Ismael und der Auftritt der Seekühe - Michael Gerard Bauer - E-Book

Ismael und der Auftritt der Seekühe E-Book

Michael Gerard Bauer

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Beschreibung

SOS - Ismael ist total verknallt, aber viel zu schüchtern, um die bezaubernde Kelly anzusprechen. Razza, Ismaels tollkühner Freund aus dem Debattierclub, verfolgt deshalb nur ein Ziel: Er will die beiden verkuppeln. Schließlich hat Kelly Ismael zur Geburtstagsparty ihrer Freundin eingeladen. Das hat was zu bedeuten! Doch die Party endet in einem Desaster, und Ismaels Selbstwertgefühl sinkt auf einen Tiefstand. Nur Razza weiß Rat: Gedichte und Musik haben sich noch immer als Wundermittel zur Rettung der ersten Liebe erwiesen ... Niemand schreibt so umwerfend komisch über die Peinlichkeiten der Pubertät wie der aus Australien stammende Autor Michael Gerard Bauer.

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Michael Gerard Bauer

Ismael und der Auftritt der Seekühe

Aus dem Englischen von

Ute Mihr

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel

Ishmael and the return of the Dugongs

bei Omnibus Books, an imprint of Scholastic Australia.

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht

den Regeln der neuen Rechtschreibung.

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter

www.hanser-literaturverlage.de

eBook ISBN 978-3-446-23532-8

© 2007 Michael Gerard Bauer

eBook

© 2009 Carl Hanser Verlag München

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Erster Song:

Kollisionskurs

13 1  Willkommen in meinem Albtraum

18 2  Schlüsselwörter

23 3  Es entspannt angehen

28 4  Fisch-Wal und die Debatten-Junkies

35 5  Das Wort mit »S«

39 6  Ein Geschöpf des Universums

Zweiter Song:

Gesellschaftsblues vom toten Frosch

45 7  Voll leer

53 8  Der Mistkäfer im Ökosystem der Liebe

60 9  Iiiiiiiiiiiiiiiiiggggiiiiiiittttttttttttttt!

6410  Die menschliche Brandungswelle

7011  Ich und du und William S.

Dritter Song:

Mit jedem Ton und jedem Wort

8112  Die Crème de la Scheiße

8913 Die Verlockungen der Liebe

9614  Nyuk! Nyuk! Nyuk!

10315  Schiiiiiieeeeeeß!

11016  Die Männer mit den Zwangsjacken

11617  Irre

Vierter Song:

Schmerz

12918  Der Freak von Alcatraz

13419  Ein großer pinkfarbener Komet

13820  Das Spiel ist aus, Mann!

14321  Zum Kotzen schön

14822  Gut zu wissen

Fünfter Song:

Erinnerungsketten

15523  Nostalgie

15924  Wie Prue den Namen Prue bekam

16125  Das Comeback der Seekühe

16626  Der Überraschungselefant

17727  Winzige pinkfarbene Kornkreise

Sechster Song:

Immerzu

18928  Hirn-Sex

19329  Ein Örtchen fürs Flirtchen

19730  Carpet dinkum – Quetsch den Tag aus

20531  Das Mädel, das in das Haus einbricht

21232  Etwas absolut Verrücktes und Seltsames

Siebter Song:

Ein schlechter Tag für Engel

21933  Eine Win-Win-Win-Win-Situation

22634  Ein am Boden lebender Dreckfresser

22935  Auweia!

23336  Das flammende Inferno

23837  Beliebt wie eine verwesende Leiche

24438  Es kommt!

Achter Song:

Die Zeit ist gekommen

25139  Kronprinzessin unter den Mädchen für alles

25540  Überlass das mir (zweimal)

26241  Eins und eins

27042  Die Schnauze voll von Sicherheit

28043  Wie eine sezierte Kröte

29044  Seit zwanzig Jahren in Vorbereitung

29345  Die zehn Besten

Neunter Song:

Das Beste von allem

29946  Die Tochter des Wettermanns

30547  Verrückt genug, um wahr zu sein

31148  PS

313Dank

Für meinen Schwiegervater

L. P. J. »Ben« van Schyndel (1925–2006)

Handwerksmeister, Künstler, Philosoph, Ritter in schimmernden

weißen Overalls und unermüdlicher Förderer meiner Bücher

In Liebe und Dankbarkeit

Erster Song:

Kollisionskurs

Ich spüre dich auf

Ich bin dir auf den Fersen

Mädchen, ich hab es auf dich abgesehen

Ich erkenne das Ziel

Du leuchtest auf meinem Radar

Und blinkst wie ein Warnlicht

Chor:

Kollisionskurs

Wir steuern auf den Showdown zu

Nichts kann uns noch trennen

Kollisionskurs

Kein Weg führt mehr daran vorbei

Du wirst mir ins Herz hineinrennen

Aus Die Seekühe: Wiedervereint & Neu aufgelegt

Musik & Text: W. Mangan und R. Leseur

1

Willkommen in

meinem Albtraum

Das Telefon brummte in mein Ohr wie ein wütender Bär. Ich knallte es zurück auf die Station. Dann nahm ich es wieder hoch. Grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr! Ich knallte es zurück.

Willkommen in meinem Albtraum.

Zum hundertsten Mal ging ich die drei Punkte auf meiner Liste durch.

1. Kelly Faulkner

Dieser Eintrag sollte mich daran erinnern, mit wem ich telefonierte, falls mein Gehirn sich plötzlich in Knete verwandelte. Lacht nicht. Das konnte durchaus passieren. Schließlich wollte ich Kelly Faulkner anrufen – nicht irgendeine Kelly Faulkner, sondern die Kelly Faulkner mit den eisblauen Augen und den süßen weißen Zähnen, die Kelly Faulkner mit dem Körper meiner Träume und dem Lächeln, das meinen Herzschlag aussetzen ließ. Genau – die Kelly Faulkner, die so perfekt war, dass einem der Atem stockte, das Hirn weich wurde, der Mund offen stehen blieb, das Blut im Kopf blubberte, der Magen in Wallung geriet und das Herz hämmerte.

Nur keinen Stress.

Ich ging weiter in meiner Liste.

2. Ismael Leseur

Das bin ich. Und es ist zugleich der Name einer beängstigenden, aber bislang praktisch unbekannten Krankheit. Und wenn ihr es bescheuert findet, den eigenen Namen aufzuschreiben, damit man ihn nicht vergisst, dann wart ihr offenbar noch nie am Ismael-Leseur-Syndrom erkrankt. (Was kaum verwunderlich ist, denn ich bin weltweit der einzig bekannte Fall). Aber ihr müsst wissen, dass ein Telefonat mit Kelly Faulkner exakt die Art von Situation ist, in der sich das schlimmste Symptom des Ismael-Leseur-Syndroms – gewaltige, grenzenlose Blödheit – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zeigt. Und aufgrund meiner weitreichenden Erfahrung kann ich euch versichern: Ihr möchtet nicht dabei sein, wenn es passiert.

Im vergangenen Jahr erlitt ich ein paar wirklich schreckliche Anfälle. Ich schrieb sogar eine wissenschaftliche Arbeit darüber und dokumentierte jede einzelne demütigende Sekunde. Aber am Ende des Schuljahres glaubte ich eigentlich, ich hätte die schlimmsten Auswirkungen des Ismael-Leseur-Syndroms im Griff. Schließlich hatte ich sogar einen Grundschüler praktisch aus den Fängen des schulbekannten Tyrannen Barry Bagsley befreit! Und hatte sich nicht herausgestellt, dass dieser Grundschüler der kleine Bruder von Kelly Faulkner (ja genau, die Kelly Faulkner) war? Und hatte Kelly Faulkner, das Mädchen meiner Träume, mich und meinen Kumpel Razza nicht genau deshalb zur Geburtstagsparty ihrer Freundin eingeladen, sodass ich sie jetzt nur anrufen und zusagen musste und dann wäre mein Leben perfekt? Genauso ist es.

Damit bin ich beim letzten Punkt meiner Liste angelangt.

3. Die Party

Meine außergewöhnlichen Planungsfähigkeiten und meine Konzentration auf Details waren sagenhaft. Ich durfte jederzeit mit einem Jobangebot der Mission Impossible Force rechnen. Bei mir blieb nichts dem Zufall überlassen. Ich kannte den Ablauf auswendig. Ich musste nur die Nummer eintippen, und wenn jemand abnahm, würde ich sagen: »Hallo, könnte ich bitte mit (Blick auf die Liste) … Kelly sprechen?« Falls Kelly selbst am Telefon war, würde ich sagen: »Hallo, Kelly, hier ist (wieder ein Blick auf die Liste) … Ismael Leseur. Ich rufe an wegen der (und noch ein Blick auf die Liste) … Party.«

Ja, die Liste war vollkommen. Ein Gegenstand der Bewunderung, überwältigend in ihrer Einfachheit. Und nicht nur das. Sie war auch absolut narrensicher. Eine quälende Frage blieb jedoch unbeantwortet: War sie Ismael-Leseur-Syndrom-sicher?

Das war wirklich schwer zu sagen. Um das ganze Ausmaß der schrecklichen Bürde, die das Ismael-Leseur-Syndrom darstellt, würdigen zu können, müsstet ihr meinen ausführlichen Bericht vom letzten Jahr gelesen haben. Wahrscheinlich war euch das aber nicht möglich, denn es gibt nur ein Exemplar, und das liegt begraben unter einem Stapel Schuhe ganz unten in meinem Kleiderschrank – zumindest befand es sich dort, als ich es versehentlich gegenüber meiner Englischlehrerin Miss Tarango erwähnte. Bevor ich mich versah, fragt sie mich, ob sie meinen Bericht lesen dürfe. Natürlich wollte ich sagen: »Auf keinen Fall!« Aber – es war Miss Tarango. Und sie ist die beste Lehrerin, die ich je gehabt habe, und sie hat so eine Art, einen anzusehen, und dann diese netten kleinen Bäckchen und die Grübchen … tja … Ich habe ihr den Bericht gegeben.

Natürlich nicht den ganzen, nur einen Auszug. (Es gab da eine detaillierte wissenschaftliche Analyse, die Kelly Faulkner und Miss Tarango selbst betraf, die als »streng vertraulich« eingestuft war.) Merkwürdigerweise fand Miss Tarango großen Gefallen an dem Teil, den sie zu lesen bekam. Wer hätte gedacht, dass sich Englischlehrer für wissenschaftliche Untersuchungen interessieren? Sie redete sogar davon, dass sie es Leuten zeigen wollte, die sie kannte – Ärzten, vermutlich. Vielleicht würde meine Studie ja in einer großen medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht, sodass das Ismael-Leseur-Syndrom endlich die Anerkennung fände, die es unbedingt verdiente.

Außerdem bat Miss Tarango mich, auch über dieses Jahr einen Bericht zu schreiben. Und das tue ich gerade, weil – siehe oben unter »Bäckchen« und »Grübchen« (übrigens machen sich Worte wie »siehe unter« ausgezeichnet in wissenschaftlichen Studien, genauso wie »vorgenannte«).

Um die Wahrheit zu sagen, hoffte ich, dass es in diesem Jahr gar nicht viel zu schreiben gebe. Wie gesagt: Als Kelly Faulkner mich zur Party ihrer Freundin einlud, dachte ich, ich hätte das Ismael-Leseur-Syndrom vielleicht endlich überwunden, und hoffte, dass dieses Jahr ein Spaziergang werden würde.

Aber da lag ich total daneben.

Der »Spaziergang«, den ich mir erhoffte, stellte sich als eine Achterbahnfahrt heraus – und zwar auf einer Achterbahn, die Wachstumshormone genommen hatte. Ihr wisst schon, so ein riesengroßes wildes, magenumdrehendes Teil, das einen bis zur völligen Vernichtung herumschleudert, während man das Gefühl hat, als würde ein Wahnsinniger einem die inneren Organe mit einer Schaufel neu sortieren. Und das Ende der Fahrt besteht normalerweise darin, dass die Verdauung volle Kanne den Rückwärtsgang reinhaut.

Aber ich greife weit vor. Dabei hat uns Miss Tarango immer wieder die Bedeutung von Organisation und Planung eingebläut. Alles, was man schreibt, sagt sie, muss einen Anfang, einen Hauptteil und einen Schluss haben.

Hier also meine Teile:

Anfang: Der Beginn des Schuljahrs, Klasse zehn im St Daniel’s Boys College

Hauptteil: Die vorgenannte Achterbahn aus Wachstumshormonen

Schluss: Der Abend, an dem die Seekühe ihr Comeback feierten

Das klingt eigentlich gar nicht so schrecklich, oder? Und es fängt auch sehr unschuldig an. Mensch, ich musste doch nur ein einfaches Telefonat führen.

2

Schlüsselwörter

Es klingelte. Ich hörte meinen Atem in der Ohrmuschel. Warum hatte sie mir nicht ihre E-Mail-Adresse gegeben oder ihre Handynummer? Dann könnte ich einfach schreiben. Vielleicht war ja niemand zu Hause. Noch einmal würde ich es klingeln lassen und dann auflegen.

Da klickte und knisterte es in der Leitung, und eine männliche Stimme meldete sich. »Hallo. Hier Faulkners Sterbe- und Werbe-Service. Sie sterben – wir werben. Was kann ich für Sie tun?«

»Wie bitte? Ich ... äh ... ich dachte ... Verzeihung ... ich ... äh ... Das muss ... Ich wollte ... äh ... ich glaube, ich habe mich verwählt.«

»Sie sind nicht Macca, oder? Oh, Entschuldigung! Es war nur ein Scherz. Ich hatte jemand anderes erwartet. Hier ist Dave Faulkner. Wen möchten Sie sprechen?«

»Ich ... äh ... ich.« Die Liste! Ich grapschte nach ihr. »Äh ... Kelly ... Kann ich bitte mit Kelly sprechen?«

»Mit Kelly? Einen Augenblick, ich schau nach. Ich glaube, sie steht gerade unter der Dusche.«

Unter der Dusche? Kelly Faulkner? (Achtung! Potenzielle sensorische Überlastung!) Kelly Faulkner ... unter der Dusche ... mit Seifenschaum. Das waren Schlüsselwörter. Ich musste mich wieder auf meine Aufgabe konzentrieren. Verzweifelt überflog ich meine Checkliste. Kelly – Ismael – Party. Vergiss die Sache mit der Dusche. Kelly – Ismael – Party. Denk nicht an die Sache mit der Dusche. Kelly – Ismael – Party. Denk nicht daran, dass Kelly Faulkner nur von Seifenschaum bedeckt ist wie in den Werbespots für Shampoo, dass sie lächelnd die Augen schließt und den Schaum aus ihren Haaren spült, während das Wasser über ihr Gesicht und ihre Schultern perlt und sprudelt und die Kamera gaaaanz langsam nach unten schwenkt ... (Achtung! Überhitzungsgefahr!) Die Liste! Konzentrier dich auf die Liste! Kelly – Ismael – Party. Okay. Kelly – Ismael – Party. Gut. Kelly – Ismael – Party. Schon besser. Kelly – Ismael …

Klick. Knister. »Sie kommt gleich. Wer spricht da bitte?«

»... Party.«

»Paddy? Bleib dran, Paddy, sie kommt gleich.«

»Nein ... nein, warten Sie ... Hier ist Ismael ... Ismael Leseur ...«

Aber zu spät – die Stimme im Hörer rief: »Kel, ein Paddy ist dran ... Ja, das hat er gesagt, da bin ich mir sicher.«

Großartig. Jetzt denkt sie, ich wäre ein irischer Stalker. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Keine leichte Aufgabe, denn mein Herz veranstaltete in meiner Brust eine ausgesprochen einfallsreiche Beatbox-Vorstellung.

Gedämpfte Geräusche drangen durch die Leitung.

Ich versuchte, mir die Szene am anderen Ende vorzustellen. Wie sah ihr Haus aus? Wo stand das Telefon? In der Küche? Im Wohnzimmer? Vielleicht hatten sie ja auch ein schnurloses Telefon. Vielleicht nahm Kelly es mit in ihr Zimmer ... nachdem sie, in ein Handtuch gewickelt, der Dusche entstiegen war. Stellt euch das vor, nur ein dünnes Frottierhandtuch zwischen Kelly Faulkners nackter Haut und mir ... das und höchstens sechs oder sieben Kilometer Telefonkabel. Kelly Faulkner ... in ihrem Schlafzimmer ... mit einem Handtuch ... nur mit einem Handtuch.

»Hallo?«

»Kelly? Hallo, äh … ich bin’s … (Blick auf die Liste) Ismael … Ismael Leseur.« Gut. Ich würde es schaffen. Die Kunst bestand darin, sich zu konzentrieren. »Ich rufe an wegen des Handtuchs.«

»Ismael? Ich versteh nicht ganz … was … was ist mit dem Handtuch?«

»Nein … ich … äh … ich … Die Verbindung ist wirklich schlecht … Ich meine nicht Handtuch … nein … ich wollte sagen … Besuch … ich meine … Party … dass ich deinen Brief bekommen habe … und dass Razza und ich zu Sallys Party kommen können.« Toll!

»Oh … ja … Das ist gut, das ist großartig.«

Puh. Alles klar, ich war in Sicherheit.

»Aber … warum hast du zu meinem Vater gesagt, dass du Paddy heißt?«

Schon wieder. »Ich … äh … ich … das ist … das ist nur … das ist ein Spitzname.«

»Dein Spitzname ist Paddy?«

»Ja … nein … nicht direkt. Ich … irgendwie … ich probier ihn aus, weißt du, um herauszufinden, ob er funktioniert.«

»Und warum gerade Paddy?«

»Ach … das ist eine lange Geschichte.« (Ja, und zwar beginnt sie weit in der Vergangenheit, als ich mit einer hyperaktiven Blödheitsdrüse geboren wurde.)

»Stammt deine Familie aus Irland?«

»Also … na ja, indirekt ja.«

»Leseur klingt nicht sehr irisch.«

»Nein … das ist … wahrscheinlich eher mütterlicherseits.«

»Ach so … und wie heißt deine Mutter?«

Also, wenn mir hier jemand helfen könnte, wäre das großartig. Es ist nämlich ganz schön anstrengend, sich das eigene Grab zu schaufeln.

»Ähm … so ganz sicher bin ich mir da nicht.«

»Du weißt nicht, wie deine Mutter hieß, bevor sie geheiratet hat?«

»Doch … schon … mir fällt’s bloß gerade nicht ein. Ihr Name klang ziemlich irisch, so viel weiß ich … So ähnlich wie … ähm … Bono … aber ich könnte mich auch irren.«

»Bono? Etwa wie Bono von U2?«

»Ja, so ähnlich, aber nicht genau so. Egal, ich finde sowieso, dass Paddy nicht zu mir passt. Vergessen wir’s.«

»Guter Schachzug«, meinte Kelly und lachte ein bisschen.

Dann wurde es still in der Leitung. Ich musste etwas sagen, um die Stille zu füllen – etwas Schlaues, etwas Witziges, etwas Geistvolles.

»Tja«, sagte ich. Nun, was erwartet ihr von jemandem, der ein Hirn aus Knete hat?

»Na ja, jedenfalls ist es toll, dass ihr beide zur Party kommen könnt. Wenn du mir deine Adresse gibst, dann schickt Sally dir eine Einladung mit allen Einzelheiten. Nichts Besonderes, wir grillen bei Sally zusammen mit ihrer Familie, aber es wird bestimmt lustig. Aus unserer Schule kommen sechs oder sieben Mädchen und mit euch beiden ungefähr genauso viele Jungs. Ach ja, Sally sagt, wegen Geschenken sollt ihr euch keine Gedanken machen. Aber bringt eure Badehosen mit. Es gibt einen Pool.«

»Großartig.« Ja, ich war begeistert. Ich in der Badehose. Endlich würden sich die Steroide und die vielen Stunden auszahlen, die ich gewichtehebend im Fitnessstudio verbracht hatte. Ich konnte nur hoffen, dass Kelly und die anderen Mädchen vom Anblick meines geschwellten Bizeps nicht zu überwältigt waren und vergaßen, dass ein empfindsames, schmächtiges Strichmännchen von einem Jungen unter dieser beeindruckenden Muskelmasse steckte.

»Tut mir leid, wenn ich jetzt so einfach Schluss mache, aber ich muss auflegen. Ich komme direkt aus der Dusche und tropfe hier den ganzen Boden voll.« (Fehlermeldung: Diese Anwendung wird aufgrund eines ungültigen Vorgangs geschlossen.)

»Ismael? Bist du noch dran, Ismael?«

»Was? O ja, ja … ich bin noch da.« Obwohl das eigentlich nicht stimmte. Eigentlich war ich weit weg in Fantasien und spielte mit Schlüsselwörtern.

»Na, dann sehen wir uns bei Sally. Tschüs, Ismael … oder soll ich lieber Paddy sagen?«

»Nein … nein, nenn mich Ismael.«

»Klar«, sagte Kelly Faulkner kichernd, bevor sie hinzufügte, »bis bald.«

»Tschüs …«

Ich legte auf und betrachtete meine Checkliste. Kelly – Ismael – Party. Ja, es hatte geklappt wie am Schnürchen. Hoffentlich hatten die Leute von Mission Impossible mitgehört. Wahrscheinlich würden sie mich als Chef für ihr Büro in Australien anheuern. Na ja, vielleicht auch nicht, aber juckte mich das? Kelly – Ismael – Party. Damit war alles gesagt. Alles. In ungefähr drei Wochen würde ich auf eine Party gehen, und Kelly Faulkner würde auch dort sein. Alles würde wunderbar laufen, sagte ich mir.

Dies war wohl der Augenblick, in dem ich mich bei den Anonymen Optimisten hätte anmelden sollen. Ich hätte mich mit Leuten treffen können wie diesem Typen aus King Kong, der sagte: »Klar bringen wir den riesigen Killeraffen nach New York – was kann da schon schiefgehen?«

3

Es entspannt angehen

»Sie hat dir gesagt, dass sie nur mit einem Handtuch bekleidet ist?«

Wir waren in unserem Klassenzimmer. Es war Montagmorgen, der erste Schultag der zehnten Klasse am St Daniel’s Boys College, und einer nach dem anderen trudelten die Schüler langsam ein.

Ich unterbrach das Auspacken meiner Tasche und betrachtete die beiden Augen und den großen Mund, die vor mir schwebten wie drei Fünftel der olympischen Ringe.

Sie gehörten Orazio Zorzotto alias Razz, Razza oder Razzman (nur ein armer, irregeleiteter Narr benutzte jemals den Namen Big Z).

»Direkt gesagt hat sie es nicht. Sie hat nur gesagt, dass sie den ganzen Boden volltropft.«

»Mann, wenn sie gerade aus der Dusche kam und den Boden volltropfte, dann hatte sie entweder nur ein Handtuch an, oder sie war … Maannnnnnn! Du bist dabei! Du spielst mit. Mach die Klappe zu, Alter – du hast es geschafft. Du bist angekommen!«

»Razz, wovon redest du?«

»Glaubst du etwa, sie stand zufällig unter der Dusche, als du angerufen hast?«

»Ja.«

»Na ja, kann schon sein. Aber glaubst du, sie hat nur zufällig erwähnt, dass sie halb nackt ist?«

»Aber das hat sie doch gar nicht gesagt.«

»Hör zu, Ismael. Du redest hier mit dem Razzman – mit Big Z, und ich kenn mich aus mit Frauen, klar?«

Doch genau darüber ließ sich streiten. In der Tat redete Razza viel über »Frauen«, und er dachte offensichtlich oft an »Frauen«, aber ob er sie wirklich »kannte«, etwas über sie »wusste«, darüber war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Diese stichhaltigen Einwände wollte ich gerade vorbringen, als er fortfuhr.

»… und ich sage dir, Frauen tun das. Sie senden dir eine subtile Botschaft. Da musst du deinen Radar ausfahren. Du musst diese Dinge aufgreifen. Meinst du, wenn sie ihren Gemeindepfarrer an der Strippe gehabt hätte, dann hätte sie gesagt: ›Hallo, Herr Pfarrer, nett mit Ihnen zu plaudern. Ist Ihnen übrigens klar, dass ich splitternackt hier stehe?‹ Nie im Leben! Mensch, sie fährt total auf dich ab. Du bist echt dran, Alter!«

»Razz, ich habe den Eindruck, dass du ein bisschen übertreibst.«

Was sagte ich da? »Übertreiben« war Razzas Normalzustand. Das war so, als wollte ich einem Hurrikan erklären, dass er ein bisschen zu stürmisch ist.

»Du wirst es erleben, Mann. Warte bis zur Party. Du und Kelly Faulkner – geil!«

Auf dem Stuhl neben mir trommelte Orazio Zorzotto einen Wahnsinnsrhythmus auf den Deckel seines Pultes, während sein Kopf ruckartig vor und zurück wackelte und seine Beine wie ein Zwillingspresslufthammer auf und nieder hüpften.

»Hör mal, Razza … wegen der Party … dreh nicht so auf … verstehst du … dreh einfach nicht so auf mit dieser Du-und-Kelly-Faulkner-Geschichte. Okay? Ich meine, mach nicht so eine große Sache draus, ja? Ich möchte nur, dass sie ausnahmsweise mal denkt, ich wäre normal. Also … führ dich nicht auf wie ein … na, du weißt schon … Verrückter oder so.«

Razza hörte auf zu trommeln und fuhr sich mit den Fingern durch seinen wirren schwarzen Filz, sodass die Haare nach allen Richtungen abstanden. »Schon verstanden. Du möchtest, dass ich eher zurückhaltend bin … ein bisschen … unauffällig … es eher entspannt angehen lasse.«

»Ja … entspannt. Das wäre gut.«

Razza zog die Augenbrauen hoch, schob die Unterlippe vor und nickte nachdenklich. »Ja … klar … Keine Sorge. Ich seh das ganz gelassen.«

»Danke«, sagte ich, und die Anspannung wegen der Party ließ langsam nach, und zwar ungefähr fünfzehn Sekunden lang. Als ich mich hinüberbeugte und die restlichen Bücher aus meiner Schultasche nehmen wollte, traf mich ein heftiger Schlag in die Rippen. Ich wirbelte herum und schaute direkt in Razzas grinsendes Gesicht.

»Ey … Kelly Faulkner«, sagte er, streckte die Zunge heraus und hechelte. »Was meinst du?« Meine Rippen erlitten einen weiteren Anschlag. »Du und Kelly Faulkner? Kelly Faulkner«, wiederholte er wie ein geisteskranker Hypnotiseur, während seine Augen groß wurden wie zwei Satellitenschüsseln. »Du bist der Hammer, Ismael«, sagte er und boxte mich gegen die Schulter. »Stell dir vor, du und Kelly Faulkner … du und die Kel-ster … die Kel-meister … die Kelen-heimer!«

Razza schrie diese letzten Worte heraus, als würde er einen Boxkampf ankündigen, begleitet von einem so gewaltigen Trommelwirbel auf sein Pult, dass alle in der Klasse innehielten und auf seine Hände starrten, deren Konturen durch die raschen Bewegungen verschwammen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis entweder Razza oder das Pult zerbarsten und in Flammen aufgingen. Aber dann …

»Mr Zorzotto! Schluss damit!«

Augenblicklich verwandelte sich der Raum in eine lebende Ausstellung von Wachsfiguren, die Madame Tussaud vor Neid das Wasser in die Augen getrieben hätte. Jeder Laut, jede Bewegung, jeder Atemzug, jeder Lebensfunke war von einem schwarzen Loch aufgesogen worden, das drohend in der Tür aufragte: Mr Barker, der stellvertretende Schulleiter, funkelte Razza wütend an, und Razzas Hände erstarrten nur wenige Zentimeter über der Tischplatte.

»Normalerweise versuche ich es zu vermeiden, gleich am ersten Tag des neuen Schuljahres jemanden zu exekutieren, Mr Zorzotto«, sagte er mit grummelndem Knurren. »Das verunsichert die jüngeren Schüler. Da ich Sie aber für einen ganz besonderen Fall halte, bin ich bereit, eine Ausnahme zu machen.«

Wenn Mr Barker so die Worte ausspuckte, musste ich immer daran denken, wie ein Auto in einer stählernen Schrottpresse langsam zu Altmetall zerquetscht wird.

»Ich sage Ihnen also in aller Deutlichkeit, Mr Zorzotto: Wenn Sie auch nur Ihren kleinen Finger ein einziges Mal in die Nähe der Tischplatte bringen, werden Sie etwas erleben, das die unaussprechlichen Schrecken der spanischen Inquisition wie eine wohltuende Massage erscheinen lässt. Verstehen wir uns?«

Razza bewegte den Kopf langsam auf und ab, als ob er wüsste, dass eine einzige falsche Bewegung den sofortigen Tod bedeutete.

»Bestens«, bemerkte Mr Barker, ließ seinen zornigen Blick noch einmal über die ganze Klasse schweifen und stolzierte hinaus.

Ich wartete ein paar Sekunden, dann atmete ich geräuschvoll aus. Um mich herum machten sich erste Lebenszeichen bemerkbar. Ich schaute zu Razza hinüber. Er hatte noch keinen Muskel gerührt.

»Razza, er ist weg.«

Er drehte sich steif zu mir um. Seine Miene war leer wie ein unbeschriebenes Blatt, und seine Arme schwebten immer noch wie die eines Zombies vor ihm in der Luft.

»Razza? Alles in Ordnung?«

Einen Augenblick lang passierte nichts, dann verzog sich der Mund vor mir zu einem anzüglichen Grinsen, und ein Augenpaar leuchtete auf wie verrückt gewordene Diskokugeln. »Kelly Faulkner«, flüsterte Razza, »die große Kelhuna!«

Dann schlug er den Rest seines furiosen Trommelwirbels auf meinen Kopf.

Tja … wir gingen es entspannt an … Der Razzman war da ganz gelassen.

4

Fisch-Wal und

die Debatten-Junkies

»Sag mal, wo steckt eigentlich Scobie?«, fragte Razza, nachdem er aufgehört hatte, meinen Kopf als Bongotrommel zu missbrauchen.

Das hatte ich mich auch schon gefragt. »Keine Ahnung. Eigentlich sollte er vom ersten Tag an da sein.«

Noch ein paar Jungen schlenderten ins Klassenzimmer, unter ihnen auch Ignatius Prindabel.

»He, Prindabel, alter Freund«, rief Razza.

Eine dünne, gebeugte Gestalt sah auf, nickte und schritt mit ungelenken Bewegungen auf uns zu. »Leseur. Zorzotto«, sagte die Gestalt, schob die Fäuste in die Taschen und musterte uns schweigend, als wären wir Proben in einem Labor.

Razza hob die Hände. »Wow, immer mit der Ruhe, wie wär’s, wenn du gelegentlich auch mal jemand anderes zu Wort kommen lassen würdest?«

Ignatius sah Razza an wie immer: als ob er ein bizarres abstraktes Gemälde betrachtete, dessen Absicht und Bedeutung sich ihm völlig entzogen. Ich konnte ihm das nicht zum Vorwurf machen. Die beiden hatten wenig gemeinsam. Razz befand sich irgendwo »da draußen«, während Ignatius eher »den Gang entlang, die Treppe hinunter, in der hintersten Ecke des Kellers« steckte.

»Raus mit der Sprache, Prindabel, was für aufregende Dinge hast du in den Ferien angestellt? Deinen Taschenrechner dampfgestrahlt? Oder vielleicht die Enzyklopädien desinfiziert? Oder für die Hauptrolle in der hiesigen Musicalproduktion von Die Rache der Eierköpfe geprobt?«

»Eigentlich«, sagte Prindabel, »habe ich beim Sommerschulprogramm der Junior University Kurse in Mathe und Naturwissenschaften belegt.«

»Klar hast du das gemacht«, antwortete Razza. »Ich wollte das eigentlich auch machen, aber dann fand ich, dass es lustiger wäre, wenn ich mir Bambustriebe unter die Fingernägel stecke und ihnen beim Wachsen zusehe.«

Ohne Razza auch nur im Geringsten zu beachten, wandte sich Prindabel an mich: »Wusstest du, dass sie an der Central Missouri State University gerade die größte Mersenne-Primzahl identifiziert haben? Sie hat 9,8 Millionen Stellen. Das ist zwei hoch 32582657 minus eins. Um das auszurechnen, brauchten sie 700 Computer! Kannst du dir das vorstellen?«

Ich schüttelte den Kopf. Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen.

»Mensch, Prindabel, du gehst bei einem Date bestimmt ab wie Dynamit«, bemerkte Razza. »Liebling, willst du meine Mersenne-Primzahl wissen? Stell dir vor, sie hat 9,8 Millionen Stellen.«

Ignatius warf Razza noch einen seiner »Abstraktes-Gemälde-Blicke« zu, zuckte die Achseln und sah sich im Klassenzimmer um. »Scobie fehlt.«

»Super, Sherlock«, lobte Razza. »Wie bist du darauf gekommen? War es die Tatsache, dass er nicht da ist? Du solltest deinen eigenen CSI-Ableger bekommen. CSI Freak.«

In diesem Augenblick trottete die massige Gestalt von Bill Kingsley in das Klassenzimmer. »Billy-Boy, hier rüber zu uns. He, hast du eine Diät gemacht, oder was?«

»Vielleicht.«

»Eine Pizza- und Filmmarathon-Nacht bei dir zu Hause wäre mal wieder angesagt. Weißt du, Billbo, wenn du noch mehr abnimmst, dann stufen sie dich auf einen kleinen Planeten zurück. Und dann ist Vorsicht geboten. Du hast gesehen, was mit Pluto passiert ist.«

Bill lächelte schwach. »Wo ist Scobie?«

»Das ist noch nicht ganz raus, aber bald wissen wir mehr. Prindabel leitet die Ermittlungen am Tatort. Er wartet noch auf die Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin.«

Eine Rauferei an der Tür erregte unsere Aufmerksamkeit. Doug Savage und Danny Wallace kämpften um einen Ball. Schließlich riss Danny ihn an sich und stürmte, mit Doug dicht an den Fersen, nach hinten ins Klassenzimmer.

Wenige Augenblicke später erschien ein stabil gebauter Junge mit einem Helm blonder Haare und gefletschten Zähnen. Kennt ihr schon Barry Bagsley, den talentierten Sportler, Profi-Tyrannen, König der Herabsetzung und Diktator vom Dienst? Er inspizierte das Klassenzimmer und drängte sich dann durch eine Gruppe von Jungen hindurch auf Danny und Doug zu, die sich fröhlich in der letzten Reihe gegenseitig boxten. Leider blieb er stehen, als er uns erreichte.

»Na, wenn das nicht unsere berühmten Diskutiermädels sind – der Fisch-Wal und die Debatten-Junkies.«

Debatten-Junkies, das war neu. Barry hatte in den Ferien offenbar an seinen Fertigkeiten gearbeitet. Dann sah er Bill an und lächelte höhnisch.

»Weißt du, Kingsley, es heißt doch: Du bist, was du isst. Und was hast du gegessen? Eine Herde Schweine?«

Bill senkte den Blick, sagte aber nichts.

»Und was ist dein Lieblingsessen, Zor-schiss-to? Dörrfleisch?«

Barry Bagsleys Lächeln ging in ein Zähnefletschen über. »Na, will unser Komiker etwas sagen? Weißt du, Or-Arsch-io, du solltest sehr vorsichtig sein. Sonst kriegt eines Tages jemand deine Späße in den falschen Hals und schlägt dir die Nase zu Brei.«

»Ich versuche nur, ein bisschen Sonne in eine triste und undankbare Welt zu bringen«, meinte Razza lächelnd.

Barry löste seinen Blick langsam von Razza und sah mich an: »Und was meinst du, Pisseur? Nichts, wie immer? Ich hab unsere kleine Unterhaltung am Ende des letzten Schuljahrs nicht vergessen. Sieht so aus, als hättest du eine anständige Rückzahlung zu erwarten.« Er blickte sich im Klassenzimmer um. »Noch kein Scobie da, Schisseur? Hinter wessen Rockzipfel wirst du dich verstecken, wenn er nicht auftaucht?«

»Ich verstecke mich nicht«, brachte ich murmelnd hervor.

»Mutige Worte, Stinkstiefel.« Barry lachte. »Aber wir schauen uns das an, das verspreche ich dir. Hundertprozentig.«

Alle sahen zu ihm hin, als er nach hinten ins Klassenzimmer ging, Danny Wallace den Ball wegnahm und ihn auf einem Finger kreiseln ließ.

»Mann, ich hatte schon ganz vergessen, wie sehr mir Barrys aufmunternde Worte gefehlt haben«, bemerkte Razza. »Erst jetzt bin ich wirklich bereit, mich dem Tag zu stellen!«

»Pass lieber auf, was du sagst, Razz. Ich glaube nicht, dass das mit der Nase ein Scherz war.«

»Mensch, ich bin doch nicht blöd. Bagsley ist blöd, aber er ist kein Idiot.«

»Was?«

»Er wird doch nicht wirklich jemanden schlagen, oder? Jedenfalls nicht in der Schule. Mensch, stell dir bloß vor, was dann los wäre. Was meinst du, was Barker mit ihm machen würde nach all dem Mist, den er schon gebaut hat. Wahrscheinlich würden sie ihn rausschmeißen. Bagsley weiß das. Nein, wenn der jemanden verhauen will, dann irgendwo außerhalb der Schule, an einem einsamen Ort.«

»Ich würde ihn trotzdem nicht zu sehr reizen.«

»Ja, schon gut, aber was ist mit dir, Alter? Was hat er da für einen Mist geredet, von wegen ›zurückzahlen‹ und so? Was hast du ihm überhaupt getan?«

»Nichts.«

Das stimmte keineswegs. Aber ich hatte keine Lust, über die Schulversammlung am Ende des Jahres zu sprechen, als ich gedroht hatte, Barry Bagsley als Mobber bloßzustellen, weil er Bill das Leben zur Hölle machte. Damals hatte ich zu ihm gesagt, dass ich mich nicht mehr vor ihm verstecken würde, dass ich mich im nächsten Jahr selbst verteidigen würde. Tja, jetzt war nächstes Jahr, und ich hatte Mühe, mir vorzustellen, dass ich das tatsächlich tat. Mir dagegen vorzustellen, wie ich mit zu Brei geschlagener Nase aussah, war ein Kinderspiel.

Ich schaute verstohlen zu Barry Bagsley hinüber. Er kippelte mit seinem Stuhl gefährlich weit vor und zurück und schlug dabei mit dem Kopf leicht gegen die rückwärtige Wand des Klassenzimmers. Ich fragte mich, was in diesem Kopf wohl vorging. Wahrscheinlich grübelte er gerade über neue Formen des genussvollen Zeitvertreibs nach – erweitertes Stören des Unterrichts, beiläufiges Foltern, angewandter Rufmord, kreative Körpergeräusche. Aber vielleicht dachte er auch nur wie alle andern darüber nach, wo James Scobie steckte.

Das musste man Scobie lassen. Er ging seit weniger als einem Jahr auf das St Daniel’s, aber in dieser Zeit hatte er es mit Barry Bagsley aufgenommen und ihn bezwungen, hatte unsere am unteren Tabellenende dümpelnde Oberstufen-Rugbymannschaft zu einem famosen Sieg über den Erzrivalen Churchill Grammar geführt und im Alleingang die erste Debattiermannschaft in der Geschichte der Schule bis in die Endrunde gebracht. So hatte er eine Art Kultstatus erreicht und stand in dem Ruf, keine Angst zu empfinden. Nicht einmal das Schreckgespenst eines Hirntumors, weswegen er das letzte Vierteljahr verpasst hatte, konnte ihm etwas anhaben. In der testosterongeschwängerten Atmosphäre des St Daniel’s Boys College konnte man nicht größer werden, als James Scobie es war.

»Wow, heute ist mein Glückstag. Zuletzt habe ich so viele schöne Gesichter gesehen, als ich mich in die Endausscheidung der Junggesellenwahl des Jahres geschmuggelt habe.«

Miss Tarango lächelte uns strahlend an – Doppelgrübchen, glänzende blonde Haare und schimmernder Strandferienteint. Gab es jemals einen besseren Anblick vor einer Klasse?

»Willkommen zurück in der Schule, Jungs. Was meint ihr, können wir loslegen? Danny, wie wär’s, wenn du deinen Ball in deine Tasche packen würdest, bevor er verloren geht … auf Dauer. Ruhe jetzt. Schon besser. Also, meine Herren, bevor ich euch unter einem veritablen Berg von Verwaltungskram begrabe, möchte ich sagen, wie sehr ich mich freue, dass …«

Miss Tarango hielt inne und drehte sich zur Tür, wo auf einmal ein kleiner, blasser Junge aufgetaucht war. Alles an ihm war ordentlich, gerade und hineingestopft. Er sah aus wie ein Grundschüler, der Verkleiden spielt. Lange graue Kniestrümpfe bedeckten seine Beine von den spiegelblanken Schuhen bis zu seinen knubbeligen Knien, und eine sorgfältig gebügelte kurze Hose saß weit hochgezogen über der kleinen Rundung seines Bauches. Hinter den schmal eingefassten, runden Brillengläsern, die auf seinen roten und ein wenig rundlichen Backen saßen, schauten zwei dunkle Pupillen ruhig geradeaus. Dann kniff er die Augen zusammen und riss sie wieder auf, während seine Lippen einen bizarren Kreis beschrieben, als wollten sie seinem Gesicht entkommen.

Miss Tarango legte die Hand über ihre Brust: »Jungs, das ist ein Anblick, bei dem es uns warm ums Herz wird«, sagte sie, und ein Chor aus Grüßen und Jubel erschallte in dem Klassenzimmer, als James Scobie lächelnd hereinwatschelte.

5

Das Wort mit »S«

»He, Scobie. Wie ist es, wenn einer einem im Hirn rumwühlt?«

Die Klassenlehrerstunde war vorbei, und wir bereiteten uns auf die nächste Stunde vor. Miss Tarango hatte das Klassenzimmer schon verlassen, und Barry Bagsley sonnte sich nach seinem ersten Schuss gegen Scobie im anerkennenden Grinsen von Danny Wallace und Doug Savage.

Scobie sah auf. »Empfehlenswert ist es nicht, so viel kann ich sagen. Aber du musst dir darüber keine Gedanken machen. Dein Gehirn ist sicher. Ich glaube nicht, dass es schon so starke Elektronenmikroskope gibt.«

Barry Bagsleys Stirn wurde dunkel wie eine Gewitterwolke. »Bleib mir bloß vom Leibe, ja? Ich will mir nichts von dir einfangen.«

»Keine Sorge«, antwortete Scobie liebenswürdig. »Wissenschaftlich gesehen spricht nichts dafür, dass eine Übertragung vom Menschen auf Tiere möglich ist.«

Wenn es zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen James Scobie und Barry Bagsley kam, bestand kein Zweifel, wo die Massenvernichtungswaffen lagerten. Aber Scobies Macht über Barry beruhte nicht nur auf seinen sprachlichen Fähigkeiten oder gar darauf, dass die Rugbymannschaft First Fifteen ihn als Maskottchen adoptiert hatte, weil sein Gedicht sie im vergangenen Jahr zum Sieg über Churchill Grammar getragen hatte. Nein, sie beruhte vielmehr auf seinem völligen Mangel an Angst und seiner standhaften Weigerung, klein beizugeben. Scobies Retourkutsche gegen Barry Bagsley wirkte wie ein Maulkorb bei einem tollwütigen Hund.

Abgesehen davon, dass der Tyrann vorläufig gebändigt war, begann das neue Schuljahr im St Daniel’s Boys College eigentlich so wie immer. Zuerst lauschten wir den üblichen Ansprachen darüber, dass dieses Jahr »entscheidend« sein würde und dass wir uns »von Anfang an« in unsere Studien »hineinknien« müssten. Dann umrissen die Fachlehrer die Themen, die wir bearbeiten würden, und bemühten sich dabei, sie weitaus interessanter erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich waren, und so wichtig für unser zukünftiges Leben wie die Fähigkeit zu atmen. Wie sich zeigte, hatte Miss Tarango es in dieser Hinsicht am schwersten.

»In diesem Schuljahr, Jungs, werden wir uns außer mit einer Klassenlektüre und einer kurzen Einheit zum Thema Medien vor allem mit Gedichten beschäftigen.«

Stöhnende Laute erschollen, Augen quollen hervor, Stirnen wurden gerunzelt, Köpfe gesenkt, und die ganze Klasse sackte zusammen, als hätten alle gleichzeitig einen Schlag in die Magengrube bekommen. Ignatius Prindabel machte ein Gesicht, als hätte ihm gerade jemand angekündigt, dass ihm durch den Rücken hindurch der Blinddarm rausgenommen werden soll.

Miss Tarango lächelte honigsüß und redete ungerührt weiter: »Ja, in diesem Schuljahr bietet sich uns die Chance, zu erkunden und zu erfahren, wie mächtig und kreativ Sprache ist. Wir schauen uns alles an, von Songtexten und Rap bis zu den klassischen Formen der Dichtkunst. Beginnen wollen wir mit Shakespeares Liebessonetten.«

Die Klasse erstarrte und sah Miss Tarango entsetzt an. Sie hatte das Wort mit S ausgesprochen. Ignatius Prindabel wurde weiß und presste seinen Taschenrechner an die Brust, als ob jemand gedroht hätte, ihm seinen Lieblingsteddy wegzunehmen.

Razza fand als Erster die Sprache wieder: »Shakespeare! Wozu brauchen wir den denn? Gedichte sind schlimm genug. Können wir uns nicht wenigstens an die modernen halten? Warum muss es Shakespeare sein, Miss?« Heftiges Kopfnicken und zustimmendes Murmeln erfüllten den Raum.

Miss Tarango hob die Hände, schloss die Augen und wartete, bis es still wurde. Als es so weit war, öffnete sie die Augen, lächelte Razza an und holte tief Luft.

»Um deine Frage zu beantworten«, sagte sie ruhig. »Wir behandeln Shakespeare, Orazio, weil wir einen großen Geist feiern wollen. Wir behandeln Shakespeare, weil wir uns mutig und scharfsinnig auf die Suche nach dem Schönen und Wahren begeben. Kurz gesagt, Orazio, wir behandeln Shakespeare, weil wir das Leben und die Sprache lieben.«

Einen Augenblick lang wirkte Razza von Miss Tarangos Stimme wie hypnotisiert. Dann riss er sich los und ließ den Blick über die Klasse schweifen. »Wir klingt nicht sehr nach uns.«

»Wer weiß, Orazio«, sagte Miss Tarango mit hochgezogenen Augenbrauen, »vielleicht werden wiruns überraschen.«

Razza warf einen Blick auf die andere Bankreihe, wo Jarrod McGucken schielend versuchte, einen Pickel auf seiner Nasenspitze auszudrücken.

»An Ihrer Stelle würde ich meine Erwartungen nicht zu hoch schrauben, Miss«, meinte Razza.

Aber Miss Tarango wollte davon nichts hören. »Kommt, Jungs«, bat sie. »Lasst mich nicht im Stich. ›Wir sind die Männer von St Daniel’s‹ – wisst ihr noch – ›unbeugsam wie Fels‹ und so weiter. James, du bist auf meiner Seite, oder? Was ist für dich der Knüller bei Shakespeare?«

Scobie vollführte die üblichen Grimassen und Gesichtsverrenkungen und gab dann seine wohlüberlegte Antwort: »Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem, Ich werde nimmer seines Gleichen sehn.«

Miss Tarango presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, sodass wie von Zauberhand ihre Grübchen erschienen. Dann zeigte sie mit großer Geste auf die kleine Gestalt vor ihr: »Welch ein Meisterwerk ist Scobie! wie edel durch Vernunft! wie unbegrenzt an Fähigkeiten! in Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig!«

James Scobie zog nervös am Knoten seiner Krawatte, fuhr sich leicht mit der Hand über die perfekte Welle seiner nach hinten gegelten Haare, rückte vorsichtig seine Brille zurecht und errötete. Miss Tarango lächelte nur. Wir anderen versuchten herauszubekommen, worüber zum Teufel die beiden da geredet hatten. Was immer es war, Miss Tarango hatte offenbar neue Energie und neuen Schwung daraus geschöpft.

»Ja, das ist Shakespeares Dichtkunst, Jungs, in all ihrer Pracht und Herrlichkeit«, sagte sie mit leuchtenden Augen. »Versucht’s doch mal!«

6

Ein Geschöpf

des Universums

Und Miss Tarango tat ihr Möglichstes. Schon in der nächsten Stunde tauchten die ersten Plakate auf. In großen roten Druckbuchstaben stand da:

… wir sind

das was wir sind;

von gleichem Sinn und Mut,

vom Zeitgeschick geschwächt, doch stark im Will’n

zu streben, suchen, sehn – und nie zu ruhn.

»Ulysses«, Alfred Lord Tennyson

Aber das war erst der Anfang. Im Lauf der folgenden zwei Wochen pflasterte Miss Tarango jeden freien Quadratzentimeter der Wände in unserem Klassenzimmer mit Postern und Ausdrucken von Gedichten zu. Prindabel war schließlich so durcheinander, dass er während der Schulstunden immer wieder nervös zu ihnen hinüberspickte, als wären sie eine Schar wütender Regenpfeifer, die gleich angreifen wollten. Nach zwei Wochen waren die Wände so voll mit Wörtern, als wäre in einer Bibliothek eine Bombe explodiert.

Am Freitag vor Sally Nofkes Party entrollte Miss Tarango ein großes Plakat mit schnörkeligen Buchstaben und Blattgold und befestigte es an der Vorderseite des Lehrerpults. Es war ein Gedicht mit dem Titel »Desiderata«, was, wie Miss Tarango uns erklärte, bedeutete: »Dinge, die man sich wünscht.« Ich dachte an die Party am Samstagabend. Ich wusste, was ich mir wünschte.