In Liebe, deine Lina - Barbara Leciejewski - E-Book
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In Liebe, deine Lina E-Book

Barbara Leciejewski

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Beschreibung

Auch wenn das Heimatdorf dein Leben zerstört – kannst du es wirklich für immer verlassen?  Die Halbwaise Lina Borger und der Kaufmannssohn Albert Lehnert sind seit langer Zeit ein innig verliebtes Paar. Als Lina schwanger wird, will Albert sie heiraten, doch seine Familie droht ihm mit Enterbung. Albert lässt Lina im Stich. Ein guter Freund jedoch kommt ihr zu Hilfe: Karl Schäfer, der selbst als »Bankert« aufgewachsen ist und weiß, wie unbarmherzig die Dorfgemeinschaft mit Menschen umspringt, die sich vermeintlich schuldig gemacht haben. Gemeinsam mit ihm verlässt Lina die Enge des Dorfes und geht nach Bremen. Doch anders als Karl sehnt sich Lina nach der Heimat zurück, nach ihren Brüdern und dem Vater. Bei einem Besuch kommt es zu einer folgenschweren Begegnung, die die glückliche Familie zu zerreißen droht …

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Seitenzahl: 612

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In Liebe, deine Lina

Die Autorin

BARBARA LECIEJEWSKI wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, strebte jedoch zunächst einen »richtigen« Beruf an und zog fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach München. Nach verschiedenen Jobs am Theater und einer Magisterarbeit über Kriminalromane arbeitete Barbara Leciejewski als Synchroncutterin. Die Liebe zum Schreiben ließ sie allerdings nie los, inzwischen ist sie Bestsellerautorin und glücklich in ihrem Traumberuf.

Das Buch

Die Halbwaise Lina Borger und der Kaufmannssohn Albert Lehnert sind seit langer Zeit ein innig verliebtes Paar. Als Lina schwanger wird, will Albert sie heiraten, doch seine Familie droht ihm mit Enterbung. Albert lässt Lina im Stich. Ein guter Freund jedoch kommt ihr zu Hilfe: Karl Schäfer, der selbst als »Bankert« aufgewachsen ist und weiß, wie unbarmherzig die Dorfgemeinschaft mit Menschen umspringt, die sich vermeintlich schuldig gemacht haben. Gemeinsam mit ihm verlässt Lina die Enge des Dorfes und geht nach Bremen. Doch anders als Karl sehnt sich Lina nach der Heimat zurück, nach ihren Brüdern und dem Vater. Bei einem Besuch kommt es zu einer folgenschweren Begegnung, die die glückliche Familie zu zerreißen droht …

Barbara Leciejewski

In Liebe, deine Lina

Roman

Ullstein

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© 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotive: © CollaborationJS / Trevillion Images (Paar); Getty Images / THEPALMER (Obst) Autorinnenfoto © Gerald von Foris E-Book Konvertierung powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-3049-5

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort 2021

1. Mühlbach, 25. Mai 1883

2. Zehn Jahre späterMühlbach im Sommer 1893

3. Mühlbach im Herbst 1895

4. Mühlbach im März 1896

5. Mühlbach im Sommer 1896

6. Mühlbach, Ende Januar 1897

7. Mühlbach, Februar / März 1897

8. Mühlbach am 3. April 1897

9. Mühlbach im Frühjahr 1897

10. Mühlbach, am selben Abend im Frühjahr 1897

11. Mühlbach im Frühjahr 1897

12. Mühlbach im Sommer 1897

13. Mühlbach im Spätsommer 1897

14. Mühlbach im November 1897

15. Mühlbach, 1898

16. Mühlbach im Sommer 1898

17. Mühlbach im Spätsommer 1898

18. Mühlbach im September 1898

19. Von Mühlbach nach Bremen

20. Bremen, 1898

21. Bremen, 22. Oktober 1898

22. Bremen, 1899

23. Bremen im Sommer 1900

24. Bremen im Frühjahr 1903

25. Mühlbach im Frühsommer 1903

26. Mühlbach im Frühsommer 1903

27. Mühlbach im Frühsommer 1903

28. Bremen im Sommer 1903

29. Bremen im Spätsommer 1904

30. Bremen im Spätsommer 1904

31. Bremen im September 1904

32. Bremen im April 1905

33. Mühlbach im Frühjahr 1906

34. Mühlbach im Frühjahr 1906

35. Mühlbach im April 1906

36. Mühlbach, am folgenden Tag

37. Bremen, 1907

38. Bremen im Frühsommer 1907

39. Bremen im Frühsommer 1907

40. Mühlbach im Herbst 1909

41. Bremen im Frühjahr 1910

42. Bremen im Juni 1910

43. 1911

44. Bremen, 16. November 1911

45. Bremen, Mühlbach im April 1912

46. Mühlbach im April 1912

47. Mühlbach, Ende April 1912

48. Mühlbach, Anfang Mai 1912

49. Mühlbach im Mai 1912

50. Bremen im Juni 1912

51. Bremen im November 1912

52. Bremen im Frühjahr 1914

53. Mühlbach im Frühsommer 1914

54. Bremen, Ende Juni 1914

55. Bremen, Ende Juli 1914

56. England, 4. August 1914

57. Mühlbach im August 1914

Nachwort und Dank

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Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort 2021

Widmung

Für meine Urgroßmutter,die ich nie kennenlernteund die mir doch so nah ist. Für Lina.

Vorwort 2021

You better stay here. You are here in safety.

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz als Kind gehört habe. Zehn Mal. Zwanzig Mal. Öfter. Jedes Mal, wenn mein Großvater seine Geschichte erzählte – und das tat er oft –, fiel dieser Satz, und er sagte ihn immer mit demselben Gesichtsausdruck, der wohl der Ausdruck jenes englischen Offiziers war, der diesen Satz damals bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu ihm gesagt hatte. Ein Satz voller Trost in einer Situation, in der es keinen Trost geben konnte, voller Humanität in einer Welt, die gerade dabei war, sich von jeglicher Humanität zu verabschieden. Ein Satz, der meinen Großvater prägte und mich, weil ich ihn so oft hörte. Augenrollend als Kind, verstehend erst viel, viel später.

Die Geschichte meines Großvaters hörte ich unzählige Male, die meiner Großmutter nur ein einziges Mal. Weil man nicht darüber sprach, nicht einmal hinter vorgehaltener Hand. Meine Mutter erzählte mir erst davon, als meine Großmutter schon gestorben war. Verschämt und leise, aber auch bewegt und ein kleines bisschen stolz, denn im Grunde war meine Großmutter Teil einer so berührenden und tragischen Liebesgeschichte, wie man sie sonst nur in Büchern liest oder in Filmen sieht.

Meine Großeltern. Sie wohnten in unserem Haus, ich kannte sie nur als alte Menschen. Meine Großmutter weckte mich morgens zur Schule, zog mir erbarmungslos die Decke weg und rief: »Höchste Eisenbahn!« Davon abgesehen war sie eine Seele von Mensch, zerbrechlich, geduldig und lieb.

Mein Großvater war ein stolzer Mann, nie wäre er ohne Anzug und Weste aus dem Haus gegangen. Er hat mich als kleines Kind oft mitgenommen, auf Spaziergänge und in die Wirtschaft im Dorf. Regelmäßig kletterte ich auf seinen Schoß, entwand ihm seine Zeitung und verlangte, er solle mir eine Geschichte erzählen. Ab und zu erzählte er mir seine eigene Geschichte. Und meine Großmutter schwieg über ihre.

Heute erzähle ich selbst Geschichten. Sie sind alle erfunden, obwohl immer auch ein kleines bisschen von mir selbst darin steckt. Sie handeln von Liebe und Familie und Freundschaft, von der Hoffnung darauf, dass alles gut werden kann. Immer wenn ich eine neue Geschichte beginne, denke ich: Eines Tages erzähle ich von meinen Großeltern, und dann werde ich mit dem Satz anfangen, der meinem Großvater so wichtig war und der sein Leben verändert hat: You better stay here. You are here in safety.

Dieser Tag ist heute.

1. Mühlbach, 25. Mai 1883

Das kleine Mädchen mit den dicken kastanienbraunen Locken brach wie ein Reh durch den Waldsaum auf die Lichtung und rannte mit fröhlichem Gelächter über die Wiese den Hang hinab, immer den anderen voran, die ängstlicher waren, auch die Jungs. Ihre wollene Strumpfhose hatte sie ausgezogen und hielt sie in der rechten Hand, ein Bein flatterte durch die Luft, während das Kind rannte, als gälte es, dem Wind davonzujagen.

»Lina!«, rief einer der älteren Jungs. Es war Walter, ihr Bruder, der auf sie aufpassen sollte, aber regelmäßig an dieser Aufgabe scheiterte. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß, damit er nicht stolpern und den Hang hinabkugeln würde, die Hose würde dann schmutzig werden, und die Mutter hatte ohnehin schon genug zu tun. Es ging ihr nicht gut in letzter Zeit. Der Vater sagte nichts, und sie beschwerte sich niemals, aber der Doktor war vor ein paar Tagen da gewesen. Der Doktor sogar.

»Lina!«, versuchte er seine wilde kleine Schwester aufzuhalten. Sie war schon so weit voraus, dass er ihr übermütiges Gekicher nur noch ganz leise hörte.

Sie hatte die Wiese am Fuß des Hangs erreicht. Einer der anderen Jungs wurde jetzt schneller, holte sie ein und riss sie um. Ausgelassen und lachend rollten sie gemeinsam über das Gras.

»Lina!«, schimpfte Walter zum dritten Mal, diesmal ein bisschen wütend. Alarmiert von dem veränderten Ton hielt seine kleine Schwester inne und sah zu ihm hin. Sie respektierte ihren großen Bruder, sie war nicht absichtlich ungehorsam, nur ging so oft der Gaul mit ihr durch, wie ihre Mutter es auszudrücken pflegte.

Die anderen Kinder hatten Lina eingeholt, eine bunte Schar im Alter von sechs bis elf Jahren. Der Älteste, Karl, von dem es immer hieß, dass man sich besser nicht mit ihm abgeben solle, war schon zwölf. Walter wusste eigentlich nicht, was an Karl so schlimm war. Er lebte mit seiner Mutter und seinem Großvater auf einem alten kleinen Hof oberhalb des Dorfes. Wenn die Kinder dort spielten, dann gesellte sich der größere Junge des Öfteren dazu, und sie hatten nichts dagegen, weil sie das Gefühl hatten, dass Karl sie beschützen konnte, so groß und kräftig, wie er schon war. Und er war immer nett zu ihnen.

Lina, die eigentlich Karolina hieß, war sieben Jahre alt, ihr Bruder Walter war elf. Dann waren da noch ihre beiden Cousinen, die kleine Alma und ihre Schwester Ruth, sechs und zehn Jahre alt, sowie Walters gleichaltriger Freund Philipp mit dem merkwürdigen Nachnamen, der so vornehm klang: Schönborn. Dabei waren Philipps Eltern gar nicht vornehm, sondern lebten in ebenso bescheidenen, um nicht zu sagen ärmlichen Verhältnissen wie die Eltern von Walter und wie die meisten Einwohner des kleinen westpfälzischen Dorfes. Der Einzige unter den Kindern, der aus einem sogenannten guten Hause stammte, das war Albert Lehnert, der strohblonde kleine Junge, der mit Lina kichernd durch das Gras kugelte. Seiner Familie gehörte nicht nur seit vielen Generationen die größte Schmiede im Ort, sondern auch eine kleine Landwirtschaft und, als wäre das nicht genug, seit einigen Jahren sogar ein Gemischtwarenladen, in dem es all das gab, womit sich die Leute auf dem Land nicht selbst versorgen konnten. Lehnerts waren das, was man wohlhabend nennen konnte. Walter ärgerte sich. Die Flecken auf der Hose dürften Albert kaum etwas ausmachen; wenn die nicht mehr rausgingen, dann besorgte man ihm eben eine neue Hose. Aber Lina besaß nur eine Handvoll Kleider, und auf die musste sie achtgeben. Man würde Walter schimpfen, dafür, dass er nicht auf seine Schwester aufgepasst hatte, und dafür, dass das Kleid entweder ruiniert war und der Vater sich im Steinbruch krumm arbeiten konnte, um ein neues zu kaufen, oder die Mutter zu all ihrer Arbeit Zeit und Mühe aufbringen musste, um die Flecken zu entfernen, und das in ihrem Zustand.

Walter wollte zu einer Standpauke ansetzen, aber ein Blick in Linas liebes Gesicht mit den großen braunen Augen und dem immerzu lächelnden Mund genügte, und er ließ es bleiben. Man konnte ihr einfach nicht böse sein.

Lina sprang auf die Füße und streckte ihm ihre Strumpfhose entgegen. »Kannst du die für mich tragen, meine Hände sind schon ganz schwitzig.« Sie kicherte. Ihr graues Kleid zierten blassgrüne Streifen vom Gras, ihr Haar hing zerzaust um ihren Kopf herum.

»Ich trag sie für dich«, rief Albert, schnappte sich die Strumpfhose und lief mit ihr davon.

»Albert!«, quietschte Lina und rannte ihm hinterher.

Walter stöhnte. Womit hatte er diese anstrengende kleine Schwester verdient?

»Lass sie«, sagte Karl gutmütig. »Sind ja noch Kinder.«

Es hörte sich so an, als wäre er selbst keins mehr, was gewissermaßen auch stimmte, denn er arbeitete neben der Schule fast so viel wie ein Erwachsener. Aber was Walter gleichermaßen verblüffte und stolz machte, war, dass der ältere Junge auch ihn so behandelte, als wäre er schon erwachsen. So fühlte sich Walter nie, meist fühlte er sich kleiner und unbedeutender als die anderen Jungen seines Alters. Er war nicht laut, kein Raufbold, eher vorsichtig. Allein mit dem ebenfalls zurückhaltenden Philipp Schönborn verband ihn eine innige Freundschaft.

»Unsere Mutter wird mir die Ohren lang ziehen«, murmelte Walter.

»Deine Mutter doch nicht«, widersprach ihm Philipp. »Hat sie dir jemals den Hosenboden versohlt?«

»Nein«, gab Walter zu. Er wusste, dass das in anderen Familien gang und gäbe war, so wurden Kinder erzogen, aber nicht in ihrer Familie. Jacob und Elisabetha Borger hätten sich eher die Hand abgehackt, als sie gegen ihre Kinder zu erheben. Schimpfen ja, das taten sie, ruhig auch mal laut, aber niemals lange, niemals wirklich böse. Nicht umsonst war Lina, das Nesthäkchen, so fröhlich und sorglos.

»Wir haben so lange auf die Kinder gewartet, wir haben sie uns so sehr gewünscht, da werden wir sie doch nicht schlagen«, hatte Walter seine Mutter einmal zu ihrer Nachbarin Elvira sagen hören. Und als diese nur verständnislos den Kopf schüttelte, senkte seine Mutter schmunzelnd den Blick.

Philipp grinste, und auch Karl verzog den Mund zu einem etwas erwachseneren Lächeln.

»Wir müssen langsam heim«, sagte Ruth, die ihre kleine Schwester fest an der Hand gepackt hatte, weil sie Anstalten machte, Lina und Albert hinterherzusausen. »Es wird schon bald dunkel.«

»Ich hole die Kinder, wartet hier«, sagte Karl und lief ohne Eile los.

»Was haben unsere Eltern eigentlich alle gegen den Karl?«, fragte Ruth die beiden Jungs. »Der ist doch nett, nicht so wie die anderen in seinem Alter. Vor denen hab ich manchmal richtig Angst, so frech und grob, wie die sind.«

Walter zuckte mit den Schultern, und Philipp meinte, es liege wohl an der Mutter vom Karl, er habe mal so etwas aufgeschnappt, aber Genaues wusste er auch nicht.

Nach ein paar Minuten kam Karl mit den zwei Kleinen im Schlepptau zurück. Klagend und kichernd ließen sie sich von ihm hinter sich herziehen, rechts Lina, links Albert. Sie taten so, als wäre der Große ein Gendarm und sie zwei Räuber, die erwischt worden waren und denen es nun an den Kragen ging.

»So, jetzt ab mit euch nach Hause«, sagte Karl, als er bei den anderen angelangt war. »Na los, eure Eltern warten.«

Er begleitete die Kinder bis zum Hof seines Großvaters, hob wortlos die Hand und ging ins Haus.

Die anderen Kinder beeilten sich. Walter ließ Lina nicht mehr los, damit die wilde kleine Hummel auf dem unebenen, abschüssigen Weg hinunter ins Dorf nicht ausrutschte und sich zu den Grasflecken auch noch ein Riss im Kleid gesellte. Als Nächster verabschiedete sich Philipp, gleich bei einem der ersten Häuser, kurz darauf bogen Alma und Ruth in die kleine Straße, die zum Friedhof führte, ab. Zuletzt trennte sich Albert von den Geschwistern und wandte sich Richtung Dorfmitte, wo seine Eltern ein großes Haus gleich bei ihrem Laden besaßen, vis-à-vis von der Schmiede.

»Wiedersehen, Albert«, rief Lina laut und winkte ihm eifrig hinterher, und Albert winkte ebenso eifrig zurück.

»Wiedersehen, Lina, morgen wieder, ja?«

»Ja, morgen«, rief Lina und wäre weiter an Ort und Stelle stehen geblieben, hätte Walter sie nicht entschlossen mit sich gezogen, den holprigen Weg entlang, bis sie bei der niedrigen Holzpforte vor ihrem Elternhaus ankamen. Der Vorgarten lag noch brach. Normalerweise kümmerte sich die Mutter schon Ende April darum und pflanzte die Blumen, die sie so liebte, aber nicht in diesem Jahr.

Walter bemerkte hinter dem Küchenfenster des Nachbarhauses Elvira Knapp, wie sie die heimkehrenden Kinder beobachtete, und auch gegenüber bei Gutmanns bewegte sich ein Vorhang. Vielleicht sahen sie die grünen Streifen auf Linas Kleid und warteten darauf, dass es doch einmal Schläge setzte, aber darauf konnten sie lange warten, dachte Walter. Lina war schon zur Haustür gelaufen, die wie immer tagsüber unverschlossen war. Sie stemmte sich gegen die schwere Holztür und rief: »Mama, Papa, wir sind wieder da. Mein Kleid ist nur ein bisschen schmutzig, und ich hab die Strumpfhose ausgezogen, weil sie mir zu warm war. Ist nicht schlimm, oder? Mama! Papa!«

Sie rief noch ein paarmal, während sie ins Haus stürmte. Walter trottete langsam hinterher. Auf einmal verstummte Lina.

»Mama?«, hörte er sie noch einmal. Ihre Stimme klang ganz fremd. Ein seltsames Geräusch folgte gleich darauf. Ein einziger hoher Ton voller Verzweiflung, der mittendrin abriss, wie abgeschnitten. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern stand offen.

»Mama?«, sagte Lina wieder mit derselben neuen Stimme wie zuvor.

Jetzt sah Walter seinen erwachsenen Bruder Heinrich gleich hinter dem Türrahmen stehen, den Erstgeborenen, den Einzigen von vier weiteren Geschwistern, der überlebt hatte. Daneben seinen Vater, die Hand auf den Mund gepresst, als wollte er alle weiteren verzweifelten Töne mit aller Kraft daran hindern, aus seiner Kehle zu entweichen, damit seine Kinder glauben sollten, es sei noch alles in Ordnung, gleich würde man lachend zu fünft am Abendbrottisch sitzen, sich die Abenteuer aus dem Wald anhören, schimpfen über die Grasflecken, Fragen über Karl beantworten und warum er schon so erwachsen war.

»Mama!«, schrie Lina. »Warum liegst du denn so da?«

Der Körper des Vaters vibrierte, die Hand presste sich noch fester auf seinen Mund.

Walter konnte noch immer nicht sehen, was in dem Zimmer vorging, aber sein Herz trommelte gegen seine Brust.

»Die Mama ist jetzt im Himmel«, hörte er eine tiefe und raue Frauenstimme. Es war die Christoffel, die Dorfhebamme, die nicht nur kam, wenn Kinder auf die Welt geholt werden mussten, sondern manchmal auch, wenn jemand auf seinem letzten Weg Begleitung brauchte.

»Nein, ist sie nicht!«, rief Lina. »Sie ist doch da!«

Walter trat zum Vater und sah seine Mutter bleich, mit geschlossenen Lidern und gefalteten Händen auf dem Bett. Fremd sah sie aus, ohne den Schmerz der vergangenen Monate im Gesicht, friedlich, aber fremd, so als wäre sie gar nicht mehr sie selbst.

Vielleicht war sie ja wirklich fort, im Himmel, nicht mehr da, hatte zurückgelassen, was sie dort oben nicht brauchte. Walter spürte nicht die Tränen, die ihm übers Gesicht rannen, noch ehe er das Wort denken konnte: tot.

Lina begann ihre Mutter zu schütteln, unaufhörlich rief sie nach ihr, bis die Hebamme ihre Hände festhielt und sie in die Arme schloss.

Sie wird nie mehr lachen, dachte Walter, Lina wird nie mehr lachen.

2. Zehn Jahre späterMühlbach im Sommer 1893

Sie saß am Bachufer und ließ ihre nackten Füße ins Wasser baumeln. Als sie seine Schritte hinter sich im Gras vernahm, drehte sie sich nicht um. Er wollte sich heimlich anschleichen, aber das machte er so schlecht. Immer wieder konnte sie hören, wie seine Schuhe die trockenen Grashalme knickten, wie er schwankte bei seinen Bemühungen, leise zu sein, jeder Schritt ein wenig zu hastig, zu ungeduldig. Dann, zu allem Überfluss, schnaubte er leise durch die Nase, ein unterdrücktes Lachen, die Vorfreude auf den Schrecken, den er ihr gleich bereiten würde.

Als hätte sie von alledem nichts bemerkt und wäre weiter vollkommen arglos, lehnte sie sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen vor dem gleißenden Licht der Sonne. Jetzt stand er direkt hinter ihr und ging langsam in die Knie. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wusste sie, wie es übermütig in seinen Augen blitzte, wie das Grübchen rechts neben seinem Mund tiefer wurde, während er sich feixend auf die Unterlippe biss, um nicht laut loszulachen und sich zu verraten. Sie musste an sich halten, um sich nicht einfach umzudrehen, ihre Hände um seinen Hals zu schlingen und seinen Kopf runterzuziehen auf ihren Schoß. Das würde er nicht erwarten. Aber so war es schöner. Würde er sie womöglich ins Wasser schubsen? Es war nicht gefährlich hier an dieser Stelle des Glans, das Bachbett war nicht tief, sie würde lediglich nass werden, und dann würde er verschämt, aber unübersehbar auf ihre Brüste schielen. So wie letztes Mal, als sie hier gewesen waren, im Gras nebeneinandergelegen und einander geneckt hatten. Mit einem Mal waren sie gemeinsam über die Böschung gekullert und schließlich mitsamt ihren Kleidern im Wasser gelandet. Was hatten sie da gelacht!

Karolina lachte wieder, obwohl sie als Kind geglaubt hatte, mit dem Tod der Mutter wäre alles zu Ende. Alles Schöne und jede Freude wären mit dem Sarg in der tiefen Grube verschwunden. Ohne ihre Mutter war das Haus trostlos und dunkel. Doch dann waren die Nachbarn gekommen, die Schwester ihrer Mutter, der Bruder vom Vater, seine Cousinen, sie alle hatten geholfen, hatten ihnen Eier und Milch gebracht und Wasser vom Brunnen, hatten gekocht und Brot gebacken, das Haus geputzt und die Gartenarbeit verrichtet, hatten für die Wäsche gesorgt. Und Lina über den Kopf gestreichelt. »Geh spielen, Kind«, hatten sie zu ihr gesagt. »Schau, das Wetter ist so schön.« Und auch ihr Vater sagte es und lächelte tapfer dabei. »Geh nur, mein Madchen.« Und irgendwann konnte sie es auch wieder: lachen und unbefangen mit ihren Freunden spielen, am liebsten mit ihrem besten Freund Albert. Mit ihm konnte sie ausgelassen durch den Wald rennen, über bunt blühende Wiesen, über die Weiden an staunenden Kühen vorbei, die Dorfstraßen rauf und runter, am Glan entlang bis nach Rutsweiler oder noch weiter, Hauptsache, immer in Bewegung, als könnte man einer Welt ohne Mutter davonlaufen. Lina und Albert waren als Kinder zusammen zur Dorfschule gegangen und später gemeinsam zu ihrem ersten Kerwetanz in Arnolds Wirtschaft. Und irgendwann hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Schüchtern und heimlich und selbst überrascht davon. Hinterher hatten sie mit rosa Wangen so getan, als wäre nichts passiert. Und doch war es wie ein Weltbeben gewesen.

Dem ersten Kuss war eine Weile später ein zweiter gefolgt, ein längerer, und anschließend hatten sie einander in die Augen geschaut und gewusst, dass sie nun mehr waren als Freunde.

Inzwischen arbeitete Albert in der Schmiede bei seinem Vater. Daneben kümmerte er sich um die Tiere und half im Laden, wann immer er gebraucht wurde, und er wurde oft gebraucht. Lina hatte Arbeit als Hilfsmagd auf Theobalds Hof, wo ihr ältester Bruder Heinrich Knecht war, aber vor allem führte sie ihrem Vater den Haushalt. Das besondere Talent für die Gartenarbeit hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Linas Obst und Gemüse auf dem kleinen Grundstück hinterm Haus gediehen so gut, dass die Erträge die Familie über den Winter brachten. Den kleinen Vorgarten bepflanzte sie weiterhin mit Blumen, schon allein als Andenken an ihre Mutter. Genau wie Albert war Lina von früh bis spät beschäftigt, sodass die beiden unter der Woche kaum Zeit fürei­nander hatten, allein die Sonntage verbrachten sie stets gemeinsam.

»BUH!«, rief Albert laut, packte Lina an ihren schmalen Schultern und tat, als wollte er sie in den Bach stoßen. Lina prustete und brach in Gelächter aus. Albert, enttäuscht über das missglückte Manöver, ließ sie los, Lina jedoch warf sich nach hinten ins Gras und drohte am Lachen schier zu ersticken. Lachtränen rannen hi­nab zu ihren Ohren, ihre Zähne blitzten hell im Sonnenlicht, während sich das offene kastanienbraune Haar um ihren Kopf fächerte wie ein Strahlenkranz. Albert kniete neben ihr und betrachtete sie stumm. Er hatte ihr schon einmal gesagt, wie schön sie war, nach ihrem zweiten oder dritten Kuss. Aus reiner Verlegenheit, hatte sie geglaubt, oder weil er dachte, es gehörte sich so nach einem Kuss. Doch nun las sie es in seinen Augen und wusste, dass er es wirklich so meinte. Wie er sie ansah! Er vergaß ganz und gar, da­rüber wütend zu sein, dass sie ihn auslachte. Wie rührend er war! Und wie sehr sie ihn liebte! Ihr Lachen erstarb, sie hob ihre Hand und strich ihm zärtlich über die Wange. »Albert«, flüsterte sie. Da warf er sich ungestüm über sie, umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen und küsste sie wild und voller Verlangen. Längst küssten sie anders als beim ersten Mal, und jedes Mal erfasste das Glück, Alberts Lippen auf den ihren zu spüren, Linas ganzen Körper. Sie küssten wie Erwachsene und rollten über die Wiese am Bachufer wie zwei Kinder. So wie damals. Fast wie damals.

Auf einmal spürte sie seine Hand auf ihrer Brust, er zuckte zurück. »Das … das wollte ich nicht«, murmelte er und wurde rot.

Er war so hübsch, viel hübscher als alle anderen Jungen. Lina nahm seine Hand und legte sie wieder dorthin, wo sie vorher gelandet war. Ruhig und mit einem Lächeln sah sie ihm in die Augen. »Lass sie dort«, sagte sie. »Das ist schön.«

»Ja?« Seine Hand auf ihrer Brust zitterte.

»Bei dir ist es schön«, versicherte sie ihm.

Reglos lagen sie beieinander im Gras, seine Hand auf ihrer Brust, ihre Hand an seiner Wange.

»Mein Vater wollte mich vorhin zuerst gar nicht gehen lassen«, erklärte Albert nach einer Weile, so als hätte sich dieser Gedanke während ihres innigen Schweigens plötzlich zwischen sie gedrängt. »Meinte, ich soll Waren sortieren.« Er schnaubte. »Heute, am heiligen Sonntag! Pah! Da gibt es nichts zu sortieren. Hast du unseren Laden schon mal unsortiert gesehen?«

»Nicht, dass ich bei euch ständig ein und aus gehen würde«, erwiderte Lina, deren Familie sich nur das Allernotwendigste aus Lehnerts Laden leisten konnte, »aber nein, an ein größeres Durcheinander, das man ausgerechnet an einem Sonntag gründlich aufräumen müsste, kann ich mich nicht erinnern.«

»Mein Vater nimmt mich ganz schön ran«, beschwerte sich Albert. »Ständig erinnert er mich daran, dass ich schließlich eine Verantwortung habe, weil das alles einmal mir gehören wird. Dann guckt mich die Gerda immer ganz böse an, als könnte ich was dafür, dass sie als Mädchen auf die Welt gekommen ist.«

»Und mit einundzwanzig immer noch keinen Mann hat, der sie darüber hinwegtrösten könnte«, ergänzte Lina, die Alberts ältere Schwester nicht sonderlich gut leiden konnte. Gerda trug die Nase sehr weit oben und hielt sich für etwas Besseres.

»Dein Bruder ist genauso alt und auch noch nicht verheiratet«, entgegnete Albert.

»Männer haben länger Zeit«, belehrte ihn Lina, »und außerdem ist Walter zu schüchtern. Ein Mann muss den Anfang machen, und Walter fällt das nun mal nicht leicht.«

Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Walters Herz gehörte Klara Weber, die einige Jahre zuvor mit ihrer Familie ins Dorf gezogen war, direkt in das Haus neben dem der Schönborns. Auch die Schönborns gehörten nicht zu den alteingesessenen Mühlbachern, sondern waren erst kurz vor der Geburt ihres Sohnes zugezogen. Diese Gemeinsamkeit verband die Familien und führte bald zu einer herzlichen Freundschaft zwischen den Eltern ebenso wie zwischen den Kindern. Philipp Schönborn und sein bester Freund Walter verstanden sich gut mit Klara und verbrachten mit dem Mädchen mehr Zeit als mit irgendjemandem sonst. Übermütig, wie Lina war, hatte sie ihren Bruder deswegen zu Anfang ein wenig geneckt, doch erst als sie so weit gegangen war, ihn spaßeshalber beim Abendbrot zu fragen, ob er sich nicht bald mit Klara verloben wolle, hatte sie es gemerkt. Ganz rot war er geworden und hatte nicht mehr gewusst, wohin er schauen sollte. Der Vater hatte Lina einen tadelnden Blick zugeworfen, und sie hatte vor Reue im Boden versinken wollen. So sehr hatte sie sich für ihren Bruder gewünscht, er wäre weniger zurückhaltend und schüchtern, doch vergeblich. Es war Philipp, in den sich Klara schließlich verliebte. Lina ahnte, wie es in Walter aussehen musste, doch sie wusste auch, dass er seinen Freunden ihr Glück gönnte, und wenn die beiden eines Tages heiraten würden, dann würde er sich von Herzen mit ihnen freuen. So war er nun mal.

Lina schmiegte sich enger an Albert und legte ihren Kopf auf seine Brust. Vorn am Weg sah sie Karl Schäfer vorbeigehen. Sie hob den Arm, winkte und rief: »Huhu, Karl, wie geht’s?« Karl blieb stehen und sah zu ihnen herüber. Rasch zog Albert seine Hand von Linas Brust. Lina kicherte leise und flüsterte ihm zu: »Das ist doch nur der Karl.«

Gelassen schlenderte der junge Mann zu ihnen über die Wiese.

»Na? Was macht ihr denn hier?«, fragte er, kniete sich neben ihnen nieder und grinste.

»Gar nichts«, erwiderte Albert im selben unschuldigen Ton, in dem er vermutlich auch seinem Vater geantwortet hätte.

»Na dann«, sagte Karl, setzte sich ans Ufer, zog Schuhe und Strümpfe aus, krempelte die Hosenbeine nach oben und ließ seine Füße ins Wasser baumeln. »Dann kann ich euch ja ein bisschen Gesellschaft leisten.« Genießerisch lehnte er sich zurück und seufzte: »So ein schöner Tag aber auch!«

Lina kicherte immer mehr. Sie begriff sofort, dass Karl sehr genau wusste, wobei er sie gerade störte, und sich einen Spaß mit ihnen erlaubte. Nur Albert durchschaute das Ganze wieder einmal nicht und warf Lina hinter Karls Rücken einen unglücklichen Blick zu. Da drehte Karl sich zu ihm um und meinte: »Keine Sorge, Albert, ich verschwinde gleich wieder.«

»Wo bist du denn gewesen?«, fragte ihn Lina.

»Auf der Streitmühle. Gab was zu reparieren, und die Woche über hatte ich keine Zeit.«

Lina nickte. Sie wusste, dass Karl so viel arbeitete wie kaum ein anderer. Er war geschickt und hatte bereits während der Schulzeit sämtlichen Handwerkern im Dorf über die Schulter geschaut, hatte ihnen geholfen und von ihnen gelernt. Es gab nichts, was Karl nicht reparieren oder in Ordnung bringen konnte, und er war sich für keine Arbeit zu schade. Er verdiente das Geld für seinen Großvater und seine Mutter, kümmerte sich um die beiden Kühe auf dem Hof, um die Hühner, den Garten, um alles. Und wo Not am Mann war, da wandte man sich zuerst an ihn, denn auf Karl war Verlass.

Irgendwann hatte Lina auch erfahren, was es mit ihm und seiner Mutter Sophia auf sich hatte. Sie hatte ihre Schwägerin Mathilde, Heinrichs Frau, am Waschtag danach gefragt. Ein Stück weiter, am anderen Ende des Dorfes, war der Bach einigermaßen flach und gut zugänglich, sodass er eine geeignete Stelle zum Wäschewaschen bot. Dort standen die Frauen und plagten sich selbst im Winter stundenlang, da half es, sich über den neuesten Dorfklatsch auszutauschen. Gerne auch über längst veralteten. Lina hatte unschuldig gefragt, und Mathilde hatte bereitwillig geantwortet.

»Die Sophia! Pah!«, hatte sie ausgerufen und sich umgesehen, dann hatte sie mit gedämpfter Stimme weitergesprochen. »Die Sophia, die war in jungen Jahren mit einem von den Schäfers verheiratet, kennst du ja, gute, angesehene Familie. Karl hieß der Mann, fleißiger, anständiger Mann. Kinder hatten die zwei aber keine. Ist halt manchmal so.« Mathilde zuckte gottergeben mit den Schultern. »Jedenfalls, ihr Mann, der hat im Bergwerk gearbeitet, und dort ist er bei einem Unfall ums Leben gekommen.« Ihre Stimme wurde jetzt noch leiser, sodass sich Lina ganz nah zu ihr beugen musste. »Zwei Jahre danach hat seine Witwe plötzlich ein Kind gekriegt. Keiner weiß, von wem. Und dann hat sie den Buben auch noch Karl genannt, wie ihren toten Mann. Kein Anstand!« Empört schrubbte Mathilde mit einer harten Bürste über die Wäsche, die eingeseift auf einem Stein am Ufer lag. »Sie hat seinerzeit Körbels Friedrich beschuldigt, die Sophia, aber der wollte es nicht gewesen sein, und wer weiß, für wen die alles die Beine breitgemacht hat, nachdem sie keinen Versorger mehr hatte.«

Natürlich wusste Mathilde all das auch nur vom Hörensagen, weil sie zur entsprechenden Zeit selbst noch ein kleines Kind gewesen war. Sie wusste das, was man seit etlichen Jahren im Dorf weitergegeben hatte, beim Wäschewaschen am Glan, am Abendbrottisch, im Wirtshaus oder beim sogenannten Majen, dem nachbarschaftlichen Plausch, der nicht nur Zeitvertreib war, sondern auch jede Dorfzeitung ersetzte. Und so gab es auch Mathilde weiter: Sophia, das Lumpenmensch, und Karl, ihr Bankert, mit dem man sich am besten nicht abgab, denn, wie Mathilde meinte: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

Lina kannte Sophia Schäfer als verhärmte, aber immer freund­liche Frau, Karls steinalten Großvater als strengen Hausherrn und Karl als den hilfsbereitesten Menschen, den man sich vorstellen konnte. Längst schätzte man ihn und seine Arbeitskraft im Dorf, aber der Makel seiner fragwürdigen Herkunft war trotz allem nicht von ihm gewichen. Karl war ein äußerst ansehnlicher junger Mann, groß und kräftig, immer freundlich, gutmütig und gut gelaunt. Und er besaß noch immer diese selbstsichere Ausstrahlung, von der sie schon damals als Kinder so beeindruckt gewesen waren. Dennoch schien es nicht so, als wollte sich auch nur eines der Mädchen im heiratsfähigen Alter mit ihm einlassen.

»Am Ende macht er der auch ein Kind und lässt sie genauso sitzen wie sein Vater seine Mutter, und dann steht sie da und ist ruiniert«, hatte Mathilde erklärt und mit einem entschiedenen »Wie der Herr, so ’s Gescherr!« untermauert.

Mit dieser Ansicht stand sie nicht allein, doch Lina konnte über diese Ungerechtigkeit nur den Kopf schütteln. Obwohl Mathilde sie immer wieder davor warnte, sich mit Karl abzugeben, dachte sie gar nicht daran, auf ihre Schwägerin zu hören. Karl war ein netter Mensch und ein Freund seit ihrer Kindheit, und dabei würde es auch bleiben.

»Geht ihr heute Abend auch in Arnolds?«, wollte Karl wissen.

»Nee, wieso, was gibt’s denn da?«, fragte Albert.

»Na, Arnolds Jakob ist doch wieder zurück«, ereiferte sich Karl. »Aus Amerika. Mit der Kapelle. Seit gestern. Heute Abend ist er in der Wirtschaft und erzählt sicher, wie es drüben war.«

»Fährt er denn morgen schon wieder weg?«, fragte Lina.

»Ach was!«, winkte Karl ab. »Die Kat würde sich schön bedanken, wenn ihr Mann nach einem Jahr auswärts gleich wieder verschwinden würde und sie müsste sich wieder ganz allein um die Wirtschaft kümmern.«

»Kann ich mir denken«, meinte Lina und runzelte die Stirn. »Ein ganzes Jahr getrennt, das würde ich jedenfalls nicht wollen.« Dabei verdrängte sie allerdings die Tatsache, dass Albert, wenn es nach dem Willen seines Vaters ging – und es ging immer nach dem Willen seines Vaters –, demnächst seinen Wehrdienst würde leisten müssen. Auch darin unterschieden sich die vornehmen Lehnerts vom gemeinen Landvolk. Man musste sich nicht vom Dienst fürs Vaterland befreien lassen. Im Gegensatz etwa zu Karl, der für seine Familie sorgen musste.

Karl zuckte nur mit den Schultern. »Also, kommt ihr?«

Lina verkniff das Gesicht. »Da sind doch eh nur lauter Männer.«

»Und ich glaube, ich mag mir das gar nicht anhören«, warf Albert ein. »Da werde ich nur trübsinnig, weil ich eh nie hier aus der Pfalz rauskomme.«

»Willst du denn raus?«, fragte ihn Lina überrascht.

Albert legte den Kopf schief und verzog nachdenklich den Mund. »Nein, eigentlich nicht.«

Lina lachte. »Und du, Karl?«

»Auf jeden Fall«, antwortete dieser im Brustton der Überzeugung. »Eines Tages pack ich meine Siebensachen, und dann bin ich weg. Hätte ich das Talent zum Musizieren wie der Jakob, dann wäre ich jetzt schon in Amerika oder Australien. Ich will die Welt sehen, Lina, ich will hier raus.«

So hatte sie ihn noch nie erlebt, so glühend, so beseelt von einem tiefen Wunsch. Und sie verstand diesen Wunsch nur zu gut: Weg von allen, die ihn behandelten, als wäre er weniger wert als sie, sich aber nicht zu schade waren, nach dem Bankert zu rufen, wann immer sie ihn brauchten. Weg von den Dörflern, die in seiner Mutter eine Dirne sahen, weg aus dem Dorf, wo die Mädchen sich zwar nach ihm umdrehten, sich jedoch davor hüteten, sich ernsthaft mit ihm einzulassen. Nichts würde sich hier für Karl jemals ändern.

Lina tauschte einen Blick mit Albert und war dankbar. Sie hatten einander, sie mussten nicht weglaufen, sie wussten, wo sie hingehörten und wo sie sein wollten.

Karls Mund verzog sich zu einem Lächeln, als hätte er die ersehnte Reise in die Fremde gerade in Gedanken bereits unternommen und wäre nur für ein Intermezzo ins Dorf zurückgekehrt. Er zog seine Füße aus dem Wasser und stand auf, Schuhe und Strümpfe nahm er in die Hand. »Vielleicht sieht man sich ja doch heute Abend in Arnolds, wird bestimmt interessant.« Dann legte er seinen Finger an einen imaginären Hut, verabschiedete sich und ging barfuß über die Wiese zurück zum Weg.

3. Mühlbach im Herbst 1895

Jacob Borger saß trübsinnig in der ersten Reihe der Peterskirche in Theisbergstegen, wo sein Sohn Walter mit Philippine Gödel getraut wurde, einem farblosen Mädchen, das er sich wohl nicht selbst ausgesucht hätte, aber irgendwie hatte es sich so ergeben. Ihre Mutter hatte ihn immer wieder besucht, eingekochtes Obst vorbeigebracht und Lina bei der großen Wäsche geholfen. Philippines Vater hatte Anmachholz aus dem Wald gebracht, obwohl Jacobs Söhne sich um diese Dinge kümmerten.

»Ach, ich war sowieso gerade dabei, da dachte ich, bring ich dem Jacob was mit«, hatte Gödel gesagt. Lina hatte es kommen sehen. Philippine musste unter die Haube, und viel Auswahl gab es nicht mehr im Dorf. Walter wiederum war schüchtern und gutmütig genug, sich verkuppeln zu lassen, und ehe er sich’s versah, stand er mit Bine vor dem Altar.

Aber nicht deswegen war Jacob trübsinnig, sondern weil er an seine verstorbene Frau dachte.

»Die Mutter müsste das noch miterleben«, murmelte er. Schon als Heinrich etliche Jahre zuvor Mathilde geheiratet hatte, hatte er das gesagt. »Wenn die Mutter das doch nur erlebt hätte, sie wäre so stolz.«

Lina, die neben Jacob saß, ergriff die bebende Hand ihres Vaters. Er konnte sie gar nicht mehr still halten, immerzu zitterte sie, manchmal so stark, dass er kaum seine Suppe essen konnte, weil alles vom Löffel schwappte. Dann fütterte sie ihn und flüsterte ihm zu: »Sieht ja keiner, Papa, sieht ja keiner.«

Alt war er geworden, er ging schon auf die siebzig zu, und die jahrzehntelange harte Arbeit im Steinbruch hatte ihre Spuren hinterlassen. Aber es waren nicht nur die Jahre, die auf ihm lasteten. Die Trauer um seine Lisbeth war mit der Zeit eher größer geworden, und das Zusammenreißen klappte immer weniger. Jedes Mal wenn es ein großes Ereignis in der Familie gab, eine Hochzeit, eine Geburt, eine Taufe, schmerzte ihn der Verlust von Neuem. Drei Enkel hatten ihm Heinrich und Mathilde geschenkt, und immer war ein ersticktes »Wenn das die Mutter doch nur noch erleben könnte« das Erste, was er sagte, wenn er das Neugeborene sah.

»Die Mama ist sicher dabei«, flüsterte Lina, während sie die Hand ihres Vaters in der Kirche hielt, und ganz dicht an seinem Ohr, damit es sonst keiner hören konnte, fügte sie hinzu: »Du glaubst doch nicht, dass sie sich entgehen lässt, wenn sich Walter mit der Perle von Mühlbach vermählt.«

Jacob senkte den Kopf, und Lina sah, wie seine Schultern zuckten, weil er sich ein Lachen verbeißen musste. Sie freute sich, dass sie es geschafft hatte, ihren Vater auf andere Gedanken zu bringen und seinen Humor wachzukitzeln, auch wenn es ein bisschen gemein war. Aber sie hätte sicher nicht solche Scherze über ihre neue Schwägerin gemacht, hätte diese ein liebenswürdigeres Wesen besessen. Walter tat ihr leid. Warum nur hatte er sich auf diese Ehe eingelassen? Aus Liebe jedenfalls nicht. Sicher, er war nicht gerade ein Frauenheld, aber er hätte doch noch warten können, vielleicht hätte er dann eine andere gefunden, ein nettes Mädchen wie Klara, das auch mal lachte und nicht so stumpf daherkam wie Bine. Aber diese Hoffnung hatte Walter aufgegeben. Außerdem hatte er noch nie Nein sagen oder sich durchsetzen können, Lina selbst hatte das als Kind zur Genüge ausgenutzt.

Die Trauung war zu Ende. In Walters Gesicht leuchtete ein kurzes pflichtschuldiges Lächeln auf, Bine verzog kaum die Mundwinkel, doch ihre Eltern machten einen zufriedenen Eindruck, die Tochter war versorgt.

Lina dachte an Albert und stellte sich vor, wie sie beide eines Tages hier vor dem Altar stehen würden. Allein der Gedanke da­ran erfüllte sie mit Seligkeit. Dieses unbeschreibliche Gefühl würde Walter nie kennenlernen. Nicht mit Bine.

Mit teilnahmslosen Mienen zogen die Frischvermählten aus der Kirche. Jemand, der nicht gewusst hätte, dass er einer Hochzeit beiwohnte, hätte es auch für eine Beerdigung halten können. Der Bräutigam im dunklen Anzug, die Braut in ihrem besten schwarzen Sonntagskleid, allein der kurze weiße Brautschleier auf ihrem Kopf gab einen Hinweis, wirkte jedoch seltsam deplatziert.

Die Hochzeitsgesellschaft war nicht groß und bestand lediglich aus den nächsten Angehörigen, den Trauzeugen und Brautjungfern. Mühlbach besaß weder eine eigene Kirche noch einen eigenen Pfarrer. Man musste zwei Dörfer weiter, wenn man den sonntäglichen Beistand Gottes suchte, sich verheiraten wollte oder ein Kind taufen lassen. Nur zu den Toten kam der Pfarrer, um sie auf dem Mühlbacher Friedhof zur letzten Ruhe zu betten.

Zur Feier des Tages warteten draußen eine Kutsche für die Brautleute und zwei Pferdewagen mit einfachen Holzpritschen für die restliche Gesellschaft, um sie alle zurück nach Mühlbach zu bringen, zu Arnolds Wirtschaft, wo die Festgäste warteten und eine Feier mit allem Drum und Dran stattfinden sollte: Essen, Trinken, Musik und Tanz. Gödels hatten es sich etwas kosten lassen, dass sie ihre Bine doch noch an den Mann gebracht hatten. Allerdings war die Musik umsonst, denn der Wirt, Arnolds Jakob, würde höchstpersönlich auf seiner Geige für die Unterhaltung sorgen, unterstützt von zwei Kollegen, die sich mit Speis und Trank als Entschädigung begnügten.

»Die werden auf ihren Reisen reich genug«, hatte Agathe Gödel diese Großzügigkeit abfällig kommentiert, »da können die sich das leisten.«

Die! Die fahrenden Musikanten, Männer und einige wenige Frauen, die durch ihre musikalische Begabung einen Ausweg aus der Armut gefunden hatten, stießen zu Hause oft auf eine Mischung aus Bewunderung, Neid und Verachtung. Ein bisschen auf der Fiedel zu spielen oder in eine Trompete zu blasen, das war doch keine ehrliche Arbeit, und ausgerechnet diese Taugenichtse – so in etwa dachten Leute wie Agathe Gödel – kamen zurück und hatten die Taschen so voll, dass sie sich, wie Arnolds Jakob, ein Wirtshaus leisten konnten. Und doch saßen die Leute um ihn herum und hörten, was er zu erzählen hatte, von Amerika, von England, von Spanien und wo er überall gewesen war. Sie hörten zu und tranken sein Bier, aber im Schutz der eigenen vier Wände höhnten sie wieder über ihn und seinesgleichen.

Die Kutsche mit dem Brautpaar fuhr vorneweg, es sah feierlich aus, und jetzt lachte Walter auch ein bisschen. Lina, ihr Vater, ihr Bruder Heinrich und seine Frau Mathilde teilten sich mit den Gödels einen Pferdewagen, der viel unbequemer war als die Kutsche und die Stöße auf dem Weg von der Anhöhe hinunter zur Straße kaum abfing. In dem zweiten Wagen folgten Philipp Schönborn, Walters alter Freund und Trauzeuge, mit seiner Klara sowie Bines Brautjungfern, Berta und Apollonia Theobald, die Töchter des größten Bauern im Dorf, mit ihren Eltern. Auf dem Kutschbock jenes Wagens saß Karl.

Während der holprigen Fahrt den Berg hinab drehte sich Lina zu ihm um und wurde ganz neidisch, denn Karl hatte den Wagen viel besser im Griff als ihr eigener Kutscher. Geschickt und konzentriert lenkte er die Pferde um die meisten größeren Bodenwellen und Löcher im Weg herum, sodass die Mitfahrer hinter ihm viel weniger durchgeschüttelt wurden als in dem Wagen, in dem Lina saß. Erst als sie unten angelangt waren und es nur noch geradeaus über die Landstraße ging, hob Karl den Blick und begegnete dem von Lina. Fast unmerklich hob er eine Hand zum Gruß und lächelte, und Lina lächelte und winkte offen zurück. Einen Augenblick später bemerkte sie den missbilligenden Ausdruck im Gesicht von Agathe Gödel, die ihr gegenübersaß. Statt auszuweichen, lächelte Lina auch sie freundlich an. Dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu, der erleichtert aufseufzte, als die Räder des Wagens unter ihnen endlich einigermaßen gleichmäßig liefen.

Als sie nach einiger Zeit vor Arnolds Wirtschaft in Mühlbach ankamen, wurden sie mit großem Hallo empfangen. Man bewarf das Brautpaar nach alter Sitte mit Korn, gratulierte, klopfte Walter auf die Schulter und versicherte Bine – ob zu Recht oder nicht –, welch schöne Braut sie sei, was dieser zum ersten Mal ein aufrichtiges Lächeln ins Gesicht zauberte. Beim Einzug der Hochzeitsgesellschaft ins Wirtshaus spielten Jakob und seine beiden Musikantenkollegen einen Hochzeitsmarsch und gleich darauf einen Walzer für das Brautpaar. Bei ihrem Tanz sahen die beiden Frischvermählten so glücklich aus, dass man gegen jedes bessere Wissen hätte annehmen können, sie liebten einander doch ein bisschen. Vielleicht kommt es ja noch, dachte Lina, als sie ihnen dabei zusah, wie sie sich im Kreis drehten.

»Na du?«

Sie schrak heftig zusammen, als jemand sie mit beiden Händen um die Taille packte, doch als sie sich umdrehte, blickte sie in Alberts Augen.

»Was hast du denn geglaubt, wer es ist? Gibt es da etwa noch andere, die dich ungestraft anfassen dürfen?«, neckte er sie.

»Wer sagt denn, dass du es ungestraft darfst«, entgegnete sie ihm. »Sieh dich demnächst lieber vor, Albert Lehnert, sonst knallt dir irgendwann mal meine Hand ins Gesicht.«

Albert grinste und blickte Lina so tief in die Augen, dass ihr ganz warm wurde. Am liebsten hätte sie ihn geküsst.

»Tanzt du mit mir?«, fragte er und deutete mit dem Kopf zur Tanzfläche, wo sich mittlerweile auch andere Paare drehten.

Lina reckte spielerisch ihr Kinn. »Das muss ich mir noch schwer überleg… Huch!«

Albert hatte einfach ihre Hand ergriffen und sie mit sich gezogen. Und schon wirbelten sie im Walzertakt herum.

Karl stand mit einem Bier am Tresen und sah zu, wie die anderen tanzten. Walter und Bine, Philipp und Klara, Heinrich und Mathilde und weitere Paare, aber Albert und Lina überstrahlten sie alle. Sie wirkten so viel unbekümmerter und lebendiger, es schien zwischen ihnen zu glitzern. Karl konnte die Augen nicht von ihnen abwenden. Albert war ein gut aussehender junger Mann, groß und schlank, mit seidig-blondem Haar und einem hübschen Gesicht, dessen einziger Makel, der leichte Buckel auf seiner Nase, ihm den nötigen Charakter verlieh, um es interessant zu machen. Lina aber war das schönste Mädchen, das Karl je gesehen hatte. Nicht etwa wegen ihrer herrlichen kastanienbraunen Locken, die sie an diesem Tag züchtig hochgesteckt trug, oder ihrer rehbraunen, immerzu lachenden Augen, der ebenmäßigen Haut oder der hübschen Figur, nicht wegen dieser äußeren Vorzüge, sondern weil sie eine Offenheit und Herzlichkeit besaß, die den meisten Menschen, die er kannte, fehlte. Sie gehörte zu den wenigen Leuten, die Karl nicht mit den üblichen Vorbehalten entgegentraten. Sie dachte nicht daran, ihn zu meiden, und wenn sie sich begegneten, redeten und scherzten sie miteinander, und es war Lina egal, was die Leute davon hielten. Karl war Agathe Gödels tadelnder Blick, als Lina ihm vom Pferdewagen aus unbekümmert zugewinkt hatte, nicht entgangen. Ebenso missmutig starrte die Brautmutter nun zur Tanzfläche und beobachtete, wie sich das Mädchen vergnügte und viel offener, als man es für schicklich erachtete, sein Glück zeigte.

Die beiden Brautjungfern Apollonia und Berta Theobald standen mit verdrießlichen Mienen am Rand, sie hatten keinen Tänzer gefunden. Allerdings schielte Berta immer wieder zu Karl. Er kannte das schon, diese verschämten Blicke, die eigentlich nicht erlaubt waren, weil einer wie er auf dem Heiratsmarkt keinen Pfennig wert war. Irgendwann würde er das alles hinter sich lassen.

Erneut wanderte Bertas Blick verstohlen in seine Richtung. Schließlich gab sich Karl einen Ruck, stellte sein Bier zur Seite und ging auf das Mädchen zu.

»Möchtest du tanzen?«, fragte er nett.

»Ich … äh … also«, stammelte sie.

Karl konnte sich lebhaft vorstellen, welche Gedanken ihr gerade durch den Kopf jagten: der Bankert, mit dem man sich nicht einlassen durfte, der aber leider so gut aussah. Und der nahezu alles konnte: Sachen reparieren, Bäume fällen, Pferde beschlagen und kutschieren. War es nicht peinlich, mit dem Kutscher zu tanzen? War es nicht noch peinlicher, als Mauerblümchen am Rande der Tanzfläche zu stehen?

»Ich … ja. Gut«, rang sich Berta durch, und augenblicklich färbten sich ihre Wangen rot. Karl nahm sie sanft an der Hand und führte sie zum Tanzboden. Sogleich teilte sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer zwischen Lina und Albert und Karl und Berta. Bahnten sich hier gleich zwei Skandale an?

»Du tanzt sehr gut«, lobte Karl das Mädchen, das nicht wagte, ihn anzusehen, und dessen Hand so schlaff in seiner ruhte, als wollte es ihn am liebsten gar nicht berühren.

»Danke«, wisperte Berta. Für einen winzigen Moment blickte sie erfreut zu ihm hoch.

Als der Walzer zu Ende war, applaudierte man dem Brautpaar und den drei Musikanten. Berta wollte sich gerade wieder zurückziehen, da dröhnte die Stimme von Arnolds Jakob durch den Saal: »Und jetzt noch einer zum Warmwerden!«, und schon spielten die drei einen flotten Hopser. Alle auf der Tanzfläche jubelten, denn jetzt wurde für Stimmung gesorgt.

Karl hielt Bertas Hand fest. »Noch den einen?«, fragte er und lächelte sie aufmunternd an. Der direkte Blick seiner strahlend blauen Augen verfehlte seine Wirkung bei Berta nicht. »Na gut«, erwiderte sie verschämt, und dann hüpfte sie an Karls Seite über den Tanzboden. Nach wenigen Schritten begann sie zu lächeln, und aus dem Lächeln wurde ein Lachen, denn niemand konnte sich dem fröhlichen Rhythmus des Tanzes entziehen, und sie hätte es schlechter treffen können als in Karls kräftigen Armen. Berta hatte hübsche Zähne, stellte Karl fest, und wenn sie diese verdrießliche Miene ablegte, besaß sie sogar ein wenig Liebreiz. Ein wenig. Nicht zu vergleichen mit Lina natürlich. Sie und Albert hüpften höher und ausgelassener als alle anderen.

»Und jetzt Partnerwechsel!«, rief Jakob mit seiner durchdringenden Stimme. Die Frauen quietschten, die Männer lachten, und alle, die an den Tischen saßen und zuschauten, schüttelten amüsiert die Köpfe. Lina schnappte sich Karl, Albert ergriff Bertas Hand und zog sie an sich heran.

»Na, du wilde Hummel«, rief Karl über das Gejohle hinweg.

»Na, du schneidiger Tänzer«, rief Lina zurück. »Schön, dass du hier bist und dich nicht draußen bei den Pferden versteckst.«

»Walter hat darauf bestanden.«

»Dann hat er sich also schon das erste Mal gegen Bine durchgesetzt. Gut so! Ich hoffe, er behält das bei.«

Lina lachte und winkte zu Albert hinüber, der mit Berta vorbeihüpfte. Albert grinste schief zurück.

»Vielleicht forderst du auch noch Apollonia auf, dann ist die ganze Familie Theobald zufrieden«, schlug Lina Karl vor.

»Ob ich zufrieden bin, das zählt nicht, oder wie?«

»Bist du’s?«

»Momentan schon.«

Lina presste lächelnd die Lippen aufeinander und senkte geschmeichelt den Blick.

»Oh, du meinst, das liegt an dir«, nahm Karl sie auf den Arm. »Tut mir leid, nein, so war das nicht gemeint. Ich tanze nun mal gern, und das Bier ist umsonst und … Aua!«

Sie hatte ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen verpasst. Er krümmte sich lachend.

Die Musikanten beendeten das Stück mit einem lauten Schlussakkord. Die Tänzer waren zwar ausnahmslos außer Puste, aber das hielt sie nicht davon ab, sich laut jubelnd bei den Musikanten zu bedanken.

Karl verbeugte sich vor Lina. »Herzlichen Dank für den Tanz, verehrtes Fräulein Karolina!«

Sie antwortete mit einem graziösen Knicks. »Ganz meinerseits, der Herr!« Dann lachte sie hell auf, Karl zwinkerte ihr zu und verzog sich wieder an den Tresen zu seinem inzwischen schal gewordenen Bier. Er beobachtete, wie Berta mit leuchtenden Augen von Albert zum Tisch ihrer Eltern zurückgeführt wurde und er vor diesen einen artigen Diener vollführte. Wohlwollend und erfreut nickte das Bauernpaar Albert zu. Die Berta und der Sohn vom Lehnert! In ihren Köpfen läuteten vermutlich schon die Hochzeitsglocken, dachte Karl und ließ sich von der Kat hinterm Tresen ein neues Bier einschenken.

Albert achtete nicht auf die verzückten Blicke der Theobalds, sondern schnappte sich Lina und zog sie mit sich nach draußen.

»Wo willst du denn hin? Es gibt gleich Essen«, protestierte sie.

»Ich weiß. Komm mit. Ich habe jetzt schon Hunger.«

Er lief mit ihr an den Pferdewagen vorbei, um das Haus herum bis in den rückseitig gelegenen Garten. Auf der Wiese zwischen einem Apfelbaum und einem Kirschbaum schlang er seine Arme um sie und küsste sie so leidenschaftlich wie noch nie.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Lina keuchend, als er endlich von ihr abließ.

»Ich mag dich nicht mit anderen Männern sehen«, sagte Albert. Verwirrt schaute sie in seine dunklen, brennenden Augen. »Mit Karl«, erklärte er.

»Mit Karl? Aber Karl ist …«

»… Karl ist Karl, ja, ich weiß. Er will nichts von dir und du nicht von ihm, das weiß ich alles, aber als ich euch eben sah, da … Es macht mich verrückt, dich mit einem anderen Mann zu sehen. Und es macht mich …« Er stockte, biss sich auf die Lippen.

»Hungrig?«, fragte Lina mit einem leisen Lächeln.

Er nickte. »Du siehst heute so schön aus, Lina, du solltest dich mal mit meinen Augen sehen.«

Zärtlich strich sie ihm ein paar strohblonde Strähnen aus der Stirn. »Es gibt keine anderen Männer, Albert. Nie. Es gibt nur dich. Das weißt du doch, und das bleibt so für immer.«

Da küsste er sie noch heftiger als zuvor, noch länger.

»Wir müssen zurück«, mahnte Lina.

»Ich will nicht zurück«, entgegnete Albert, und flüsternd gestand er ihr, was er sich wünschte: »Ich will mit dir zusammen sein. Richtig zusammen.« Er senkte den Kopf, er schämte sich, es so offen ausgesprochen zu haben, aber er konnte nicht anders. »Und ich will nicht, dass du noch mal mit einem anderen tanzt. Auch nicht mit Karl«, fügte er hinzu.

Sie hob sein Kinn mit einem Finger und gab ihm einen zarten Kuss auf den Mund. »Versprochen! Ich tanze nur noch mit dir. Vielleicht einmal mit Walter, um ihn von Bine zu erlösen, aber sonst nur mit dir. Gut?«

»Gut«, grinste er.

»Und das andere«, sagte sie zögernd und ebenso leise wie er zuvor, »das will ich auch.« Sie schlüpfte unter seinen Armen hindurch und lief voraus aus dem Garten. »Komm schon, Albert, ich dachte, du hast Hunger«, rief sie, und er rannte hinter ihr her. Bis ans Ende der Welt wäre er ihr hinterhergerannt.

4. Mühlbach im März 1896

»Lumbeee, Alteiseee, Papier! Lumbeee, Alteiseee, Papier!« Laut schallte der Ruf durch das Dorf, immer wieder in stetem Rhythmus, unterbrochen vom schrillen Geläut einer Handglocke. Casimir der Lumpensammler war wieder unterwegs mit seinem breiten Karren, den er eigenhändig zog. Kein Mann weit und breit, nicht einmal der Schmied, hatte Muskeln wie er.

»Lumbeee, Alteiseee, Papier!«, dröhnte seine Stimme, während er langsam voranschritt in der Hoffnung, die Mühlbacher würden ihm etwas bringen. Alte Kleidung, Wäsche oder Laken gab es häufig, wenn jemand gestorben war, Metallreste von kaputtem Zeug, selten Wertvolleres, wie ein altes Bügeleisen oder gar ein ganzer Ofen. Meist schlossen sich die Fenster, wenn er durch die Straßen zog, weil er so laut war, nur hie und da brachte man etwas zu seinem Karren. Bis der voll war, musste Casimir viele Dörfer durchschreiten.

Nur eine kam jedes Mal.

Bine, kaum dass sie die Glocke von Weitem vernommen hatte, raffte das löchrige Betttuch, das nicht mehr zu stopfen war, und griff nach den beiden halb verrosteten Eimern, die sie vom Bauernhof mitgebracht hatte. »Ach, die bring ich dem Casimir, wenn er kommt. Ihr hört den hier oben doch gar nicht«, hatte sie ihrer Freundin Apollonia angeboten. Auf dem Bauernhof fiel immer irgendetwas ab, und Bine half gern und stellte die alten Sachen im Schuppen bereit, bis Casimir wieder auftauchte. Hektisch blickte sie sich um, ob sie auch nichts vergessen hatte, und schnappte sich im letzten Moment ein paar der Zeitungen, die Walter immer las. Dann verließ sie eilig das Haus und folgte dem Glockengeläut hi­nunter zur Hauptstraße.

»Moment, ich habe was«, rief sie dem Lumpensammler hinterher, als sie ihn mit seinem Karren ein Stück weit vor sich erblickte.

Casimir hielt an und drehte sich zu ihr um.

»Fräulein Gödel!«, sagte er freundlich und verneigte sich leicht. Bine freute sich. Er kannte ihren Namen, das war nicht selbstverständlich, auch wenn sie schon seit Jahren zu ihm kam, jedes einzelne Mal, obwohl auch ihre Eltern die Nase über ihn rümpften: über seine schmuddelige Kleidung, die aussah, als wäre sie selbst aus Lumpen gemacht, über die dunklen Bartstoppeln, die wilden schwarzen Haare. So würde im Dorf keiner herumlaufen. Aber im Dorf hatte sich noch nie ein Mann vor Bine verneigt.

»Frau Borger inzwischen«, korrigierte sie ihn verlegen.

»Oh! Ich gratuliere!« Der höfliche, schmuddelige, muskelbepackte Casimir verneigte sich ein weiteres Mal. »Wer ist denn der Glückliche?«

»Mein Bruder!«, rief eine helle Stimme hinter Bine.

»Lina!« Casimir lächelte hocherfreut.

»Guten Tag, Casimir! Auch mal wieder im Lande?«

»Wie man sieht.«

»Und hört«, ergänzte sie lachend. »Leider habe ich heute nichts für dich.«

»Wann hattest du jemals etwas für mich?« Er machte eine Grimasse, die nicht danach aussah, als wäre er deswegen böse.

»Letztes Jahr«, hielt ihm Lina entgegen.

»Ach ja? Und was soll das gewesen sein?«

»Hmm, was war das noch gleich?«

Casimir grinste. »Du hast mir einen Apfel geschenkt, das war es.«

»Siehst du, und wie es der Zufall will, hab ich wieder einen.«

Sie zog einen der rotwangigen Äpfel aus ihrem Garten hervor und lachte. Ihr perlendes, offenes, liebes Lachen, das alle so wundervoll fanden. Auch Casimir offensichtlich, und natürlich kannte er auch ihren Namen, ihren Vornamen sogar. Und wie er mit ihr redete, geradeso, als würde er sie noch besser kennen.

»Danke!«, sagte Casimir und biss gleich in die glänzende Frucht. »Also, wie war das?«, fragte er kauend und wedelte mit einem schmutzigen Finger zwischen den beiden jungen Frauen hin und her. »Ihr seid jetzt also Schwägerinnen?«

»Ja, das sind wir. Bine und mein Bruder Walter haben vor einem halben Jahr geheiratet.«

»Kenne ich deinen Bruder?«

»Möglich, ich weiß nicht«, sagte Lina.

Bine stand nur noch überflüssig dabei. Warum hatte ausgerechnet Lina dazukommen müssen? Und natürlich kannte Casimir Walter nicht, woher sollte er ihn denn kennen? Walter saß den ganzen Tag in einem Zimmer auf dem Amt in Altenglan und tat wer weiß was. Vom Federschwingen hatte keiner je Muskeln bekommen, und er erlebte auch nichts, worüber er sich mit ihr am Abend hätte unterhalten können. Er kam nach Hause, saß meist schweigend bei ihr und ihren Eltern und verzog sich bald nach oben, wo er irgendetwas las. Sie hatte sich das Eheleben anders vorgestellt, aber so einen wie Casimir hätte sie ohnehin nie heiraten dürfen. Das verstand sie natürlich, keine Frage, aber zweimal im Jahr kam er vorbei, und an diesen beiden Tagen, in diesen wenigen Minuten, in denen er sich verneigte, in denen er nett zu ihr war, in denen er »Fräulein Gödel« sagte, da fühlte sie etwas, das sie sonst nie fühlte, sie wusste nicht, was es war, aber es war schön. Zweimal im Jahr war es schön. Und jetzt redete Casimir mit Lina und lachte, und sie, Bine, war wieder unsichtbar.

»Also dann …«, sagte sie und trat einen Schritt zurück.

»Ja, bis zum nächsten Mal, Fräulein Gödel, ich meine …«, Casimir lachte und verneigte sich zum Abschied, »Frau Borger.«

Bine nickte, wandte sich ab, und sogleich wurde hinter ihrem Rücken die Unterhaltung weitergeführt, wurde wieder gelacht.

5. Mühlbach im Sommer 1896

Die Männer standen mit ihren Sensen in Reih und Glied. Hinter ihnen schickte die Sonne die ersten Strahlen durch die Wipfel des Waldes. Es versprach ein schöner Tag zu werden, ein heißer Tag, ein guter Tag für die Heuernte. Man musste früh anfangen, damit das riesige Wiesenfeld bis zum Abend gemäht war. Außer den beiden Knechten und den Tagelöhnern, die Bauer Theobald beschäftigte, waren zahlreiche Männer aus dem Dorf gekommen, hatten ihre Sensen mitgebracht und halfen beim Mähen. Meist Kleinbauern, die, anders als Bauer Theobald, nur für den Eigenbedarf wirtschafteten, kamen mitsamt ihren Söhnen.

Auch Walter war dabei, obwohl er seinen Lebensunterhalt auf dem Amt in Altenglan verdiente und das Mähen nicht gerade seine Stärke war, doch Bine, die mit den Theobald-Töchtern Berta und Apollonia befreundet war, hatte ihn dazu angespornt: Wie das denn aussähe, wenn ausgerechnet der Bruder des Knechts nicht bei der Heuernte mithelfe. Hauptsächlich, so vermutete Lina, ging es Bine darum, dass Walter zur Abwechslung einmal einer Arbeit nachging, die in ihren Augen einem richtigen Mann besser zu Gesicht stand, als an einem Schreibtisch zu sitzen.

»Ich hoffe, Walter schneidet sich nicht den Fuß ab«, unkte Lina lachend, als sie ihrem Vater am Morgen in seinen mit Decken und Kissen gepolsterten Lehnstuhl half.

»Heinrich wird schon auf ihn aufpassen«, meinte Jacob. »Und so …«, er hustete, »… so ungeschickt ist Walter mit der Sense …«, wieder unterbrach ihn der Husten, »… auch wieder nicht«, vollendete er endlich seinen Satz und schnappte rasselnd nach Luft.