Im Spiegel des Kosmos - Neil deGrasse Tyson - E-Book

Im Spiegel des Kosmos E-Book

Neil deGrasse Tyson

0,0
19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Das Gute an der Wissenschaft ist, dass sie wahr ist, ob Sie daran glauben oder nicht.« Neil deGrasse Tyson Der berühmte Astrophysiker und Bestsellerautor Neil deGrasse Tyson wirft ein neues Licht auf die brennenden Themen unserer Zeit – Krieg, Politik, Religion, Wahrheit, Ästhetik, Gender, Race – und verdeutlicht, wie uns Wissenschaft in der Tradition der Aufklärung Lösungen bieten kann. So tiefsinnig, verständlich und witzig wurde Kosmologie seit Stephen Hawking nicht mehr erzählt. Wir leben in einer Zeit, in der uns politische und kulturelle Sichtweisen zunehmend trennen. Doch wir äußern meist nur, was wir für wahr halten oder wahr halten wollen, ohne Rücksicht darauf, was wahr ist. Wir haben den Blick dafür verloren, was Fakten von Meinungen unterscheidet, und üben schließlich Gewalt aus, wo wir friedlich zusammenleben könnten. Neil deGrasse Tyson vollzieht in seinem neuesten Werk einen spannenden Perspektivenwechsel: So wie Galileo Galileis Erkenntnisse über das Universum die Menschen veranlasste, ihre Überzeugungen zu hinterfragen, plädiert er für ein Nachdenken über das Leben in seinem größtmöglichen Kontext – aus Sicht des Kosmos, der Sterne und Planeten. Unterhaltsam und anschaulich entwirft er Lösungen für die globalen Konflikte und leitet daraus brillante Wahrheiten über unser Dasein ab.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dies ist der Umschlag des Buches »Im Spiegel des Kosmos« von Neil deGrasse Tyson, Hans-Peter Remmler

Neil deGrasse Tyson

Im Spiegel des Kosmos

Perspektiven auf die Menschheit

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans-Peter Remmler

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »STARRY MESSENGER. Cosmic Perspectives on Civilization« im Verlag Henry Holt and Company, New York.

© 2022 by Neil deGrasse Tyson

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung des Entwurfs von Ellie Game © HarperCollinsPublishers Ltd 2022

Abbildungen: Dima Zel/Shutterstock.com, Dulyanut Swdp/Getty Images

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Michael Kinzig

ISBN 978-3-608-98680-8

E-Book ISBN 978-3-608-12202-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Ouvertüre

Wissenschaft & Gesellschaft

Kapitel Eins

Wahrheit & Schönheit

Kapitel Zwei

Erforschung & Entdeckung

Kapitel Drei

Erde & Mond

Kapitel Vier

Konflikt & Lösung

Kapitel Fünf

Wagnis & Belohnung

Kapitel Sechs

Fleischesser & Vegetarier

Kapitel Sieben

Geschlecht & Identität

Kapitel Acht

Hautfarbe & Rasse

Kapitel Neun

Gesetz & Ordnung

Kapitel Zehn

Körper & Geist

CODA

Leben & Tod

Dank

Quellen und Bildnachweise

Anmerkungen

Widmung

Ouvertüre

 Wissenschaft & Gesellschaft

Kapitel Eins

 Wahrheit & Schönheit

Kapitel Zwei

 Erforschung & Entdeckung

Kapitel Drei

 Erde & Mond

Kapitel Vier

 Konflikt & Lösung

Kapitel Fünf

 Wagnis & Belohnung

Kapitel Sechs

 Fleischesser & Vegetarier

Kapitel Sieben

 Geschlecht & Identität

Kapitel Acht

 Hautfarbe & Rasse

Kapitel Neun

 Gesetz & Ordnung

Kapitel Zehn

 Körper & Geist

CODA

 Leben & Tod

Gewidmet dem Gedenken an Cyril DeGrasse Tyson[1] und all den anderen, die die Welt gerne so sehen wollen, wie sie sein könnte, nicht so, wie sie ist.

Du entwickelst augenblicklich ein globales Bewusstsein, eine Orientierung auf die Menschen, ein starkes Unbehagen angesichts des Zustands der Welt, und einen Drang, etwas daran zu ändern.

Von dort draußen, vom Mond aus betrachtet wirkt die Weltpolitik so lächerlich kleinlich. Am liebsten möchte man einen Politiker am Schlafittchen packen, ihn eine Viertelmillion Meilen hinaus ins Weltall zerren und zu ihm sagen: »Schau dir das an, du kleiner Mistkerl.«

Edgar D. Mitchell, Astronaut der Apollo 14

Vorwort

Im Spiegel des Kosmos ist ein Weckruf an die Zivilisation. Die Leute wissen heute nicht mehr, wem oder worauf sie vertrauen können. Wir säen Hass auf andere, angefacht durch das, was wir für wahr halten, oder von dem wir gerne hätten, dass es wahr ist, ohne Rücksicht darauf, was wirklich wahr ist. Kulturelle und politische Gruppen und Grüppchen streiten um die Seelen anderer Gruppen und ganzer Völker. Den Unterschied zwischen Fakten und Meinungen haben wir dabei gänzlich aus den Augen verloren. Mit Aggressionen sind wir schnell bei der Hand, mit Warmherzigkeit und Güte gehen wir sparsam um.

Als Galileo Galilei seinen Sidereus Nuncius im Jahr 1610 veröffentlichte, schenkte er der Erde kosmische Wahrheiten, die seit der Antike darauf gewartet hatten, ins menschliche Denken Einzug halten zu können. Galileos gerade erst perfektioniertes Teleskop offenbarte ein Universum, das ganz anders war als alles, was die Menschen bis dahin als wahr angenommen hatten. Anders als alles, was die Menschen gerne als wahr annehmen wollten. Anders als alles, was die Menschen als wahr auszusprechen gewagt hätten. Im Sidereus Nuncius beschrieb Galileo seine Beobachtungen der Sonne, des Mondes und der Sterne, ebenso der Planeten und der Milchstraße. Zwei rasche Lehren aus diesem Buch: (1) Das menschliche Auge reicht nicht aus, um die fundamentalen Wahrheiten über die Abläufe in der Natur zu enthüllen. (2) Die Erde ist nicht der Mittelpunkt aller Bewegung. Sie kreist um die Sonne, als lediglich einer unter mehreren anderen bekannten Planeten.

Sidereus Nuncius ist lateinisch und heißt übersetzt Sternenbote.

Diese allerersten kosmischen Perspektiven auf unsere Welt waren ein guter Anlass für die Menschen, sich selbst zu hinterfragen, und verpassten unserer Selbstherrlichkeit einen ordentlichen Dämpfer – Nachrichten von den Sternen, die die Menschen zwangen, ihre Beziehungen untereinander, zur Erde und zum Kosmos ganz neu zu überdenken. Sonst laufen wir Gefahr zu glauben, die Welt würde sich um uns und unsere Ansichten und Überzeugungen drehen. Als Gegenmittel bietet uns mein Buch Wege, unsere emotionalen und intellektuellen Energien so zu nutzen, dass sie mit den biologischen, chemischen und physikalischen Gegebenheiten des bekannten Universums in Einklang stehen. Im Spiegel des Kosmos entwirft neue Konzepte zu einigen der meistdiskutierten und umstrittensten Themen unserer Zeit – Krieg, Politik, Religion, Wahrheit, Schönheit, Geschlecht, Rasse, jedes einzelne davon ein künstliches Gefechtsfeld in der Landschaft unseres Lebens. Und es gibt diese in einer Weise an die Leserinnen und Leser zurück, der es vor allem anderen darum geht, Verantwortlichkeit und Weisheit im Dienst der Zivilisation voranzubringen. Zwischendurch gehe ich auch immer wieder einmal der Frage nach, was wohl Außerirdische von uns halten mögen, die gänzlich ohne vorgefasste Vorstellung davon auf der Erde eintreffen, wer oder was wir sind – oder wie wir sein sollten. Sie spielen hier den unparteiischen Beobachter unseres mysteriösen Treibens und legen den Finger in die Wunden von Widersprüchlichkeit, Heuchelei und hier und da schlichter Idiotie in unserer Lebensweise.

Stellen Sie sich mein Buch vor als Fundgrube von Einsichten, informiert durch das Universum und vermittelt mit den Methoden und Werkzeugen der Wissenschaft.

Ouvertüre

Wissenschaft & Gesellschaft

Wenn die Leute in unserer komplizierten Welt aus Politik, Religion und Kultur unterschiedlicher Meinung sind, sind die Ursachen dafür einfach, die Lösungen sind es mitnichten. Wir alle tragen unterschiedliche Bestände an Wissen mit uns herum. Wir haben unterschiedliche Werte, unterschiedliche Prioritäten und ein unterschiedliches Verständnis von allem, was sich um uns herum entfaltet. Jeder Einzelne von uns sieht die Welt nur mit seinen Augen, und damit konstruieren wir Stämme oder Sippen auf der Grundlage dessen, wer ähnlich aussieht wie wir, wer die gleichen Götter anbetet und wer dem gleichen Moralkodex folgt wie wir. Angesichts der über lange Zeit gegebenen paläolithischen Isolation innerhalb unserer Spezies darf uns wohl nicht überraschen, was die Evolution da hervorgebracht hat. Dieses Gruppendenken könnte, auch wenn es sich vernünftigem Denken entzieht, unseren Vorfahren Überlebensvorteile gebracht haben.[1]

Gehen wir dagegen auf Abstand zu allem, was uns trennt, finden wir vielleicht eine gemeinsame, einende Sicht auf die Welt. Wenn dem so ist, passen Sie auf, wo Sie sich hinbegeben. Diese neue Sichtweise liegt nicht nördlich oder südlich, nicht östlich oder westlich von Ihrem eigenen Standpunkt. In Wirklichkeit existiert dieser Ort nirgendwo auf dem Kompass. Sie müssen schon die Erdoberfläche hinter sich lassen, um dorthin zu gelangen – um die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht, auf eine Weise zu sehen, die Sie immun macht gegen provinzielle Interpretationen der Welt. Bei dieser Transformation sprechen wir vom »Overview-Effekt«, wie ihn üblicherweise Astronauten erleben, die schon einmal die Erde umkreist haben. Betrachten Sie nun diesen Effekt zusammen mit den Entdeckungen der modernen Astrophysik, der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Technologie, die die Erforschung des Weltalls erst hervorbrachten, und ja, die kosmische Perspektive steht im wahrsten Sinne des Wortes über allem anderen.

So ziemlich jeder Gedanke, jede Meinung und jeder Ausblick, die ich zum Weltgeschehen artikuliere, wird beeinflusst – informiert und aufgeklärt – von dem Wissen um unseren Platz auf der Erde und unseren Platz im Universum. Die Methoden, Werkzeuge und Entdeckungen der Wissenschaft sind alles andere als ein kaltes, empfindungsfreies Unterfangen, ja, vielleicht existiert kaum etwas Menschlicheres als diese. Sie formen die moderne Zivilisation. Und was ist denn die Zivilisation, wenn nicht das, was wir Menschen um uns herum aufgebaut haben, als Mittel, um urtümliche Triebe zu überwinden, und als Landschaft, in der wir leben, arbeiten, spielen?

Wie steht es also um unsere kollektive und fortdauernde Uneinigkeit? Ich kann Ihnen nur eines versprechen: Ganz gleich, welchen Ansichten Sie gegenwärtig anhängen, ein Schuss Wissenschaft und rationales Denken kann diesen Ansichten zumindest eine tiefere und solidere Grundlage geben. Dieser Weg vermag auch unbegründete Sichtweisen oder unangebrachte Gefühle bloßzulegen, die Sie vielleicht mit sich herumschleppen.

Man sollte realistischerweise nicht erwarten, dass die Leute in der gleichen Weise streiten, wie das Wissenschaftler untereinander tun. Das liegt daran, dass Wissenschaftler nicht hinter der Meinung ihrer Kolleginnen und Kollegen her sind. Wir interessieren uns bloß für die Daten der jeweils anderen. Selbst im Meinungsstreit werden Sie vielleicht überrascht sein, wie schlagkräftig eine rationale Perspektive sein kann. Wenn Sie diese Erleuchtung erfahren haben, werden Sie rasch erkennen, dass die Erde nicht viele Volksstämme beheimatet, sondern nur einen einzigen – die Gesamtheit der Menschen. Das ist der Punkt, an dem sich viele Unstimmigkeiten abmildern, während sich andere einfach in Wohlgefallen auflösen, und es bleibt auf einmal gar nichts mehr übrig, worüber man geteilter Meinung sein müsste.

Die Wissenschaft unterscheidet sich von allen anderen menschlichen Unterfangen durch ihr Potenzial, das Verhalten der Natur auf einer Ebene zu erkunden und zu verstehen, auf der wir die Auswirkungen von Vorgängen in der Natur präzise vorhersagen, wenn nicht sogar steuern können. Wissenschaftliche Erkenntnisse vermögen oft die Sicht auf alle möglichen Dinge zu erweitern und zu vertiefen. Insbesondere trägt die Wissenschaft zu unserer Gesundheit, unserem Wohlstand und unserer Sicherheit bei – unter allen drei Aspekten geht es den Menschen auf der Erde heute besser als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte.

Die wissenschaftliche Methode, die diese Errungenschaften untermauert, wird oftmals in formellen Begriffen vermittelt, die auf Induktion, Deduktion, Hypothese und Experiment verweisen. Doch sie lässt sich auch in einem einzigen Satz zusammenfassen, in dem es ausschließlich um Objektivität geht:

Vermeide unter allen Umständen, dir selbst vorzumachen, etwas sei wahr, obwohl es falsch ist, oder etwas sei falsch, obwohl es wahr ist.

Diese Herangehensweise an das Wissen hat ihre Wurzeln im 11. Jahrhundert, in Worte gefasst vom arabischen Gelehrten Ibn al-Haytham (965–1040), auch bekannt unter dem Namen Alhazen. Insbesondere warnte er die Wissenschaftler vor der Gefahr der Voreingenommenheit: »Er sollte auch sich selbst stets hinterfragen, wenn er seine kritischen Untersuchungen anstellt, um nicht dem Vorurteil oder der Nachlässigkeit zu verfallen.«[2] Jahrhunderte später, zur Zeit der Renaissance in Europa, war Leonardo da Vinci ganz dieser Meinung: »Die größte Täuschung, die Menschen erleiden, ist ihre eigene Meinung.«[3] Im 17. Jahrhundert, kurz nach den beinahe gleichzeitigen Erfindungen des Mikroskops und des Teleskops, stand die wissenschaftliche Methode in voller Blüte, vorangetrieben durch die Arbeiten des Astronomen Galileo und des Philosophen Sir Francis Bacon. Kurz gesagt heißt das: Überprüfe deine Hypothese durch Experimente, und nimm die Stichhaltigkeit deines Beweises als Maßstab für dein Vertrauen in die Richtigkeit deiner Ergebnisse.

Seitdem lernten wir, eine neu entdeckte Wahrheit erst dann anzuerkennen, wenn die Mehrzahl der Wissenschaftler zu übereinstimmenden Ergebnissen kommt. Dieser Verhaltenskodex zeitigt beachtliche Folgen. Es gibt kein Gesetz gegen das Veröffentlichen falscher oder voreingenommener Ergebnisse. Wenn du es aber tust, zahlst du einen hohen Preis. Wenn Kollegen deine Forschungen überprüfen und niemand dabei deine Resultate reproduzieren kann, wird die Integrität deiner zukünftigen Forschung immer unter einem Verdachtsvorbehalt stehen. Wenn du ganz offen betrügst – also wissentlich Daten fälschst – und spätere Forscher auf dem Fachgebiet diesen Betrug aufdecken, bedeutet die Enthüllung das Ende deiner Karriere.

Dieses selbstregulierende System innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ist vielleicht einzigartig unter allen Berufszweigen, und damit es funktioniert, braucht es keine Öffentlichkeit, keine Presse und keine Politiker. Dennoch kann es faszinierend sein, dieser Maschinerie bei der Arbeit zuzuschauen. Man beobachte einfach den Fluss der Forschungsarbeiten, die die Seiten der fachkundig geprüften wissenschaftlichen Journale (»Peer-Reviews«) zieren. Diese Brutstätte der Entdeckung ist auch, zumindest gelegentlich, ein Schlachtfeld der wissenschaftlichen Kontroverse. Betreibt man dagegen zur Verfolgung kultureller, ökonomischer, religiöser oder politischer Ziele Rosinenpickerei in Forschungsergebnissen, über die noch kein allgemeiner wissenschaftlicher Konsens besteht, untergräbt dies das Fundament einer informierten Demokratie.

Und nicht nur das: Einmütigkeit ist in der Wissenschaft geradezu ein Fluch für den Fortschritt. Die ständigen Vorwürfe, wir würden es uns in unserer Einhelligkeit gemütlich machen, stammen von Leuten, die noch nie eine wissenschaftliche Konferenz von innen gesehen haben. Stellen Sie sich solche Versammlungen am besten als eine Art Tag der offenen Tür vor, bei dem alle Teilnehmenden ihre Ideen vorbringen dürfen, unabhängig von ihrem Status oder Renommee. Das tut unserer Branche nur gut. Die guten Ideen halten jeder Überprüfung stand, die schlechten gehen über Bord. Auch Wissenschaftler, die in ihrer Karriere vorwärtskommen wollen, haben für Einmütigkeit nur ein müdes Lächeln übrig. Die beste Möglichkeit, zu Lebzeiten berühmt zu werden, besteht darin, eine Idee zu verfechten, die konträr zur überwiegenden Ansicht in der Wissenschaft steht und die sich eine andauernde Bestätigung durch Beobachtung und Experiment erarbeitet. Ein gesunder Dissens ist geradezu der natürliche Zustand an der Schwelle zur Entdeckung.

✴ ✴ ✴

Im Jahr 1660, ganze achtzehn Jahre nach Galileos Tod, wurde die Royal Society of London gegründet, und sie ist als älteste unabhängige wissenschaftliche Akademie der Welt bis heute aktiv. Seit jeher werden dort neue und fortschrittliche wissenschaftliche Ideen diskutiert, inspiriert durch das wunderbar unverblümte Motto der Akademie, »Nullius in verba« (etwa: Glaube niemandem aufs Wort). 1743 gründete Benjamin Franklin die American Philosophical Society zur Förderung »nützlichen Wissens«. Sie wirkt bis heute zu genau diesem Zweck, mit Mitgliedern, die alle Gebiete akademischen Strebens in den Natur- und den Geisteswissenschaften abdecken. Und im Jahr 1863, als er mit Sicherheit dringlichere Angelegenheiten zu erledigen hatte, unterzeichnete Abraham Lincoln – der erste republikanische Präsident der USA – die Gründungsurkunde der National Academy of Sciences (NAS) auf der Grundlage eines vom Kongress verabschiedeten Gesetzes. Dieses ehrwürdige Gremium sollte der Nation, deren Gründung noch keine hundert Jahre zurücklag, bei allen Fragen von Wissenschaft und Technologie mit unabhängigem Rat zur Seite stehen.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt eine Vielzahl von Institutionen mit wissenschaftlichem Auftrag einen ganz ähnlichen Zweck. In den USA wären hier zu nennen: die National Academy of Engineering (NAE); die National Academy of Medicine (NAM); die National Science Foundation (NSF) und die National Institutes of Health (NIH). Nicht zu vergessen die National Aeronautics and Space Administration (NASA), die sich um die Erforschung von Weltraum und Luftfahrt kümmert; das National Institute of Standards and Technology (NIST), bei dem es um die Grundlagen für wissenschaftliche Maßangaben geht, auf denen alle anderen Messungen und Maßangaben beruhen; das Department of Energy (DOE), welches Energie in allen ihren nutzbaren und nützlichen Formen untersucht, und die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), die Wetter und Klima auf der Erde erforscht und den möglichen Einfluss dieser Faktoren auf Wirtschaft und Handel analysiert.

Diese Zentren der Forschung können ebenso wie weitere angesehene Quellen veröffentlichter Wissenschaft Politiker auf eine Weise befähigen, die am Ende zu Regierungsentscheidungen auf der Grundlage von Aufklärung und zuverlässigen Informationen führt. Das wird allerdings erst dann geschehen, wenn das Wahlvolk und die von ihm Gewählten verstehen lernen, wie Wissenschaft funktioniert und warum. Wissenschaftliche Errungenschaften der Forschungseinrichtungen einer Nation bilden den Nährboden für die Zukunft dieser Nation. Und gespeist wird dieser durch die Breite und Tiefe der Unterstützung, die staatliche Stellen und Behörden den ihnen unterstehenden Institutionen zukommen lassen.

Sobald man sich einmal eingehend mit der Frage beschäftigt hat, wie ein Wissenschaftler die Welt sieht, wie die Erde vom Weltall aus betrachtet aussieht und welche Größe dem kosmischen Zeitalter und dem unendlichen Weltraum innewohnt, verändert sich jedes irdische Denken. Das Gehirn ordnet die Prioritäten des Lebens neu ein und bewertet auch das Handeln neu, das man als Reaktion darauf in Angriff nimmt. Keine Anschauung über Kultur, Gesellschaft oder Zivilisation bleibt davon unberührt. Mit dieser Geisteshaltung sieht die Welt einfach ganz anders aus. Der Standpunkt des Betrachters wird ein anderer.

Man nimmt das Leben gewissermaßen durch die Brille einer kosmischen Perspektive wahr.

Kapitel Eins

Wahrheit & Schönheit

Ästhetik im Leben und im Kosmos

Seit dem Altertum treiben die Fragen von Wahrheit und Schönheit unsere größten Denker um – vor allem Philosophen und Theologen, aber hier und da auch Dichter wie John Keats, dessen Werk »Ode auf eine griechische Urne« aus dem Jahr 1819 mit den fast schon lakonischen Zeilen endet:[1]

Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit schön, mehr weißt Du nicht

– Und mehr musst du nicht wissen.

Wie würden diese Themen und Begriffe wohl auf außerirdische Gäste wirken, die quer durch die Galaxie gereist sind, um uns einen Besuch abzustatten? Sie werden frei von unseren diversen Voreingenommenheiten sein, frei von unseren Vorlieben und unseren vorgefassten Meinungen. Sie würden einen frischen und unverstellten Blick auf das werfen, was uns Menschen besonders am Herzen liegt. Sie würden vielleicht sogar bemerken, dass der Begriff der Wahrheit auf Erden mit widerstreitenden Ideologien belastet ist, die dringend einer Einordnung auf der Basis wissenschaftlicher Objektivität bedürfen.

Ausgestattet mit den über die Jahrhunderte immer weiter verfeinerten Methoden und Werkzeugen der Forschung sind Wissenschaftler vielleicht die letztlich einzig denkbaren Entdecker dessen, was im Universum objektiv wahr ist. Objektive Wahrheiten besitzen für alle Menschen, Orte und Dinge gleichermaßen Gültigkeit, ebenso für sämtliche Tiere, Pflanzen und Mineralien. Einige dieser Wahrheiten gelten sogar quer durch allen Raum und alle Zeiten. Sie sind wahr – auch dann, wenn Sie nicht daran glauben.

Objektive Wahrheiten stammen nicht von irgendeiner vorgegebenen Autorität und auch nicht aus einer einzelnen Forschungsarbeit. Vielleicht führt die Presse im Bestreben, Schlagzeilen zu produzieren, die Wahrnehmung von der Öffentlichkeit darüber, wie Wissenschaft funktioniert, in die Irre, indem sie eine frisch erschienene wissenschaftliche Abhandlung als Wahrheit präsentiert und dem Ganzen noch mit den akademischen Lorbeeren der Autoren Nachdruck verleiht. Wenn Erkenntnisse von den aktuellen Grenzbereichen des Denkens stammen, kann man noch nicht von einer gefestigten Wahrheit sprechen. Die Forschung kann umherschweifen, bis Experimente in die eine oder andere Richtung tendieren – oder auch in gar keine Richtung, was eine Warnung sein könnte, dass vielleicht gar kein spezifisches Phänomen vorliegt. Diese entscheidende gegenseitige Kontrolle dauert in der Regel Jahre, und dann hat sich die Sache mit den Schlagzeilen vermutlich längst erledigt.

Objektive Wahrheiten, etabliert durch wiederholte Experimente, die einheitliche Resultate liefern, stellen sich nicht hinterher als falsch heraus. Es bedarf keiner weiteren Prüfung, ob die Erde wirklich rund ist; oder ob die Sonne heiß ist; oder ob die DNA von Menschen und Schimpansen zu über 98 Prozent identisch ist; oder ob die Luft, die wir atmen, zu 78 Prozent aus Stickstoff besteht. Das Zeitalter der »modernen Physik«, eingeläutet durch die revolutionäre Quantentheorie des frühen 20. Jahrhunderts und die Relativitätstheorie etwa um die gleiche Zeit, warf nicht etwa Newtons Gesetze über Bewegung und Schwerkraft über Bord. Vielmehr beschrieb sie tiefer verborgene Realitäten der Natur, sichtbar gemacht durch immer großartigere Methoden und Werkzeuge der Forschung. Ähnlich wie eine Matrioschka-Puppe umschloss die moderne Physik die klassische Physik mit diesen noch umfassenderen Wahrheiten. Die Wissenschaft kann nur dann keine objektiven Wahrheiten gewährleisten, wenn an der vordersten Front der Forschung noch kein Konsens besteht. Die einzige Epoche, in der die Wissenschaft keine objektiven Wahrheiten liefern konnte, lag vor dem 17. Jahrhundert, als unsere Sinneswahrnehmung – unzulänglich und voreingenommen, wie sie nun einmal ist – das einzige Werkzeug war, mit dem wir uns Informationen über die natürliche Welt beschaffen konnten. Objektive Wahrheiten existieren unabhängig von dieser auf fünf Sinnen beruhenden Wahrnehmung der Wirklichkeit. Mit den richtigen Werkzeugen kann sie jeder Mensch überprüfen, zu jeder Zeit und an jedem Ort.

Objektive wissenschaftliche Wahrheiten fußen nicht auf Glaubenssystemen. Sie werden nicht kraft der Autorität von Führungspersönlichkeiten oder der Macht der Überzeugung etabliert. Und sie werden auch nicht durch Wiederholung erlernt oder aus magischem Denken gewonnen. Objektive Wahrheiten zu leugnen ist kein Zeichen ideologischer Prinzipienfestigkeit, sondern ein Zeichen schlichter wissenschaftlicher Unkenntnis.

Nach alledem sollte man annehmen, es dürfe in unserer Welt nur eine Definition von Wahrheit geben, aber weit gefehlt. Es herrschen noch mindestens zwei weitere Arten vor, die einige der schönsten und der gewalttätigsten Ausdrucksformen menschlichen Verhaltens befeuern. Persönliche Wahrheiten besitzen die Kraft, unseren Geist, unseren Körper, unsere Seele zu beherrschen, aber evidenzbasiert sind sie nicht. Persönliche Wahrheiten sind das, was wir mit absoluter Sicherheit für wahr halten, selbst wenn wir es nicht beweisen können – beziehungsweise: erst recht dann. Einige dieser Vorstellungen leiten sich aus dem ab, was wir gerne für wahr halten wollen. Andere nehmen Gestalt an durch die Einflüsse charismatischer Führer oder heiliger Doktrinen, seien sie althergebracht oder aktuell. Für manche, vor allem in der Tradition des Monotheismus, sind Gott und Wahrheit Synonyme. In der christlichen Bibel klingt das so:[2]

Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Persönliche Wahrheiten sind die, die uns vielleicht sehr am Herzen liegen, von denen wir aber andere, die anderer Ansicht sind, nicht wirklich zu überzeugen vermögen, es sei denn in einer hitzigen Auseinandersetzung, durch Zwang oder Gewalt. Auf diesen persönlichen Wahrheiten gründen die Ansichten der meisten Leute, und in der Regel, also wenn man sie für sich behält oder bei einem Bier darüber debattiert, sind sie ganz harmlos. Ist Jesus unser Erlöser? Wirkte Mohammed als Gottes letzter Prophet auf Erden? Sollte die Regierung armen Menschen helfen? Sind die gegenwärtigen Einwanderungsgesetze zu streng oder zu lax? Ist Beyoncé deine Königin? Welcher Captain wären Sie im Universum von Raumschiff Enterprise? Kirk oder Picard – oder Janeway?

Unterschiedliche Meinungen bereichern die Vielfalt einer Nation, und sie verdienen in jeder freien Gesellschaft Wertschätzung und Respekt, vorausgesetzt, alle behalten die Freiheit, unterschiedlicher Meinung zu sein und, vor allem, alle bleiben offen für rationale Argumente, die bei jeder und jedem einen Sinneswandel bewirken könnten. Leider hat sich das Verhalten vieler in den sozialen Medien genau in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Ihr Rezept lautet: Finde eine Meinung, mit der andere nicht einverstanden sind, und entfessle sodann Wellen von Wut und Entrüstung, weil deine Ansichten nicht mit denjenigen der anderen in Einklang stehen. Gesellschaftliche, politische oder legislative Versuche, von allen anderen zu verlangen, sich den eigenen persönlichen Wahrheiten anzuschließen, sind letztendlich gleichbedeutend mit Diktatur.

Unter Weinliebhabern gibt es diese lateinische Weisheit »In vino veritas«, zu Deutsch: »Im Wein liegt Wahrheit«. Eine kühne Aussage über ein Getränk, das 12 bis 14 Prozent Ethanol enthält, ein Molekül, das die Hirnfunktion beeinträchtigt und (was allerdings irrelevant ist) zufällig recht häufig im interstellaren Raum vorkommt. Der Sinnspruch impliziert dennoch, dass eine Gruppe von Menschen, die Wein trinkt, sich unaufgefordert in einer Situation wiederfindet, in der man ganz gelassen wahrheitsgetreu miteinander umgeht. Vielleicht geschieht dies auf irgendeiner Ebene auch bei anderen alkoholischen Getränken. Dennoch wird kaum einmal jemand Zeuge einer Kneipenschlägerei zwischen zwei Weintrinkern geworden sein. Bei Gin vielleicht schon. Bei Whisky definitiv. Bei Chardonnay? Nie im Leben. Stellen Sie sich die Absurdität eines Filmdrehbuchs vor, in dem ein Satz vorkommt wie: »Ich trete dir gleich in den Hintern, aber lass mich zuerst noch mein Gläschen Merlot genießen!« Dasselbe lässt sich wohl auch über Marihuana sagen. Kifferhöhlen sind tendenziell kein Ort, an dem die Fäuste fliegen – ein Beleg dafür, wenn auch eher filmisch-anekdotischer Natur, dass aufrichtige Wahrheit Verständnis und Versöhnung hervorbringen kann. Vielleicht liegt es einfach daran, dass Ehrlichkeit besser ist als Unehrlichkeit, und dass Wahrheiten schöner sind als Lügen.

Weit jenseits der im Wein liegenden Wahrheiten, aber nahe verwandt mit den persönlichen Wahrheiten sind politische Wahrheiten. Diese Gedanken und Ideen sprechen bereits unsere Gefühle an, werden jedoch zu unumstößlichen Wahrheiten aufgrund der unablässigen Wiederholung in den Medien, die irgendwann dafür sorgt, dass wir daran glauben – ein fundamentales Wesensmerkmal der Propaganda. Solche Glaubenssysteme arbeiten fast immer in der Weise, dass sie insinuieren oder sogar rundheraus deklamieren, wer wir sind oder was wir tun oder wie wir es tun sei dem Sein und Tun derjenigen, welche wir zu unterjochen oder zu erobern gedenken, grundsätzlich überlegen. Es ist kein Geheimnis, dass Menschen bereit sind, für ihren Glauben das eigene Leben zu geben – oder anderen das Leben zu nehmen. Je weniger tatsächliche Beweise existieren, die eine Ideologie stützen könnten, desto wahrscheinlicher ist es oftmals, dass ein Mensch bereit und willens ist, für »die Sache« zu sterben. »Arische« Deutsche in den 1930er-Jahren wurden nicht mit der Überzeugung geboren, sie wären als Herrenrasse allen anderen Völkern der Welt überlegen. Dafür brauchte es Indoktrination, und die gab es: Dafür sorgte eine effiziente, gut geölte politische Maschinerie. Bis 1939 und damit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren Millionen bereit, für diese Überzeugung zu sterben – und taten es dann auch.

✴ ✴ ✴

Die Ästhetik dessen, was kulturell als schön und wünschenswert gilt, verändert sich üblicherweise von Saison zu Saison, von Jahr zu Jahr und von Generation zu Generation, vor allem wenn es um Mode, Kunst, Architektur und den menschlichen Körper geht. Angesichts der Größe der Kosmetikbranche und des umfassenderen Komplexes der Schönheitsindustrie würden auf Erdbesuch weilende Außerirdische zweifellos denken, wir würden uns selbst für irreparabel hässlich halten und wären von einem unaufhörlichen Bedarf an »Verbesserungen« getrieben. Wir haben Geräte entworfen, um lockiges Haar glatt und glattes Haar lockig zu machen. Wir haben Methoden erfunden, um fehlendes Haar zu ersetzen und unerwünschtes Haar zu entfernen. Wir nutzen chemische Färbemittel, um helles Haar dunkler und dunkles Haar heller zu machen. Wir tolerieren keinerlei Akne oder andere Hautunreinheiten. Wir tragen Schuhe, die uns größer wirken lassen, und benutzen Parfum, damit wir besser riechen. Wir tragen Make-up auf, um die Vorzüge unseres äußeren Erscheinungsbilds hervorzuheben und die Nachteile zu verdecken. Am Ende bleibt von unserer Erscheinung nicht viel übrig, was wirklich echt ist. Die Schönheit, die wir geschaffen haben, ist pure Fassade. Einmal duschen, und alles ist wieder weg.

Das objektiv Wahre und ehrlich Authentische – vor allem auf der Erde und im Himmel – besitzt tendenziell eine innere Schönheit, die von Zeit, Ort und Kultur abgekoppelt ist. Sonnenuntergänge bleiben faszinierend, obwohl wir jeden Tag einen davon geliefert bekommen. So schön sie auch sind, wissen wir zugleich alles über die thermonuklearen Energiequellen im Inneren der Sonne. Wir wissen Bescheid über den gewundenen Pfad ihrer Photonen, den sie zurücklegen müssen, wenn sie aus der Sonne emporsteigen. Wir wissen von ihrer zügigen Reise durchs All, bis sie durch die Erdatmosphäre abgelenkt und gebrochen werden, auf dem Weg zur Netzhaut unseres Auges. Dann verarbeitet das Gehirn die Information und »sieht« das Abbild eines Sonnenuntergangs. Diese zusätzlichen Fakten – diese wissenschaftlichen Wahrheiten – besitzen die Kraft, jede Bedeutung zu vertiefen, die wir der Schönheit der Natur ohnehin zuschreiben.

Kaum jemand von uns wird sich jemals an Wasserfällen sattsehen können, oder am Anblick des Vollmonds, wie er über den Bergen am Horizont oder der Skyline einer Großstadt aufgeht. Immer wieder verschlägt es uns die Sprache angesichts des Spektakels einer totalen Sonnenfinsternis. Wer könnte den Blick abwenden, wenn die Mondsichel gemeinsam mit der Venus am Himmel steht, gleichsam verankert am Abendhimmel? Der Islam konnte es gewiss nicht. Dieses Nebeneinander eines »Sterns« mit der Mondsichel ist und bleibt ein heiliges Symbol des Glaubens. Auch Vincent van Gogh konnte es nicht. Am 21. Juni 1889[3] hielt er den Anblick in der Morgendämmerung im französischen Saint-Rémy fest und schuf dabei eines seiner bekanntesten Gemälde, Sternennacht. Und wir können anscheinend gar nicht genug kriegen von den Landschaftspanoramen, die uns Rover von anderen Planeten schicken, oder von kosmischem Bildmaterial, das wir dem Hubble-Weltraumteleskop und anderen Fenstern in den Kosmos verdanken. Die Wahrheiten der Natur quellen schier über von Schönheit und Wundern, und das bis weit hinaus über Raum und Zeit.

Es überrascht daher nicht, dass der Gott oder die Götter, die wir anbeten, üblicherweise an höhergelegenen Orten residieren, wenn nicht gleich im Himmel selbst. Oder die höhergelegenen Orte sind in unserer Wahrnehmung Gott näher – von Berggipfeln über Schäfchenwolken bis hin zum Himmelreich. Noahs Arche erreichte auf dem Berg Ararat ihr Ziel, nicht etwa am Ufer eines Sees oder Flusses. Moses erhielt die Tafeln mit den Zehn Geboten nicht in einem Tal oder der Ebene. Sie kamen zu ihm auf dem Berg Sinai. Der Berg Zion und der Ölberg sind heilige Orte im Nahen Osten, ebenso wie der Berg der Seligpreisungen, auf dem Jesus vermutlich seine Bergpredigt hielt.[4] Der Olymp ist ein Ort hoch über den Wolken, an dem es von griechischen Göttern nur so wimmelt. Und damit nicht genug: Altäre stehen meist an erhöhten Stellen, nicht ebenerdig; die Azteken brachten ihre Menschenopfer beispielsweise in der Regel am höchsten Punkt der mittelamerikanischen Pyramiden dar.[5]

Wie oft haben wir Poster und sogar Kunstwerke gesehen, die Cherubim, Engel, Heilige oder den rauschebärtigen Herrgott höchstselbst abbilden, wie sie auf einer bilderbuchmäßigen Kumuluswolke dahinschweben – die großartigste aller Wolken. Die Taxonomie der Wolken faszinierte den schottischen Meteorologen Ralph Abercromby, und im Jahr 1896 dokumentierte er weltweit so viele davon, wie er konnte, und er stellte auch eine numerische Hierarchie der Wolken auf. Sie haben’s erraten. Die Kumuluswolke landete auf Nummer 9, und damit war – im englischen Sprachraum – unbeabsichtigt der ewige Begriff des Schwebens auf »Wolke neun« geboren, als Beschreibung eines perfekten Hochgefühls.[6] Verbinden Sie nun Wolke neun mit Sonnenstrahlen, die jeden Winkel eines Bilds ausleuchten, und der Gedanke an göttliche Schönheit drängt sich einfach auf.

Animistische Religionen, verbreitet bei indigenen Völkern in aller Welt, von Alaska bis Australien, bekräftigen hingegen zumeist, dass die Natur selbst – der Bach, die Bäume, der Wind, der Regen und die Berge – eine Art spiritueller Energie in sich trägt. Hätten die Völker der Antike Zugang zu unseren heutigen Bildern des Kosmos gehabt, dann hätten ihre Gottheiten vielleicht noch mehr Orte vollendeter Schönheit zur Verfügung gehabt, an denen sie sich tummeln und den Blick über die Erde schweifen lassen konnten. Ein Nebel (PSR B1509–58), abgebildet vom im Orbit kreisenden Nuclear Spectroscopic Telescope Array (NUSTAR) der NASA in Form von Röntgenlicht, ähnelt einer riesigen, leuchtenden Hand im Weltall – Handwurzel, Handfläche, der ausgestreckte Daumen und die anderen Finger sind klar zu erkennen. Der Nebel ist zwar lediglich das Leuchten, das von einem toten, explodierten Stern zurückgeblieben ist, aber das hinderte die Menschen nicht daran, diese Himmelserscheinung als »Hand Gottes« zu titulieren.

Neben den Kennungen im Katalog der Himmelserscheinungen[7] benennen wir astrophysikalische Nebel üblicherweise nach ihrem Erscheinungsbild und lassen uns dabei allerlei unterhaltsame irdische Bezüge einfallen, etwa der Katzenaugennebel (NGC 6543), der Krebsnebel (NGC 1952), der Hantelnebel (NGC 6853), der Adlernebel (NGC 6611), der Helixnebel (NGC 7293), der Pferdekopfnebel (IC 434), der Lagunennebel (NGC 6523), der Zitronenscheibennebel – Lemon Slice Nebula – (IC 3568), der Nordamerikanebel (NGC 7000), der Eulennebel (NGC 3587), der Ringnebel (NGC 6720) und der Tarantelnebel (NGC 2070). Tatsächlich passen alle diese Bezeichnungen sehr gut zum Erscheinungsbild dieser Nebel, beziehungsweise zu den Assoziationen, die sie beim Betrachter auslösen. Einen hätte ich noch: den Pacman-Nebel (NGC 281), der seinen Namen der gefräßigen Figur aus dem bekannten Videospiel der 1980er-Jahre verdankt.

Und die Pracht nimmt kein Ende. In unserem Sonnensystem haben wir Kometen und Planeten und Asteroiden und Monde, und sie alle präsentieren sich dem Auge in umwerfend einzigartiger Form und Gestalt. Zu vielen dieser Objekte haben wir detaillierte und objektiv wahre Kenntnisse angesammelt, woraus sie bestehen, wo sie herkommen und wohin sie unterwegs sind. Derweil drehen und bewegen sie sich auf ihren zugewiesenen Pfaden durch das Vakuum des Weltalls, wie Pirouetten drehende Tänzer in einem kosmischen Ballett, mit den Gravitationskräften als Choreograph.

Im Weißen Haus der 1990er-Jahre hatte Bill Clinton auf seinem Kaffeetisch im Oval Office, zwischen den beiden Sofas, ein Stück Mondgestein liegen, das Apollo-Astronauten von ihrer knapp 400 000 Kilometer weiten Reise als Souvenir mit zurück zur Erde gebracht hatten. Mir erzählte er, immer wenn mit Gegenspielern der Weltpolitik oder mit allzu störrischen Kongressmitgliedern ein Streit zu entstehen drohte, würde er auf dieses Stück Stein zeigen und die Leute daran erinnern, dass es vom Mond stammt.[8] Mit dieser Geste gelang es ihm oft, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken; der Stein diente als Erinnerung daran, dass die kosmischen Perspektiven uns zwingen können, einmal innezuhalten und über den Sinn des Lebens nachzudenken, und über den Wert des Friedens, der dieses Leben aufrechterhält.

Schon für sich genommen so etwas wie Schönheit.

Aber die Natur beschränkt Schönheit nicht auf Dinge. Objektiv wahre Ideen können ihre ganz eigene Schönheit besitzen. Ich möchte Ihnen ein paar meiner Lieblingsbeispiele präsentieren:

Eine der simpelsten Gleichungen der gesamten Welt der Wissenschaft ist zugleich eine der tiefgründigsten: die von Einstein postulierte Äquivalenz von Energie (E) und Masse (m): E = mc2. Das kleine, unscheinbare »c« steht für die Lichtgeschwindigkeit – eine Konstante, die an zahllosen Stellen vorkommt, wenn wir die kosmischen Codes entschlüsseln, die das Universum regieren. Neben unzähligen weiteren Stellen, an denen diese Konstante auftaucht, beschreibt diese einfache Gleichung, wie alle Sterne im Universum seit Anbeginn der Zeit Energie erzeugt haben und bis heute erzeugen.

Ähnlich einfach und nicht weniger tiefgründig ist Isaac Newtons zweites Bewegungsgesetz, welches exakt beschreibt, wie stark ein Objekt beschleunigt wird (a), wenn eine bestimmte Kraft (F) auf das Objekt einwirkt: F = ma. Das m steht für die Masse des bewegten Objekts. Diese kleine Gleichung und Einsteins spätere Erweiterung derselben, die er in seiner allgemeinen Relativitätstheorie aufstellte, genügen zur Beschreibung jeder Bewegung, die es bei allen Objekten im Universum jemals gab oder jemals geben wird.

Physik kann einfach schön sein.

Sicher haben Sie schon von »Pi« gehört – eine Zahl zwischen 3 und 4, die unendlich viele Dezimalstellen hinter dem Komma hat und meist zu 3,14 abgekürzt wird. Hier sehen Sie Pi mit genug Dezimalstellen, damit alle zehn Ziffern von 0 bis 9 darin vorkommen:

3,14159265358979323846264338327950…

Auf den Wert von Pi kommen wir, indem wir einfach den Umfang eines Kreises durch seinen Durchmesser dividieren. Dieses Verhältnis bleibt immer gleich, unabhängig von der Größe des Kreises. Schon die bloße Existenz von Pi ist eine tiefe Wahrheit der Euklidischen Geometrie, die alle eingefleischten Mathe-Geeks der Welt Jahr für Jahr am 14. März (»3.14«) feierlich begehen.

Mathematik kann einfach schön sein.

Sauerstoff fördert die Verbrennung. Wasserstoff ist ein explosives Gas. Bringen Sie die zwei zusammen, und Sie bekommen Wasser (H2O), eine Flüssigkeit, die Brände löscht. Chlor ist ein giftiges, ätzendes Gas. Natrium ist ein Metall, weich genug, um es mit einem Buttermesser durchzuschneiden, und so leicht, dass es auf Wasser schwimmt. Probieren Sie das bitte nicht zu Hause aus, denn Natrium reagiert explosiv mit Wasser. Aber verbinden Sie die beiden chemischen Elemente miteinander, bekommen Sie Natriumchlorid (NaCl), besser bekannt als Tafelsalz.

Chemie kann einfach schön sein.

Die Erde beheimatet mindestens 8,7 Millionen Arten[9] lebender Organismen, die meisten davon sind Insekten. Diese atemberaubende Diversität des Lebens hat als Ursprung einzellige Organismen aus der Zeit vor vier Milliarden Jahren. Genau in diesem Moment bietet ein harmonischer Querschnitt von Land, Wasser und Luft auf der Erde jeder einzelnen von ihnen Raum zum Leben. Wir sind alle ein Teil davon. Eine einzige genetische Familie auf dem Raumschiff Erde.

Biologie kann einfach schön sein.

Aber wie steht es nun mit all den Dingen in der Welt, die zwar ebenfalls wahr sind, aber hässlich? Die Erde gilt im Allgemeinen als Refugium des Lebens – genährt durch die mütterlichen Instinkte von Mutter Natur. Das trifft bis zu einem gewissen Grad durchaus zu. Die Erde brummt nur so vor Leben, seit sie in der Lage ist, Lebewesen zu beheimaten. Doch die Erde ist auch eine gigantische Killermaschine. Über 99 Prozent aller Arten, die jemals lebten, sind heute ausgestorben.[10] Ursache dafür sind Kräfte wie regionale und globale Klimaveränderungen, aber auch katastrophale Naturereignisse wie Vulkanausbrüche, Wirbelstürme, Tornados, Erdbeben, Tsunamis, Seuchen und Krankheiten. Auch das Universum ist eine gigantische Killermaschine, die verantwortlich ist für Asteroiden- und Kometeneinschläge, deren bekanntester die Erde vor 66 Millionen Jahren traf und all den berühmten, übergroßen Dinosauriern den Garaus machte, dazu noch weiteren 70 Prozent aller Land- und Wasserlebewesen auf der Erde. Kein Landtier, das größer war als ein Seesack, hat dieses Ereignis überlebt.

Ebenfalls wahr, wenngleich schwer einzugestehen, ist die morbide Faszination, die gewaltige geologische Katastrophen und zerstörerische Wettersysteme auf uns ausüben. Das alles sind Dinge voller Schönheit – vielleicht ist es sogar eine ganz eigene Kategorie von Schönheit: etwas, das wir betrachten und bewundern wollen, wenn auch nur aus sicherer Entfernung. Es gibt allerdings immer ein paar Leute, die sich nicht an die Regel mit der sicheren Entfernung halten. Wie sonst könnte es »Sturmjäger« und todesmutige Meteorologen geben, die uns Live-Reportagen von den Docks liefern, während katastrophale Sturmfluten die Küste heimsuchen. Die Berichterstatter werden dabei selbst ebenso bis auf die Haut durchnässt wie alle, die an dem Tag mehr oder weniger freiwillig die Videokamera gehalten haben.

Ein Vulkan ist aus jedem Blickwinkel ein atemberaubendes Schauspiel. Die rotglühende Flüssigkeit, die aus seiner Caldera trieft und über Rinnsale und breite Ströme seine Hänge hinabfließt, besteht aus verflüssigtem Gestein. Bei Zimmertemperatur sind das Materialien, auf denen wir sitzen, auf denen wir Häuser errichten und die wir als Metapher für alles Stabile und Unverrückbare in der Welt verwenden. Der Vulkan selbst hat sich aus verflüssigtem Gestein gebildet, genau an dieser Stelle, nach seinem eigenen Zeitplan, und dient uns nun gleichsam als Tor zur Unterwelt.