Jack der Aufschlitzer - Victor von Falk - E-Book

Jack der Aufschlitzer E-Book

Victor von Falk

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Beschreibung

Die Öffentlichkeit weiß bis heute nicht, wer als Jack the Ripper um 1890 auf den Straßen Londons zahlreiche Frauen ermordete. Dabei ist die Identität des Mörders längst enthüllt. Durch einen glücklichen Zufall gelang es Victor von Falk bereits 1908, Einsicht in die streng geheimen Polizeiakten zu nehmen. In diesem Roman enthüllt der Wiener Schriftsteller die wahre – überaus frappierende – Geschichte von Jack dem Aufschlitzer, schildert die spektakulärsten Morde und leuchtet die psychologischen Hintergründe aus. Drastisch, einfühlsam – und natürlich frei erfunden.

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JACK DER AUFSCHLITZER

DAS BLUTIGE GEHEIMNIS LONDONS

KriminalromanvonVictor von Falk

Herausgegeben und benachwortet von Mirko Schädel

Jaron Verlag

Victor von Falk ist eines der Pseudonyme des Schriftstellers und Verlegers Hans Heinrich Sochaczewski, 1861–1922, der auch unter den Namen Harry Scheff, Heinrich Büttner und weiteren Pseudonymen kolportageartige Romane veröffentlichte.

Der Herausgeber Mirko Schädel, Jahrgang 1967, beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte der Kriminalliteratur. Er veröffentlichte die Titel Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur im deutschen Sprachraum von 1796–1945, 2006; Bibliophilie für Amateure, oder: Auf den Spuren einer verloren gegangenen Kultur der Bücher. Ein Dutzend Weltliteraten und ihre Editionsgeschichte in Deutschland, Privatdruck 2018; Spannung 90 Grad. 333 ausgewählte Schutzumschläge der deutschen Spannungsliteratur von 1912–1942, Privatdruck 2018; und der Titel Eine illustrierte Geschichte der Kriminalliteratur von 1790–1945 befindet sich in Arbeit.

Zu dieser Ausgabe:

Grundlage des Textes ist die 1. Auflage, die unter dem Titel »Jack der Aufschlitzer – Das blutige Geheimnis Londons« 1908 im A. Weichert Verlag, Berlin erschienen ist. Die Rechtschreibung wurde größtenteils der heute üblichen angepasst, offensichtliche Fehler wurden verbessert, manche Eigenarten und Altertümlichkeiten aber auch beibehalten.

Herausgegeben von Mirko Schädel

Erschienen erstmals 1908 im A. Weichert Verlag, Berlin

1. Auflage 2022

Jaron Verlag GmbH, Berlin

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Henning Lindeke

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-95552-060-1

INHALT

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel: Rätselhafte vorgänge

3. Kapitel: Ellen tric

4. Kapitel: Ein opfer des berufs

5. Kapitel: Die frau des briefträgers

6. Kapitel: Doktor remember

7. Kapitel: Eine amtliche anfrage

8. Kapitel: Ein bild des wahnsinns

9. Kapitel: Kellnerin und lady

10. Kapitel: Das gestohlene herz

11. Kapitel: Ahnungen werden zur gewissheit

12. Kapitel: Das ende der soubrette

13. Kapitel: Jack der aufschlitzer

Nachwort

VORWORT

Geheimnisvolle Verbrechen hat es zu allen Zeiten gegeben – geheimnisvoll nicht nur, weil sie niemals aufgeklärt wurden, sondern weil ihnen vom ersten Moment an, da sie in Erscheinung traten, die Unlösbarkeit, die Unmöglichkeit, sie zu enträtseln, beinahe auf der Stirn geschrieben stand.

Bei diesem Falle aber, den wir hier behandeln, bei jenem grauenhaften, entsetzlichen Mörder, dessen Taten wir uns zu beschreiben anschicken, handelt es sich in erster Reihe um die Entwirrung der Frage: Verbrechen oder – Wahnsinn?

Denn es gibt gewisse Verbrechen, welche der menschliche Geist so wenig zu fassen vermag, dass er sich davor scheut, sie als Ausgeburt menschlicher Verworfenheit zu bezeichnen, und sich lieber entschließt, sie in das Reich der Pathologie zu verweisen.

So ungeheuerlich, so grauenhaft waren die Taten Jack des Aufschlitzers, jener geheimnisvollen Persönlichkeit, welche zwei Jahre hindurch nicht nur London, nicht nur England, sondern auch den ganzen Kontinent, ja sogar die ganze zivilisierte Welt in Schrecken und Aufregung versetzte.

Unsere verehrten Leser werden sich daran erinnern, dass in den Jahren 1890, 1891 und 1892 die ganze Welt plötzlich durch die Schilderungen von geheimnisvollen Verbrechen bewegt wurde, welche in London geschahen.

Der Tatbestand und der Vorgang bei diesen Verbrechen war in fast allen Fällen – wir sagen fast, denn das Furcht barste ist ein Geheimnis der englischen Polizeiakten geblieben und soll in diesem Bande erst enthüllt werden – war fast immer derselbe.

Man kennt jene unglücklichen Geschöpfe, welche leider in keiner Weltstadt fehlen, jene Schmetterlinge der Nacht, welche die Straßen von London sowohl wie von Paris, von Berlin wie von Wien umschwirren, die Männer umgaukeln und dann um erbärmlichen Lohn der Sünde verfallen.

In London sind die Elendesten dieser Elenden, die Unglücklichsten der Unglücklichen ganz besonders stark vertreten.

Aus sehr begreiflichen Gründen.

Wo Elend ist, da ist Prostitution, wo der junge Magen nach Nahrung schreit, da ist der Leib geneigt, sich hinzugeben.

Es ist traurig, dass wir diese Zeilen niederschreiben müssen, aber jeder Kenner großstädtischer Verhältnisse wird ihre Wahrheit ohne weiteres anerkennen.

Die Prostitution in London ist eine ungeheure, wir möchten beinahe sagen, die Zahl jener unglücklichen Mädchen und Frauen, die des Nachts auf die Straße gehen, ist Legion.

Dieser Abschaum der menschlichen Gesellschaft ist in London fast ausnahmslos in einen Stadtteil zusammengedrängt. Die Polizei achtet darauf, dass sie aus diesem Bezirk nicht herauskommen, oder vielmehr, dass sie wenigstens ihre Wohnstätte in diesem Bezirk aufschlagen.

Denn das ist natürlich nicht zu verhindern, dass sie, sobald die Dunkelheit sich über die Themsestadt niedergesenkt hat, ihre Wohnstätten verlassen und sich dann durch die ganze Stadt verteilen.

Aber man will wenigstens den Anblick ihres täglichen Elends und ihrer täglichen Verworfenheit bei Sonnenschein den Blicken der Menschen entziehen, und deshalb zwingt man sie, sich in der Vorstadt White Cheapel anzusiedeln.

In diesem Bezirk des Verbrechens und der Schande ereignete sich nun am 17. April 1890 ein furchtbares Verbrechen, das man sich zuerst gar nicht erklären konnte.

Aus einem Hausflur erschollen plötzlich laute Hilferufe, aber da die Straßen sehr menschenleer und einsam waren, so dauerte es immerhin einige Minuten, bis einer der vielen in White Cheapel aufgestellten Polizisten in das Haus eindrang.

Ein grässlicher Anblick stellte sich ihm dar.

Auf den Steinfliesen des Hausflures sah er ein junges Weib liegen, dem der Bauch vollständig aufgeschlitzt war.

Aus dem Leibe quollen die Eingeweide hervor; die Sterbende, denn eine solche war es, mit welcher die Polizei es zu tun hatte, schwamm in einer ungeheuren Blutlache.

Im ersten Augenblick glaubte man allerdings, es mit einer jener in London fast täglichen Tragödien zu tun zu haben.

Rache – vielleicht verschmähte Liebe, vielleicht war dieses Frauenzimmer auch eine Genossin eines Diebes gewesen, der sich auf diese Weise ihr Stillschweigen sichern wollte, weil er gefürchtet hatte, dass sie ihn der Polizei verraten würde.

Man stellte die Persönlichkeit der Ermordeten fest, die Recherchen nahmen ihren Gang – doch über den Fall selbst werden wir eingehend im vorliegenden Bande berichten.

Hier sei nur erwähnt, dass drei Tage später sich in einem anderen Hause in White Cheapel genau derselbe Fall wiederholte.

Auch dort wurde ein Mädchen, das der Prostitution ergeben war, genau auf dieselbe bestialische Weise ermordet mit aufgeschlitztem Bauche gefunden.

Einen Tag später eine dritte.

Die Londoner Polizei begann stutzig zu werden.

Wo es sich um einen sogenannten serigen Mord handelt, da liegt immer, wie es in der Kriminalistik heißt, eine prinzipielle Idee zugrunde.

Worin bestand nun diese prinzipielle Idee?

Handelte es sich wirklich um einen Racheakt?

Gab es irgendeinen Unbekannten, der sich vielleicht vorgenommen hatte, die Prostituierten zu vernichten, weil er sie hasste?

Wurde dieses unglückliche Mädchen vielleicht der wenigen Schillinge beraubt, die es soeben durch die Sünde verdient hatte, jenes Geldes, an dem der Fluch der niedergetretenen Menschheit hängt?

Das war die Frage, welche die englische Polizei sich vorlegte, und wir betonen zugleich, dass es ihr lange, sehr lange Zeit nicht gelang, diese schreckliche Frage zu beantworten. Scheinbar ist die Frage:

Wer ist Jack der Aufschlitzer, wer ist die geheimnisvolle Persönlichkeit, die ihre Hände so oft in Blut getaucht hat, und zwar in das Blut der elendesten Wesen auf Erden?

überhaupt noch nicht gelöst.

Die englische Polizei bewahrt darüber ein eisernes Schweigen.

Nur durch einen Zufall ist es dem Verfasser dieses Bandes gelungen, Einsicht in Aktenstücke zu erlangen, die sonst nur den allerhöchsten Beamten der englischen Polizei zugänglich sind.

Und was er in diesen Akten gefunden, jene erschütternde, entsetzliche Tragödie, wird er im vorliegenden Bande wahrheitsgetreu erzählen.

1. KAPITEL

Denn im allgemeinen ist das Familienleben in England nicht gerade glänzend ausgebildet. Das liegt in der schnellen Selbständigkeit, welche die Engländer wie die Amerikaner gewöhnlich erlangen.

Während in Deutschland und in Österreich ein junger Mensch von sechzehn Jahren noch vollständig in der Familie aufgeht und sich gern von der Hand des Vaters leiten lässt, reißt sich der junge Engländer in diesem Alter schon ganz und gar vom Gängelbande los und versucht, seinen eigenen Weg zu gehen.

In der Familie des Kaufmanns Thomas Flint war das anders. Sein einziger Sohn Edgar kannte gar keinen anderen Freund als seinen Vater; zwischen Vater und Sohn bestand das denkbar herzlichste Verhältnis.

Das Gegenspiel erblicken wir in den Beziehungen der Tochter des Ehepaars Flint, der schönen, sechzehnjährigen Fanny, die mit abgöttischer Liebe wiederum an ihrer Mutter hing.

Die beiden Kinder aber hatten auch ein volles Recht, ihre Eltern zu lieben und zu vergöttern, denn man konnte sich unmöglich zärtlichere, sorgsamere und liebevollere Eltern denken, als Thomas Flint und seine Frau es waren.

Sie hatten jung, sehr jung geheiratet. Flint hatte den Mut gehabt, sich mit 21 Jahren schon seinen Ehestand zu begründen, aber er war in diesen Jahren auch allen seinen Altersgenossen weit voraus.

Schon damals verdiente er als Makler auf der Baumwollenbörse in London ein ganz ansehnliches Sümmchen, und überdies brachte ihm seine Gattin ein stattliches Vermögen zu, das sie von ihren Eltern geerbt hatte.

Jetzt zählte ihr Erstgeborener, Edgar, 18 Jahre. Flint selbst war ein Mann von etwa vierzig Jahren, der sich überdies durch sein ungemein solides Leben und vielleicht gerade durch den Umstand, dass er sehr zeitig geheiratet, gut konserviert hatte.

Wenn man ihn so sah, den hohen, breitschultrigen Mann, so hätte man ihm höchstens 30 oder 34 Jahre gegeben.

Er machte auch jetzt noch seine Geschäfte an der Baumwollbörse und hatte es durch Fleiß und Umsicht verstanden, eine der ersten Maklerfirmen zu begründen.

Thomas Flint u. Cie. hatte in der City von London einen guten Klang, und die Wechsel, welche mit diesem Namen unterzeichnet waren, wurden von der Bank of England anstandslos angenommen und diskontiert.

Thomas Flint u. Cie. hieß die Fima, folglich besaß Herr Flint einen Compagnon.

Dieser war ein Herr Patrik O’Donnel, wie sein Name schon besagt ein Irländer von Geburt, der übrigens ein sehr umfassendes Wissen besaß, denn er hatte auf der Universität zu Dublin studiert.

Doch noch bevor er den Doktorgrad erworben hatte, war er des Studiums plötzlich überdrüssig geworden, und da er ein Kapital von 20.000 Pfund Sterling besaß und dasselbe nutzbringend anlegen wollte, so sah er sich nach irgendeiner kaufmännischen Verbindung um, und Thomas Flint nahm ihn zum Sozius auf, denn er konnte zur Erweiterung seines Geschäfts das Geld sehr gut brauchen.

Auch war ihm die jüngere Kraft Patriks sehr erwünscht. War O’Donnel doch ein Mann von 30 Jahren, der also im besten Arbeitsalter des Mannes stand, dazu ein heller Kopf, ein guter Rechner und trotz seiner langen Universitätszeit ein Mann, der mit durchaus praktischen Anschauungen dem Leben gegenüberstand.

Vielleicht wäre es für Thomas Flint praktischer gewesen, sich keinen Sozius zu nehmen, denn er besaß ja eigentlich einen natürlichen Associé in seinem Sohne. Aber Edgar hatte niemals Sinn für das väterliche Geschäft gezeigt. Auch studierte er, und zwar hatte ihn eine leidenschaftliche Neigung zur Medizin geführt.

Mit 21 Jahren kam er aus Oxford zurück mit der Absicht, sich zu Hause für die letzte, entscheidende Prüfung vorzubereiten, dann würde sich auf sein jugendliches Haupt der Doktorhut senken, diese höchste Zierde akademischer Bemühungen, die ganz besonders in England den Abschluss der Studien bildet.

Als Edgar aus Oxford wieder in London eintraf, kam er gerade zurecht, einem schönen Feste in seiner Familie beizuwohnen. Seine Schwester Fanny hatte sich soeben mit Mr. Patrik O’Donnel verlobt. Thomas Flint und seine Gemahlin hatten bereits ihr Lager aufgesucht, Patrik hatte das Haus verlassen, die Geschwister befanden sich noch in dem reizend ausgestatteten Parlour beisammen.

»Fanny«, sagte Edgar und streckte beide Hände aus, »komm einmal her, Fanny.«

»Was willst du, Edgar?«

»Ich habe dich etwas zu fragen. Sieh mir in die Augen, Mädel, und erinnere dich in diesem Augenblick daran, dass wir nicht nur Bruder und Schwester sind, sondern dass wir auch immer die besten Freunde waren, die es auf der Welt gibt, nicht wahr, Fanny, das ist doch so?«

»So ist es, Edgar; aber warum diese feierliche Anfrage?«

»Weil ich von dir hören möchte, wie es gekommen ist, dass ich dich heute als Braut Patrik O’Donnels wiederfinde. So viel mir erinnerlich ist, besaßest du doch nicht einmal eine besondere Vorliebe für Patrik – verzeihe, dass ich dich heute daran erinnere, aber ich möchte eben die Wahrheit erfahren; wie ist es nur geschehen, dass deine Meinung über Patrik sich so ganz und gar geändert hat?«

»Meine Meinung hat sich nicht geändert.«

»Fanny, wäre es möglich, Mädchen, du hättest heute mit Patrik das feierliche Versprechen gewechselt, welches man Verlöbnis nennt, und du liebtest ihn nicht? Denn ich erinnere mich ganz genau, dass Patrik O’Donnel dir anfangs wenigstens geradezu unheimlich war, du nanntest ihn – wie sagtest du doch – ah, ganz recht, einen Svengali-Charakter, indem du dich an jene geheimnisvolle Figur aus dem bekannten Roman ›Trilby‹ erinnertest. Nun, und ist Patrik O’Donnel heute weniger Svengali in Deinen Augen?«

»Er ist in meinen Augen derselbe geblieben, der er war, Edgar, und doch – doch habe ich mich mit ihm verlobt.«

»So hat er dich hypnotisiert; hat er dir vielleicht den Gedanken, ihm angehören zu müssen, durch die Kraft seines Willens eingeimpft?«

»O nein, denn ich fühle sehr deutlich, dass ich gerade das Gegenteil will, als ihn lieben, und fühle auch, dass ich nicht liebe. Von Hypnotismus kann also hier nicht die Rede sein. Aber ich konnte nicht anders. Man hat mich – nein, nein, ich will nicht sagen, gezwungen, aber siehst du, Edgar, es gibt eine gewisse sanfte Nötigung, der man oft viel schwerer zuwiderzuhandeln vermag als den Mitteln entschiedener Gewalt.«

Das junge Mädchen schüttelte ärgerlich das Haupt.

»Und wer, Mädchen, wer sollte in dieser Weise auf dich eingewirkt haben?«

»Ahnst du es denn nicht? Der Vater.«

Jetzt ließ Edgar die Hände seiner Schwester schnell los, trat einen Schritt zurück und stieß einen leichten Schrei schreckensvoller Überraschung aus.

»Der Vater! Mein Vater! Unser Vater!«, rief er aus, »Nein, nein, Mädchen, das ist nicht wahr, das machst du mich nimmermehr glauben! Unser Vater ist ja der beste Mensch von der Welt und hat nur das Glück seiner Kinder im Auge. Und er sollte dich zu einer Heirat überreden wollen, bei der dein Herz nicht mitspricht? Ah, unmöglich!«

»Und doch ist es so, Edgar. Ich habe sehr lange mit mir geschwankt, ob ich dir nicht in einem Briefe alles mitteilen und deinen Rat einholen solle, aber, siehst du, ich wusste, dass du mitten in der Arbeit stecktest und wollte dich nicht davon ablenken, und dann – dann hättest du mir ja nicht raten können, ich hätte dich nur in die Seelenqual hineinziehen können, von der auch ich so viel gelitten habe.«

»Der Vater hat dich also gezwungen?«, rief Edgar, indem er die Brauen düster zusammenzog.

»Nein, Bruder, verstehe mich recht. Er hat mich nicht gezwungen. Der Vater ist ja so gut, aber ich las in seinen Augen die stumme Bitte, ich fand in seinen Zügen das geheime Leiden, welches ihm die Lösung dieser Frage verursachte, und dann – vor einigen Abenden war es, wir waren allein, da trat er plötzlich auf mich zu, ergriff meine Hände und, indem er die Tränen gewaltsam zurückdrängte, flüsterte er mir zu: ›Rette mich, mein Kind, rette mich, erhöre Patrik O’Donnel!‹«

Edgar sank ganz bleich in einen Sessel.

»Steht es so um den Vater! O mein Gott, davon hatte ich ja keine Ahnung. Hat er denn so große Verluste erlitten, dass er sich nur noch durch das Kapital O’Donnels über Wasser halten kann?«

»Es muss wohl so sein«, sagte Fanny. »Siehst du, diese Worte unseres Vaters haben sich tief in meine Seele eingeschrieben, und von diesem Augenblick an war ich entschlossen. Am nächsten Tage kam Patrik, mich zu fragen, ob ich sein Weib werden wolle, und ich antwortete ihm mit einem Ja. Du lieber Gott«, fügte Fanny hinzu, während ihre schönen Augen in Tränen schwammen, »es wäre ja unge recht, wenn wir Menschen vom Himmel die Erfüllung aller unserer Wünsche erwarteten. Es geht eben nicht anders, man muss auf Liebe verzichten und sich ins Unvermeidliche fügen.«

»Nein, Fanny, noch ist nicht alles abgemacht und beschlossen. Ich selbst werde mit dem Vater reden. Vielleicht gibt es doch noch einen anderen Ausweg, als dass du, meine holde Fanny, dem Minotaurus geopfert wirst.«

Schlaflos verbrachte Edgar die Stunden dieser Nacht. Er schloss kein Auge. Und als er sich am nächsten Morgen erhob, stand sein Entschluss fest: Er wollte mit dem Vater ganz offen reden.

Doch nicht im Familienheim konnte diese Unterredung stattfinden, denn vor allen Dingen musste ja der Mutter verborgen bleiben, was den Vater drückte.

Edgar begab sich also nach der City und trat ganz plötzlich und unvermutet in das Privatkontor Thomas Flints ein.

»Wie, du, mein Sohn!«, rief Flint, indem er sich hastig bemühte, einen Brief, an dem er soeben geschrieben hatte, mit dem Löschblatt zu verdecken. »Ich hätte dich nicht erwartet.«

»Vater, ich komme zu dir, Fannys wegen zu sprechen. Sage mir, Vater, ist es wirklich unumgänglich notwendig und kann es nicht vermieden werden, dass sie die Gattin O’Donnels wird?«

Eine schreckliche Veränderung ging in den Zügen Thomas Flints vor. Seine Augen erweiterten sich, und er starrte seinen Sohn an wie ein Sterbender.

»Vergib mir, Vater, wenn ich dich erschreckt habe«, fuhr Edgar fort. »Ich will mich auch keineswegs in deine geschäftlichen Geheimnisse eindrängen, aber beantworte mir die Frage mit einem einfachen Ja oder Nein. Steht es so mit dir, dass du ohne Patrik O’Donnel nicht mehr fertig werden kannst? Würde dein Geschäft zusammenbrechen, wenn Fanny von der Verbindung zurücktritt? Denn, Vater, ich kann es dir nicht verhehlen, sie liebt ihn nicht. Im Gegenteil, sie empfindet eine gewisse Antipathie gegen ihn. Vater, der Gedanke, ein schönes, junges Geschöpf mit einem Manne zu verbinden, der ihr widerwärtig ist, dieser Gedanke hat etwas – ich muss es dir schon sagen – etwas Verbrecherisches an sich.«

Da neigte Flint schlaff das Haupt, und über seine zuckenden Lippen rangen sich die Worte: »Es muss sein, Edgar, höre, mein Sohn, es muss sein, oder wir sind alle verloren!«

Da umschlang Edgar den Vater, küsste ihn auf Stirn und Augen und flüsterte ihm mit leiser Stimme zu: »Nun denn, Vater, so wird es sein; Fanny wird sich dir, wird sich uns allen zum Opfer bringen. Ach, arme, arme Schwester!«

2. KAPITEL RÄTSELHAFTE VORGÄNGE

Es war Edgar durchaus kein Geheimnis, dass seine Schwester Fanny die Heirat, welche sie schließen sollte, nicht nur aus Antipathie gegen Patrik O’Donnel beweinte, sondern weil sie auch eine andere Liebe im Herzen trug. Dieser andere war Fanny schon seit Jahren bekannt, er war ein Schulfreund Edgars gewesen, war um zwei Jahre älter als dieser und diente gegenwärtig als Schiffsleutnant in der Marine der Königin.

Fred Corrigan war ein bildhübscher Junge, der in seiner kleidsamen Marineuniform noch verführerischer aussah. Er war eigentlich ein Wildfang, der es nirgends lange aushielt und der schon die tollsten Pläne für sein Leben geschmiedet hatte.

Zuerst wollte er, wie Edgar, studieren, dann dachte er daran, Schauspieler zu werden, schließlich sprach er davon, dass er sich dem Kaufmannsstande widmen werde, um Fanny schneller erringen zu können, und plötzlich hatte er sich dem Marinedienst gewidmet.

Da er aus guter Familie war, brachte er es sehr rasch zum Schiffsleutnant, und in dieser Eigenschaft befand er sich gegenwärtig an Bord des »Gloster« in den chinesischen Gewässern.

Da wollte es das Unglück, dass gerade drei Tage vor der Hochzeit Fannys mit Patrik O’Donnel der Gloster in den Hafen von Southampton einlief, und selbstverständlich hatte es der Marineleutnant Fred Corrigan sehr eilig, nach London zu eilen, denn dorthin zog ihn sein Herz.

Er hatte ja noch gar keine Ahnung davon, dass Fanny sich verlobt hatte und dass die Hochzeit sehr nahe bevorstand.

Man hatte ihm das nicht mitteilen können, weil man nicht genau wusste, wo der Gloster sich gerade befand.

Die ganze Brautzeit Fannys hatte aber nur drei Monate gedauert, da sowohl O’Donnel wie auch Thomas Flint die Hochzeit mit größter Hast betrieben.

Frau Flint, die wohl ahnen mochte, wie es ums Herz ihres Kindes stehe, hatte zwar allerlei Einwendungen gegen die Schnelligkeit der Heirat erhoben und darauf hingewiesen, dass sie kaum mit der Aussteuer in dieser Zeit fertig werden könnte, aber das hatte alles nichts genutzt – O’Donnel hatte gesiegt, wie er überhaupt jetzt in fast allen Dingen im Hause den Ausschlag gab.

Was Patrik O’Donnel nicht wollte, musste unterlassen werden, was ihm zusagte, wurde getan.

Mit einem Blicke beherrschte er den Herrn des Hauses selbst, der fast niemals wagte, sich gegen den Willen O’Donnels aufzulehnen.

Da aber die ganze Familie Fannys mit abgöttischer Liebe an dem Vater hing, so war es Patrik O’Donnel natürlich ein Leichtes, auch bei jedem einzelnen Familienmitglied seinen Willen durchzusetzen.

Man war im Hause gerade damit beschäftigt, die letzte Hand an die Vorbereitungen für die Hochzeit zu legen. In die Küche waren bereits die Köche eingezogen, welche die Braten vorrichteten und die Fische schuppten, im Keller hantierte ein gewandter Küfer, und im ganzen Hause hörte man Hammerschläge, denn Blumengewinde wurden an die Türen geschlagen, da trat plötzlich Fred Corrigan ein.

Jubelnd umarmte er Edgar, schüttelte dann Thomas Flint die Hand, begrüßte Frau Flint und auch Patrik O’Donnel, der jetzt fast immer zugegen war.

»Ja, wo ist Fanny?«, fragte Corrigan, der sich diese Vertraulichkeit schon im Hinblick auf seine Jugendfreundschaft mit dem jungen Mädchen erlauben durfte. »Ich habe mit ihr allerlei ernste Dinge zu reden.«

»Fanny«, stammelte Frau Flint, die trotz ihrer 39 Jahre immer noch eine stattliche, fast schöne Erscheinung war, »Fanny probiert soeben ihr Brautkleid.«

Corrigan zuckte zusammen und rief: »Habe ich recht verstanden – Fanny probiert ihr Brautkleid? Sie ist also – Braut?«

»Wenn Sie es gütigst gestatten«, ließ sich Patrik mit entschieden spöttischer Stimme vernehmen, »so habe ich mich vor drei Monaten mit Miss Fanny verlobt, und übermorgen findet unsere Hochzeit statt. Es wird uns übrigens ein Vergnügen sein, Sie als Gast unseres Hauses begrüßen zu können.«

Corrigan fasste sich schnell und, indem er sich vor O’Donnel verneigte, sagte er: »Dann gestatten Sie mir, dass ich Ihnen meine Glückwünsche darbringe – und auch Fanny möchte ich zu diesem bedeutungsvollen Schritte gratulieren.«

»Da kommt sie!«, rief Frau Flint aus, und in demselben Augenblick öffnete sich die Tür und, umflossen von einem weißseidenen Brautkleide, das ihre Schönheit nur noch mehr hervorhob und sie überaus reizend erscheinen ließ, trat Fanny ein.

»Mama, du wünschest mich in diesem Kleide zu sehen«, sagte sie, »da bin ich!«

Plötzlich versagte ihr die Stimme, sie wurde blasser als die weiße Seide ihres Kleides, und ein Zittern überlief ihre Gestalt.

»Ich komme soeben von einer weiten Reise zurück«, sagte Corrigan, indem er dicht vor sie hintrat und seine Blicke in ihre Augen versenkte, »und die erste Neuigkeit, welche ich erfahre, ist Ihre Verlobung.«