In Bindung wachsen - Julia Wanitschek - E-Book

In Bindung wachsen E-Book

Julia Wanitschek

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  • Herausgeber: Saatkorn
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

In deiner Vorstellung ist es so leicht: Du erklärst deinem Kind die Regeln des Miteinanders und es handelt so, wie du es dir wünschst. Die Praxis zeichnet jedoch oft ein anderes Bild: Kinder übertreten Regeln, können ihre Emotionen nicht kontrollieren und sorgen dadurch unfreiwillig für frustrierte und überforderte Eltern. InBindung wachsen zeigt Wege auf, dieses Schema zu durchbrechen. Es richtet sich an Eltern, die ihr Kind beim Heranwachsen bestmöglich begleiten und ihm gleichzeitig Gottes Liebe nahebringen wollen. Einfühlsam und wissenschaftlich fundiert zeigen die Autorinnen den Prozess der Reifwerdung auf und ermutigen Eltern, ihre Kinder dadurch bindungsorientiert zu erziehen. Ein Ratgeber, der Elternherzen heilt und Kinderherzen stärkt.

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Seitenzahl: 220

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InhaltEinleitungKapitel 1Der Garten Eden und unsere ErziehungKapitel 2Kindliche Unreife – und die Erkenntnis, dass auch Erwachsene sie noch besitzenKapitel 3Die zwei Arten von Liebe – welche ist dein Motor?Kapitel 4In der Bindung ruhenKapitel 5Kinder brauchen BindungswurzelnKapitel 6Die Früchte bindungsorientierter Elternschaft – drei ReifwerdungsprozesseKapitel 7Die Früchte verhaltensorientierter Elternschaft – mehr Schein als SeinKapitel 8Wie das Spiel in der Erziehung hilftKapitel 9Was tue ich, wenn … Bindungssichere DisziplinKapitel 10Das Geschenk der HeilungAnhang ADie Bibel und (körperliche) StrafeAnhang BWas bisher geschahAnhang CZum WeiterhörenImpressum

Einleitung

Die überragende Mehrheit der Eltern will durch ihre Erziehung starke Kinder heranwachsen sehen. Mutige Weltentdecker, die ihre Gaben und Fähigkeiten einsetzen, um die Gesellschaft trotz aller Widrigkeiten zum Positiven zu verändern. Kinder sollen ein starkes Rückgrat entwickeln, geduldig, empathisch, rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst werden. Christliche Eltern hoffen darüber hinaus, dass ihre Kinder Gott als liebenden Vater, Jesus als ihren persönlichen Erretter und den Heiligen Geist als Tröster und Ratgeber in ihr Leben hineinlassen. Der Glauben soll eine wertvolle Lebensperspektive und einen Lebenssinn aufzeigen.

Jeder Mensch wurde erzogen und hat daraus bewusst und unbewusst abgeleitet, wie man all diese wertvollen Tugenden an Kinder weitergibt. So verwundert es nicht, dass sowohl in christlichen als auch säkularen Kreisen die unterschiedlichsten Überzeugungen vorherrschen, wie „richtige“ Elternschaft aussehen müsste.

Wir Autorinnen haben uns immer mehr damit auseinandergesetzt, wie wir unsere Kinder begleiten wollen. So lange sie brav und artig waren, mussten wir unsere Erziehungsmethoden nicht reflektieren, doch sobald sich unsere Kinder anders als gewünscht verhielten, kamen Fragen auf: Mit welchen Mitteln darf und sollte man seine Erziehungsziele durchsetzen? Sollten wir unseren Kindern Dinge wegnehmen, sie ins Zimmer schicken, bestrafen, ihnen drohen, sie beschämen, von unserer Zuneigung und Nähe trennen, um etwas scheinbar Gutes zu erreichen? Der Wunsch, nach Gottes Willen zu leben, schien alles noch komplizierter zu machen: Benutzt Gott solche gewaltsamen Formen, um uns zu verändern?

Bei einem genauen Blick in die Bibel wurde uns klar: Gott ist anders. Echte Veränderung und authentisches Wachstum geschehen anders. In der Bindungstheorie und Entwicklungspsychologie haben wir wertvolle Erkenntnisse gewonnen, die uns tief berührt haben. Je mehr wir verstanden, wie wir mit unseren Kindern umgehen dürfen, um ihnen zu helfen, ihr volles von Gott gegebenes Potenzial auszuschöpfen, desto begeisterter waren wir.

Wir dürfen unseren Kindern mit Empathie und Wertschätzung begegnen, ihre Grenzen wahren und Emotionen zulassen. Unsere liebevolle Führung darf absolut gewaltfrei verlaufen, sodass wir nicht zu Strafen, Belohnungen, Drohungen oder Manipulation greifen müssen, damit die Kinder „gesellschaftsfähig“ werden. Unsere Erziehung darf voller Gnade und Glaube sein. Unsere Kinder brauchen täglich unsere Gnade, da sie viele ihrer Verhaltensweisen nicht bewusst steuern können, also unreif sind. Wir brauchen den Glauben an den natürlichen Entwicklungsplan im Menschen. Wenn wir als Eltern die Nährstoffe für inneres Wachstum bereitstellen, werden wir beobachten dürfen, wie unsere Kinder gute Charakter-Früchte zu ihrer Zeit hervorbringen.

Langsam verstanden wir, dass Gott die Menschen als Bindungswesen geschaffen hat, also als Geschöpfe, deren größtes Bedürfnis Bindung ist. Bindung ist das, was sowohl uns als auch unsere Kinder zu wahrer Reife führen kann. Durch unsere intensive Beschäftigung mit der bindungs- und bedürfnisorientierten Elternschaft, vor allem mit den Erkenntnissen von Dr. Gordon Neufeld, konnten wir erstmals nachvollziehen, warum und wie sich unsere Kinder – ohne jegliche Form von Gewalt – von innen heraus entwickeln dürfen. Neufeld versucht die Entwicklung des Menschen als Ganzes zu betrachten. Hierfür setzte er sich in den vergangenen 40 Jahren Theorien und Erkenntnisse aus unterschiedlichen psychologischen Disziplinen (darunter die Tiefenpsychologie, Bindungstheorie, Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften) auseinander und entwickelte aus ihnen ein stimmiges und verständliches Modell.

Zusammen mit dem Studium der Bibel, den Erkenntnissen verschiedener Theologen und christlicher Therapeuten ergab sich für uns ein unfassbar schönes Bild, wie sich Gott echte Entwicklung gedacht hat. Zum ersten Mal im Leben durften wir eine Herzensfreiheit erleben, die bis dahin unerreichbar schien. Gottes Liebe konnte in einer Intensität in unsere Herzen eindringen, die viel mehr veränderte als all das vorherige Wissen über Gott und unsere persönlichen Prägungen. Wir durften seelische Heilung erleben, jahrelange Trigger lösten sich und unsere eigene Empathie und Liebesfähigkeit wuchsen, weil wir endlich dem Gott der bedingungslosen Agape-Liebe begegnet waren.

Als sich unsere Herzen veränderten und wir einen neuen Blick auf Elternschaft und Erziehung gewannen, wurde unser Leben spürbar umgekrempelt. Heute wünschen wir diese Transformation so vielen Eltern wie möglich, damit auch sie die Fülle der Gnade Gottes erleben und diese an ihre Kinder weitergeben können. Mit diesem Buch wollen wir verständlich aufzeigen, was unter der Unreife von Kindern zu verstehen ist. Wir laden dich ein, auf den nächsten Seiten herauszufinden, was dich innerlich antreibt – Liebe oder Angst? –, wie innere Reifeprozesse ablaufen und wie man diese unterstützen kann. Die brennende Frage, wie wir mit destruktivem Verhalten bindungsorientiert umgehen oder dieses bereits im Vorfeld vorbeugen können, soll natürlich auch beantwortet werden.

Es ist unser Gebet, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass Kinder geborgen und frei aufwachsen und sich in ihrem Tempo entwickeln dürfen. Wir wünschen uns von Herzen, dass dein Kind an einen Gott der bedingungslosen Liebe glauben kann, weil du ihm gezeigt hast, dass deine Liebe uneingeschränkt zur Verfügung steht.1

Vorstellung der Autorinnen

Junita Horchist Pädagogin und hat mehrere Jahre Teenager an der Realschule unterrichtet. Als Kursleiterin und Referentin gibt sie ihr Wissen zum bindungsbasierten Entwicklungsansatz weiter und verbindet dies mit ihrem Glauben an Gott. Sie ist Mitbegründerin des Podcasts inBindung, verheiratet und zweifache Mutter.

Julia Wanitschek ist Lehrerin am Gymnasium und hat sich im langjährigen Selbststudium viel Wissen zur bindungs-und bedürfnisorientierten Elternschaft angeeignet. Es begeistert sie, dass in dieser Art von Elternschaft Jesu Charakter zu sehen ist. Ihr Wissen teilt sie als Referentin und als Teil des Podcastteams von inBindung gerne mit anderen. Sie ist außerdem Pastorenehefrau und hat zwei Kinder.

Marina Hoffmann ist Sozialarbeiterin und absolvierte Fortbildungen zu den Themen Entwicklungspsychologie und Bindung. Als Kongressverantstalterin, Mentorin für Mütter und Podcasterin bei inBindung setzt sie sich dafür ein, den bindungsorientierten Erziehungsansatz in christliche Familien zu bringen. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne.

1 Dieses Buch kann mithilfe der Reflexionsfragen auch in Kleingruppen besprochenwerden. Zur Vertiefung legen wir dir/euch unseren Podcast „inBindung“ ans Herz, der seit September 2020 existiert. Im Anhang C nennen wir die Podcastfolgen, mit denen ihr das Gelesene vertiefen und ergänzen könnt.

Kapitel 1Der Garten Eden und unsere Erziehung

Stell dir folgende Situation vor: Du bist nach zehn Stunden anstrengender Arbeit auf dem Weg nach Hause. Völlig erschöpft und müde. Eigentlich fehlt dir sogar die Kraft, dir eine Mahlzeit zuzubereiten. Also nimmst du dir vor, sofort ins Bett zu gehen. Doch plötzlich entdeckst du direkt neben deiner Haustür ein Vogelküken. Es scheint aus dem Nest in deiner Dachrinne gefallen zu sein. Von der Vogelmutter fehlt jede Spur. Du versuchst, das Küken wieder ins Nest zu setzen, aber kurz darauf springt es herunter und liegt erneut auf dem Boden. Es zittert und sieht völlig ausgehungert aus. Du weißt: Auf dem Boden wird es in der Nacht erfrieren oder von einem Tier gefressen werden.

Was geht in diesem Moment in dir vor? Lässt du das Küken liegen, weil du zu erschöpft bist, um dich darum zu kümmern? Machst du es dir in deiner Wohnung gemütlich, weil sich das Küken ja selbst in diese missliche Lage gebracht hat? Wahrscheinlich würdest du anders reagieren, denn dieses schwache und hilfsbedürftige Küken setzt eine Energie in dir frei, die dir vorher gefehlt hat. Motiviert durch starke Gefühle der Fürsorge und des Mitgefühls würdest du das Küken vielleicht in deine Wohnung nehmen, es wärmen und füttern und ihm all die Fürsorge geben, die es braucht. Was dieses Gedankenspiel über Erziehung aussagt, darauf kommen wir am Ende des Kapitels zurück.

In diesem Kapitel möchten wir veranschaulichen, wie Jesus uns Menschen ansieht; wie er uns in all unserer Fehlerhaftigkeit begegnet – nämlich mit Fürsorge, Mitgefühl, und vor allem mit Bindung. Außerdem betrachten wir, mit welchen Bedürfnissen wir geschaffen wurden und wie sich der Sündenfall auf unsere Psyche ausgewirkt hat. Wir tauchen tief in die Theorie ein, um für die Praxis vorbereitet zu sein. Auf diesen ersten Seiten geht es vor allem darum, den richtigen Blick auf unser Kind zu entwickeln. Schließlich gilt: Wie wir unser Kind ansehen, entscheidet darüber, wie wir mit ihm umgehen. Durch welchen Filter wir die Menschen im Allgemeinen betrachten, bestimmt, wie wir über sie denken und auf ihre Fehler und Schwächen reagieren. Unser Menschenbild legt sogar fest, wie wir mit uns selbst umgehen und wie wir Gott sehen.

Gott ist das Alpha dieses Universums. Das bedeutet: Er ist ein fürsorglicher Gott, der gern gibt. Er überschüttet uns mit Gutem, denn das ist die Essenz seines Charakters: Agape-Liebe. Diese Liebe steht für göttliche, uneigennützige Liebe; sie ist selbstlos, sie schenkt, umsorgt und beschützt. Diese Liebe ist auch Gottes Gesetz, auf dem das Universum gegründet ist. In Römer 13,10 steht: „Die Liebe fügt niemandem Schaden zu; deshalb ist die Liebe die Erfüllung von Gottes Gesetz” (NLB).

Beziehung entfaltet unser Potenzial

In 1. Mose 2,7 (ELB) steht: „Da bildete der Herr, Gott, den Menschen aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele.” Hier lesen wir von zwei Komponenten, die den Menschen ausmachen. Er besteht aus Erde, also der Materie, die den Körper bildet, und aus Gottes Atem. Letzteres meint den inneren Menschen, also den Charakter, die Gefühle, Gedanken und Entscheidungen. Der Atem Gottes beinhaltet auch das Potenzial, das unser Schöpfer in jeden von uns gelegt hat, um eine einzigartige, wunderschöne und reife Persönlichkeit zu kreieren.

Gott hat den Menschen nach seinem Vorbild geschaffen; als Mann und Frau, denn Gott ist Liebe und Liebe kann nur in Beziehung entstehen. Gott ist ein Beziehungswesen und hat auch uns so erdacht. Bereits in der Schöpfung wird Gottes Beziehungswunsch sichtbar – vor allem am siebten Tag, dem Sabbat. Dieser Tag war ausschließlich für die Gemeinschaft zwischen Mensch und Schöpfer bestimmt. Der Mensch wurde nicht zum Arbeiten, Funktionieren oder blindem Gehorsam geschaffen. Sein allergrößtes Bedürfnis ist Beziehung. Aktuelle Erkenntnisse in Psychologie und Hirnforschung bestätigen dies. Aus diesem Grund gibt es noch eine dritte Komponente, die den Menschen in seinem Sein vervollständigt. Die Bibel spricht an mehreren Stellen davon, dass wir Menschen eine Wohnung, ein Tempel des Heiligen Geistes sind. Gott möchte in uns wohnen, also eine innige Beziehung mit uns führen. Diese Beziehung prägt das menschliche Herz. Laut Römer 5,5 gießt der Heilige Geist die Liebe, also die Essenz seines Charakters, in uns aus.

Wenn wir perfekt – mit großem Potenzial – erschaffen wurden, bleibt die Frage, warum man eine Beziehung mit Gott eingehen sollte. Wir haben folgende Antwort darauf gefunden: Die Liebe ist kein Programm, das Gott auf unserer Festplatte installiert hat. Sie wird dem Menschen nicht aufgezwungen. Liebe kann nur in einer freiwilligen und auf Vertrauen basierenden Beziehung entstehen und wachsen. Das Potenzial zum Lieben liegt bereit, aber es ist laut Jesus wie ein Senfkorn, das wachsen muss.

Wolfgang Bergmann findet in seinem Buch Disziplin ohne Angst folgende Worte: „Einzigartig ist der Mensch, weil er nicht nur auf Liebe antwortet – das tun Katzen, Hunde und Schimpansen und sogar Eisbären auch -, sondern weil diese Liebe benötigt wird, um ein eigenes Selbst, ein reifes Ich zu schaffen.“1 Als Geschöpfe und Kinder Gottes sind wir auf seine unerschöpfliche Liebe angewiesen, um zu unserem vollständigen Selbst zu werden. Jeder Mensch ist von einer externen Liebesquelle abhängig, um seine wahre, einzigartige Persönlichkeit entfalten zu können. So wächst auch der gute und reine Charakter in der Bindung und dem Vertrauen zu Gott. Diese Abhängigkeit von Gott kann vielleicht als etwas Negatives verstanden werden, doch handelt es sich hierbei um eine gesunde Abhängigkeit, die auch in der Bindungstheorie erklärt wird: Ein Kind kann nur in einer gesunden Abhängigkeit zu einer fürsorglichen, erwachsenen Bezugsperson heranwachsen und Selbstständigkeit entwickeln.

Durch Autonomie zum Potenzial

Gott beauftragte den Menschen, über die Tiere zu herrschen und übertrug ihnen die Verantwortung für den Garten Eden. Herrschen nach dem Agape-Prinzip bedeutet: Für die Tiere und die Natur zu sorgen, sie zu pflegen, zu schützen und zu erhalten. Aus der Beziehung zu Gott wuchs in ihnen der innere Drang, fürsorglich und selbstwirksam zu leben. Diesen Drang konnten sie in Eden ausleben. Gott wollte Menschen erschaffen, die in Harmonie mit Gott selbst über diese Erde regieren, und nicht solche, die pausenlos und ohne Entscheidungsfreiheit Gottes Befehle ausführen. Hätte Gott willenlose Kreaturen erdacht, hätten die Menschen zwar nicht sündigen, aber auch nicht ehrlich lieben können. Gott ist jedes Risiko eingegangen, denn sein Charakter ist Agape-Liebe, und diese Liebe gründet auf Freiheit.

Bindung und Unabhängigkeit sind die zwei größten Bedürfnisse des Menschen.Johann Wolfgang von Goethe formulierte es treffend: „Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Gott ist der perfekte Vater: Er schenkt tiefe Wurzeln der Bindung und ermöglicht gleichzeitig ein selbstwirksames und autonomes Leben. Dies sind nur zwei von vielen menschlichen Bedürfnissen, doch sobald sie gestillt sind, kann der Mensch innerlich wachsen.

Nach der Verführung

Doch was geschah, nachdem Gott die Menschen schuf, mit ihnen in Beziehung trat und alles sehr gut gewesen war? Was sagte die Schlange am Baum der Erkenntnis zu Eva? Du kannst den Dialog in 1. Mose 3,1–5 nachlesen. Die Schlange zischte sinngemäß: „Warum verbietet Gott euch alles? Gott will euch etwas verwehren, euch klein und unwissend halten. Er liebt euch nicht so sehr, wie ihr glaubt, deshalb solltet ihr ihm nicht trauen. Wenn ihr die Frucht esst, dann könnt ihr ohne Gott gut und glücklich miteinander leben. Ihr braucht doch keinen Gott, der euch nur kontrollieren will. Ihr werdet leben, und dann werdet ihr endlich wissen, wer hier der Böse ist.“ Satan bot ein Leben ohne Gott und sein Gesetz der Agape-Liebe an – und versprach Glück. Die Menschen würden von niemandem mehr abhängig sein und stattdessen aus eigener Kraft leben.

Was tat die Schlange?

1. Sie zeichnete ein ganz anderes Bild von Gott, als Eva es kannte: Gottes Charakter bekam Falten und Flecken. Und je länger sie darüber nachdachte, umso größer wurden ihre Zweifel an Gottes Wesen und ihr Glaube an seine unendliche Güte verschwand. Hatte die Schlange recht und man konnte Gott eigentlich nicht über den Weg trauen? An dieser Stelle griff Satan sowohl das Gottesbild als auch die starke Bindung von Eva und Gott an.

2. Die Schlange zeichnete außerdem ein falsches Bild von Eva: Sie behauptete, Eva würde nicht so geliebt, wie sie es geglaubt hatte. Sie sei eine Marionette Gottes. Sie sei für Gott nicht mehr so wertvoll, wie sie es vorher gefühlt und geglaubt hatte. Gott hätte ihr sein Vertrauen entzogen. Stattdessen sollte Eva lieber der Schlange glauben, die ihr wahre Freiheit und Würde schenken wollte.

Anstatt die Zweifel abzuwehren, ließ Eva sie wachsen. Gott hatte seine Agape-Liebe mehrfach bewiesen, und trotzdem entschied sie sich für den Zweifel. In 1. Mose 3 steht, was mit Eva geschah, als sie Satans Aussagen Glauben schenkte:

1. Eva misstraute Gott und trennte sich damit von ihrer Lebens- und Liebesquelle. Ohne diese Quelle konnte sie weder ewig leben noch in der Liebe wachsen. Sie war nicht mehr mit dem Heiligen Geist, der dritten lebensnotwendigen Komponente, verbunden. Sie verschloss ihm ihre Herzenstür. Somit war Gottes Charakter – das Gesetz der Agape-Liebe – nicht mehr in ihr Herz geschrieben.

2. Mit dem Essen der Frucht kam zum ersten Mal ein Gefühl der Trennung in ihr auf. Um besser zu verstehen, was dies in Eva auslöste, schauen wir auf die Hirnforschung. Wissenschaftliche Erkenntnisse geben uns einen Einblick, was Trennungserfahrungen zur Folge haben. Der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld nennt es die Hauptaufgabe des limbischen Systems – des emotionalen Gehirns – uns zu reifen Menschen zu formen.2 Doch Trennung verhindert genau diesen Reifeprozess. Deshalb gehört der Umgang mit dieser Erfahrung zu den zentralen Aufgaben des limbischen Systems. Der Mensch war niemals für Trennung ausgelegt, nur für Bindung. Diese Bindung versucht das limbische System wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Sobald Trennung erlebt wird, versucht es das Problem der Trennung zu lösen und zu verarbeiten. Drei Hauptemotionen helfen dabei: Alarm, Frustration und die Sehnsucht nach Bindung. Der Alarm zeigt uns, dass etwas nicht stimmt. Frust setzt in uns Energie frei und bewegt uns dazu, etwas an der Situation zu verändern. Und das Gefühl der Sehnsucht animiert uns, die Bindung zu suchen und wiederherzustellen. Je nach Mensch und Situation äußern sich diese Gefühle unterschiedlich stark. Wenn dieses Ziel jedoch nicht erreicht wird und es keinen gesunden Umgang mit diesen Emotionen gibt, entwickeln sich problematische Verhaltensweisen. Nach Gordon Neufeld sind sie sogar die Wurzel jeden destruktiven Verhaltens. Man kann also sagen, die Trennung von Gott löste die Gefühle von Alarm und Frust und eine Sehnsucht nach Bindung aus.

3. Evas Selbstwertgefühl wurde zerstört. Gleichzeitig war es die Geburtsstunde des Egoismus. Jeder Mensch hat das natürliche Bedürfnis, geliebt und wertgeschätzt zu werden. In der Beziehung zu Gott war sich Eva ihres kostbaren Wertes immer sicher und ihre Sehnsucht gestillt. Sobald dieses Bedürfnis im Leben eines Menschen jedoch unbefriedigt bleibt, versucht sich die Seele zu schützen und den eigenen Wert zu erhöhen, sich in erster Linie selbst zu lieben – das Fundament von Egoismus ist gelegt. Selbstsucht wächst in uns, wenn wir nicht geliebt oder wertgeschätzt werden – und nicht, wie oft angenommen, wenn wir zu sehr geliebt werden. Evas Fokus und ihre ganze Energie wurden darauf gelenkt, ihr inneres Loch zu füllen, das plötzlich entstanden war. Denn nun konnte sie diese Sehnsucht nicht mehr bei Gott stillen, weil sie ein falsches Bild von ihm hatte.

4. Eva wollte nicht betrogen und kontrolliert werden. Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, manipuliert zu werden. Es ist ein gesunder und normaler Instinkt, sich gegen gefühlten Zwang zu sträuben. Das Problem an der Sache ist nur, dass Satan gelogen hat. Es ist nicht Gott, der Kontrolle ausüben möchte, sondern der Feind selbst. Weil Eva ein verdrehtes Bild von Gott hatte, wollte sie nicht mehr die Grenzen Gottes respektieren, die er zu ihrem Schutz und zum Schutz anderer aufgestellt hatte. Sie versuchte nun, unabhängig zu sein und sich selbst zu nehmen, was sie brauchte.

Satan nahm alles weg, was Eva für ein erfülltes und glückliches Leben benötigte. Zuallererst die Liebe, aber auch ihre Autonomie und Freiheit. Auf diesem Weg wurde Eva dazu getrieben, egoistisch zu denken. Sie hatte immer noch dieselben, berechtigten Bedürfnisse, doch sie suchte überall, nur nicht bei Gott nach deren Erfüllung. Der Feind bot Eva schließlich eine verlockende Möglichkeit an, sich selbst glücklich zu machen: Sie sollte von der Frucht essen und würde dann so wie Gott werden; unabhängig von der Liebe anderer. Diese Frucht versprach ihr die Erfüllung ihrer Bedürfnisse und würde sie gleichzeitig von diesem tyrannischen Gott befreien. Eva glaubte der Lüge und aß von der Frucht und gab auch ihrem Mann davon.

Das große Trauma der Trennung von Gott beraubte uns der Möglichkeit, unser wahres Potenzial zu entfalten. Es nahm uns unsere Identität. Das folgende Beispiel beschreibt dies: Ein Kind entwickelt sich im Mutterleib als Einheit mit der Mutter. Es identifiziert sich mit ihr. Der Prozess der Ablösung von der Mutter und der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit entsteht in den ersten sieben Lebensjahren und ist auch dann noch nicht vollständig abgeschlossen. Babys, die auf Dauer von ihrer Mutter getrennt werden, verlieren sich selbst. Sollte ihr Schreien nach Bindung erfolglos sein, dann fühlen sie sich hilf- und identitätslos. So ein frühes Trauma zieht viele schwerwiegende Konsequenzen nach sich; löst häufig Störungen, Fehlentwicklungen und Abwehrmechanismen aus. Dieses Beispiel verdeutlicht nur bruchstückhaft, was es für die Menschen bedeutet, von ihrem himmlischen Vater getrennt worden zu sein und welche Fehlentwicklungen daraus resultieren. Seitdem der Mensch aus Gottes Lebensprinzip der Agape-Liebe ausgetreten ist, gibt es nur noch verdiente Liebe. Wir mühen uns ab, um Respekt und Wertschätzung zu erhalten. Wir müssen für Liebe arbeiten. Dabei ist das menschliche Gehirn auf eine Liebe angewiesen, die nicht an Bedingungen geknüpft ist.

Gordon Neufeld tritt für folgenden Grundsatz ein: Kinder sollen sich unsere Liebe nicht verdienen – sie sollen in ihr ruhen. Das ist der Unterschied zur weltlichen Liebe: Gottes Liebe empfängt man, um in ihr ruhen zu können und aus dieser Ruhe heraus zu reifen. Im Gegensatz dazu ist weltliche Liebe Arbeit. Deshalb setzen wir fast unsere gesamte Energie für die lebenslange Suche nach Bindung ein. Und unser Gehirn kann so nie zur vollendeten Reifung gelangen.

Gott sieht unsere Notlage! Gott weiß, dass wir ohne die Bindung zu ihm nicht reifen und lieben können, und auch nicht das Gesetz der Liebe erfüllen werden. Aus diesem Grund betrachtet er jeden Menschen, auch den schlimmsten Sünder, mit Augen des Mitgefühls. Er sieht den Menschen nicht mit Augen der Ablehnung, des Ekels oder Zorns an. Er schämt sich auch nicht für unser Verhalten. Der Wert des Menschen und seine Liebe zu ihm ändert sich nie.

Zurück zur Bindung

Jetzt stellt sich die Frage, ob es einen Weg zurück in die Bindung mit Gott gibt. Ty Gibson beschreibt in seinem Buch Der Sohn, dass die Erlösung dazu dient, Bindung zwischen Menschen und Gott zu ermöglichen, erneut Freiheit zu schenken und unser bestes Selbst wiederherzustellen. Erlösung ist die Antwort. Jesus stillt unsere größten Bedürfnisse und wir können wieder wachsen. In der Bibel wird beschrieben, wie Jesus mit verlorenen Sündern umgeht, auch mit denjenigen, die ihre Sünden nicht bereuen. Er sagte der Ehebrecherin, die eines Tages vor ihn gebracht wurde: „Ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige nicht mehr” (vgl. Johannes 8,10–11). Jesus schenkte ihr bedingungslose Liebe und Annahme. Er vergab ihr die Sünde, noch bevor sie darum bat. Das ist der entscheidende Punkt: Verurteilung und Strafe können die Sünde nicht beseitigen, nur Liebe und Gnade geben Kraft zur Veränderung. Deshalb ist es sinnlos, einem Kind (oder auch einem Erwachsenen) zu sagen, es sei ein Egoist oder böse und müsse Gott um Vergebung bitten. Diese verurteilende Haltung dem Menschen gegenüber wird in ihm niemals den echten Wunsch wecken, zu Gott zu kommen, sondern nur Widerstand oder Angst auslösen.

Erlösung und Erziehung sind eins

Nun drängt sich die Frage auf, wie wir in Bindung erziehen können. Was tun wir, wenn sich unser Kind schreiend auf den Boden wirft, weil es keine Schokolade zum Frühstück bekommt? Wie gehen wir damit um, wenn unser Kind sein Spielzeug nicht teilen möchte? Wie reagieren wir, wenn unser Kind andere Kinder schlägt? Was tun wir, wenn unser Kind uns Eltern beschimpft? Auf diese schwierigen Fragen möchten wir in diesem Buch Antworten geben, aber das Grundprinzip ist immer dasselbe: Unsere Kinder brauchen Bindung, die sie befähigt, sich anders zu verhalten. Sie sind auf Bindung angewiesen, um einen gesunden Selbstwert aufbauen zu können, um mit ihren Gefühlen umgehen zu können und um ein tiefes Vertrauen zu uns und zu Gott wachsen zu lassen.

Ty Gibson erklärt in seinem Buch Gott mit neuen Augen sehen, dass Jesus uns dazu auffordert, Menschen mit schlechten Verhaltensweisen so zu behandeln, als wären sie gute Menschen. Wir sollen sie lieben, für sie beten, ihnen vergeben und sie nicht verurteilen – und das alles nicht erst, wenn sie sich geändert haben und Reue zeigen, sondern schon vorher. Denn das entspricht Gottes Wesen. Schon bevor wir uns vom Bösen abwenden, liebt er uns, beschenkt und vergibt uns – ohne erhobenen Zeigefinger. Er weiß schließlich am besten, dass wir ohne seine Liebe überhaupt nicht fähig sind, anders zu handeln. Er versteht uns und er sieht in jedem von uns das Potenzial, das sich durch seine Liebe entfalten kann.

Ellen White schreibt in ihrem Buch Erziehung: „Das Werk der Erziehung und das Werk der Erlösung sind im höchsten Sinne eins.“3Jesus schenkt Bindung, damit das Gesetz der Liebe in uns reifen kann. Dasselbe gilt für unsere Beziehung mit unserem Kind.

Natürlich können wir als sündige Menschen nur bis zu einem gewissen Grad Bindung und Liebe weitergeben. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Eltern eng mit Gott verbunden sind. Gleichzeitig dürfen wir unser Kind einladen, die wahre, göttliche Quelle der Liebe kennenzulernen. Bei alldem sollten wir nie vergessen: Trotz aller Liebe haben unsere Kinder die Freiheit, unsere oder Gottes Liebe anzuzweifeln oder sich gegen sie zu entscheiden.

Nun ist es an der Zeit, auf die Eingangsgeschichte zurückzukommen. Das Vogelküken neben der Haustür war hilflos und schwach. Es hatte zwar selbst schuld an seiner Situation und dennoch weckte es in dir wahrscheinlich den Instinkt der Fürsorge. In Matthäus 10,29 steht, dass kein Spatz zur Erde fällt, ohne dass Gott davon weiß. Wie viel mehr erbarmt sich Gott über uns gefallene Menschen? Gott ist von Mitgefühl und Fürsorge uns gegenüber erfüllt. Er schaut nicht mit Zorn auf unsere Fehler, sondern sieht in uns ein bedürftiges Lebewesen, welches allein nicht überleben kann. Auch in den dunkelsten Stunden unserer Sünden – vor allem dann – brauchen wir Jesus, der uns auffängt. Was siehst du, wenn dein Kind einen Wutausbruch hat und um sich schlägt? Nimmst du ein bedürftiges Kind wahr? Oder verurteilst du sein Verhalten und gibst dem Drang nach, das Kind zu reglementieren? Ist dies Jesu Weg zur Veränderung? Je nachdem, wie wir auf unsere Kinder schauen, wird entweder der Instinkt der Fürsorge oder der Instinkt der Verurteilung in uns ausgelöst. Und dies entscheidet schlussendlich über unseren Erziehungsstil. Wir Autorinnen brennen für eine Erziehung, die sich an Jesu Worten orientiert: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, wird viel Frucht bringen“ (Johannes 15,5 NLB). Um diese Bindung wird sich alles drehen.

Zum NachdenkenWelche Emotionen steigen in dir auf, wenn du einen Fehler begehst?

Was ist dein erster Gedanke oder Impuls, wenn sich dein Kind „danebenbenimmt“?

Was macht es mit dir, wenn du liest, dass sich Gott nach einer tiefen Beziehung zu dir sehnt und dich mit liebevollen Augen ansieht, selbst wenn du sündigst?

1 Wolfgang Bergmann,Disziplin ohne Angst, Weinheim 2007, S. 12.

2 Gordon Neufeld, Intensivkurs I, Onlinekurs, Jahr 2013.

3 Ellen White, Erziehung, Lüneburg 2020, S. 31.

Kapitel 2

Kindliche Unreife

und die Erkenntnis, dass auch Erwachsene sie noch besitzen

Der dreijährige Sohn von Carol brachte seine Mutter zur Verzweiflung. Täglich stritt er mit seinem kleinen Bruder oder schlug ihn. Er hielt sich nicht an Regeln und schrie ununterbrochen, wenn sie ihn zur Strafe in sein Zimmer schickte. Ständig schwankte seine Stimmung und er konnte seine Emotionen nicht beherrschen. Es schien nur an sich zu denken und keine Rücksicht auf andere Familienmitglieder zu nehmen … Carol wollte ihr Kind verstehen. Darüber hinaus wollte sie sich selbst verstehen – ihre große Wut, wenn ihr Sohn wieder Regeln übertrat. Eine Wut, die sie Dinge tun und sagen ließ, die sie hinterher bereute. Eigentlich fühlte sie sich in diesen Momenten selbst wie ein kleines, unbeherrschtes Kind. Trotz aller Bemühungen, ihre Wut zu kontrollieren, brach sie immer wieder aus ihr heraus.