Jack und Jill - Helen Hodgman - E-Book

Jack und Jill E-Book

Helen Hodgman

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Beschreibung

Ein Roman wie ein Film von David Lynch – abgründig, gefährlich, anziehend

Nach dem Tod der Mutter lebt Jill mit ihrem Vater allein auf einer Farm im australischen Outback. Die beiden führen ein einfaches, aber zufriedenes Leben. Bis eines Tages Jack vor der Tür steht. Misstrauisch beobachtet der Vater, wie die heranwachsende Jill die Nähe des jungen Wanderarbeiters sucht. Doch weder Jack noch Jill haben gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen. Langsam, aber stetig verwandelt sich ihre Liebe in Hass.

Die Geschichte zweier Menschen, die weder zueinander finden noch voneinander lassen können, besticht durch einen unverwechselbaren Ton und eigenwillig exzentrische Figuren. Der Roman wurde bei seinem Erscheinen mit dem Somerset Maugham Award ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 176

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Über den Roman

Nach dem Tod der Mutter lebt Jill mit ihrem Vater allein auf einer einsamen Farm im australischen Outback. Die beiden pflegen kaum Kontakt zur Außenwelt und scheinen sich selbst zu genügen. Bis eines Tages Jack vor der Tür steht. Misstrauisch beobachtet der Vater, wie die heranwachsende Jill die Nähe des jungen Wanderarbeiters sucht. Doch weder Jack noch Jill haben gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen. Als Jill in die Stadt auf die höhere Schule soll, will Jack sie für immer an sich binden. Jill reagiert voller Hass – und wird doch ein Leben lang nicht von Jack loskommen.

Über die Autorin

Helen Hodgman, 1945 in Schottland geboren, zog als Jugendliche mit ihrer Familie nach Tasmanien. 1976 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, der von der Kritik begeistert aufgenommen wurde. Mit ihrem zweiten Roman gewann sie 1978 den Somerset Maugham Award, mit ihrem dritten den Christina Stead Prize. 1983 erkrankte Helen Hodgman an Morbus Parkinson. Sie lebt heute, nach längeren Aufenthalten in England und Kanada, wieder in Australien.

Helen Hodgman

Jack und Jill

Roman

Aus dem Englischen von Anne Rademacher

Knaus

Die Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel »Jack and Jill«

bei Gerald Duckworth & Co., London.

Wiederveröffentlicht 2011 bei The Text Publishing Company, Melbourne

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Helen Hodgman.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Das Zitat aus »Ein Sommernachtstraum«von William Shakespeare entstammt der Übersetzung von Frank Günther.

Covergestaltung: Sabine Kwauka unter Verwendung eines Motivs von Bridgeman / James Gillick

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-12422-9

www.knaus-verlag.de

1

Wilma Limb lag unter angegrautem Bettzeug; sie war so dünn, dass sich das Laken kaum über ihr beulte. Die ungeduldige kleine Jill trommelte ihr mit Patschfingern auf die zusammengekniffenen Augenlider. Das gequälte Fleisch öffnete sich gerade weit genug für ein gelbstichig grimmiges Flackern und fiel gleich wieder zu. Jill wollte mehr Aufmerksamkeit. Sie griff in die schuppige Wange ihrer Mutter und kniff zu. Wilma stöhnte und streckte die Hand nach ihr aus. Sie verzog die Lippen zu einer Schmerzensgrimasse, Schaumbläschen sammelten sich in den Mundwinkeln. Jill flüchtete juchzend in die Küche. Das drahtige Kraushaar umgab ihr rundes Gesicht wie ein schwarzer Heiligenschein und glänzte in der Morgensonne. »Kleine Flaschenbürste«, sagte ihr Vater manchmal zu ihr. An diesem Tag war kein Daddy da, der sie kitzelte und neckte. Er war weg, Zäune flicken.

Trotzig lief Jill auf die Veranda und wartete, dass ihre Mutter sie suchte. Doch sie kam nicht. Sie starb an diesem Nachmittag. Wütend über so viel Vernachlässigung, hüpfte Jill auf dem Bett herum, zog ihre Mutter an den Haaren und krähte ihr erste Worte ins kalt wächserne Ohr.

Bis zum Morgengrauen weinte sie laut neben dem Bett, völlig außer sich vor Angst wegen der kleinen Nachttiere, die übers Dach huschten.

Am nächsten Tag vertrieb sie der Geruch. Erst war er schwach, dann immer stärker. Sie verkroch sich in die schattige Höhle unterm Tisch des großen Zimmers, aß verschimmelte Brotreste und lutschte an den getrockneten Streifen Kängurufleisch, die für die Hunde bestimmt waren. Zum Trinken hatte sie das faulige Wasser im Eimer unter der Küchenspüle. Abends, wenn es dunkel wurde, weinte sie erschöpft vor der Schlafzimmertür. In der Tageshitze flehte sie in Babygebrabbel alle Mächte hinter dem Sonnenschein an, ihren Daddy heimzuschicken.

Vier Tage später kam er bei Sonnenaufgang auf den Hof geritten. Zuerst fiel ihm auf, dass die klapperdürren Hütehunde, die unter der Veranda hausten, verschwunden waren. Die Milchkuh torkelte laut brüllend vor Not durchs Buschland.

Jill fand er schlafend unterm Tisch und verfluchte sich, dass er sie allein gelassen hatte. Er nahm sie hoch. Seine Miene verzerrte sich, als er ihr fleckiges Kleid und das von Dreck und Tränen verschmierte Gesicht sah. Jill öffnete ein Auge. Vor lauter Freude, ihn zu sehen, nässte sie sich ein. Sie lachte ihn an und sah nur noch ihn. Ihr Blick ließ sein Herz schneller schlagen. Er gurrte ihren Namen, sein ganz eigenes, stockendes Morgenkonzert.

»Daddy, oh, Daddy!«, rief sie. Seine Kleine, sein Baby.

Hoch oben am Himmel gellte das Lachen eines Kookaburras durch den Busch, bis es vom Nebelschleier über den fernen Hügeln verschluckt wurde. Das glitzernde Laub raschelte dem Geräusch hinterher. Es hinterließ sehr viel Stille.

Als die kleine Mrs Parker aufblickte von den Flaschen, die sie gerade abfüllte, und Douggie Limb mit seinem Kind im Arm durchs Tor reiten sah, wusste sie gleich, dass etwas passiert sein musste. Sie trat vors Haus und begrüßte die beiden.

Douggie lüftete den Hut, schilderte die Situation und fragte, ob er das Kind über Nacht bei ihr lassen könne. Er wolle sich daheim um alles kümmern.

»Aber natürlich!«, rief die Nachbarin, ganz Sorge und Mitgefühl. Was für eine schreckliche Erfahrung für die arme kleine Motte. Und wie entsetzlich für einen Mann, beim Heimkommen die Frau tot und das Kind halb verhungert vorzufinden.

Vater und Tochter ließen den Mitleidsschwall regungslos über sich ergehen. Kalt wie ein Fisch, dachte Mrs Parker. Und das arme Kind musste nun ganz allein mit ihm da draußen leben.

Mr Parker ritt mit Douggie zurück, um ihm zu helfen. Im Schlafzimmer zögerten sie. Mr Parker vor Verlegenheit und Douggie, weil er nicht wusste, wo er anfangen sollte.

»Sollen wir den Doc holen, oder was?«, fragte Mr Parker. Am liebsten hätte er sich die Nase zugehalten, fand das aber pietätlos.

»Mir scheint’s das Beste, wir beerdigen sie schnell. Alles andere regle ich später.«

Sie wickelten Wilma in ihre Bettwäsche und schleppten sie über den Hof, wobei sie ihnen ständig gegen die Beine schlug. Nichts als Ellbogen und Knie, dachte Douggie – so war sie schon immer.

»Also, wohin nun? Wo sollen wir sie begraben?«

»Ich denke, unten am Bach«, sagte der Ehemann. »Drüben, hinter den Kasuarinen. Warte, ich gehe einen Spaten holen.« Er ließ sein Ende des Bündels in den Dreck fallen und eilte davon.

Ein Paar schmale gelbe Füße rutschte aus den Laken. Mr Parker wandte den Blick ab. Er blinzelte in die Sonne und pfiff leise vor sich hin.

Douggie kam mit dem Spaten zurück. Sie wankten zum Graben hinunter. Der Boden war steinhart, und sie brauchten Stunden, bis sie die Frau begraben hatten. Schweigend und schwitzend suchten sie das Buschland nach größeren Steinen ab, um die Stelle zu markieren.

»Später besorge ich was Anständiges«, sagte Douggie und trampelte die Ränder des Grabs fest.

Mr Parker entschuldigte sich. »Also, wenn ich nichts mehr für dich tun kann, Kumpel, geh ich jetzt besser heim zur Frau. Du weißt ja, wie sie sind.«

»Ist gebongt, Kumpel. Wird schon passen. Morgen früh komme ich vorbei, das Kind holen.«

»Nicht mal ein Bier«, klagte Mr Parker ins zuckende Ohr seines Pferdes.

Douggie riss die Fenster auf und fegte die Fußböden. Als er die abgenagten Krusten unterm Tisch fand, schnalzte er kopfschüttelnd mit der Zunge. Wilmas Kleider verbrannte er hinterm Haus. Er stellte Futter raus, um die Hunde zurückzulocken, versorgte sein Pferd und machte sich selbst etwas zu essen. Als es nichts mehr zu tun gab, streckte er sich vorsichtig auf dem Bett aus. Bei ihren nächtlichen Hustenanfällen war Wilma oft gegen seinen Rücken gestoßen. Er hatte sich am Matratzenrand festgeklammert, um sie nicht aus Versehen zu berühren. An die Ruhe und den Frieden musste er sich erst noch gewöhnen. Er träumte von seiner Kleinen. Eine Vision der Zukunft breitete langsam ein Lächeln über sein Gesicht. Er rollte sich auf die andere Seite und fiel, immer noch grinsend, aus dem Bett.

Am Morgen ritt er in die Stadt und schaute in Angry Harrisons Laden vorbei. Er bestellte, was er brauchte, um eine Weile zurechtzukommen. Während der Ladenbesitzer sein Pferd bepackte, marschierte Douggie die Hauptstraße runter zum Haus des Doktors. Er hielt sich nicht lange auf und ging als Nächstes zum Polizisten, der aber nicht daheim war. Douggie hinterließ eine Nachricht bei der Ehefrau und nahm bei einer Tasse Tee und frisch gebackenem Brot mit Marmelade ihr Mitgefühl entgegen.

Die häusliche Behaglichkeit gab ihm den Rest. Er grübelte über die jüngsten Ereignisse nach. Was hätte er anders machen können?, fragte er sich laut. Allein da draußen mit einer kränkelnden Frau? Schließlich hatte er seine Arbeit. Außerdem wusste er nicht, wie schlecht es um sie stand, sonst hätte er sie niemals allein gelassen.

»Das Leben draußen hat ihr nie gefallen«, vertraute er der drallen Fremden an und kämpfte gegen die paar Tränen, die sich hervorquetschen wollten. Einen Moment lang glaubte er, das Gesicht seiner Frau vor sich zu sehen: Ein trübes, gelb unterlaufenes Auge blinzelte ihn vorwurfsvoll durch die sonnenglühende Spalte in der Jalousie an. Er riss sich zusammen, leckte sich die klebrigen Finger ab und lächelte seine gütig blickende Gastgeberin tapfer über den Tisch an. Als er sich verabschiedete, sah sie ihm augenklimpernd von der schmiedeeisernen Eingangsveranda nach. Er ging zu seinem Pferd und holte seine Tochter ab.

Beim Wegreiten blickten sie einmal kurz zurück, winkten zum Abschied und waren verschwunden. Es blieb nur eine blasse, hellrosa Staubwolke, die anmutig in der Luft tanzte. Dann legte sich auch der Staub, und die Farbe verblasste.

2

Jill war fünf, als sie aufwachte und ihr Vater weg war. Sie rollte sich in seinem Bett zusammen, wickelte die Laken um sich, die so trügerisch nach seinen Achselhöhlen rochen, und schlief weiter, bis er zurückkam.

Im Morgengrauen schlich er auf Zehenspitzen ins Zimmer und weckte sie. »Wie wär’s mit Frühstück, Kleines?«, pustete er ihr ins Ohr. Kein Wort darüber, wo er gewesen war. Sie fragte auch nicht. Er war enttäuscht, dass sie keine Angst gehabt hatte allein.

Trotzdem, in Zukunft wollte er vorsichtiger sein. Ein- oder zweimal die Woche, je nachdem, wie er sich fühlte, stakste sein Pferd, die Hufe in lautdämpfende Zuckersäcke gehüllt, den Weg in Richtung Stadt. Leise klappernd trabten sie am Bach entlang und schlängelten sich durch die frisch gepflanzten Weiden, die verloren zwischen den geringelten einheimischen Hölzern standen.

Douggie band sein Pferd an einem Zaunpfosten fest, zog die Stiefel aus und lief zum Haus des Polizisten, wo er mit einem leisen, liebevollen »Kuckuuu« nach der Frau rief. Seine nackten Zehen leuchteten kreideweiß im Mondlicht, als er sie in die Dunkelheit hinter den Rhododendronsträuchern am Gartentor trug. Sie wechselten nur wenige Worte. Wenn er tagsüber an sie dachte, hatte er Mühe, sich an ihren Namen zu erinnern. Er liebte ihr rundes, ausdrucksloses Gesicht, die kühl-klaren blauen Augen, die weichen rosigen Lippen, den breiten weißen Rücken und ihre feuchte Fülle auf dem ausgetrockneten Boden in der von schnappenden Zweigen umrahmten Dunkelheit der Nacht. Ja, wirklich, er liebte sie.

Hin und wieder gab er ihr Geld, von dem sie sich etwas kaufen sollte. Einmal, der Polizist jagte gerade flüchtige Bankräuber durch den Busch, hatte sie ihn ins Haus und in ihr Bett gelockt. Es hatte ihm nicht gefallen. Ihre Hemmungslosigkeit machte ihn nervös, Schuldgefühle nagten an ihm. Seither blieb er mit ihr in den Büschen und schob das Kind als Entschuldigung vor. Er wollte es sich nicht zu gemütlich machen und in Versuchung kommen, bis zum Morgen zu bleiben.

Jill erwischte ihn nie wieder und hatte deshalb auch nie wieder das Vergnügen, sich wohlig in seinem zerwühlten Bett zu wälzen. Enttäuscht musste sie zurück in ihr Zimmer schleichen, wo sie mit einem steingefüllten Socken Moskitos an der Wand zerquetschte, bis sie wieder müde wurde. Spaß war in ihrem Leben knapp bemessen.

Vormittags knisterte die Stimme des Fernschullehrers durch den Äther. Jill jammerte, dass sie lieber draußen mit Douggie Nägel einschlagen würde oder alles andere. Immer öfter schwänzte sie und versteckte sich draußen im Busch. Schließlich bekam er Wind davon und sperrte sie mit dem Funkgerät ein. Täglich kontrollierte er, was sie gelernt hatte. Wenn er nicht zufrieden war, kniff er ihr in die Ohrläppchen, bis sie praktisch durchbohrt waren. Alles nur, weil er sie liebte und sich nicht von irgendwelchen Besserwissern Nachlässigkeit vorwerfen lassen wollte. Er bestellte Bücher in Sydney, die in verschnürten Paketen eintrafen. In einer Zimmerecke setzte ein Stapel Dickens Staub an und wartete darauf, dass Jill alt genug für ihn wurde. Sie kratzte das Blattgold von den Einbänden und aß es. Anschließend betrachtete sie fasziniert ihre spektakulär glitzernde Zunge im Spiegel. Der Höhepunkt der Woche war, wenn sie ihren Flaschenbürstenkopf auf eine alte Ausgabe des Sydney Morning Herald auskämmten und die Ausbeute – allerlei Kreuchendes und Fleuchendes, das sie sich im Vorbeigehen aus Büschen und Bäumen einfing – verbrannten.

Douggie gab sein Bestes, und er arbeitete hart. Jill und ihre Bedürfnisse trieben ihn sogar zu so verzweifelten Maßnahmen, dass er Stricken lernte. Und dann gab es noch den Hof, den er fast ganz allein betrieb. Wenn es eng wurde, heuerte er einen von den Männern an, die durch die Gegend vagabundierten. Sie arbeiteten ein oder zwei Tage lang bei ihm und zogen dann weiter. Im Radio hörte Douggie, wie schlecht es um das Land stand. Die arbeitswilligen Wanderarbeiter wurden mehr. Jeder hatte seine eigene traurige Geschichte im Gepäck, in der es um verlorene Jobs, Warteschlangen vor dem Arbeitsamt, Tage ohne Steak und die schweren Zeiten ging. Wenn sie von ihren notleidenden Frauen und Kindern daheim erzählten, grinste Jill ihren Vater an und machte sich hinter den unmännlichen Rücken der Kerle über sie lustig. Sie traute den Taugenichtsen nicht über den Weg und behielt sie aus Baumkronen heraus im Auge, um ihnen bei passender Gelegenheit Laub in den Nacken zu werfen.

Doch dann kam Jack.

Eines Abends stand er in der Tür. Sie waren gerade beim Essen, und der heimelige Geruch von gebratenem Hammelkotelett hing in der Luft. Die abgenagten Knochen schleuderten sie für die Hunde in den Hof, wo die Fliegen sich darauf stürzten. Sie wimmelten so dicht, dass die Knochen schwarz waren und sich zu bewegen schienen. Jacks Nase zuckte genießerisch. Sein gleichgültig wirkender Blick registrierte alles: Das dünne, etwas verwahrlost wirkende Kind und sein Vater saßen sich am Tisch gegenüber und stocherten mit ernsten Mienen in ihren Zähnen herum. Sie machten den Eindruck von zwei Menschen, die überlegten, was sie mit dem Rest ihres Lebens anstellen sollten. Und sahen aus, als könnten sie Hilfe gebrauchen.

Jack räusperte sich, trat ein und stellte sich vor.

Er hatte einen guten Zeitpunkt erwischt, denn obwohl er es mit keiner Miene verriet, trug Douggie sich bereits mit dem Gedanken, jemanden einzustellen. »I love a sunburnt country – Ich liebe ein sonnenverbranntes Land« –, zitierte er leise eine Zeile aus dem bekannten Gedicht und blickte nachdenklich über seinen Besitz. Vielleicht konnte man es besser machen. Vielleicht war der schmutzige junge Mann in der Tür die Lösung für seine Probleme.

Er gab sich einen Ruck und erklärte sein Anliegen: Er brauche einen anständigen Arbeiter, damit etwas vorwärtsginge auf der Farm.

Jack versicherte ihm, dass er anständig sei. Jung, kräftig und arbeitswillig noch dazu. Er hatte sich von Melbourne aus – ausgerechnet Melbourne – auf den Weg gemacht, um sich etwas zu suchen, das zu einem echten Kerl passte.

So viel Strebsamkeit beeindruckte Douggie. Jack baute sich gegenüber vom Haus eine Hütte auf den Hof. Sie schleppten einen Sessel für ihn hinein, damit er sich nach dem Abendessen irgendwo hinsetzen konnte. Er machte es sich gemütlich, riss Bilder aus Zeitschriften und nagelte sie an die Wand. Douggie hoffte nur, dass die Kleine sie nicht zu Gesicht bekam. Er warnte Jack: Wenn er seine Tochter in der Hütte erwische, werde er ihn erst bei lebendigem Leib häuten und dann zusammentreten, bis ihm Hören und Sehen vergehe. Doch Jill war schüchtern und voller Bewunderung. Sie zollte Jack Respekt, indem sie ihm aus dem Weg ging.

Jill hatte ein Pferd. Douggie hatte es eines Samstagmorgens an einem Seil heimgeführt. Sie galoppierte in wilden Runden über den Hof, bis Jack, der hinter einem Holzstoß stand und dem vergnügten Treiben zusah, das Gefühl hatte, dass sie sich zu sehr verausgabte. Douggie bekam feuchte Augen vor Freude.

Es war die Woche, in der die Brücke eröffnet wurde – der alte Kleiderbügel, wie Jack sie in seiner gepflegten Ausdrucksweise nannte. Das Radio lief schon seit den frühen Morgenstunden. Douggie, der die Sache für ein historisches Ereignis hielt, hatte ihnen freigegeben, damit sie zuhören konnten. Der große Moment rückte näher. Die Stimme des Reporters überschlug sich vor Aufregung und wurde immer lauter. Douggie stand auf, um besser zu hören. Ein Mann kam vor die bereits in Positur stehenden Honoratioren galoppiert, hielt an und schlug vor Premier Langs staunenden Augen das Band durch. Douggie regte sich fürchterlich auf. »Solche Typen sollte man erschießen!«, schrie er und lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. Was Jack eigentlich im Haus zu suchen habe, brüllte er weiter, während draußen der Hof im Chaos versinke? Jill war sehr beeindruckt. Sie lag ihrem Vater den Rest des Tages quengelnd in den Ohren, bis er ihr befahl, den Mund zu halten.

Jill wollte das Meer sehen und tat das aller Welt kund. Douggie vermutete die Brückengeschichte dahinter, sie hatte das Kind auf dumme Gedanken gebracht. Um sie bei Laune zu halten, kramte er ein paar verblichene Ansichtskarten heraus, die er vor Ewigkeiten von einem entfernten englischen Verwandten bekommen hatte. »Was sagen die wilden Wellen?« Jill konnte die verblasste Schriftzeile unter einer Sepiafotografie der Seebrücke von Brighton gerade noch entziffern, aber nicht viel damit anfangen. Sie wollte wissen, wie das Meer sich anfühlte, wenn man in ihm saß. Douggie schlug vor, sie solle einfach nach draußen gehen und den Kopf in den Sand stecken. Allmählich verlor er die Geduld.

Jill machte sich einen Spaß daraus, stundenlang im Hof zu sitzen und ihren braun gebrannten Arm in einen Wassereimer zu halten. Tagaus, tagein, bis Douggie über sie stolperte und sich das Fußgelenk brach. Das Schwein, das er auf dem Arm getragen hatte, lag mit verrenkten Gliedern da, und Jill war zu Tode erschrocken.

Jack holte den Arzt aus der Stadt, der versprach, Krücken zu schicken, doch die kamen nie an. Douggie war an den Sessel gefesselt und konnte Jack nur noch Befehle erteilen. Den ganzen Tag saß er da und war davon überzeugt, dass der Kerl sich draußen, wo er ihn nicht sehen konnte, alles erlaubte. Jill gab ihr Bestes, um Douggie abzulenken, doch er weigerte sich, die alten Ausgaben der Australasian Post aus Jacks Beständen auch nur anzusehen. Er meckerte an Jills Essen herum und warf es unangerührt den räudigen Hunden vor, die ergeben neben ihrem kranken Herrchen ausharrten.

Wenn ihr alles zu viel wurde, wendete Jill sich Jack zu. Sie stellte ihm nach, beobachtete ihn, wenn er seine Nase putzte oder an einen Baum pinkelte und hinterher auf diese seltsame Art seinen Penis schüttelte, bevor er ihn wieder in der Hose verstaute.

Als Douggie kurze Strecken humpeln konnte, vertrieb er sich die Abende in der Küche. Er backte und bereitete den Hammeleintopf für den nächsten Tag vor. Jill schlich über den Hof und behielt Jack durch die halb offene Hüttentür im Auge. Er saß im Sessel und hatte die Nase in einer alten Zeitung stecken. Seine Füße aber blieben die ganze Zeit in Bewegung, bis er es geschafft hatte, sich einen Schuh abzustreifen, ohne vorher die Schnürsenkel gelöst zu haben. Der befreite Fuß quälte sich dann mit dem anderen Schuh ab, bis auch dieser zu Boden fiel. Als Nächstes nahmen die Füße sich die Socken vor. Nacheinander wurden sie mit den Zehen nach unten genestelt, wo sie an der rauen Fersenhaut hängen blieben, sodass Jack fester zerren musste. Als er auch mit den Socken fertig war, seufzte er tief befriedigt auf. Wie gebannt beobachtete Jill das stumpfsinnige Verfahren. Schwer vorstellbar, was sie daran interessant fand.

Jill bewunderte auch die Bilder, die sich schemenhaft an der hinteren Wand abzeichneten. Eines hätte sie gern aus der Nähe betrachtet. Es zeigte eine junge Frau ohne Kleider, die zwischen zwei Eukalyptusbäumen stand. Sie hatte riesige, von dicken schwarzen Linien umrandete Augen. Ihre Haare waren zu halb durchsichtigen Korkenzieherlocken auseinandergezogen. Sie hatte kleine Hängebrüste, sehr runde Hüften und knochige Knie. An der Stelle, wo die Beine zusammentrafen, war das Bild leicht verschwommen, man konnte keine Details erkennen. »Die Moderne Eva«, stand über der Frau.

Eva war Jacks ganz besonderer Liebling. Er hatte andere, die ihn mehr anmachten, aber dieses Mädchen war so anrührend unvollkommen und so künstlerisch in Positur gestellt, dass sie an seine tiefsten Sehnsüchte rührte. Seine vernachlässigten Zehennägel rollten sich auf und rissen die grobe Decke in Streifen. Jeden Abend blies er der Modernen Eva federleichte Küsse zu, bevor er seine Kerze löschte.

Als es Douggie wieder besser ging, war Schluss mit solchen Albernheiten. Er erkannte, was den beiden fehlte: Struktur. Das Mädchen brauchte ein Hobby, und der Bursche brauchte mehr Arbeit, damit er nicht auf die dummen Gedanken kam, deren sein Boss ihn verdächtigte.