nun steht.

Sie ist die einzige Angestellte des Filmstudios, die mit ihren Kindern in dem Haus wohnt. Das alte Gemäuer, mit den Kostümen, Puppen, Filmprojektionen – da kann man sich schnell erschrecken.

Doch kein Geräusch der Welt, leise oder laut, wird sie jemals aus dem Schlaf reißen. Nichts kann sie warnen, wenn etwas nicht stimmt. Einzig ihr Instinkt vermag sie zu wecken.

Seine Hand fährt über die Hauswand, die porösen Backsteine. Sie haben die Wärme des Sommers gespeichert. Mit einem Finger kratzt er an den Fugen. An einer Stelle löst sich der Mörtel. Eine Schicht weniger zwischen dir und mir.

Als die Gruppe nicht mehr zu sehen ist, zerrt er die Mülltonne in einen provisorischen Holzverschlag. Dort bewahrt das Filmstudio den Abfall auf. Er stellt seinen Müll mit einem Gefühl der Erleichterung ab.

Ohne Zeit zu vergeuden, greift er nach der Tonne des Studios. Sie ist schwerer als seine. Die Henkel sind abgegriffen. Nur mit größter Anstrengung schafft er es, sie über das Kopfsteinpflaster zu tragen. Mit dem Handrücken wischt er einen Schweißtropfen von seiner Schläfe.

Wenige Minuten später ist er ohne Zwischenfall zurück auf seinem Grundstück. Er schaut auf die Mülltonne des Filmstudios, die jetzt vor seinem Schuppen steht. Ein Grinsen überkommt ihn. Phase eins seines Plans ist abgeschlossen.

3

LESTER

05. September – 19:43 Uhr

Noch ein letzter Klimmzug – dann war er fertig. Sein Bizeps arbeitete, die Bauchmuskeln waren angespannt. Er schnappte nach Luft. Geschafft. Er ließ die Trainingsstange los, die im Holzrahmen seiner Schlafzimmertür festgeschraubt war. Die Klimmzüge gehörten zu seinem Feierabendritual. Drei Durchgänge mit jeweils zehn Klimmzügen waren sein Tagespensum. Es war, als würde sein Gehirn am Abend keine Ruhe finden, sein Körper nicht entspannen können, bevor er das Training nicht erledigt hatte.

Für einen Moment lehnte er sich gegen die Wand. In den letzten Monaten hatte er etwas Fett angesetzt. Der Bund seiner Hose schnitt in seinen Bauch. Das Gewicht wirkte sich negativ auf die Klimmzüge aus. Er rieb die Handflächen gegeneinander. Schwielen zeichneten die Haut seiner Hände. Er trug keine Handschuhe, das Leder schränkte die Greifbewegung zu sehr ein.

»Du kannst mich mal.«

Er horchte auf. Seine Nachbarn aus der Wohnung über ihm hatten eine Auseinandersetzung. »Würde ich ja gerne!« Eine Tür knallte.

Er liebte seine Wohnung. Jedes Geräusch aus den angrenzenden Appartements war zu hören, fast jedes Wort zu verstehen. Oft stand einer so ausgeprägten Hellhörigkeit ein solides Mauerwerk im Wege. Doch die heutige Bauweise, bei der es nur auf die Schnelligkeit der Errichtung ankam, nahm darauf keine Rücksicht. Architekten scherten sich nicht um die Privatsphäre künftiger Mieter. Er wusste, dass das Ehepaar seit Monaten keinen Sex mehr hatte. Immer wieder kam es zu Diskussionen zwischen den Ehepartnern. Die gegenseitigen Vorwürfe prallten von Wand zu Wand, hinunter bis in seine Wohnung, verloren sich in Sprachlosigkeit und Stille.

Er wusste nicht, wie das Paar hieß. Die Anonymität des Mehrfamilienhauses verhinderte den Austausch so profaner Informationen. Doch durch die Wände erfuhr man mehr, als ein Name je preisgeben könnte.

Gleich würde die Frau die Wohnung verlassen. Sie arbeitete als Nachtschwester im nahegelegenen Krankenhaus. Erst um sieben Uhr in der Früh würde sie zurückkommen. Ihr Mann würde jeden Moment den Fernseher anstellen. Gameshows oder Fußball. Das Paar war gefangen in einem Hamsterrad aus Beziehungsproblemen und Alltag.

Lester vermisste Bernard. Seit Bernard Irvine aus der Wohnung nebenan gestorben war, folgte das Leben in der Narrow Street 63a dem immer gleichen Ablauf.

Bernard hatte Diabetes gehabt, sämtliche Gin-Sorten am Geruch erkennen können und in seinen letzten Lebensjahren ein Faible für kubanische Zigarren und Frauen aus dem Internet entwickelt. Er war 59 Jahre alt geworden und hatte mindestens zehn Jahre älter ausgesehen.

Als Bernards Herz kapitulierte und er laut angefangen hatte zu keuchen, hatte Lester sich gerade Rasierschaum auf die Wangen aufgetragen und die Klinge ansetzen wollen. Das Stöhnen aus der Nachbarwohnung war an sich nichts Ungewöhnliches gewesen. 350 Pfund Körpermasse konnten ohne entsprechende Laute nicht bewegt werden.

Noch am Abend zuvor hatte Bernard Besuch gehabt. Lester hatte die Frau durch den Spion seiner Tür beobachtet. Üppige Brüste, vermutlich operiert, wasserstoffblonde Haare, wahrscheinlich eine Perücke. Dazu Stiefel bis über die Knie. Bernards Geschmack war einfach gewesen.

Ein gewaltiger Rumms, gefolgt von dem Stöhnen, hatte Lester also an jenem Morgen aus seiner Routine gerissen. Er hatte eine Weile abgewartet, unschlüssig, was zu tun war. Als er schließlich gar keine Geräusche mehr hörte, verständigte er den Notarzt. Es ermöglichte ihm, nah am Geschehen zu bleiben und mit den Sanitätern in Bernards Wohnung zu schlüpfen. Es war weniger die Sorge um Bernards Zustand als die Neugier, die ihn getrieben hatte. Er musste wissen, was nebenan vor sich ging.

Der Arzt hatte Bernards Tod festgestellt und Lester für seine Aufmerksamkeit gedankt. »Es ist wichtig, ein Auge auf die Nachbarn zu haben.«

»Ein Ohr«, hatte er gesagt und gelacht – und es augenblicklich bereut, da Scherze in dieser Situation wohl nicht angemessen waren.

In dem allgemeinen Durcheinander hatte er die Gelegenheit genutzt und nach Bernards Wohnungsschlüssel gegriffen. Er hatte einen letzten Blick auf seinen toten Nachbarn geworfen. Mit offenem Mund lag der wie ein Käfer auf dem Rücken. Arme und Beine von sich gestreckt.

Nur einen Tag nachdem Bernard abtransportiert worden war, begannen die Renovierungsarbeiten in der Wohnung. Seit Wochen, gar Monaten, arbeitete eine Truppe von Bauarbeitern daran, Bernards zwanzigjährige Herrschaft über die Räumlichkeiten ungeschehen zu machen.

Lester lockerte seine Armmuskeln, ließ seine Fingerknochen knacken. Wie weit waren die Handwerker?

Der Geruch frischer Farbe schlug ihm entgegen, als er die Nachbarwohnung betrat. Der Schlüssel in seiner Hand fühlte sich an wie ein Schatz.

Er nahm einen tiefen Atemzug, zog den durchdringenden Geruch des Lösungsmittels ein. Erst als die Schleimhäute in seiner Nase anfingen, sich taub anzufühlen und seine Augen zu brennen begannen, hörte er auf. Wie lange würde es dauern, bis der Farbgeruch von dem Eigengeruch eines neuen Mieters abgelöst wurde?

Überrascht schaute er sich um. Die Wohnung war bezugsfertig. Nichts erinnerte an Bernard und das Chaos aus Nippesfiguren, leeren Flaschen und von Rauch vergilbten Tapeten und Gardinen. Die Wände waren weiß. Das Parkett abgeschliffen. Das Holz ohne Makel. Sogar die Fenster waren neu. Er klopfte dagegen. Doppelglas.

Zu seiner Verwunderung hatten die Eigentümer entschieden, das Appartement zu möblieren. Damit würden sie eine höhere Miete herausschlagen können. Moderne Möbel und perfekt ausgerichtete Kissen auf dem Sofa verströmten eine Katalogatmosphäre. Das Grau des Sofas war abgestimmt auf den Ton der Gardinen. Eine rote Bodenvase sorgte für Farbe. Keine persönlichen Gegenstände gaben Hinweis auf die Präferenzen eines Mieters. Wer würde eine solche Wohnung beziehen wollen, eingerichtet von einem Innenausstatter mit dem Ziel, einen möglichst breiten Geschmack zu treffen?

Lester setzte sich auf einen Sessel. Mit der Hand strich er über den Stoff, die Fasern fühlten sich rau an. Er verspürte keinerlei Befriedigung. Alle Möbel waren unbenutzt. Niemand hatte sich nach einem anstrengenden Tag auf das Sofa gelegt, die Füße auf dem Kissen ruhen lassen, den Kopf gegen das Polster gelehnt. Keine Haare, Hautpartikel, Schweißabdrücke waren zu entdecken.

Die Vermieter hatten wenig Platz zur Selbstgestaltung gelassen. Ein Bild an der Wand oder eine Stehlampe neben dem Fernseher – viele Möglichkeiten gab es nicht. Das Hotelambiente würde bleiben.

Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Die Wohnung war klein und beinahe quadratisch. In wenigen Schritten war er da. Er starrte auf die Tagesdecke, die über dem Bett ausgebreitet war.

Für einen Augenblick glaubte er, den Duft eines Parfums zu riechen. Er drehte den Kopf, nahm die Fährte auf. Doch je mehr er sich konzentrierte, desto weniger war der Geruch wahrnehmbar.

Er widerstand der Versuchung, sich auf das Bett zu legen. Mit einer Hand strich er über die Decke, dann drückte er die Matratze nach unten. Sie war weicher als seine. Er spürte die Sprungfedern unter seinen Fingern.

Kategorie: Queen-Size-Bett

Marke: unbekannt

Fundort: Nachbarwohnung

Zustand: neu

Besonderes Merkmal: Federkernmatratze

Persönliches Interesse: acht

Vorsichtig hob er die Decke an. Er beugte sich zum Kopfkissen und legte den Kopf für einen Moment darauf ab.

Dann richtete er sich wieder auf. Seine Nase, das Kinn und die Stirn hatten Abdrücke auf dem Kissen hinterlassen.

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ein neuer Mieter in die Wohnung einzog. Herzlich willkommen.

*

RHYS

Er inspizierte den Saum seines Ärmels. Das Innenfutter stieß durch den Stoff. Drei Jahre mit nur zwei Anzügen in der Maklerbranche auszukommen, war kein schlechter Schnitt. Allmählich war es an der Zeit, für Ersatz zu sorgen. Die Gebrauchsspuren waren nicht zu übersehen. Doch der Kauf eines neuen Anzugs lohnte sich nicht mehr. In einem halben Jahr war der Spuk vorbei. Sechs Monate. Dann würde er genug Geld gespart haben, um kündigen zu können. Estate Agent. Das Auffangbecken für alle, die nichts gelernt hatten und trotzdem Anzüge tragen wollten. Wichtigtuer auf der Suche nach Karriereoptionen.

Er schloss die Tür zu dem Maklerbüro am Broadway Market auf.

Mitten im sozial schwachen Hackney gelegen, hatte sich in dieser Straße eine alternative Szene angesiedelt, die auch die angrenzende Grünfläche, London Fields, und die benachbarten Straßen in ein buntes Treiben verwandelt hatte. In den letzten Jahren waren die Mietpreise in Hackney in die Höhe geschossen und hatten damit die Immobilienhaie angezogen wie das Licht die Motten. Zahlungskräftige Klientel suchte nach Wohnungen und Häusern, jeder wollte Teil des hippen Londoner Ostens werden. Hackney, oder noch besser Dalston, war das Zauberwort. Bäckereien, Cafés und Restaurants suchten nach Ladenflächen, um für kulinarische Abwechslung zu sorgen. Ein Stück vom Kuchen für alle.

Kritisch beäugt wurden die Makler und ihre Kunden von den alteingesessenen Bewohnern des Stadtteils, die oft vom Leben benachteiligt und selten mit Verständnis für die Zugezogenen gesegnet waren. Verwundert fragten sie sich, wieso zur Hölle ihre einst heruntergekommene Straße plötzlich als Geheimtipp in Reiseführern gelistet wurde.

Rhys zog den Schlüssel aus dem Schloss. Die Tür klemmte. Der Regen der letzten Tage hatte das Holz aufquellen lassen. Mit der Schulter warf er sich dagegen. Nichts passierte.

Sein Blick fiel auf den Hardware-Store gegenüber, dessen Markise mit dem aufmunternden Slogan »Killing Products« für Insekten- und Ungeziefervertilgungsmittel warb. Rhys hatte den Verdacht, dass der Inhaber damit zur Vernichtung der Hipster aufrief, die Hackney in ein Tollhaus verwandelt hatten.

Sollte er nach Werkzeug fragen? Doch er hatte keinerlei Ahnung, welches Hilfsmittel ihm bei seinem Unterfangen behilflich sein könnte. Er warf sich erneut mit Schwung gegen die Tür. Er hatte Glück. Dieses Mal sprang sie mit einem Ächzen auf, gerade so, als hätte sie seiner Bitte im letzten Moment mit Großmut nachgegeben.

Erleichtert betrat er das Büro. Die Luft war stickig, und er ließ die Tür einen Spalt offen stehen.

Er wollte ein paar Überstunden machen. Wenn er es schlau genug anstellte, konnte er vor seiner Kündigung noch einen Bonus abgreifen. In einer Welt des Scheins, in der es nur um Zahlen und Abschlüsse ging, konnte er den Spieß genauso gut umdrehen.

Er schaltete den Computer ein. Während er wartete, dass der Rechner hochfuhr, holte er sich aus der Küche ein Bier. Er war allein. Kein Kollege würde sich heute noch ins Büro verirren. Verwaist standen die Schreibtische einer neben dem anderen, ähnlich den Bänken in einer Schule. Ein Gefängnis unter dem Deckmantel einer Büroeinrichtung.

Langsam sollte er sich Gedanken machen, was genau er mit seiner freien Zeit in sechs Monaten anstellen wollte. Die Ersparnisse würden in London für ein Jahr reichen. In jeder anderen Stadt in England würde er sich mit dem Geld mindestens zwei Jahre finanzieren können. Drei Jahre auf dem Land. Länger, wenn er nach Schottland oder Wales ginge. Fünf Jahre in Thailand – wenn er am Strand schliefe. Die Aussicht, tun und lassen zu können, was er wollte, war fast zu gut, um wahr zu sein.

Durch einen Freund war er in die Immobilienbranche gerutscht. Er hatte Geld gebraucht und es ohne Aufwand bekommen. Doch die Zeit der Nebenjobs und belanglosen Arbeit musste aufhören.

Er konnte sich die schockierten Gesichter bereits vorstellen, wenn er Kollegen, Familie, Freunden seine Entscheidung mitteilte. Wie viele Leute träumten von einer Auszeit? Wie viele zogen es durch?

Die eigene Existenz zu reflektieren war ein Wagnis. Die meisten Leute vermieden es aus gutem Grund. Zwei Situationen lösten diesen Prozess jedoch aus: Ein Mensch aus dem Umfeld machte es vor. Oder ein Mensch aus dem Umfeld starb. Die Wucht des Todes war dabei ungleich effektiver.

Die Erkenntnis war so einfach wie erschreckend: Das Leben war kurz. Jede Sekunde konnte die letzte sein. Das Gefühl von aufkommender Panik wurde abgelöst durch den Vorsatz, das Beste aus allem zu machen. Wer wusste schon, wie lange man noch hatte? Bilanz wurde gezogen. Pläne geschmiedet. Man schlief schlecht, eine Nacht. Oder zwei.

Doch dieser Zustand hielt nie lange an. Der Alltagswahnsinn gaukelte den Menschen Sicherheit vor. Zeit. Schon schob man die Pläne auf den nächsten Tag, die nächste Woche oder das nächste Jahr. Der Schlaf wurde tiefer. Die Routine lullte den Tatendrang ein. Am Ende verpuffte der Vorsatz.

Doch seine Vergangenheit hatte ihn gelehrt, wachsam zu sein. Er würde nicht kampflos mit ansehen, wie sein Leben an ihm vorbeizog. Seine Schlafstörungen waren nicht verschwunden. Sie waren eine Warnung.

Er nahm einen Schluck Bier und öffnete die Akte des Mietobjekts in der Narrow Street. Er wollte den Vertrag für die Kundin vorbereiten. Sie schien ehrlich interessiert an dem Appartement. Halbherzige Interessensbekundungen hörte er heraus. Kunden, die unverbindlich zusagten, um sich alle Optionen offenzuhalten. Selten gab ein Klient vor Ort eine definitive Zusage.

Rhys konnte die Entscheidungsfreude verstehen. Die Wohnung war renoviert. Neue Möbel. Keine Selbstverständlichkeit in Limehouse. Der Londoner Wohnungsmarkt war nicht einfach für Mieter. Zu viele finanzkräftige Kunden, die jeden erdenklichen Preis bezahlen konnten. Aus diesem Grund war es eine übliche Geschäftspraktik, jede Wohnung mehreren Interessenten zu zeigen. Das trieb den Preis in die Höhe. Sein Postfach war voll mit Anfragen potentieller Mieter, die einen Termin zur Besichtigung vereinbaren wollten.

Doch es war kein faires Spiel, und er spielte es ungern. Die Kundin am Morgen hatte ihre Verbindlichkeit nicht vorgetäuscht. Sie hatte eine Anzahlung angeboten. Er würde ihr die Wohnung geben. Angebot, Vermittlung, Abschluss, fertig. Außerdem hatte er noch nie eine Frau mit so grünen Augen gesehen.

Er begann, den Vordruck für den Mietvertrag auszufüllen. Die Eigentümer hatten die komplette Abwicklung der Verträge in die Hände von Suttons & Meyers gelegt. Seine Firma fungierte wie so viele Estate Agents als Maklerbüro und Hausverwaltung gleichzeitig.

Seine Chefin würde zufrieden sein: eine schnelle Vermittlung mit sofortigem Einzug. Sollte der Drachen ruhig trauern, wenn er bald nicht mehr da war. Er wusste, dass er trotz seiner Einstellung zu dieser Branche einen guten Job machte. Je weniger man das Ganze ernst nahm, desto entspannter trat man den Klienten gegenüber auf. Sie schätzten Authentizität. Er wollte guten Gewissens und hoch erhobenen Hauptes diese Beschäftigung hinter sich lassen.

Als er den Vertrag abspeichern wollte, ging auf dem Bildschirm ein neues Fenster auf. Die Systemmeldung teilte ihm mit, dass in der Vergangenheit bereits Wohnungen in dem Mietobjekt vermittelt worden waren. Er konnte sich nicht erinnern, in der Narrow Street je etwas vermietet zu haben. Dafür mussten Kollegen verantwortlich gewesen sein.

Er wollte die Nachricht gerade wegklicken, doch er zögerte. Er war neugierig geworden. Ein hoher Mieterwechsel in der Wohnlage war nicht die Norm. Das Objekt gehörte zu den besseren Komplexen in Limehouse. Es war groß und anonym, verschachtelt und eng gebaut. Von außen sah es mit der grauen Verkleidung trostlos aus. Doch es war in einem annehmbaren Zustand, teilmodernisiert und zudem nur wenige Meter von der Themse entfernt. Die meisten Bewohner waren Eigentümer. Vereinzelte Appartements gehörten jener Wohnungsgesellschaft, für die seine Firma auch die Verwaltung übernommen hatte. Dazu eine Quote an Sozialwohnungen.

Einen Augenblick später hatte er die Information vor sich. In dem Mietobjekt waren allein in den letzten drei Jahren elf Vermittlungen durch Suttons & Meyers erfolgt. Für eine Handvoll Wohnungen. Viele mit kurzer Wohndauer. Das war ungewöhnlich.

Er überflog zwei Akten aus dem letzten Jahr. Es handelte sich um verschiedene Appartements: eine Wohnung im Erdgeschoss und eine in der ersten Etage. Beide Mieterinnen waren vor Ablauf der vertraglichen Mietzeit ausgezogen.

Die Frau aus dem ersten Stock hatte keine Angabe zu ihren Gründen gemacht. Nur drei Monate hatte sie dort gewohnt. Eine Recherche in der Kundendatei zeigte, dass sie die Dienste von Suttons & Meyers kein weiteres Mal in Anspruch genommen hatte.

Ein schneller Auszug konnte immer passieren. Erwartungen wurden nicht erfüllt oder waren zu hoch. Oft verlangten Vermieter aus diesem Grund Jahresverträge. So auch in diesem Fall. Er las die komplette Akte, fand aber keinen Hinweis, auf welche Summe man sich am Ende geeinigt hatte. Im schlimmsten Fall hatte die Frau neun Monatsmieten verloren.

Bei der Mieterin im Erdgeschoss sah die Sachlage ähnlich aus. Sie hatte sieben Monate in dem Wohnblock gewohnt. Rhys scrollte durch die Akte. Schließlich fand er eine Bemerkung. »Vorzeitige Auflösung des Mietverhältnisses.«

Beide Wohnungen hatten zu jener Zeit keine renovierten Badezimmer gehabt. Die Heizungsanlage war ebenfalls noch nicht erneuert worden. Doch Mieter in London waren Kummer gewohnt.

Er kaute am Ende seines Kugelschreibers. Die Wände in dem Wohngebäude waren hellhörig. War mangelnde Privatsphäre das Problem? Passive Anteilnahme am Leben der Nachbarn kannte man doch als Großstädter. Es gab kaum einen Londoner, der nicht eine Geschichte über Streitgespräche, Sex oder laute Musik aus der Nachbarwohnung zum Besten geben konnte.

War die Lage der Wohnungen schuld? Erdgeschoss und erster Stock waren ein Risiko. Die Nähe zum Gehweg, die Wahrscheinlichkeit eines Vorfalls durch Obdachlose, Gangs, Einbrecher – damit musste man umgehen können. Bei der falschen Gesellschaft vor dem Fenster konnte eine Wohnung schnell zum Albtraum werden.

Sollte er sich die anderen Akten anschauen? Das Gefühl, das plötzlich in ihm nagte, war undefinierbar. Es erinnerte an das Kitzeln einer Fliege auf der Haut. Nicht richtig störend, aber doch so lästig, dass es abgestellt werden musste.

Er dachte an die grünen Augen. »Falls es ein Problem gibt, können Sie sich jederzeit an mich wenden«, hatte er zum Abschied gesagt. Sie hatte gelächelt. »Ich will die Wohnung unbedingt.«

Er schob seine Gedanken beiseite. Er würde seinen Job machen und das tun, was von ihm verlangt wurde: einen Vertrag zur Unterschrift vorbereiten. Angebot, Vermittlung, Abschluss, fertig.

Er gab den Befehl zum Drucken der Unterlagen. Kurz darauf spuckte der Drucker zwei Exemplare des Mietvertrags für Appartement 6A aus.

4

LESTER

07. September – 10:32 Uhr

Sein Gesicht war so dicht an der Wohnungstür, dass seine Wimpern das Holz berührten. Durch den Spion hatte er den Eingang der Nachbarwohnung und einen Teil des Hausflurs im Blick. Er hielt den Atem an.

Eine Frau trat aus Bernards Wohnung. Sie trug ein kurzes Kleid. Es betonte ihre Schultern. Ihre Beine. Nackte Haut. Zum Greifen nah.

Ihre Arme waren dünn und trotzdem trainiert. Noch nie hatte er so zarte Muskeln an den Oberarmen einer Frau gesehen. Ihre Haut war blass, beinahe transparent. Ihr Rücken war kerzengerade. In diesem Moment zog sie die Wohnungstür hinter sich zu.

Ein Mann hatte die Wohnung vor einigen Minuten verlassen. Es musste ein Makler gewesen sein. Mit Aktentasche und geschäftigem Gesichtsausdruck war er den Flur entlanggeeilt.

Mit einem Klappern fiel ihr Schlüsselbund auf den Boden. Seine Hand griff zur Klinke. Sollte er rausgehen? Sich vorstellen? Er zögerte. Wollte den Augenblick genießen.

Er hatte eine neue Nachbarin. Verlangen breitete sich in seinen Adern aus. Eine Frau.

Sein Blick klebte auf ihrem Hintern. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, hatte sie den Schlüsselbund aufgehoben und lief zur Treppe. Sie schien über den Boden zu schweben, als würde sie an einem Faden nach oben gezogen. Sie bewegte sich, als könnte die Schwerkraft ihr nichts anhaben. Seine Finger krallten sich an der Klinke fest. Ihre Haare waren dunkel. Kinnlänge. Strähnen standen zur Seite ab. Der fransige Pony hing über die Augenbrauen. Ihre Frisur betonte ihren Hals. Ihr Hals war schmal. Verletzlich.

Plötzlich schaute sie in seine Richtung. Er erstarrte. Dann fiel ihm ein, dass sie ihn durch den Spion nicht sehen konnte. Spürte sie seine Blicke? Er hob die Hand hinter der Tür, zum Gruß. Sie lief an ihm vorbei. So nah. Ahnungslos. Herzlich willkommen.

Sie hatte nicht abgeschlossen. Wie sorglos sie war. Oder war sie unaufmerksam? Die Türen in diesem Wohnblock ließen sich ohne große Kraftanstrengung aufhebeln. Diverse Einbrüche in den letzten Jahren zeugten davon. Er schielte zur obersten Schublade seines Schuhschranks. Dort bewahrte er die Schlüssel auf. Seine Errungenschaften. Er könnte die Wohnungstür der neuen Nachbarin abschließen. Sicherlich wäre sie dankbar für seine Umsicht. Aber dann wüsste sie, dass er, oder jemand, einen Schlüssel hatte. Nein.

Er wandte sich wieder dem Spion zu, wollte einen letzten Blick auf sie erhaschen, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand.

Mit einem Zischen zog er Luft ein. Die Alte aus 6B kam mit einem untrüglichen Gefühl für den richtigen Zeitpunkt die Treppe hinaufgeschlichen. Sobald im Hausflur eine Entdeckung zu machen war, sei es der Briefträger, eine entlaufene Katze oder ein Klapprad, das am Geländer lehnte – die Alte war sofort zur Stelle.

Mit ihrer knochigen Hand hielt sie sich am Geländer fest. Der defekte Lift setzte ihr zu. Sie schien ihre gesamte Energie dafür aufbringen zu müssen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nur mit Mühe schaffte sie es, den Einkauf in ihre Etage zu tragen. Gleich würden beide Frauen aufeinandertreffen.

Sie reichten sich die Hand. Die neue Nachbarin griff der Alten unter die Arme. Beide lächelten. Die Neue nahm die Einkaufstaschen der Alten, zwei an der Zahl, mit Leichtigkeit. Sie war kräftig. Trotz der dünnen Arme.

Er kniff die Augen zusammen. Die Alte hatte zu viel Rouge auf den Wangen. Ihre weißen Haare oberhalb der Ohren und an den Schläfen waren von dem Make-up rot verfärbt. Selbst aus dieser Entfernung konnte er die dicke Schicht aus Puder erkennen. Er stellte sich vor, wie es wäre, ihr gesamtes Gesicht einfach wegzupusten. Seine Kieferknochen knackten.

*

LESTER

07. September – 17:15 Uhr

Er hielt eine gelbe Damenhandtasche in den Händen. Sie war leer bis auf zwei unbenutzte Stofftaschentücher und einen Lippenstift, was den Schluss zuließ, dass sie der Besitzerin gestohlen worden war. Keine Schlüssel. Keine Adresse.

Er fuhr mit den Fingern über das Leder. Kate Spade stand auf einem Anhänger. Soweit er wusste, war das eine teure Marke. Verwunderlich, dass die Tasche von dem Dieb achtlos entsorgt worden war. Sie war in einem tadellosen Zustand.

Er hielt seine Nase in die Tasche, zog den Geruch ein: Leder vermischt mit dem Duft eines Parfums. Wie wohl die neue Nachbarin roch?

Er griff nach den Taschentüchern. Weichspüler hatte den Stoff glatt gewaschen. Langsam fuhr er sich mit einem Tuch über das Gesicht. Er spürte die Baumwolle an seinen Lippen. Seine Zunge berührte eine Naht. Sein Speichel hinterließ einen Fleck auf dem Stoff.

Als er Schritte hörte, legte er die Taschentücher schnell zusammen und schob sie zurück in das Innenfach der Tasche.

Er stellte sich eine Bankangestellte aus der Londoner City vor. Jung, ein oder zwei Jahre nach ihrem Abschluss – eine ältere Frau hätte vermutlich nicht diese Farbe gewählt –, die sich als Belohnung für ihre 80-Stunden-Woche etwas gegönnt hatte. Ein Single, voller Hoffnung, dass ihr Make-up und die teure Tasche halfen, dem Richtigen aufzufallen. Vermutlich hatte sie längst für Ersatz gesorgt, der Verlust nicht mehr als eine Unannehmlichkeit. Ob die neue Nachbarin auch eine gelbe Handtasche besaß?

»Lies mal!« Seine Kollegin Deborah stand vor ihm. Jäh riss sie ihn aus seinen Gedanken.

Mit ihrem dicken Zeigefinger tippte sie auf einen Zeitungsartikel. Druckerschwärze hatte die Haut an der Spitze ihres Fingers dunkel verfärbt. »Meine Nachbarschaft.« Der Stolz, der in ihrer Stimme mitschwang, ließ sie noch korpulenter erscheinen, als sie ohnehin schon war.

»Du störst«, sagte er.

Deborah ignorierte seinen Einwand. »Ein siebzigjähriger Mann gehört nicht in Untersuchungshaft.«

Er wurde wütend. Sie brachte ihm keinen Respekt entgegen. Das Geräusch summender Bienen breitete sich in seinem Kopf aus. Sie erinnerte ihn an ein Mädchen aus seiner Kindheit.

Als Zehnjähriger hatte er regelmäßig den Garten nach Insekten abgesucht. Er hatte sie in einem Glas gesammelt. Ihre Fluchtversuche beobachtet. Das Gefühl der Macht verlieh ihm Stärke.

Das dicke Mädchen aus dem Nachbarhaus hatte ihn bei seinen Aktivitäten gestört. Mit ihren Sandalen trampelte sie den Rasen platt. Sie ließ sich durch nichts verscheuchen, suchte seine Nähe. Eines Tages schmierte er das Gesicht der Kleinen mit Honig ein. Nachdem er eine ordentliche Schicht aufgetragen hatte, befahl er ihr, sich in ein von Bienen und Wespen bevölkertes Blumenbeet zu setzen. Der Erfolg war überwältigend gewesen. Die Eltern der Vierjährigen hatten ihm nach der Aktion jeden Kontakt mit ihr verboten.

Er stellte sich Deborahs Gesicht vor, wie es vor Honig glänzte. Das Summen der Bienen glich mittlerweile dem Lärm eines Hubschraubers. Sie steuerten auf den Kopf seiner Kollegin zu.

Er griff nach der Daily Mail. Drei Mal las er den ersten Absatz. Einhellige Meinung der Befragten in dem Artikel war, dass es sich bei dem Mafiapaten von Herne Hill um einen Bilderbuchnachbarn handelte. Die Anwohner waren zufrieden, dass dem alten Mann aus Mangel an Beweisen keine Verhaftung drohte. »Man weiß nie, wer stattdessen einzieht«, wurde eine Nachbarin zitiert.

Lester verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Die neue Nachbarin tauchte wieder in seinem Kopf auf.

Er wischte mit einem Finger über den Zeitungsartikel. Seine Haut blieb sauber. Deborah hatte die überflüssige Druckerschwärze abgegriffen. Vermutlich löste sich die Farbe schneller von dem Papier, je feuchter die Hände waren. Ohne einen Kommentar zum Artikel gab er ihr die Zeitung zurück. »Du hast schwarze Finger.«

Deborah guckte auf die Druckerschwärze an ihrer Hand. Wortlos drehte sie sich um und ging. Erst nachdem sie nicht mehr zu sehen war, verschwand das Summen des Bienenschwarms aus seinem Kopf.

Er warf die gelbe Handtasche in den Container mit den Taschen. Persönliches Interesse: sieben. In drei Monaten würde er sie aus dem System löschen und mit nach Hause nehmen.