In den Nächten brütet still der Tod - Virginie Brac - E-Book

In den Nächten brütet still der Tod E-Book

Virginie Brac

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Beschreibung

Kriminalpsychiaterin Véra Cabral hat's nicht leicht … … neidische Kollegen, Stress mit ihrer portugiesischen Großfamilie, und jetzt das: Der Sohn ihres Chefs hat seine Freundin zerstückelt – offenbar im Drogenrausch. Véra soll den Jungen nach den Vorgaben des Vaters psychiatrisch betreuen, um ihm Haft oder Dauerverwahrung zu ersparen. Das kann sie natürlich nicht akzeptieren. Aber soll sie für ärztliche Prinzipien ihre Karriere aufgeben? Doch dann kommt Véra der Verdacht, dass die beiden jungen Leute in der Tatnacht nicht allein waren.

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Virginie Brac

In den Nächten brütet still der Tod

Ein Fall für Véra Cabral

Aus dem Französischen von Kerstin Krolak

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

KRIMINALPSYCHIATERIN VÉRA CABRAL HAT’S NICHT LEICHT …

 

… neidische Kollegen, Stress mit ihrer portugiesischen Großfamilie, und jetzt das: Der Sohn ihres Chefs hat seine Freundin zerstückelt – offenbar im Drogenrausch. Véra soll den Jungen nach den Vorgaben des Vaters psychiatrisch betreuen, um ihm Haft oder Dauerverwahrung zu ersparen. Das kann sie natürlich nicht akzeptieren. Aber soll sie für ärztliche Prinzipien ihre Karriere aufgeben? Doch dann kommt Véra der Verdacht, dass die beiden jungen Leute in der Tatnacht nicht allein waren.

Über Virginie Brac

Virginie Brac ist eine der renommiertesten französischen Kriminalautorinnen. Im Jahr 2004 wurde sie für ihr Werk mit dem Grand Prix de Littérature Policière ausgezeichnet.

Inhaltsübersicht

Mein Dank gilt ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel

Mein Dank gilt Frau Dr. Pascale Cervera-Pierot für ihre überaus wertvolle Hilfe.

1

NICHTS Besonderes heute. Reine Routine. Eine Nacht wie jede andere. Das Gefühl für Jahreszeiten habe ich schon lange verloren. Es gibt immer irgendwo Menschen, denen es schlecht geht, die leiden. Das ist traurig, aber eigentlich auch gut so. Denn was würden wir ohne sie machen? Wie sähe die Welt aus, wenn alle ständig gut drauf wären? Wie eine Hölle auf Prozac.

In meinem Autoradio knistert es. Dann folgt eine Nachricht über Sprechfunk: Irgendwo da draußen in der Nacht wartet ein Notfall auf mich. East fühle ich mich erleichtert. Uff. Ich bin nicht allein auf dieser Welt.

Polizisten haben das gesamte Viertel abgeriegelt. Schon an der nächsten Querstraße bleibe ich mit dem Wagen stecken. Ein Haufen rasender Reporter versperrt mir den Weg. Lautstark fluchend versuchen sie, die gepanzerte Kette der Sicherheitskräfte zu durchbrechen. Ich lasse mein Fenster runter und reiche einem der schwer bewaffneten Krieger meinen blau-weißroten Dienstausweis.

«Dr. Cabral, Psychiatrisches Kriseninterventionszentrum.»

«Stellen Sie Ihren Wagen ab», erwidert der Polizist und gibt mir meinen Ausweis zurück. «Wir lassen Sie dann zu Fuß durch.»

Keine berauschende Vorstellung, dieser aufgebrachten Meute meinen Wagen zu überlassen. An meinen Scheiben werden Nasen platt gedrückt, Empörung macht sich breit. Man will wissen, ob ich jemand Wichtiges sei, ein Promi womöglich. Als endlich zu sehen ist, wie sich eine junge Frau mit langen Beinen, einem Lederköfferchen und einer Fliegerjacke aus dem Auto herauszwängt, werden die Protestrufe lauter:

«Wer ist die denn? Warum denn ausgerechnet sie? Schweinerei!»

Fremde Arme greifen nach mir und ziehen mich blitzschnell auf die andere Seite der Absperrung. Direkt hinter mir schließt sich der Verteidigungsring wieder.

«Folgen Sie mir», befiehlt Robocop. «Ich werde Sie eskortieren.»

Während wir die Straße hinunterlaufen, ebbt der Lärm allmählich ab, und die Proteste sind schließlich nur noch in weiter Ferne zu hören.

«Wir haben strikte Anweisung, sämtlichen Presseleuten den Zutritt zu verwehren», erklärt er mir. «Das macht sie rasend.»

Der Klang unserer Schritte hallt durch die Nacht. Vorhänge werden kurz beiseite geschoben. Schatten huschen über die Balkone. Überall lauern unsichtbare Augenpaare. An der Kreuzung ist die Anspannung kaum noch auszuhalten.

 

Vor der Schule halten an die hundert Eltern brennende Kerzen in den Händen. Einige haben sich hingekniet und beten. Alle Gespräche sind verstummt.

Als wir um den Einsatzwagen des Sonderkommandos herumgehen, fällt mir auf, dass die technische Ausstattung an Bord hochmodern ist. Zwei Männer in schwarzen Uniformen tragen Kopfhörer und konzentrieren sich auf ihre Apparate. Während mein Begleiter und ich uns dem Eingang der Schule nähern, verfolgen sie uns mit aufmerksamen Blicken.

Unter der Überdachung des Schulhofs werfen die Gewehre im bläulichen Schein der Notbeleuchtung übergroße Schatten auf die mit bunten Kinderbildern verzierten Wände. Die Techniker und die Polizisten an den Überwachungssystemen vermeiden jeglichen Blickkontakt, wenn von der Etage über ihnen lautes Kinderschluchzen die nächtliche Stille zerreißt.

An einem Tisch sitzen mehrere Personen in Zivil und unterhalten sich in gedämpftem Ton. Ich entdecke Edouard Russel. Er ist mein Vorgesetzter und Leiter der psychiatrischen Notaufnahme des Krankenhauses Saint-Guy. In dieser Abteilung hat er ein psychiatrisches Kriseninterventionszentrum auf die Beine gestellt, eine nur sehr kleine Einheit, der auch ich angehöre. Spezialisiert auf extreme Notfallsituationen. Bei Einsätzen wie diesem hier, zu denen unsere Einheit vom Polizeisonderkommando beratend hinzugezogen wird, entscheidet Russel persönlich, welcher Psychiater aus seinem Team die Sache übernehmen soll.

In diesem Fall hat er sich für mich entschieden. Da ich erst seit einem Jahr in seiner Abteilung bin, macht mich das etwas stutzig. Gleichzeitig fühle ich mich geehrt und bin ihm für sein Vertrauen überaus dankbar.

Russel kommt auf mich zu und gibt mir die Hand. Ein energiegeladener, stämmiger Mann, der gelernt hat, seinen rauen Charakter hinter aufgesetzter Gutmütigkeit zu verbergen. Obwohl er sich keine Mühe gibt, die anderen verklemmten Chefärzte nachzuahmen, ist mit Dédé-Pitbull nicht unbedingt gut Kirschen essen. Den Spitznamen hat er seinen Studenten zu verdanken. Seine Art motiviert einen nicht gerade, ihm näher zu kommen.

«Es sieht schlecht aus, Véra. Jetzt kann nur noch eine Frau weiterhelfen.»

So ist das also. Na klar. Ich werde als die besonders einfühlsame Krankenschwester an das Bett des todkranken Patienten geschickt.

Russel stellt mich den beiden anderen Psychiatern vor, die als Berater herbeigerufen wurden. Einer von ihnen arbeitet für die Pariser Verkehrsbetriebe und der andere im psychiatrischen Kriseninterventionszentrum des Krankenhauses Mantes-La-Jolie. Beide Einrichtungen verdanken ihren guten Ruf der besonderen Erfahrung im Umgang mit Terroristen und Geiselnahmen. Unsere Klinik ist auf diesem Gebiet bei weitem nicht so qualifiziert wie die Konkurrenz, doch Edouard Russel besitzt ein gewisses Talent dafür, sich stets erfolgreich in den Vordergrund zu drängen.

Der erste Psychiater ist um die fünfzig, ziemlich zerzaust und unrasiert. Er erklärt mir in knappen Worten, dass ein erster Vorstoß der Polizei gleich zu Beginn der Geiselnahme völlig fehlgeschlagen sei und zu noch unerbittlicheren Forderungen des Wahnsinnigen geführt habe. Sein paranoider Zustand sei so ernst, dass man schon seit mehreren Stunden nichts mehr habe unternehmen können.

Ich hänge meine Jacke über einen Stuhl.

«Und nun?»

«Jetzt ist er so weich gekocht, dass man es noch einmal riskieren könnte», erwidert mir der zweite Psychiater.

Er ist so glatzköpfig, wie sein Kollege strubbelig ist, trägt aber die gleiche Tweed-Jacke und den gleichen wandfarbenen Kaschmir-Pullover. Die beiden wirken auf mich wie New Yorker Intellektuelle aus den fünfziger Jahren.

Die Kollegen rücken etwas zur Seite, damit ich mich setzen kann, und drücken mir einen Becher heißen Kaffee in die Hand. Obwohl ich sonst manchmal einen gewissen Konkurrenzdruck unter uns Psychiatern verspüre, ist das heute nicht der Fall. Ein Hauch von «Wir ziehen doch alle am selben Strang» liegt in der Luft.

«Er hat uns gezwungen, alle Lichter auszuschalten», berichtet der Strubbelkopf. «Wir haben uns darauf eingelassen. Wir haben eigentlich zu all seinen Bedingungen Ja und Amen gesagt, eben um ihn weich zu kochen.»

«Jetzt haben wir allerdings das Problem, dass die Kinder ohne Wasser nicht mehr lange durchhalten», unterbricht Russel. «Aber er lehnt es kategorisch ab, ihnen zu essen oder zu trinken zu geben. Er lässt sie noch nicht einmal auf die Toilette. Bisher durfte niemand den Klassenraum betreten oder verlassen …»

Er blickt auf seine Uhr, doch der Psychiater aus Mantes-La-Julie, der Glatzkopf mit der randlosen Brille, kommt ihm zuvor:

«Zehn Stunden sind es jetzt genau. Schon seit zehn Stunden sind die Kinder da oben eingesperrt.»

«Die Kinderärzte schätzen, dass die meisten jetzt allmählich ernsthaft an Flüssigkeitsmangel leiden», fügt Russel hinzu. «Aber die Leute vom Sonderkommando können nichts unternehmen, solange niemand weiß, wo genau im Klassenzimmer sich die Kinder befinden.»

«Von außen ist also nichts zu erkennen?»

«Er hat die Vorhänge zugezogen. Er weiß genau, was er tut. Ein ausgesprochen berechnender und cleverer Mensch. Er hat uns zu verstehen gegeben, dass er die Lehrerin auch hätte umbringen können, statt sie einfach gehen zu lassen. Allein um uns seinen guten Willen zu beweisen, habe er davon Abstand genommen …»

«Für ihn ist die Sache sonnenklar», schaltet der Strubbelkopf sich wieder ein. «Man hat ihm per Gerichtsbeschluss seine Kinder weggenommen, und wir sollen sie ihm gefälligst wiedergeben. Dann wäre er auch sofort wieder verschwunden, und im Übrigen sei die Polizei schuld an der ganzen Scheiße …»

«Paranoid?»

«Und von seiner Grundstruktur her Psychopath. Er leidet an übersteigerter Selbstwahrnehmung und fehlender Zuneigung. Die Gewalttaten, die er an seinen Kindern begangen hat, streitet er rundweg ab. Dabei steht in seiner Akte, dass er Ins-Bett-Machen mit Brandwunden durch Zigaretten geahndet hat. Für herumliegendes Spielzeug setzte es Misshandlungen in der Badewanne.»

«Ein ausgesprochen netter Zeitgenosse.»

«Natürlich ist er seinen Kindern gegenüber eiskalt. Er hält sie für sein persönliches Eigentum, und das will er um keinen Preis seiner Frau überlassen!»

Während ich nachdenklich in meinem Kaffee rühre, wird mir eines zunehmend klar: Meine Kollegen führen etwas im Schilde. Ihre Darstellung des psychologischen Krankheitsbildes ist bereits viel zu präzise, als dass ich ihnen da noch behilflich sein könnte. Sie wissen schon genau, mit wem sie es zu tun haben und wie mit einer solchen Person umzugehen ist.

«Seine beiden Leidenschaften», erklärt der Glatzkopf, «sind Kinderquälen und Im-Fernsehen-Auftreten. Deshalb haben wir den Presseleuten den Zutritt verwehrt. Er lief zur Höchstform auf, als er vor laufender Kamera über die große Verschwörung aller Richter sprechen konnte, die mit Sorgerechtsfragen zu tun haben. Er spielte den Helden, auserkoren, der Menschheit eine überaus wichtige Botschaft zu bringen.»

Ich fasse mir ein Herz und stelle die zentrale Frage:

«Ist er zum Äußersten bereit, um seinen Willen durchzusetzen? Würde er sich zum Beispiel selbst in die Luft sprengen?»

«Ganz bestimmt nicht», verneint Russel kategorisch. «Dafür hält er viel zu große Stücke auf sich selbst.»

«Ich bedaure», mischt sich der Glatzkopf ein, «aber das kann uns niemand garantieren.»

«Ein Sprengsatz wäre noch nicht mal das allergrößte Problem», gibt der Strubbelkopf zu bedenken. «Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Ich-Bezug ausgeprägt genug ist und er uns nicht den gesamten Laden in die Luft sprengt, schätzen wir auf 80 Prozent ein. Es ist vielmehr zu befürchten, dass er auf die Kinder schießt …»

«Wir haben ihn völlig abgeschirmt, um ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Kein Medienrummel und keine Gespräche mehr, es sei denn, er ruft uns von seinem Handy aus an. Aber wir melden uns nicht mehr bei ihm. Allmählich müsste er unruhig werden …»

Ich blicke in die Runde und erkundige mich so unschuldig wie möglich:

«Und was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?»

Russel steht auf und zieht sich die Hose über seinen leichten Bauchansatz. Er mustert mich wohlwollend:

«Sie gehen zu ihm rauf und reden mit ihm …»

Der Strubbelkopf zündet sich eine filterlose Zigarette an, kneift seine Augen zu zwei kleinen Schlitzen zusammen und fixiert mich durch die Rauchwolke hindurch:

«Du bist bloß eine Frau, ein Stück Scheiße also. Ein Stück Scheiße, das ist keine Bedrohung, sondern eben nur ein Stück Scheiße …»

Die aufmunternden Worte eines solidarischen Kollegen.

2

WIR setzen unser Gespräch über Verhaltensschemata und Persönlichkeitsstrukturen fort. Keiner verbirgt seine Angst; keiner weiß mit Sicherheit, was bei unserem Patienten anschlagen könnte. Das Einzige, das uns weiterhilft, ist, dass wir im Grunde keine Wahl haben. W ir müssen es wagen.

Zwanzig Minuten später haben w ir so etwas wie eine Strategie, und ich entscheide, dass es losgeht.

«Und Sie wollen sich wirklich in die Höhle des Löwen begeben, Véra?», fragt mich Russel und legt mir väterlich seine Hand auf die Schulter. «Wissen Sie, niemand kann Sie zwingen … Sollten Sie ablehnen, kann ich das durchaus verstehen.»

Aber klar doch. Ich versuche kurz, mir auszumalen, wie ich ihm erkläre, dass ich, wenn ich es mir so recht überlege, lieber doch nicht raufgehen möchte. Danach bliebe mir immer noch die Möglichkeit, meine Visitenkarten an U-Bahn-Eingängen zu verteilen, vielleicht würde ja doch mal ein Kunde anbeißen.

Man gibt mir einen weißen Kittel, der mir fast bis zu den Waden reicht und an dessen Kragen ein winziges Mikro befestigt ist. Mein Haar binde ich zu einem strengen Zopf zusammen. Mehr braucht es nicht, um mich zu entstellen. Nichts an mir soll auch nur im Entferntesten an eine Sexbombe erinnern. Nachdem mir ein vermummter Polizist noch fünf Flaschen Mineralwasser in die Hand gedrückt hat, steige ich langsam die Treppe zum ersten Stock hinauf.

 

Ich taste mich vorsichtig den Flur entlang, von dem aus mehrere Türen zu den verschiedenen Klassenzimmern führen, als plötzlich undeutliches Schluchzen an mein Ohr dringt und nach einem scharfen Anpfiff gleich wieder verebbt. Doch das Kind beruhigt sich nicht schnell genug. Das schallende Geräusch einer Ohrfeige lässt mich erstarren. Der Kleine versucht sich zusammenzureißen, ist aber anscheinend wieder zu langsam. Ein weiteres Geräusch ist zu vernehmen, gefolgt von einem markerschütternden Schmerzensschrei. Ich muss mich beherrschen, um nicht wie eine Furie ins Klassenzimmer zu stürzen.

Stattdessen klopfe ich an.

Genauer gesagt halte ich mich exakt an unseren Plan. Ich klopfe und öffne gleichzeitig selbst die Tür. Deutlich sichtbar halte ich meine Wasserflaschen hoch. Ganz in der zurückhaltenden Art einer Putzfrau, die auf gar keinen Fall stören möchte.

«Monsieur, ich habe eine Nachricht für Sie. Von der Polizei.»

Der Überraschungseffekt tut das Seinige. Der Mann lockert den Griff, mit dem er den kleinen, vor Entsetzen bald wahnsinnigen Jungen in einem Meter über dem Boden an den Haaren hält. Der Kopf des Kindes schlägt auf dem gekachelten Boden auf. Regungslos bleibt der Junge liegen.

«Verdammte Scheiße! Was wollen Sie denn hier?», brüllt sein Peiniger.

Eilig verschanzt er sich hinter einer Barrikade aus gestapelten Tischen, auf der mehrere liegende oder sitzende Kinder eine Art menschliches Schutzschild bilden. Es riecht nach Urin.

«Ich wollte Ihnen was zu trinken bringen …»

Noch bevor ich meinen Satz beendet habe, poltert er los:

«Hauen Sie ab! Hauen Sie bloß ab, oder ich werde eins von diesen Blagen vor Ihren Augen abknallen!»

Er hat sich ein kleines Mädchen geschnappt und hält den Lauf seiner vollautomatischen Waffe auf sie gerichtet.

«Ihre Kinder warten unten auf Sie, Monsieur», sage ich in unterwürfigstem Tonfall und werde so klein, dass ich zwischen den Kindern nicht mehr zu erkennen bin. Zu Patienten, die an gesteigerter Selbstwahrnehmung leiden, kann man niemals höflich genug sein.

«Was?»

«Unten warten Ihre Kinder. Wenn Sie es wünschen, schickt man sie Ihnen rauf …»

Es verschlägt ihm kurz die Sprache. Misstrauisch mustert er mich von Kopf bis Fuß. Ich blicke rundherum in vor Angst versteinerte Kindergesichter.

«Ich muss nun das Wasser ausschenken, Monsieur.»

Noch während ich spreche, habe ich mich bereits vor ein am Fuß der Barrikade kauerndes, dicht aneinander gedrängtes, übel riechendes Knäuel aus kleinen Kindern gekniet.

Erste Niederlage: Der Becher, den ich soeben gefüllt habe, fliegt in hohem Bogen davon. Ein Kind jault wie ein verletztes Tier, als ihm das kalte Wasser ins Gesicht spritzt.

«Was bildest du dir überhaupt ein, du Scheißschlampe? Weshalb mischst du dich hier ein?»

«Verzeihen Sie bitte. Ich hatte geglaubt, Sie seien einverstanden. Wissen Sie, Kinder leiden unglaublich schnell an Flüssigkeitsmangel.»

«Was ist denn das für ein Schwachsinn? Als ob ich mich nicht mit Kindern auskennen würde! Ich hab doch selber zwei! Und die will ich gefälligst zurückhaben!»

«Sie warten unten auf Sie, Monsieur!»

«Was erzählst du denn da für ’ne Scheiße? Willst du mich verarschen, oder was?»

«Nein, Monsieur. Die Polizei wartet darauf, dass Sie ihr mitteilen, wie Sie sich das vorstellen.»

«Wie ich mir das vorstelle?», wiederholt er. «Wie ich mir das vorstelle? Ich schnapp mir meine Blagen und verschwinde von hier! So stelle ich mir das vor!»

«Ja, Monsieur, das dachte ich mir bereits. Darf ich nun den Kindern zu trinken geben?»

Unerschütterlich fülle ich einen weiteren Becher mit Wasser auf. Dann noch zwei und noch drei. Der Mann blickt mich prüfend an. So wie eine Laus, die er unter seinem Fingernagel gefunden hat. Er kann es nicht fassen. Andererseits hat er schon seit mehreren Stunden mit niemandem mehr ein Wort gewechselt und es deshalb überhaupt nicht eilig, mich wieder loszuwerden.

«Halt, stopp, was soll das überhaupt? Was ist denn das jetzt plötzlich für ’ne Nummer? Warum sind die Bullen nicht selbst gekommen?»

«Wegen der Kleinen», erkläre ich und zeige dabei auf die Kinder, die schweigend aus ihren Bechern trinken. «Wegen ihnen muss alles ganz ruhig über die Bühne gehen.»

«Hier ist doch was faul», poltert er.

Ich hocke mich neben den kleinen Körper, der regungslos am Boden liegt. Am liebsten würde ich ihn an mich drücken, ihn fest umarmen und ihm schwören, dass nun alles vorbei sei. Wo ist sein Puls? Der Irre darf nicht sehen, dass ich zittere. Während meine Finger verzweifelt das winzige Handgelenk abtasten, spüre ich, dass ich es kaum noch aushalten kann. Wenn ich nicht augenblicklich den Puls finde, fange ich an zu schreien. Ich werde zum Flur hinausstürzen und verzweifelt um Hilfe rufen …

Und dann werden sie alle sterben.

Ohne aufzublicken, bringe ich stammelnd hervor:

«Wenn Sie wollen, kann ich Ihre Antwort der Polizei überbringen …»

Endlich spüre ich den Puls unter meinen Fingern. Er geht nur ganz leicht. Aber das Kind lebt. Flüchtig streichle ich ihm über die Stirn. Danke, Gott. Den Rest übernehme ich.

«Soll ich also etwas ausrichten?»

Jetzt stehe ich vor ihm. Ruhig und ein wenig einfältig, doch durchaus guten Willens. Eine Frau eben.

Ein Lächeln blitzt in seinen Augen auf. Das hohle Lächeln eines Verrückten. Von einem solchen Blick ist keinerlei Milde zu erwarten. Keine Chance.

«Du willst mich verarschen, stimmt’s?»

«Sie haben dreiundzwanzig Geiseln in Ihrer Gewalt, Monsieur. Da vergeht einem das Scherzen.»

«Ist auch besser so, verdammte Scheiße. Da kannst du fragen, wen du willst: Ich mache keine Witze. Wenn hier einer Befehle gibt, dann ich. Merk dir das, du Scheißschlampe!»

«Wenn es Ihnen lieber ist, begleite ich Sie nach unten.»

«Willst du wissen, wonach mir ist, wenn ich einen solchen Schwachsinn höre?», fragt er mich mit seinem breitesten Lächeln. «Mir ist danach, dir eine Kugel in den Kopf zu jagen.»

«Sobald der erste Schuss fällt, geben die unten das Signal zum Angriff.»

Schweigen.

Obwohl er mich am liebsten umbringen würde, um mich für meine Unverfrorenheit zu bestrafen, hat er kapiert, dass ich die Antwort bin, für die sich die Polizei entschieden hat, und dass es eine andere nicht geben wird. Die trügerische Stille, die sich über die Schule gelegt hat, seit ich das Klassenzimmer betreten habe, ist für ihn der Beweis, dass ich, obwohl das an und für sich wirklich ein Unding ist, die Vferhandlungsführerin bin. Mit einem Mal bin ich für ihn die letzte Möglichkeit, seinen Kopf halbwegs unbeschadet wieder aus der Schlinge zu ziehen.

«Unten warten also meine Kinder auf mich?», erkundigt er sich ungläubig.

«So wurde es mir gesagt.»

Das ärgert ihn, was nicht anders zu erwarten war. Er will den Angstgeruch spüren. Wer mit ihm spricht, muss beschämt zu Boden blicken. Die Bullen sollen vor ihm zurückweichen, alle Mikrofone und Kameras müssen auf ihn gerichtet sein. Doch das vermag er sich nicht einzugestehen. Er klammert sich an das selbst gebastelte Bild von ihm als Vater, der für seine Kinder zu allem bereit ist. Nur dann fühlt er sich als Held.

«Das ist doch albern!», spuckt er verächtlich aus. «Alberner geht’s ja gar nicht! Warum haben Sie die denn dann nicht gleich mitgebracht?»

«Die Polizei wartet auf eine Geste von Ihnen. Sie sind bereit, mit Ihnen über einen Austausch zu verhandeln.»

Sein ganzer Körper signalisiert mir, dass er am liebsten einen Rückzieher machen würde, doch ich zwinge ihn, weiter in die Richtung zu gehen, die er selbst vorgegeben hat.

«Also gut», antwortet er mir großkotzig. «Geben Sie mir meine Blagen zurück, und ich überlasse Ihnen diese hier. Die stinken sowieso nach Scheiße.»

«Einverstanden. Wie sollen wir vorgehen?»

Er starrt mich an. Die konkrete Verhandlung bringt ihn nun endgültig aus der Fassung. Was er sich wohl gedacht hatte? Dass er sich durchs Fenster auf und davon schwingen könnte? Oder sich einfach nur in Luft aufzulösen bräuchte? Irgendwann musste er ja wieder aus seinem Versteck hervorkriechen.

«Ich möchte sie sehen», fordert er, und plötzlich schwingt Unsicherheit in seiner Stimme mit.

«Sie sind unten auf dem Hof. Aber bitte lassen Sie die Vorhänge zu, sonst eröffnen die Polizisten das Feuer.»

Er wirft mir einen finsteren Blick zu.

«Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben? Als ob ich davor Schiss hätte!»

Wie lange wird er wohl brauchen, um seinen heldenhaften Abgang vorzubereiten?

Ich soll ihm keine Vorschläge machen, geschweige denn die ganze Sache beschleunigen. Während ich weiter Wasser ausschenke, drehe ich ihm den Rücken zu, damit er bloß nicht sieht, dass ich den Kindern aufmunternd zulächle. Die Wasserflaschen sind in Rekordzeit geleert.

Dann begebe ich mich wieder in Richtung Tür und warte. Russel hat mir ausdrücklich verboten, mit den Kindern zu sprechen oder sie zu berühren. Ein einziger Weinkrampf würde genügen, um die Gewaltbereitschaft dieses Mannes zu reaktivieren. Aber die Kinder halten sich tapfer und verfolgen aufmerksam das Geschehen. Als hätten sie ganz genau verstanden, worauf es ankommt.

Nach einer halben Ewigkeit fährt er mich an:

«Bist du immer noch nicht fertig? Worauf wartest du? Verpiss dich endlich.»

«Brauchen Sie mich nicht mehr?»

«Brauchen? So eine gequirlte Scheiße! Ich hab dich noch nie gebraucht!»

«Sie möchten also nicht hinuntergehen?»

«Ich gehe runter, wann ich will.»

«Ich kann Ihnen für Ihre Sicherheit garantieren.»

«Du kannst mir überhaupt nichts garantieren, und schon gar nicht, dass die mich nicht verarschen, du alte Schlampe!»

Ich gebe keinen einzigen Mucks mehr von mir. Stattdessen beobachte ich, wie er wieder vor den Fenstern mit den dicken, schwarzen Vorhängen auf- und abmarschiert. Ab und zu flucht er. Und plötzlich durchquert er den Raum mit Riesenschritten und baut sich in voller Größe vor mir auf:

«Das Fernsehen muss mit dabei sein, sonst rühr ich mich nicht vom Fleck.»

«Ich habe hier nichts zu befehlen, Monsieur. Da müssen Sie die Polizisten unten anrufen.»

Er stürzt sich auf sein Handy und beginnt zu toben. Wie wild schreit er durch die Gegend, schnauzt die Bullen an und hat auch für mich die übelsten Beschimpfungen auf Lager. Dann legt er hämisch lachend wieder auf.

«Die Arschlöcher haben doch tatsächlich Ja gesagt. Aber ich bin nicht blöd. Ich darf jetzt nichts überstürzen. Ich warte, bis die Fernsehleute da sind …»

Noch eine ganze Stunde lang heißt es warten, nicht die Nerven verlieren und keine abrupten Bewegungen machen. Einfach nur tatenlos zusehen müssen, wie der Irre wild fuchtelnd im Klassenzimmer auf- und abtigert.

Plötzlich hat er in seiner persönlichen Wahnvorstellung den Höhepunkt erreicht und dreht sich unvermittelt zu mir um.

«Los jetzt!», befiehlt er mir und richtet seine Waffe auf mich. «Du gehst als Erste. Wenn da was faul ist, mach ich dich kalt.»

«Einverstanden.»

Doch er weiß längst, dass er verloren hat. Als ihn zwei Männer mit Strumpfmaske, die auf der Treppe Stellung bezogen haben, von hinten anfallen, lässt er sich widerstandslos entwaffnen.

Eine Sekunde später stürmt eine ganze Horde wild gewordener Weißkittel die Treppe hinauf, rennt die Polizisten über den Haufen und bahnt sich einen Weg ins Klassenzimmer, Tragbahren und alle möglichen anderen Gerätschaften aufgeregt hinter sich herschleppend. Meine beiden Kollegen in Tweed-Jacken stürzen ebenfalls im Laufschritt nach oben. Auch sie treibt allein die eine Frage: Wie geht es den Kindern?

 

Russel muss seine gesamte Autorität aufbringen, um mich aus dem Menschenknäuel zu befreien. Ich bin in Schweiß gebadet.

«Véra, Sie waren großartig. Gratuliere!»

«Ich … hab doch lediglich die Anweisungen …»

Weiß der Geier, warum ich so reagiere.

«Sie waren perfekt. Die anderen beiden sind blass vor Neid. Als ob wir es nötig hätten, uns von zwei Oberschlaumeiern erklären zu lassen, wie wir unsere Arbeit zu erledigen haben!»

Ohne die Strategie der Oberschlaumeier wäre ich aus dieser Hölle niemals lebend zurückgekehrt, doch ich kann meinen primitiven Gelüsten, endlich auch mal der Liebling vom Chef zu sein, einfach nicht widerstehen.

«Leute wie Sie kann ich gebrauchen, Véra. Richtige Cracks. Superhelden. Mit Ihnen habe ich noch Großes vor, das ist Ihnen doch klar?»

Mir wäre es lieber, er würde mir einen starken Schnaps oder was Süßes anbieten. Und ich traue mich nicht, ihm zu gestehen, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann und ich ganz bestimmt nicht schwitze, weil mir so warm ist. Das würde Dédé-Pitbull sogleich als Schwäche auslegen. Und schwach zu sein, kann ich mir als Superheld nicht mehr erlauben.

Verkrampft lächle ich ihn an:

«Verzeihen Sie bitte, ich müsste mal eben …»

Ich schwanke zur Toilette, um kurz zur Ruhe zu kommen. Doch die zehn kleinen Porzellanbecken, die nebeneinander an der rosa gekachelten Wand stehen, machen diese Hoffnung zunichte. Von jeglichem Schamgefühl entbunden, knie ich mich hin und übergebe mich. Das Heldentum ist eine flüchtige Angelegenheit.

3

ES ist bereits sieben Uhr morgens, als ich endlich wieder zurück in die Klinik fahre. Der Krankenhausparkplatz liegt noch in träger Dämmerung, und meine Müdigkeit lässt die vereinzelt geparkten Autos im milchigen Lichteines Schwarz-Weiß-Films verschwimmen.

Auf den Einsatz in der Grundschule von Villepinte folgte noch ein Debriefing. Dieser neumodische Anglizismus meint eigentlich nichts anderes, als dass abschließend wieder einmal stundenlang geredet wurde. Edouard Russel plusterte sich auf, als habe er soeben einen wichtigen Boxkampf für sich entschieden und damit seine Karriere und den Aufstieg seiner Abteilung gesichert. In den Morgennachrichten klang es so, als habe er eine ferngesteuerte Puppe zur Befreiung der Geiseln in den Klassenraum geschickt.

Dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden. Mich macht es ja sogar ein wenig stolz, dass ein Mann, den ich respektiere und bewundere, sich so entschieden einer meiner Einsätze annimmt. Und sein ewiger Kleinkrieg gegen die anderen Krisenzentren ist für mich schon lange zur Routine geworden. Das ist eben so ein Spielchen der Chefs, nur etwas für Eingeweihte.

«Véra!»

Eine freudige Stimme inmitten der Trostlosigkeit. Antoine, ebenfalls Psychiater im Kriseninterventionszentrum, hat soeben seinen Nachtdienst beendet und eilt mir, die abgewetzte Ledertasche fröhlich schwenkend, entgegen.

«Gehst du schon?»

«Hatte meine Portion menschliches Elend heute schon. Du etwa nicht?»

Er wühlt in seiner Aktentasche:

«Doch, ich kann nicht klagen. Schau mal, ich hab dir die CD mitgebracht, von der ich dir erzählt habe … Nakarjakow spielt die Trompete, einfach göttlich, wirst schon sehen.»

Obwohl es mir eigentlich egal sein könnte, fällt mir auf, dass seine Haare noch grauer geworden sind. Sie bilden einen interessanten Kontrast zu seinen ungewöhnlich dunklen Augenbrauen und den grünen Augen. Er ist hoch aufgeschossen, hat ein kantiges Gesicht und einen großen Mund … verheiratet, Vater von drei Kindern, und obwohl er schon stark auf die fünfzig zugeht, ist er ein auffallend gut aussehender Mann.

Zerknirscht stelle ich fest:

«Du könntest dir ruhig auch mal etwas mehr Mühe geben, um wie ein alter Sack auszusehen. Im Gegensatz zu uns bist du das blühende Leben.»

Über sein Gesicht huscht ein Schatten. Und plötzlich fällt mir auf, dass er Ringe unter den Augen hat und zu beiden Seiten des Mundes tiefe Falten. Hätte ich mal lieber meine Klappe gehalten.

«Hättest du einen Augenblick Zeit für mich?», platzt es aus ihm heraus. So als hinge sein Leben davon ab.

«Es geht um etwas … Persönliches», fügt er mit einem schiefen Lächeln hinzu, das er immer dann aufzusetzen pflegt, wenn es ernst wird.

«Dann sollten wir vielleicht besser irgendwo einen Kaffee trinken gehen?»

Er zuckt die Schultern:

«So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Aber ich glaub, ich muss mal mit einem Psychiater darüber reden …»

Dick eingemummt in unsere Mäntel, zwängen wir uns auf die Vordersitze meines Wagens. Gerade will ich die neue CD einschieben, als er meine Hand zurückhält.

«Véra, ich stecke voll in der Scheiße.»

Ich verstehe mich ganz gut mit Antoine, aber deshalb sind wir noch lange keine engen Vertrauten. Insofern bin ich ziemlich sprachlos, dass er gleich so mit der Tür ins Haus fällt.

«Ich bin schwul», eröffnet er mir und zwingt sich zu einem Lächeln.

Ich könnte noch nicht einmal sagen, was ich schlimmer finde, dass er schwul ist oder dass er es ausgerechnet mir erzählt. Ich bin der festen Überzeugung, dass es Dinge gibt, die man lieber für sich behalten sollte. Bestimmte Leichen lässt man einfach besser im Keller.

«Mehr fällt dir dazu also nicht ein?»

«Äh … Ich … Seit wann denn?»

«Letzte Woche, nach einem Einsatz bei einem alten Mann. Der hatte sich mit seinem Gewehr zu Hause verschanzt und wartete auf die Deutschen. Die Feuerwehr hat ihn ins Krankenhaus gebracht, und dann tauchte plötzlich sein Enkel auf, weil sich ja einer um die Wohnung kümmern musste … Er ist Designer, Musiker … Mir war so, als würden Christophe und ich uns schon lange kennen, als sei ich bereits seit vielen Jahren in ihn verliebt …»

«Und du bist wirklich in ihn verliebt?»

«Tierisch. Er in mich aber auch.»

«Na, dann ist doch alles bestens …»

Pause. Das scheint nicht die Antwort gewesen zu sein, die er erwartet hat.

«Erinnerst du dich noch, als wir uns mal gestritten haben und du mir deinen Kaffee ins Gesicht geschüttet hast?», fragt er mich.

«Du hast mir zu verstehen gegeben, ich hätte mein Diplom wohl in der Mülltonne gefunden!»

«Aber nur, weil du gesagt hast, ich sei ein Feigling.»

«Antoine, ich bitte dich, was für ein Unsinn. Warum soll ich denn so etwas gesagt haben? Man kann viel von dir behaupten, aber das ganz bestimmt nicht!»

«Und ob. Ein eindeutiger Beweis dafür ist doch wohl, dass ich nicht den Mumm habe, es meiner Frau zu sagen.»

«Dann bleib auch dabei! Menschenskind, wenn du mit ihr zusammenbleiben willst, solltest du sie damit nicht belasten.»

«Was? Ausgerechnet du erteilst mir einen solchen Ratschlag?»

Ich, die große Expertin für Beziehungsprobleme.

«Antoine, habe ich dir jemals was über mich erzählt? Habe ich dir jemals ein Geheimnis anvertraut?»

«Nein.»

«Und einfach irgendeinen Schwachsinn erzählt habe ich dir auch nicht, oder?»

«Nicht, dass ich wüsste.»

«Siehst du, so einfach ist das: Keine Geständnisse und keine Lügen. Jeder Mann hat seine Schattenseite, und jede Frau auch. Das muss man respektieren …»

Die unzähligen Jahre, die ich deshalb gelitten habe und von einem Therapeuten zum anderen gelaufen bin, lasse ich stillschweigend unter den Tisch fallen.

«Du hast gut reden», hält er mir entgegen. «Du lebst allein, machst alle Entscheidungen mit dir selbst aus. Bei mir hingegen ist sogar das Schweigen bereits eine Lüge. Ich bin seit zwanzig Jahren verheiratet. Ich liebe meine Frau.»

«Ich weiß.»

Ich weiß auch, dass du deshalb noch lange kein Kostverächter bist, Sweetheart. Das war mir sofort klar, als ich dich zum ersten Mal sah.

Er nutzt die kurze Pause, um den Rückwärtsgang einzulegen:

«Entschuldige, was ist nur in mich gefahren? Weshalb erzähl ich dir das alles überhaupt? … Du hast vollkommen Recht, lauter sinnloses Geschwätz.»

Als er aus dem Wagen steigt, eröffnet er mir: «Ich muss unbedingt mit meiner Frau sprechen. Sie muss Bescheid wissen.»

Ich darf mit mir zufrieden sein, ich habe meine Sache gut gemacht. Nach dem Gang zum Seelenklempner machen die meisten Leute genau das Gegenteil von dem, was abgesprochen war.

«Mein Sofa ist zu jeder Tag- und Nachtzeit auf Besucher eingerichtet», rufe ich ihm noch hinterher. «Sollte sie dich rausschmeißen, schlaf bloß nicht unter einer Brücke …»

Wenigstens darüber kann er noch lachen:

«Danke vielmals! Mann, das nenn ich Optimismus!»

Von wegen!

Endlich in den eigenen vier Wänden! Ich wohne im zweiten Stock eines Privathauses, das in Wohnungen aufgeteilt wurde. Mit Aussicht auf Sacré-Cœur. Es ist Vormittag, und Touristenbusse verstopfen die regennassen Straßen. Vor meinem Fenster verschwimmt der Dom gegen den dahingeklecksten Himmel, blass und beinahe gespenstisch. Ich überfliege die Morgenzeitungen und lasse Badewasser einlaufen. Der Grundschule von Villepinte sind gerade mal fünf Zeilen gewidmet, und das noch nicht einmal überall. Umso besser. Psychopathen sollte man nicht auch noch zusätzlich auf dumme Gedanken bringen.

Das Surren der Gegensprechanlage unterbricht mich genau in dem Moment, als ich meine Haare mit einer chemischen Paste einschäume, die ihnen ihren natürlichen Kupferfarbton zurückgeben soll. Da um diese Uhrzeit höchstens jemand aus meiner Familie zu erwarten ist, der kommt, um sich etwas auszuborgen oder meine Pläne zu durchkreuzen, denke ich nicht groß nach, sondern drücke den Türsummer und widme mich weiter meinen Haaren.

«Frau Dr. Cabral?»

Mit einem Satz bin ich aus dem Badezimmer. Meine Schultern sind mit einem Küchentuch abgedeckt, und ich trage an beiden Händen durchsichtige Plastikhandschuhe. Eine Dame im grünen Kostüm steht in meiner Tür. Sie trägt ihre Handtasche über die Schulter gehängt und zwei verstärkte Aktenmappen in der Hand. Ihre wilde Haarpracht wird selbst durch eine dicke Haarspange im Nacken nicht gebändigt. Kleine Korkenzieherlocken umrahmen ihr ungeschminktes Gesicht. Wir mustern uns, beide gleichermaßen überrascht.

«Haben Sie unsere Verabredung vergessen? Ich bin Nathalie Maignan, Finanzamt Paris.»

Meine Steuerprüfung. Schlagartig fällt es mir wieder ein. Ich hatte mich tatsächlich für den heutigen Vormittag mit ihr verabredet. Ich kann von Glück reden, dass sie anscheinend so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen ist.

«Vielleicht nehme ich am besten Platz und warte auf Sie. Darf ich fragen, wo Sie Ihre Akten aufbewahren?»

«Auf dem Tisch hinter Ihnen. Sie können sich gerne eine Tasse Kaffee nehmen, es müsste noch welcher da sein.»

Ich gehe zurück ins Bad und steuere direkt auf die Hausapotheke zu, um ein vielversprechendes Mittel gegen die Folgeerscheinungen von Schlafentzug zu nehmen, dann geht’s ab unter die Dusche. Schon wenige Minuten später bin ich wieder im Wohnzimmer zurück, in Hemd und Jeans, die nassen Haare nach hinten gekämmt.

«Es tut mir wirklich sehr Leid, in der Nachtschicht ist bei uns zurzeit die Hölle los … So langsam verliere ich jegliches Zeitgefühl.»

Sie lächelt. Alles längst vergeben und vergessen.

«Ihnen ist klar, dass die Steuerprüfung die letzten drei Jahre betrifft?»

Das umfasst dann also auch den Zeitraum vor meiner Anstellung im Krankenhaus, als ich noch selbständig gearbeitet habe, in einer eigenen Praxis, mit einem eigenen Kupferschildchen an der Tür.

Nachdem sie mich eine halbe Stunde lang mit allen möglichen Fragen gelöchert hat, fällt mir auf, dass ich für das heutige Treffen noch mehrere Ordner aus dem Keller meiner Eltern hätte holen müssen. Da mir das ziemlich peinlich ist, kann ich es nicht einfach so im Raum stehen lassen:

«Ich glaube, ich möchte an diese schreckliche Zeit nicht mehr erinnert werden. Deshalb blende ich alles aus, was damit zu tun hat.»

«Was war denn an dieser Zeit so schrecklich?», erkundigt sie sich höflich.

«Ich hatte das Gefühl, lebendig begraben zu sein. So als klopfe ich gegen meinen Sargdeckel, aber keiner hilft mir heraus. Wissen Sie, was ich meine?»

Weiß sie anscheinend nicht. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, hat sie am Wochenende wohl eher Hummeln unterm Hintern. Von wegen eingesperrt in einen Sarg.

Wir einigen uns auf einen neuen Termin. Bevor ich sie zur Tür begleite, stelle ich ihr noch eine Frage, die mir sehr unter den Nägeln brennt:

«Warum fiel die Wahl ausgerechnet auf mich? Ich meine, warum ich, wo es doch so viele andere Psychiater in Paris gibt? Habe ich bei einer Auslosung gewonnen?»

«Ihr Name tauchte vor etwa einem halben Jahr im Zusammenhang mit einer Ermittlung der Steuerfahndung auf.»

«Wie bitte?»

«Damals ging es um den Verkauf von Waffen an ein Land, das durch ein Embargo blockiert ist … Sagt Ihnen das alles nichts? Ich dachte, Sie seien im Bilde.»

«Halt, stopp. Wollen Sie sich über mich lustig machen?»

Sie merkt, dass ich mich nicht verstelle. Sie knöpft ihren Regenmantel über ihrem Leinenkostüm zu. Auf ihrem rundlichen Gesicht verrät mir ein ganz besonderer Gesichtsausdruck, dass ihr tatsächlich danach ist, mich aufzuklären.

«Albert Sergent, sagt Ihnen der Name etwas?»

Meine Eingeweide ziehen sich zusammen.

«Das ist mein Steuerberater.»

«Er sitzt im Gefängnis.»

«Aber er ist doch auch der Steuerberater meines Bruders Alexis! Der hat ihn mir empfohlen.»

«Genau da liegt der Hase im Pfeffer.»

Ich muss wohl blass geworden sein, denn sie tritt auf meiner Türschwelle unruhig von einem Fuß auf den anderen. Anscheinend befürchtet sie, schon viel zu viel verraten zu haben.

«Denken Sie jetzt bitte nicht, dass wir Sie für Komplizen halten, hören Sie? Aber wir müssen uns Klarheit verschaffen, über welche Konten das Geld geflossen ist …»

Weil es mir jetzt völlig die Sprache verschlagen hat, fügt sie noch freundlich hinzu:

«Sie als Psychiaterin sollten sich keine Sorgen machen. Falls es eine Nachzahlung gibt, werden Sie das Geld schon aufbringen. Je lausiger die Zeiten, desto besser die Geschäfte. Ist doch so, oder?»

 

Die Bäume haben schon lange keine Blätter mehr, und ich habe sie auch nicht fallen sehen. Erst an diesem trüben Spätnachmittag, als ich im Schritttempo durch den Krankenhauspark fahre, bemerke ich die langen, schwarzen Äste, die sich dem grauen Himmel entgegenstrecken. Selbst der Rasen ist inzwischen bräunlich und zerklumpt. Beinahe nahtlos geht er nun in den Schotter des Parkplatzes über. Ich habe meinen Kopf tief zwischen die Schultern gezogen und lasse mir für die letzten Meter bis zum Krisenzentrum im Erdgeschoss des Krankenhauses alle Zeit der Welt. Unsere kleine Enklave, deren Lichter in der hereinbrechenden Dunkelheit sanft schimmern, wirkt wie vom Rest der Welt abgeschnitten.

Im Zentrum ist es ausnahmsweise einmal brechend voll. Auch die, die ihre Schicht schon hinter sich haben, sind noch geblieben, um einem Ritual beizuwohnen, das das Berufsleben spannend macht: Der Chef gibt seinen Ausstand. Nicht unser Chef, sondern der aus der Neurologie. Ein ehrenwerter Greis, der schon bei der Gründung des Krankenhauses das Zepter in der Hand hielt und sich jahrelang ganz darauf konzentriert hat, auch die vielversprechendsten Nachfolger abzusägen. Nun tritt er endlich selbst zurück.

«Hallo Véra! Du bist ja heute viel zu früh dran!»

«Na, du bist gut! Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mir das hier entgehen lasse!»

«Fünfundsiebzig, die alte Ratte! Das wurde aber auch wirklich mal Zeit!»

«Und wer wurde nun zum Nachfolger ernannt?»

«Picard natürlich! Zwanzig Jahre Stiefellecken gehören eben belohnt!»

In allen Ecken wird gequatscht und gelacht. Alle hoffen, dass sich nun endlich etwas ändert. Unsere Abteilung wurde lange genug als zweitrangig und von allen belächelte Disziplin stiefmütterlich behandelt. Nun kommt endlich ihre Sternstunde, auch aus Sicht der Krankenhausverwaltung. Alle sind sich einig, dass Gustave Baquets Rücktritt einen Neuanfang bedeutet. Die Morgenröte eines neuen Tages bricht herein, frischer Wind kommt auf. Als allmächtiger Chef der vornehmsten Fachrichtung, nämlich der Neurologie, hat er uns niemals eine Chance gelassen. Ein Psychiater in der Notfallambulanz ist für ihn nichts anderes als ein Sozialarbeiterersatz. Armselige Schießbudenfiguren, die allerhöchstens eine Beruhigungsspritze richtig setzen können. Dazu muss gesagt werden, dass die Welt, in der Professor Baquet lebt, mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Wie einst die höchste Abgeordnetenversammlung in der UdSSR, war auch er felsenfest davon überzeugt, er würde mit seiner Zeit gehen, weil er ja schließlich stets den neusten Stand der Technik verfolgte.

«Véra, kommst du?»

Antoine und Hélène warten vor dem Aufzug auf mich.

Hélènes Sohn ist schwer erkrankt, weshalb Antoine und ich uns seit zwei Monaten ihre Schichten teilen und bald auf dem Zahnfleisch gehen. Danach zu urteilen, wie fertig mein Kollege aussieht und wie geschwollen seine Augen sind, kann auch er nicht mehr als ich geschlafen haben. Er weicht meinem Blick aus, und ich weiß, dass ich mit meiner Vermutung richtig gelegen habe: Seine Frau hat nicht mit der Nachsicht reagiert, die man sich nach einem langen Eheleben hätte erhoffen können.

«Leute, etwas ausgelassener bitte, heute wird gefeiert! Wenn Russel sich nicht allzu dämlich anstellt – und ich glaube, in diesem Punkt ist auf ihn Verlass –, dann wird es Neueinstellungen geben, bevor uns die Arbeit unter die Erde bringt! Nur noch ein oder zwei Nachtdienste pro Woche – sind das keine Aussichten?»

«Hör auf, Véra», ermahnt mich Hélène, «sonst ist die Enttäuschung vorprogrammiert …»

«Auf Dédé-Pitbull!», johle ich beim Verlassen des Aufzugs.

 

Alle, die im Krankenhaus eine wichtige Funktion erfüllen oder eben auch nicht, haben den Treppenabsatz und die Gänge der neurologischen Abteilung in Beschlag genommen. Und es bleibt fraglich, wer sich denn da noch um die Patienten kümmert. Während so übermüdete Gestalten wie wir freudig zusammenkommen, sind die, die vom System Baquet stets profitiert haben, dem Anschein nach alles andere als begeistert. Bald wird hier ein anderer Wind wehen. Jeder weiß, dass Edouard Russel schon seit zehn Jahren auf diesen Moment wartet. Da er kein Zögling einer der renommierten Pariser Hochschulen ist, blieben für ihn stets nur die Krümel übrig, so auch die Notfallaufnahme, die ansonsten niemand haben wollte. Mit Hilfe seiner über mehrere Jahre in den Staaten gesammelten Erfahrung hat Russel diesen Bereich zu einem echten Spezialgebiet ausgebaut, wobei er sich systematisch auf medienwirksame Aktionen konzentrierte. Er hat auf eigene Faust eine Macht errungen, die der alte Krankenhauspapst ihm vorenthalten wollte. Alle wissen, dass er auf dem besten Wege ist, unter den hohen Tieren des Krankenhauses Saint-Guy zum wichtigsten Mann aufzusteigen.

Die Neurologie hat Geld, das Büfett ist schon beinahe herrschaftlich. Da mich die Aussicht auf den Nachtdienst vom Trinken abhält, gebe ich mir redlich Mühe, wenigstens beim Essen voll zuzuschlagen, bis mich ein zartes Stimmchen unterbricht:

«Véra?»

«Hallo, Sabine!»

Die Mädchenstimme gehört einer kleinen, gut gebauten Blondine, die unter ihrem Schwesternkittel einen Brustumfang verbirgt, bei dem selbst ein Heiliger schwach werden könnte. Gut gepflegt und parfümiert, stellt sie alle anderen Frauen in den Schatten.

Bei der Begrüßung verzichten wir lieber auf eine Umarmung, denn sie möchte vermeiden, dass jemand auf den Gedanken kommt, wir würden uns mehr als nur flüchtig kennen.

«Ich muss dich dringend sprechen», raunt sie mir zu.

Die Hand, mit der sie sich an ihrem Glas Mineralwasser festhält, zittert leicht. Unter ihrem geschickten Make-up zeichnen sich rote Äderchen ab. Ich nicke ihr zu.

Keine drei Minuten später folge ich ihr auf die neonbeleuchtete Damentoilette.

«Was gibt’s? Geht’s dir nicht gut?»

Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die weiß gekachelte Wand und bricht in Tränen aus. Richtig dicke Tränen laufen ihr die Wangen hinab und entstellen ihr makelloses Gesicht.

«Véra, ich schaff es nicht», schluchzt sie. «Das ist einfach zu viel für mich, ich schaff es nicht.»

«Wie viele Tage schon?»

«Hundertdrei … plus zwei Stunden.»

«Bravo! Das Schlimmste hast du geschafft!»

«Mein Tranxilium ist alle …»

«Sabine! Ich hab dir doch erst vor drei Wochen ein Rezept ausgestellt …»

«Vor siebenundzwanzig Tagen!»

Was soll ich tun? Ihr das Mittel verweigern und sicher sein, dass sie am selben Abend rückfällig wird? Oder ihr helfen, es noch einen Tag länger durchzuhalten?

«Ich hab unten was. Ich bring’s dir sofort.»

«Danke, Véra», stottert sie, «danke …»

Ich lege ihr den Arm um die Schultern und warte, bis der Anfall vorüber ist. Schließlich beruhigt sie sich wieder, spritzt sich nasses Wasser ins Gesicht und wischt sich mit einem Zipfel ihrer Bluse die verschmierte Wimperntusche ab.

Hätte mich nicht eines schönen Abends die Polizei in ein Vorortkino gerufen, zu einer Frau, die wegen einer Alkoholvergiftung in ein Koma gefallen war, hätte ich nie was von der ganzen Sache erfahren. Für Sabine war es der erste und einzige Ausrutscher überhaupt. Seither beißt sie sich in der einzelkämpferischen Art, in der sie auch sonst ihr Leben meistert, durch den Entzug hindurch. Allein mir hat sie erlaubt, ihr zu helfen, aber auch das nur im Verborgenen. Sie hat weder Eltern noch Kinder, nur wenige Freunde und zehrt allein von einer großen Liebe, die eigentlich nicht sein darf und sie zu ewigem Warten verdammt. Sie ist die Geliebte eines hohen Tiers aus dem Krankenhaus, doch sie hat nie jemandem verraten, um wen es sich eigentlich handelt. Er verspricht ihr schon seit vielen Jahren, sich scheiden zu lassen. Dieses Geheimnis hütet sie ebenso gut wie das um ihre Alkoholabhängigkeit. Beides liegt sicher bei ihr wie in einem rosafarbenen, kuschelweichen Grab.

 

Ich lasse sie allein zurück und gehe die versprochenen Tabletten holen. Schon kurze Zeit später bin ich wieder bei ihr und den anderen Gästen. Noch immer hält sie sich an ihrem Glas Wasser fest. Plötzlich meine ich, genau vor meiner Nase ein Gesicht wiederzuerkennen. Es gehört zu einer Person, die mit Baquet, Picard und Russel in ein Gespräch vertieft ist.

Mir ist, als würde mich ein Stromschlag treffen.

Wie ist das möglich? Was in aller Welt macht er hier? Er hat sich leicht verändert, ist etwas älter geworden, hat aber noch immer dieselben schwimmbadblauen Augen in einem straffen Gesicht. Er betrachtet die medizinischen Würdenträger, die jeden Moment wie fettleibige Kampfhähne übereinander herzufallen drohen, mit dem vertrauten spöttischen Blick.

Sabine ist meinem Blick gefolgt:

«Das ist Hugo Markowitsch.»

Schnell drehe ich der Gruppe den Rücken zu und bin vor Schreck wie von Sinnen:

«Ich weiß.»

«Er ist schon seit vierzehn Tagen bei uns. Baquet hat ihn zum Oberarzt befördert. Ich glaube, er war bisher im Sainte-Anne … Anscheinend ein hoch begabtes Kerlchen.»

«Ich muss los.»

Ich spüre ihren neugierigen Blick.

«Kennst du ihn?»

«Nein.»

«Véra!», ruft da bereits eine wohlbekannte Stimme hinter mir.

«Er jedenfalls scheint dich durchaus zu kennen.»

Nein. Erbarmen. Wie sehe ich überhaupt aus? Ich bin abgemagert und hab mich nicht gekämmt.

«Na so was, Hugo!»

Wohl weil sie gespürt hat, die Lage könnte brenzlig werden, ist Sabine mit ihren Tabletten auf und davon.

«Was hast du denn hier im Saint-Guy verloren?», fragt er mich und mustert mich von Kopf bis Fuß.

Seiner Miene nach zu urteilen, bin ich die Überraschung des Abends.

«Ich arbeite schon seit zwei Jahren hier. Unten, im Kriseninterventionszentrum.»

«Aha, im Kriseninterventionszentrum …»

Der Tonfall sagt alles, milde Nachsicht vermischt mit subtilem Misstrauen gegen die Abteilung. Nur weil ich es bin, ist er bereit, eine Ausnahme zu machen.

«Du hast dich überhaupt nicht verändert …»

Und ob. Aber das geht ihn nichts an.

«Hast du dir schon Champagner einschenken lassen?»

«Nein. Ich habe Nachtdienst.»

Rothaarige Frauen haben das Problem, sehr schnell rot zu werden. Tief durchatmen. Die ganze Scheiße von damals darf nicht wieder hochkommen. Immerhin bin ich jetzt anders. Ich habe die Lage unter Kontrolle.

«Ist das nicht ein komisches Leben, so für eine Frau?»

«Kommt ganz drauf an. Mir gefällt’s.»

Was geht ihn das überhaupt an? Abgesehen von einem Abendessen zu fünfzehnt beim Chinesen, wo ich mir ganz allein am Ende des Tischs den Magen voll geschlagen habe, weil ich niemanden kannte, gehörte ich nie in seine Welt. Übrigens auch in keine andere Welt. Ich habe keine Lust, mir wieder zu vergegenwärtigen, wie sehr ich in ihn verliebt war, genau wie Hunderte anderer Frauen, die ihm alle nicht von der Seite wichen. Jenes Jahr war der Auftakt zur Ära der Einsamkeit. Nicht gerade eine angenehme Erinnerung.

«Sieh dir den Picard an!», flüstert er mir zu und richtet seinen Blick auf das im Kreis stehende Grüppchen, aus deren Mitte er sich soeben gelöst hat. «Glücklich wie am ersten Tag seiner Ehe.»

Neben Gustave Baquet, mit weißer Haarpracht und Adlerblick, steht Picard, sein Nachfolger, und jauchzt vor naiver Glückseligkeit. Endlich ist die Stunde seines Ruhmes gekommen, allein dafür hat er all die Jahre selbst die schlimmsten Beleidigungen wortlos über sich ergehen lassen. Dieser Weichling mit ergrauenden Schläfen trägt maßgeschneiderte, blaue Oberhemden und dazu eine Fliege, damit man ihn nicht übersieht und fälschlicherweise mit ordinärem Stationspersonal verwechselt. Noch beugt er sich ausgesprochen nachsichtig zu Russel hinüber, der ein besonders strahlendes Lächeln aufgesetzt hat. Eigentlich ist bekannt, dass sich Russel nur selten über die Erfolge der anderen freut. An Picards Stelle bliebe ich nicht so seelenruhig.

Ich verspüre große Lust, Hugo meine Sichtweise der Dinge mitzuteilen:

«Picard tut mir beinahe Leid. Der Alte hat ihm nie etwas geschenkt. Mich würde mal interessieren, ob er sich selbst treu geblieben ist.»

«Also, ich glaube eher, dass er sowieso noch nie eine gefestigte Persönlichkeit gehabt hat», antwortet mir Hugo und muss lachen. «Sonst hätte er das doch nie im Leben aushalten können …»

«Russel schwebt offensichtlich auf Wolke sieben. Was der wohl im Schilde führt …»

«Ihr steht alle geschlossen hinter ihm, nicht wahr?»

Verwundert drehe ich mich zu Hugo um.

«Wie kommst du denn darauf?»

«Ach, das ist eben so mein Eindruck … Es scheint mir, als dulde er nicht den geringsten Widerspruch …»

«Danke für die Blumen! Hältst du uns für Duckmäuse? Mach dir mal keine Sorgen, Kollege. Wenn uns was nicht passt, halten wir ganz bestimmt nicht die Klappe.»

Er lacht hell auf:

«Aber natürlich nicht! Und dafür verzichtet ihr dann auch gern zehn Jahre lang auf eine Gehaltserhöhung!»

«Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Zwischen meinem Gehalt und der Beziehung zu meinem Chef besteht keinerlei Zusammenhang.»

«Ach, sieh mal einer an, tatsächlich? Dann bist du ja mal eine löbliche Ausnahme!»

«Red keinen Unsinn. Genau deshalb habe ich mich ja fürs Krankenhaus entschieden. Ich wollte frei sein.»

Ob er sich noch an unser letztes Zusammentreffen erinnern kann? Bei dieser Orgie, die Medizinstudenten organisiert hatten und zu der ich besser gar nicht erst hingegangen wäre? Doch wer hätte den Ausgang dieses Abends vorhersehen können? Mich trieb allein die Hoffnung, ihn dort zu treffen und auch ein wenig dazuzugehören.

Mir ist warm. Meine Wangen glühen. Schon bei der bloßen Erinnerung dreht sich mir der Magen um. Ich halte seinem Blick stand, doch es gelingt mir nicht, sein Lächeln zu erwidern: Sollte er es wirklich vergessen haben?

Eine bezaubernde junge Frau, sicherlich eine Famulantin, hat ihm soeben über die Schulter ihres Gesprächspartners hinweg eine Kusshand zugeworfen.

«Wir müssen uns unbedingt verabreden», ruft er mir noch schnell zu, denn plötzlich hat er es ganz eilig, sich zu der jungen Frau zu gesellen. «Was für ein Glück, dass wir uns hier nach all den Jahren über den Weg gelaufen sind!»

Wie ein Groupie, der sein Idol zusammen mit einem Top-Model in eine Limousine steigen sieht, beobachte ich, wie er allmählich in der Menge verschwindet.

Ich finde mich im Fahrstuhl wieder, etwas beklommener als noch kurz zuvor. Schlagartig kommt mir die Zukunft nicht mehr ganz so rosig vor. Im Gegensatz zu den Oberärzten sind wir anderen Seelenklempner doch wirklich armselige Würstchen.

4

EINE ruhige Nacht. Nichts Weltbewegendes, nur was eben so anfällt: Häusliche Gewalt bei einem Ehepaar, das sich ohnehin bereits in psychiatrischer Behandlung befindet. Die Panikattacke einer Bankangestellten, die einen versuchten Banküberfall im vergangenen jahr nicht verarbeiten kann. Delirium in einem Vier-Sterne-Hotel.

Die letzten zwei Stunden meiner Nachtschicht verbringe ich mit einem Geschäftsmann in Unterhosen, der sich in seiner Suite hinter der Toilettenschüssel zusammengekauert hat, an Halluzinationen leidet und vor Entsetzen schreit. Während er auf einer Bahre der Polizei durch die marmorgetäfelte Eingangshalle geschoben wird, unterschreibe ich die Formulare für die Zwangseinweisung. Vor Erleichterung, dass sich die Angelegenheit ohne Aufruhr regeln lässt, besteht der Direktor des Hotels darauf, mir ein Honorar zu zahlen, das er mir gar nicht schuldig ist und das mich äußerst unangenehm an meine Steuerprüfung erinnert.