Im Sturm der Verfolgung - Tom Doyle - E-Book

Im Sturm der Verfolgung E-Book

Tom Doyle

4,8

Beschreibung

Der syrische Christ Rami lebt nach seiner Flucht mit seiner Familie in Jordanien. Eines Tages hat er dort eine beklemmende Begegnung mit einem anderen Geflüchteten aus Syrien. Noch nie vorher hat Rami in so kalte, hasserfüllte Augen gesehen. Er hat das Gefühl, dass der andere ihn bis ins Innerste durchschaut. Der Mann soll Mitarbeiter der syrischen Geheimpolizei gewesen sein. Aber warum ist er dann aus Damaskus geflohen? Ist er zum IS übergelaufen? Zu seiner großen Überraschung erhält Rami kurz darauf einen Hilferuf ausgerechnet von diesem Muslim. Rami sei der einzige Freund, den er in Jordanien habe. Was hat das zu bedeuten? Rami entschließt sich, trotz des Risikos sich mit dem Anrufer zu treffen. Dieser Tag wird zum Anfang eines Wunders … Christen in Syrien, im Irak, im Gazastreifen ? in Aleppo, Homs, Mosul: Sie geben die Liebe von Jesus aktiv an Menschen weiter, die keine Hoffnung mehr haben. Gottes Kraft trägt und motiviert sie. Sie sind jederzeit vom Tod bedroht, machen aber dennoch viele Menschen glücklich. Diese Christen erleben, dass Jesus sie im Sturm bewahrt. Acht aktuelle, authentische Lebensberichte.

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Tom Doyle

Greg Webster

Im Sturm der Verfolgung

Sie erleben Gottes Kraft – Christen im Nahen Osten

Brunnen Verlag / Open Doors

Tom Doyle arbeitete 20 Jahre als Pastor in den USA, bevor er für 11 Jahre in den Nahen Osten und nach Zentralasien ging. Er ist häufiger Referent zu Israel, dem Nahostkonflikt und den Herausforderungen durch den Islam.Greg Webster ist Theologe, Journalist und Koautor mehrerer Bücher sowie Mitgründer der Agentur New Vantage Publishing Partners.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Standing in the Fire“ bei W Publishing Group in Nashville/Tennessee. W Publishing und Thomas Nelson sind Imprints von HarperCollins Christian Publishing, Inc. Alle Rechte vorbehalten. Die Lizenzausgabe wurde veröffentlicht auf Grundlage einer Vereinbarung mit Thomas Nelson in der Verlagsgruppe HarperCollins Christian Publishing, Inc.

© 2017 by Tom DoyleDeutsch von Dr. Friedemann Lux

© der deutschen Ausgabe Brunnen Verlag Gießen 2017

Umschlagfoto: shutterstock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN Buch 978-3-7655-4316-6

ISBN E-Book 978-3-7655-7489-4

www.brunnen-verlag.de

Für meinen Vater.Du bist mein Held. Von dir habe ich gelernt, was es heißt, voller Mut, ja Freude in der ersten Reihe zu kämpfen. In deinen über dreißig Jahren als FBI-Agent und als Spezialist für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens hast du nie vor der Mafia gekuscht. Deine Kollegen bewunderten dich und sagten zu mir: „Jim Doyle kriegt immer seinen Mann.“ Ich bete um eine Generation von Christen mit dem gleichen Mut, den nur Christus schenken kann − in dem gefährlichen geistlichen Kampf, in dem wir heute stehen.

Inhalt

Einleitung –Zeit für einen Richtungswechsel

1 – Das syrische Exekutionskommando

2 – Homs bleibt Homs

3 – „Ich bin mit einem Imam verheiratet“

4 – Die Frau am Jakobsbrunnen

5 – „Wer den Missionar erschießt, bekommt 10000 Dollar“

6 – Der IS-Kämpfer aus Mosul

7 – Das Geheimnis des Geheimpolizisten

8 – Der Jerusalemer Friedensplan

Nachwort: Und wir?

Danke!

Der Dienst von Open Doors

Einleitung Zeit für einen Richtungswechsel

Terrorismus. Ein Wort, das Angst auslöst – Angst, die die Gedanken lähmt und das Herz stillstehen lässt. Was könnte schlimmer sein, als einem Menschen gegenüberzustehen, der darauf aus ist, Menschenleben auszulöschen – Männer, Frauen, Kinder, egal. Jeder kann zum Ziel des Terrors werden.

Die Stimmen, die uns beeinflussen – ob Reporter, Politiker oder Kommentatoren –, machen uns eher noch mehr Angst vor den gewalttätigen Mächten in einer Welt, die anscheinend mit jedem Tag etwas mehr zerfällt. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir in der heutigen Welt leicht ein Opfer der Angst. Und das Problem bei einem Leben in Angst ist nicht nur, dass es den über zweihundert Aufforderungen in der Bibel widerspricht, keine Angst zu haben. Es kann uns auch dazu verleiten, genau das zu tun, was wir besser nicht tun sollten. Lassen Sie mich das erklären.

Flucht kommt vor dem Fall

Mein Freund Dan Hansen liebt Jesus und er liebt Afrika. Er hat sein Leben dem Dienst an den Menschen auf dem zweitgrößten Kontinent der Erde gewidmet. Er liebt auch das afrikanische Hinterland und erzählte mir einmal eine faszinierende Geschichte über Löwen und ihr Brüllen. Und über die Angst.

Löwen haben eine besonders trickreiche Art zu jagen. Sie verstehen es offenbar, den Beutetieren eine solche Angst einzuflößen, dass diese genau das tun, was sie besser vermeiden sollten, um nicht gefressen zu werden.

Die Jagd beginnt, wenn das Löwenrudel ein Tier (zum Beispiel ein Zebra) ausmacht, das sich von der Herde entfernt hat, krank ist oder sich ganz am Ende der Herde befindet. Löwen verstehen etwas von Arbeitsteilung. Die männlichen Löwen gehen auf der einen Seite des Beutetieres in Position, die Löwinnen auf der anderen. Und dann beginnt das Brüllen.

Kein anderes Tier kann so laut und schaurig brüllen wie der männliche Löwe. Das völlig verschreckte Zebra beginnt, panisch in die andere Richtung zu rennen – genau in die Pranken der Löwinnen, die wahre Experten im Töten sind. Das verwirrte Opfer läuft in den sicheren Tod. Hätte es die Situation nur richtig erfasst, es hätte seinen Impuls, vor dem Gebrüll zu fliehen, niedergekämpft und wäre auf die Löwenmännchen zugerannt, die zwar wie der leibhaftige Tod klingen, aber weder den Instinkt noch die Energie haben, der nächsten Mahlzeit des Rudels den Hals durchzubeißen. Die einzige Hoffnung für das Zebra besteht darin, nicht panisch zu fliehen, sondern gerade zum Gebrüll hinzulaufen.

Ich denke, hier gibt es für uns etwas zu lernen.

Vorwärtsverteidigung

Könnte es sein, dass heute die Wahrnehmung vieler stärker von den säkularen Medien geprägt wird als von den Worten von Jesus? Vor allem wir Christen im Westen scheinen die Verheißung unseres Herrn vergessen zu haben: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33). Wir lassen uns von der Angst in die falsche Richtung jagen.

Aber es gibt auch Christen – viele Christen –, die anders leben. Sie haben begriffen, wer da brüllt.

Der Apostel Petrus sagt es so: „Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen“ (1. Petrus 5,8-9). Es ist der Satan, der uns aus den Schlagzeilen und von den Fronten dieser Welt anbrüllt. Aber er ist eigentlich schwach und muss unterliegen, wenn die Christen ihm in der Macht Christi, des Siegers, gegenübertreten.

Die Christen, denen Sie in diesem Buch begegnen, haben die Strategie des Teufels durchschaut und fallen nicht auf sie herein. Sie wissen aus eigener Erfahrung, wozu seine Helfershelfer fähig sind, aber sie laufen nicht weg, egal wie heiß es wird. Der Glaubensmut, den sie in ihrer für uns schier unvorstellbaren Konfrontation mit dem radikalen Islam zeigen, ist begeisternd.

Dieses Buch erzählt von authentischen Erfahrungen mutiger Christen. Sie treten den Feinden entgegen, die heute in den Medien Schlagzeilen machen. Wie schon in meinen beiden ersten Büchern – Träume und Visionen und Im Angesicht des Todes – sind Namen, Orte und andere Details geändert, um diese modernen Glaubenshelden zu schützen. Doch ihre Geschichten sind echt.

Jesus hat vorhergesagt, wie die Welt sich entwickeln wird. Deshalb muss uns das Chaos, in dem sie sich heute befindet, nicht überraschen. Niemals zuvor sind so viele Christen verfolgt worden. Aber vielleicht geht es Ihnen auch so wie mir und Sie sind immer wieder neu schockiert.

Als junger Christ – ich war noch auf der Highschool – verliebte ich mich geradezu in Jesus und fing an, sein Wort zu verschlingen. Mit das Erste, was ich in der Bibel las, war die Apostelgeschichte. Ich stellte mir vor, dass ich selbst einer der Jünger war und das Evangelium in der damals bekannten Welt verbreitete, und ich weiß noch gut, wie ich dachte: Wie gut, dass es das Römische Reich nicht mehr gibt und wir heute in einer zivilisierteren Welt leben. Danke, Gott, dass all diese Verfolgungen vorbei sind.

Heute kommen mir meine Gedanken von damals naiv vor. Jesus hat seinen Jüngern eindeutig vorhergesagt, dass man sie verfolgen wird. Inzwischen berichten selbst säkulare Medien immer wieder über die wachsende Unterdrückung von Christen in aller Welt.

Aber als Jünger und Jüngerinnen von Jesus haben wir eine Botschaft der Liebe anvertraut bekommen, die sich nicht mit Angst und Entmutigung verträgt. Sobald wir der Angst nachgeben, stehen wir nicht mehr fest, sondern laufen weg.

Ich glaube, es ist Zeit, dass die Menschen, die Jesus nachfolgen, feststehen und nicht wegrennen. Es ist unser Feind, der will, dass wir weglaufen. Während der Babylonischen Gefangenschaft boten Schadrach, Meschach und Abed-Nego dem mächtigen König Nebukadnezar die Stirn. Sie weigerten sich, seinen Gott anzubeten, obwohl er ihnen mit einem grausamen Tod drohte. Es gab keine Garantie, dass Gott sie retten würde, aber die brauchten sie auch nicht; ihnen reichte die Gewissheit: „Unser Gott, den wir verehren, kann uns erretten aus dem glühenden Feuerofen“ (Daniel 3,17).

Dass sie ihr Vertrauen ganz auf den Gott Israels setzten und Babylons großem Herrscher furchtlos die Stirn boten, war für Nebukadnezar zu viel. Der tobende König ließ die drei jungen Hebräer gefesselt und in voller Kleidung in einen glühenden Ofen werfen. Der Ofen war so heiß, dass die Soldaten, die die drei ins Feuer warfen, von den Flammen getötet wurden.

Und dann sah der entsetzte König, dass die drei Männer nicht allein waren.

Auch die Menschen, die Jesus im Feuerofen des islamischen Terrorismus im Nahen Osten nachfolgen, sind nicht allein. Jesus ist bei ihnen und er gibt ihnen den Grund – und den Mut –, standhaft zu sein. Sie haben im Feuer gelernt und sie haben uns viel zu sagen. Durch Jesus können wir den gleichen Mut bekommen, unsere Ängste zu besiegen.

Wir leben heute in einer Welt der Gewalt. Sie kämpft gegen Menschen, die Jesus nachfolgen. Solange wir leben, wird sich das nicht ändern. Aber wir wissen, wie die Geschichte ausgehen wird. Und wenn wir mit ganzem Einsatz für Gott leben wollen, müssen wir uns von der Angst verabschieden und mit Hoffnung in die Zukunft schauen. Jesus kommt wieder! Aber wie soll er uns vorfinden, wenn er kommt? Wie Espenlaub zitternd oder stark in ihm, komme, was da will?

In meinem Buch Im Angesicht des Todes habe ich Sie mit Farid bekannt gemacht, der in Syrien lebt, auf Tuchfühlung mit dem IS, der am meisten gefürchteten Tötungsmaschinerie der Welt. Wenn Sie ihm heute begegnen könnten, wären Sie geschockt, denn er wirkt weniger gestresst als Sie und ich im gemütlichen Amerika oder Europa. In seinem Herzen herrscht völliger Frieden. Trotz der ungeheuren Schwierigkeiten, die er durchmacht, strahlt ständig ein ansteckendes Lächeln in seinem Gesicht, das man nie mehr vergisst.

Farid vegetiert in Syrien nicht dahin, er lebt im vollen Sinne des Wortes. Eigentlich müsste er längst tot sein. Aber er ist nicht allein und er berichtet, wie er die Gegenwart von Christus nie deutlicher spürte als in den Stunden, als er nicht wusste, ob er den Tag überleben würde. Der IS und andere islamistische Terrorgruppen heizen heute den Glutofen der Christenverfolgung vielleicht so heiß ein wie noch nie in der Geschichte des Nahen Ostens. Gruppen wie der IS, aber auch das Regime im Iran glauben fest an ein „Endzeit-Szenario“, zu dem unter anderem die Vernichtung der USA und Israels gehört. Die Christen haben entweder zum Islam zu konvertieren oder sie müssen sterben.

Vor Kurzem berichtete Farid mir von nicht weniger als dreißig Todesdrohungen, die Terroristen an die Außenwand seiner Wohnung gesprüht hatten. Sie wollten sichergehen, dass er ihre Botschaft begriff. Er begriff sie – und blieb. Und erstaunlich viele andere Christen tun dasselbe. Einen von ihnen werden Sie in unserer ersten Geschichte kennenlernen. Er ist ein Freund von Farid, und was er durchmachte, gleicht wirklich einem Feuerofen.

Aber mitten in allen Angriffen ist Jesus da und das ist der Grund, warum die christlichen Glaubenshelden im heutigen Nahen Osten nicht vor Angst aus ihrer Heimat verschwinden. Sie bleiben, und das ganz bewusst. Sie dienen Gott, egal was es kostet.

Die Flammen der Verfolgung lodern. Aber diese Männer und Frauen geben der Angst nicht nach und sie fliehen nicht. Ihre Geschichten wollen Ihnen neue Hoffnung machen und Ihnen zeigen, wie Sie Ihre eigenen Ängste besiegen können.

Die mutigen Christen, denen Sie auf den folgenden Seiten begegnen werden, haben im Sturm ihrer Not und Prüfungen wertvolle Dinge gelernt. Aber vor allem haben sie wieder und wieder erlebt, dass sie nicht allein sind, ja dass sie nie allein sein werden, denn mitten im Sturm und im Feuer steht Jesus neben ihnen.

„Da entsetzte sich der König Nebukadnezar, fuhr auf und sprach zu seinen Räten: Haben wir nicht drei Männer gebunden in das Feuer werfen lassen? Sie antworteten und sprachen zum König: Ja, König. Er antwortete und sprach: Ich sehe aber vier Männer frei im Feuer umhergehen und sie sind unversehrt; und der vierte sieht aus, als wäre er ein Sohn der Götter“ (Daniel 3,24-25).

1 Das syrische Exekutionskommando

Osama kannte die Exekutionsposition gut – der Todeskandidat kniet, den Kopf leicht vornübergebeugt, die Hände hinter dem Rücken. Er hatte selbst immer wieder Geiseln und Gefangene auf die sandige Kuppe geführt, acht Kilometer östlich der von Rebellen gehaltenen Stadt Idlib in Nordsyrien. Aber diesmal rang er selbst unter einer schwarzen Kapuze nach Luft, die sie ihm trotz der unbarmherzigen Wüstensonne fest über den Kopf gezogen hatten.

Kommandeur Mahmoud Ramadan, der hinter dem dreiköpfigen Exekutionskommando stand, verlas mit dröhnender Stimme die Liste der Verbrechen, die Osama al-Dschihadi gegen den Islam begangen habe. Jeden der Punkte kommentierte er mit gehässigem Lachen. Hohn und Spott waren üblich bei der Hinrichtung eines „Abtrünnigen“. Mahmoud sprach so laut, dass Osamas Cousins auf der anderen Seite der Stadt es noch hören konnten. So kam es Osama jedenfalls vor. Noch vor einem Jahr hätte er sich nicht im Traum vorstellen können, dass er eines Tages selbst als Hinrichtungskandidat im Sand knien würde.

Der Monolog des Kommandeurs endete abrupt. Ein Schuss ertönte und Osama sank zu Boden. Dann ein Stakkato aus einem halben Dutzend weiterer Schüsse, und einmal mehr tränkte Blut die sandige Kuppe.

Aber es war nicht Osamas Blut.

Drei Uhr in einer Nacht des Jahres 2015, im Keller eines geräumigen Wohnhauses in einem Vorort, nicht weit von dem Bluthügel. Dort hatte ein junger Mann in den Zwanzigern, der vor einer Gruppe gleichaltriger Männer stand, die Hand gehoben. Alle Augen richteten sich auf ihn.

„Wenn Baschar al-Assad tot ist, werden wir die Alawiten vernichten und alle Christen abschlachten!“ Der junge Mann klang entschlossen und siegesgewiss.

Dschabhat al-Nusra1 (bisher die syrische Version von al-Kaida) hatte sich zu einem gefürchteten Gegner des Assad-Regimes entwickelt, das noch vor ein paar Monaten als unbesiegbar gegolten hatte. Doch noch agierte die Gruppe im Untergrund und plante ihre Aktionen sichere siebzig Kilometer von ihrem Hauptziel – einer der ältesten Städte der Welt – entfernt. Seit etwa 4000 Jahren ständig bewohnt, hat Aleppo mehr Einwohner als die Hauptstadt Damaskus.

„Amerika wird uns helfen, diesen Teufel zu stürzen! Sie hassen Assad. Aber wir sind diejenigen, die eine Rechnung mit ihm und seinem Vater offen haben, für das, was sie unseren Familien in Hama angetan haben. Ich werde nicht aufhören, für die Befreiung Syriens von diesem Ungläubigen zu kämpfen. Ich werde sterben in diesem Kampf, denn dafür – das weiß ich genau – hat Allah mich erschaffen!“

Seine Zuhörer nickten. Er nickte mit. Alle in dem Raum hassten Assad. Der große Tyrann der Levante hatte sie zu lange niedergehalten mit seinem riesigen Militär- und Sicherheitsapparat und seinen widerlichen Bündnissen mit Russland und dem Iran. Je mehr er seine Machtmuskeln spielen ließ, umso mehr hassten sie ihn.

Es ließ sich gut leben in Syrien – nun ja, wenn man zum Clan von Baschar al-Assad gehörte. Die Ehefrau des Präsidenten sah aus, als wäre sie direkt von einer Modenschau in Paris in den Palast gekommen. Die Assads liebten das Luxusleben in Damaskus. Der Präsident erfreute sich eines gesunden Schlafs. Bis der Bürgerkrieg losbrach.

„Und jetzt wird der zu euch reden, der den Plan zum Sturz der Regierung gemacht hat.“ Der junge Mann lächelte und wies mit einer großen Geste des rechten Armes zum Seiteneingang des Kellergeschosses hin. „Das ist eine Überraschung, nicht? Das hättet ihr nicht gedacht, dass heute Abend unser geistlicher Führer zu uns spricht, oder?“

Fünfzig junge Männer sprangen auf die Füße, als Osama al-Dschihadi durch die Seitentür hereinkam. Hochaufgerichtet stand er da, die kräftigen Schultern hin und her drehend. Eine halbe Minute musterte er schweigend die Versammlung, dann begann er zu sprechen.

„Ihr seid also meine Kämpfer?“ Die Spur eines Lächelns spielte um Osamas Gesicht. „Es gefällt mir, was ich heute sehe – nicht nur in diesem Raum, sondern in Syriens Zukunft. Wir werden uns das nehmen, was uns als sunnitischen Muslimen von Rechts wegen gehört. Wir sind fast fünfzig Mal so viele wie Assad und seine Alawitenschweine.

Könnt ihr mir sagen, warum wir uns so lange von diesem alawitischen Geschwür haben krank machen lassen? Wie konnte er es fertigbringen, dass wir in unserem eigenen Land als Fremde leben?“ Osama funkelte die jungen Männer an.

„Ich werd’s euch sagen: Weil wir uns von Feiglingen haben führen lassen! Aber damit ist es jetzt vorbei. Viele von uns hier werden in diesem heiligen Krieg sterben. Aber, so wahr Allah lebt, auch Baschar al-Assad wird sterben! Wir werden dafür sorgen, dass er kriegt, was er verdient hat.“

Reglos wie ein Fels stand Osama al-Dschihadi da. Sein Blick wanderte von einem Gesicht im Raum zum nächsten, bis er fast jeden persönlich angeschaut hatte. Dann nickte er zu dem jungen Mann hin, der ihn der Versammlung vorgestellt hatte, und das Treffen war zu Ende.

Einer der Männer, die da langsam durch die Tür in die Nacht hinausgingen, war Jamal al-Dschihadi. Einen kurzen Augenblick lang traf sich sein Blick mit dem seines älteren Cousins Osama. Er lächelte und nickte zu seinem Führer, dem starken Mann der al-Nusra, hin. Der ahnte nicht, dass sein junger Cousin jedes Mal, wenn er ihn so angrinste, für ihn betete.

„Jamal, du musst fliehen! Meine Schwester im Libanon erwartet uns.“ Jamals temperamentvolle Frau Safa schlug mit beiden Händen auf die Tischplatte, ihr Blick so flehend wie ihre Worte. „Es ist mir egal, dass Osama dein Cousin ist. Du spielst mit dem Feuer. Der schöpft bestimmt schon Verdacht! Osama hat dich in seine Gruppe geholt, um dich zu einem ‚Freiheitskämpfer‘ zu machen, aber was sind seine Leute denn? Eiskalte Terroristen! Wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, in diese Versammlungen zu gehen? Du glaubst doch an Jesus!“

Jamal al-Dschihadi schloss nachdenklich die Augen. Die Angst seiner geliebten Frau und Mutter seiner drei kleinen Kinder war ihm nicht egal. Die zierliche, gerade einmal 1,50 Meter große Safa war nicht nur voller Energie, sondern auch die mit Abstand beste Köchin in der ganzen Verwandtschaft. Mit ihrer libanesischen Kochkunst gab sie jedem Familientreffen genau die richtige Würze, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Safas flammende Rede hatte in dem Augenblick begonnen, als der von der Kellerversammlung übernächtigte Jamal in die Küche gekommen war. Jamal hörte vor allem zu; nach zehn Minuten hatte er das Gefühl, als ob seine Frau schon seit Stunden auf ihn einredete.

Er nahm sich einen Teller vom Tisch und kratzte den Rest Favabohnen auf ein Stück Pitabrot. Er musterte die blassgrünen Bohnen, lächelte und hob eine Hand, wie ein braver Schuljunge, der sich im Unterricht in der Koranschule meldete. „Ich möchte etwas sagen.“

Safa legte mit einer theatralischen Geste die rechte Hand auf ihren Mund.

„Meine liebe Safa, als Jesus in mein Leben kam, wusste ich, dass ich zuallererst sein Bote in unserer wunderbaren Familie sein sollte. Aber mein Herz brennt auch für meine Verwandten bei den al-Dschihadis. Manche Menschen sind dazu berufen, anderen Ländern Jesus zu bringen, aber ich soll hierbleiben, das weiß ich. Das ist meine Berufung und sie beginnt hier in meinem eigenen Haus, aber ich bin bereit, auch allen anderen von Jesus zu erzählen.“

„Das weiß ich doch, Jamal, und ich finde es toll, dass du so ein mutiger Mann bist. Aber du bist als Muslim groß geworden, wie ich auch, und viele in deiner Familie sind als Terroristen aktiv. Glaubst du im Ernst, die merken nicht, dass du anders geworden bist? Der Heilige Geist steht dir doch geradezu ins Gesicht geschrieben! Bitte lass jemand anderes sich um Osama kümmern; das ist nichts für dich!

Wir können noch so unschuldig tun, die wissen, was mit dir los ist, ich sag’s dir, die wissen das! Und die Scharia ist so grausam, ich halte das nicht mehr aus! Können wir nicht in den Libanon gehen? Bitte!“

„Liebes …“ Jamal schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Du kannst mir glauben … Die ahnen nichts. Noch nicht mal Osama. Seit wir fünf Jahre alt waren, ist er mein bester Freund. Ich liebe ihn wie einen Bruder. Ich weiß alles über ihn. Und er über mich – bis auf das Allerwichtigste, aber das kommt noch. Bald.

Osama als Christ – das wird ein zweiter Paulus werden. Es wird noch Gutes aus Syrien kommen. Wenn Osama sich zu unserem Herrn bekehrt, wird er die ganze Welt verändern, das weiß ich in meinem Herzen.“

Jamal schob seinen Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. „Was machen die Kinder?“

Safa funkelte ihn an. „Habibi, Schatz, du bist ein Meister darin, das Thema zu wechseln, wenn ich dich in die Ecke gedrängt habe. Das brauchst du mir nicht noch extra zu zeigen!“

„Natürlich nicht, Liebes. Lass uns unser Gespräch so beenden, wie es sich gehört.“ Er lächelte seine zierliche Frau an. „Das war ein wunderbares Frühstück.“

Jamal ließ den schwarzen Schlauch der Wasserpfeife langsam auf den Fußboden gleiten, zwischen ihn und seinen Cousin. Osama stellte seine Tasse mit dem pechschwarzen arabischen Kaffee auf sein rechtes Knie, während er mit der linken Hand nach dem Mundstück der Pfeife langte, das Jamal gerade losgelassen hatte. Die Cousins waren fast fertig mit ihrer dritten Tasse Kaffee; den ganzen Abend waren sie in ihr Gespräch vertieft gewesen. Jamal musste daran denken, was Safa ihm am Morgen gesagt hatte. Sie war ja berechtigt, die Angst seiner Frau, aber nein, die Angst würde ihn nicht davon abhalten zu tun, was er konnte, um seinen Cousin ins Licht Gottes zu führen.

Jamal umfasste seine Tasse mit beiden Händen. Sein Blick wanderte zu seinem Gegenüber. „Osama, du bist ein großer Führer. Aber mal ehrlich: Machst du dir nicht manchmal Sorgen um die Zukunft? Um deine Familie?“

Osama sah ihn an, als ob er die Frage nicht ganz verstanden hätte.

„Osama, wenn Assad weg ist, was kommt dann?“

Sein älterer Cousin nickte, seine Augen glänzten auf. „Israel natürlich.“ Er lächelte. „Und nein, ich mache mir keine Sorgen. Weil wir siegen werden. Wir müssen diesen Krieg gewinnen, egal wie lange es dauert. Es kann nur so ausgehen, Jamal. Kann sein, dass es noch zehn Jahre dauert, aber Verlieren, das ist keine Option. Wenn wir verlieren, werden unsere Familien abgeschlachtet.“

Osama hielt inne. Er schien zu überlegen, wie er fortfahren sollte. „Gut, ich schätze mal, dass ich mir schon manchmal Sorgen mache um meine Kinder. Vor allem um meine Söhne. Unser teuflischer Präsident wird zweifellos versuchen, sie alle umzubringen. Ja … manchmal macht mir das schon Sorgen.“

Osamas Gesicht sah plötzlich blasser aus, seine Augen richteten sich ausdruckslos auf seinen Freund und Cousin. „Darum kämpfen wir ja, Jamal. Nicht nur für Syrien, sondern auch für unsere Familien, die das beste Leben haben werden, was man sich vorstellen kann, wenn wir dieses widerliche Assad-Regime für immer beseitigt haben. Und wir werden dafür sorgen, dass Assad keinen Nachfolger hat, der je gegen uns aufstehen kann. Syrien wird wieder ein sunnitisches Land sein, und wenn wir uns mit dem Irak verbündet haben, werden wir stark genug sein, um Israel auszulöschen. Meine Familie – unsere Familie – hat so gerne Urlaub auf den Golanhöhen gemacht, und jetzt sind diese Drecksjuden dort, schon viel zu lange. Das muss aufhören!“

Osama unterbrach sich und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Jamal, einer der großen Wünsche in meinem Leben ist mitzuerleben, wie die Assads schön langsam krepieren. Wird das nicht die reine Freude für uns sein? Assad wird so sterben wie Gaddafi – kannst du dir das vorstellen? Es wird Gerechtigkeit geben!“

Jamal sah seinen Cousin schweigend an, mehrere Sekunden lang. „Ehrlich gesagt, Osama: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Jamal musterte den Kaffee in seiner Tasse.

Osama schaute zu, wie er den Kaffee austrank. Er sagte nichts mehr, bis er Jamal zur Haustür brachte und sich verabschiedete. Bevor Jamal durch das Hoftor von Osamas Haus auf die Straße trat, schaute er mehrere Male prüfend die Straße entlang und zu den Hausdächern hoch. Vor einem Monat hatte die al-Nusra das Viertel eingenommen, aber immer wieder sickerten Soldaten der Regierungsarmee ein, was bedeutete, dass man jederzeit von einem Scharfschützen erledigt werden konnte.

Es war schon deutlich nach Mitternacht, als Jamal durch die Hintertür in die Küche seiner Wohnung trat. Da das Licht noch an war, hatte er gehofft, dass Safa noch auf war und vielleicht kochte, aber sie lag im Bett und schlief. Jamal zog sich aus, schlüpfte in ein T-Shirt und legte sich neben seine Frau. Er legte den rechten Arm um Safas Taille. Sie wurde wach und setzte sich auf. Ihre Augen fanden Jamals Silhouette in dem fast dunklen Zimmer.

„Ist alles okay, Jamal? Wie geht’s Osama? Hat er wieder wegen Assad oder Israel herumgebrüllt?“

Jamal tastete nach ihrer Hand. „Vielleicht hast du doch recht, Safa. Es ist so viel Hass in seinem Herzen. Als er damit anfing, wie schön es wäre mitzuerleben, wie Assad vor unseren Augen langsam stirbt, wurden seine Augen so böse, dass es mir Angst machte. Er war wie besessen. Ich habe das schon öfter gesehen – während seiner Reden an die jungen al-Nusra-Kämpfer. Wenn er mein Geheimnis entdeckte, würde dieses Böse mich augenblicklich auffressen. Der Mann ist ein Sklave des Hasses.“ Jamal zögerte, dann fuhr er flüsternd mehr zu sich selbst fort: „Wie lange kann ich dieses Spiel noch spielen? Gott, wir brauchen ein Wunder …“

Safa schob sich näher an ihren Mann und legte ihren Kopf sachte auf seine Brust. Die beiden Christen schliefen ein, einer in den Armen des anderen.

Die Druckwelle warf Jamal fast auf den Fußboden. Er war sofort wach und rappelte sich hastig hoch. Er hörte, wie Safa neben ihm aufkeuchte. Die Explosion schien nicht mehr als einen Häuserblock entfernt zu sein.

War bei den Kindern alles okay? Sein Gehirn ging rasend schnell die Möglichkeiten durch. War das gerade die syrische Armee? Oder die Amerikaner? Die Russen?

Die drei Kinder kamen ins elterliche Schlafzimmer gerannt und schlüpften unter die Bettdecken. Jetzt kam ein anderes, leiseres Geräusch. Jamals Mobiltelefon. Eine Sekunde später klingelte auch das von Safa. Die schaltete die Nachttischlampe an, während Jamal sein Handy aus der Tasche der Hose zog, die er auf dem Fußboden liegen gelassen hatte.

Er meldete sich. Eine bekannte Stimme – sie gehörte einem der al-Nusra-Männer – stieß hervor: „Es ist was passiert! Osama!“

„Osama? Ist er tot?“

Safa erstarrte. Sie hörte auf, nach ihrem Handy zu suchen, und sah Jamal an.

„Okay. Wie schwer ist er verletzt?“ Jamals Augen wanderten leer durch das Zimmer. „Wo hat das Ding eingeschlagen? Sind Amal und die Kinder in Sicherheit?“ Er brach ab, während der Anrufer antwortete. „Okay, ich komme!“

Jamal linste an den roten Blinklichtern vorbei. Vor vier Stunden war er durch eben dieses Hoftor gegangen, um den Weg nach Hause anzutreten. Mit jedem der roten Blitze sah er den Eingangsbereich von Osamas Haus. Oder das, was davon übrig war. Er rannte zu dem weißen Krankenwagen hin, zu dessen geöffneter Hecktür gerade zwei Sanitäter eine Trage hochhoben.

„Wo bringt ihr ihn hin?“ Jamal schrie es fast. Er hatte sich beherrscht. Bis jetzt, da er seinen Cousin und besten Freund unter dem blutgetränkten Tuch erblickte.

„Ins al-Watani“, erwiderte der Chefsanitäter, während er in den Wagen sprang, um die Trage ganz hineinzuziehen.

Jamal mustert Osamas Gesicht. Es war schmerzverzerrt, die Augen fast geschlossen. Jamal zwang sich zu lächeln. Innerlich betete er: Herr, ist es so weit für Osama?

Die Tür des Krankenwagens knallte zu und Jamal fragte sich, ob er seinen Cousin und besten Freund noch einmal lebend wiedersehen würde.

Die Ärzte mussten Granatsplitter aus Osamas Körper entfernen und mehrere innere Blutungen stoppen. Zwei Stunden sollte die Operation dauern, aber nach vier Stunden saß die Familie al-Dschihadi immer noch im Warteraum des al-Watani-Krankenhauses, ohne etwas über Osamas Zustand gehört zu haben. Jamal hatte ein flaues Gefühl im Bauch.

In einem Kreis von zehn schwarz gekleideten Frauen saß auch Osamas Frau Amal. Die Tränen liefen ihr den Gesichtsschleier hinunter. Jamal stand etwas außerhalb des Kreises und hörte zu, wie Amal ihre Angst herausschluchzte. „Ich habe geträumt, dass Osama bald stirbt. Fast jede Nacht wache ich auf und muss weinen. Ich glaube, er ist unter einem Fluch.“

Die beiden Frauen, die ihr am nächsten saßen (ihre Schwestern), legten die Hände auf ihre zitternden Schultern. Im gleichen Augenblick rief eine männliche Stimme vom anderen Ende des Raumes: „Sind Sie die Frau von Osama al-Dschihadi?“

Amal erhob sich umständlich, an beiden Seiten von ihren Schwestern gestützt und auf das Schlimmste gefasst. Sie drehte sich in die Richtung der Stimme. In der Tür des Warteraums stand ein Mann in OP-Kleidung.

„Osama hat die Operation überstanden und ist jetzt auf der Intensivstation. Es gab mehr innere Verletzungen, als es nach den Röntgenbildern aussah. Dazu kommt noch eine Infektion. Wenn es eine Blutvergiftung gibt, wird’s kritisch. Und auch wenn er die nächsten paar Tage übersteht, muss er auf jeden Fall mehrere Wochen hier bleiben, vielleicht einen ganzen Monat.“ Der Mann in Grün zuckte die Achseln. „Oder auch länger. Es tut mir leid. Wir hatten die besten Ärzte der Region, und selbst für sie war es ein schwieriger Fall. Zurzeit befindet Ihr Mann sich in einem künstlichen Koma, um ihn zu stabilisieren. Wir können Allah danken, dass er lebt.“

Amal schluchzte auf, ihr Körper kippte zu ihren Schwestern hin. Die ließen die Ohnmächtige erst verdutzt durch ihre Arme gleiten, dann reagierten sie und fingen sie halbwegs ab, sodass sie nicht zu hart auf dem Boden landete.

Als Amal wieder zu sich gekommen war, blieb sie für den Rest der Nacht sowie die nächsten zwei Tage am Bett ihres Mannes. Dann löste Jamal sie ab. Er saß allein neben Osamas Bett. Krankenschwestern kamen und gingen, ohne von Jamal Notiz zu nehmen. Fast eine Stunde sagte Jamal nichts. Dann beugte er sich ganz nah zum Ohr seines Freundes und fing leise an zu sprechen.

„Osama, ich könnte mich in den Hintern treten, dass ich dir nie was gesagt habe. Hier liegst du im Koma und keiner weiß, ob du es schaffen wirst. Dein Haus ist zerstört, aber Amal und deine Kinder sind in Sicherheit, bei mir. Safa kocht den ganzen Tag und es ist richtig was los und ziemlich laut. Schade, dass du das nicht sehen kannst.“

Jamal hielt inne und schlug die Hände vors Gesicht, dann fuhr er fort: „Ich weiß, dass du mich nicht hören kannst, aber trotzdem, es muss sein.“ Er legte seinen linken Unterarm auf das Bett, neben die bewusstlose Gestalt.

„Osama, letztes Jahr habe ich angefangen, Jesus nachzufolgen. Ich bin an eine Bibel gekommen – wo und wie, weiß ich nicht mehr –, und als ich anfing, sie zu lesen, konnte ich sie nicht mehr weglegen. Eigentlich wollte ich nur herausfinden, wo sie verfälscht worden ist. Jede Nacht las ich sie unter der Bettdecke, mit meinem Handylicht. Ich wartete, bis Safa eingeschlafen war. Manchmal schlief ich selbst überhaupt nicht, aber das war mir egal. Dieser Jesus faszinierte mich total, Osama. Ich meine, er liebte die Leidenden – kleine Kinder, die Hilflosen, die Ausgestoßenen, die Armen. Er ging auf die Menschen zu – am meisten auf die Sünder. Die Schlimmsten, die Kaputtesten zog es zu ihm hin und er wies keinen ab. Wusstest du schon, dass Jesus so bekannt wurde, dass man selbst in Syrien davon hörte, was er in Israel tat?“ Jamal hielt inne. War das nicht verrückt, dass er solche Gespräche mit jemand führte, der halb tot im Koma lag? Egal. Weiter.

„Diese Liebe, die ich da in Jesus sah, zwang mich dazu, mich dem Hass in den Tiefen meines Herzens zu stellen. Ich erkannte, dass dieser Hass wie eine Säure war, die meine Seele zerfraß. Und dann las ich die Stelle, wo Jesus sagt: ‚Liebt eure Feinde.‘ Das verstand ich überhaupt nicht. Ich fragte mich glatt, ob Jesus verrückt war. So denkt man einfach nicht im Nahen Osten!

Aber diese Botschaft der Liebe, ich konnte sie nicht abschütteln. Selbst Sündern begegnete Jesus mit Liebe, und die einzigen Menschen, die er verurteilte, waren die Gesetzeslehrer seiner Zeit, die anderen Vorschriften machten, die sie selbst nicht einhielten. Die Pharisäer kamen mir wie verkleidete Imame vor, sie waren so ähnlich!

Tja, Osama, ich habe also eine Bibel, und ab heute werde ich dir jedes Mal, wenn ich dich besuche, daraus vorlesen. Ich fange am besten gleich jetzt an: ‚Ich bin gekommen, um ihnen das Leben zu bringen …‘“

„Leben in Fülle.“

Die Stimme ließ Jamal hastig den Kopf zur Tür hin drehen.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie erinnern sich vielleicht – ich bin Dr. Ahmad. Ich wusste gar nicht, dass Sie Christ sind, Jamal. Seit wann ist das so?“

Jamal erhob sich. „Und ob ich mich an Sie erinnere! Als mein Vater hier in diesem Krankenhaus starb, waren Sie so gütig zu ihm. Und zu uns. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich hab’s meiner Familie noch nicht gesagt … nur meiner Frau.“

Der Arzt nickte lächelnd. „Willkommen im Klub. Mit dieser Botschaft durch Syrien zu reisen, ist heutzutage nicht gerade das Sicherste, oder? Aber wir können immer beten. Und den Menschen geduldig zeigen, dass sie Jesus brauchen. Die Menschen sind innerlich so leer, sie gehen wie seelenlose Roboter durch die Straßen.“

Eine große Erleichterung erfüllte Jamal plötzlich. Endlich ein Mensch, bei dem sein Geheimnis sicher war. Er hörte aufmerksam zu, wie Dr. Ahmad mit wachsender Leidenschaft in der Stimme fortfuhr:

„Wann wird dieses Töten und Morden endlich aufhören? Die Religion ist eine einzige Sackgasse. Man rackert sich ab, um alle Regeln einzuhalten, und wofür?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Ich habe die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht, aber hat mich das Gott näher gebracht? Nein! Mein ganzes Leben lang wohne ich schon hier, aber nie hatte ich den inneren Frieden, den ich in dem Augenblick geschenkt bekam, als ich mich Jesus anvertraute. Meine Familie ist bald denselben Weg gegangen, aber das dürfen wir natürlich niemand laut sagen. Wir sind zwei Männer, die ein Geheimnis für sich behalten können, Jamal, nicht wahr?“ Der Arzt zögerte, er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Kann ich Sie etwas fragen, Jamal?“

Jamal nickte. „Gerne.“

„Ihr Cousin ist einer der gefürchtetsten Männer in dieser Gegend. Die Dschabhat al-Nusra hat Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und die Scharia eingeführt. Finden Sie es nicht bemerkenswert, dass Jesus Sie dazu berufen hat, ihn zu erreichen? Auf wen wird er hören, wenn nicht auf Sie, seinen besten Freund und Verwandten? Glauben Sie, dass er für Jesus offen ist?“

Jamal schaute auf den Fußboden. „Das weiß ich nicht. Ich hatte gehofft …“ Die Stimme wollte ihm versagen. „Ich wollte ihm sagen …“

Dr. Ahmad legte seine Hand auf Jamals Schulter, dem die Tränen die Wangen hinunterliefen.

„Jamal, wenn Osama am Leben bleibt, werden wir beide ihm das sagen. Wir wohnen in Syrien, schön, aber es ist Zeit, dass wir den Mund aufmachen. Stimmt’s oder hab ich recht?“

Jamal fuhr sich mit der rechten Hand über die Wange und schaute seinen Bruder in Christus an.

Dr. Ahmad fuhr bekräftigend fort: „Jawohl! Zusammen schaffen wir es. Einverstanden?“

„Einverstanden! Aber jetzt sollten wir beten. Vielleicht haben Sie es ja gehört, als Sie hereingekommen sind: Ich möchte jedes Mal, wenn ich hier bin, Osama aus dem Neuen Testament vorlesen.“

In den folgenden zweieinhalb Wochen besuchte Jamal Osama täglich und las seinem Cousin einen Großteil des Neuen Testaments vor.

„Safa!“ Jamal, sein Handy am Ohr, schaute zu seiner Frau hin, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Er rief es fast: „Das ist Dr. Ahmad!“

Er lauschte wieder auf die Stimme aus dem Telefon.

„Jamal, er ist aufgewacht! Ich habe Amal im Warteraum gefunden, sie aß gerade mit den Kindern zu Mittag, aber jetzt ist sie bei Osama. Er ist voll da, stellt Fragen und ist richtig aufgeregt. Können Sie kommen, jetzt sofort?“

„Ich bin gerade schon unterwegs zum Krankenhaus und Safa sitzt neben mir.“

Die syrische Artillerie hatte an diesem Vormittag den Beschuss von Idlib wieder aufgenommen und Jamal raste durch die Straßen. Rechts und links schlugen Granaten ein; es war allein Gottes Gnade, dass keine das Auto traf. Als er und Safa endlich in Osamas Krankenzimmer ankamen, verschlugen die ersten Worte des Mannes auf dem Bett Jamal fast den Atem: „Jamal! Mein wunderbarer Cousin! Danke, dass du mich so oft besucht hast!“

Jamal trat langsam an das Bett. „Woher weißt du das denn, Osama? Hat Amal dir das gesagt?“

„Nein und das war auch gar nicht nötig. Ich habe dich ja so oft gehört. Du hast für mich gebetet, und was du da vorgelesen hast, so was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Davon will ich mehr erfahren.“ Osama grinste seinen jüngeren Cousin an.

Am Abend dieses Tages knieten Jamal und Safa in ihrem Wohnzimmer, so weit vornübergebeugt, dass ihr Gesicht den Fußboden berührte, und beteten für Osama. Nach vielleicht einer halben Stunde richtete sich Jamal plötzlich auf und öffnete die Augen. Safa, die merkte, dass ihr Mann nicht mehr kniete, hob das Gesicht und schaute zu ihm hoch. Was ging in ihm vor?

Jamal lächelte. „Es ist Zeit, unseren Gesprächspartner anzusehen, Schätzchen. So ähnlich, wie wenn wir jemand persönlich sprechen wollen und nicht nur am Telefon oder im Internet, nur dass es ernster ist. Ich glaube, das machen Gottes Leute schon seit Jahrhunderten so, wenn sie eine ganz besondere Bitte an den Herrscher des Himmels haben.“

Und Jamal hob seine Augen und Arme zur Zimmerdecke. „Herr, wir rufen deinen Namen an, für Osama!“

Am folgenden Tag besuchte Jamal Osama wieder im Krankenhaus. Jetzt, wo er nicht mehr auf der Intensivstation lag, hatte Osama mehr Ruhe vor all den Schwestern und Ärzten. Es drängte ihn, von seinem Cousin unter vier Augen mehr darüber zu hören, was er in seinem Koma mitbekommen hatte.