Jesus? Tatsachen und Erfindungen - Dr. Harald Specht - E-Book

Jesus? Tatsachen und Erfindungen E-Book

Dr. Harald Specht

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Beschreibung

Es gibt Tausende Bücher über Jesus von Nazareth! Aber: Hat dieser antike Prediger wirklich gelebt? War er ein Mensch aus Fleisch und Blut? Oder ist er nur ein Phantom, die Erfindung einer frühchristlichen Sekte? – Warum weist die Bibel zahlreiche Ungereimtheiten auf, wenn es um Jesu Herkunft, Geburt und Familie geht? Die Evangelien berichten von zwei völlig verschiedenen Stammlinien seiner Vorfahren. Doch wer war der leibliche Vater Jesu? Und warum wurde seine Mutter Maria sogar als Hure beschimpft? Die Bibel kennt Geschwister Jesu, die Kirche bestreitet dies vehement. – Wie kommt es zu den Widersprüchen im Neuen Testament, wenn über Jesu Geburt, seine Jünger, sein Auftreten und seinen Tod berichtet wird? Nur ein Beispiel: Feierte Jesus das letzte Abendmahl mit seinen Jüngern am 15. Nisan oder schon am 14. Nisan? Von den Evangelisten wird beides bezeugt! Doch wie ist Jesu Auferstehung »nach drei Tagen« zu verstehen, wenn es von Karfreitag bis zum Ostersonntag nur zwei Tage sind? – Weshalb agierten die ersten christlichen Gemeinden im Geheimen und warum unterschied man zwischen den vollkommenen Christen und solchen, denen man nur einen Teil der okkulten Mysterienweisheiten anvertraute? – Was hat es mit dem rätselhaften Stern zu Bethlehem auf sich und wieso beteten noch im Mittelalter Christen vor dem Petersdom zu Rom die Sonne an? Und was, um Himmels Willen, haben Christus und Weihnachten mit der Wintersonnenwende zu tun? Was also ist Wahrheit, was historische Retusche, schnöder Irrtum oder einfach Erfindung? Ganz unkonventionelle Antworten auf diese und ähnliche Fragen gibt dieses Buch.

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Harald Specht

JESUS?

Tatsachen und Erfindungen

Engelsdorfer Verlag

Bibliografische Information durch Die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

eISBN: 978-3-86268-121-1

Copyright (2010) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

www.engelsdorfer-verlag.de

Der Autor:

Harald Specht, Dr.rer.nat. et Dr-Ing. habil., Jahrgang 1951, ist Naturwissenschaftler. Neben mehr als 70 Fachpublikationen veröffentlichte er seit 1978 auch zahlreiche Drehbücher und Filmkommentare sowie Sachbücher und Romane. Unter anderem die „Trilogie des Allzumenschlichen“ mit den Bänden:

„Geschichte(n) der Dummheit – Die sieben Sünden des menschlichen Schwachsinns“ (2004)

„Geschichte(n) der Lust – Zwölf Kapitel Leidenschaft und Laster“ (2005)

„Geschichte(n) der Lüge – Amüsantes und Skandalöses rund ums 8. Gebot“ (2006)

Ferner die Romane

„Der Tempel der Weisheit und die zweiundsiebzig Namen Gottes“

(2007; 1. Band)

sowie

„Das Buch der Weisheit und die Spuren des Lichts“

(2008; 2. Band)

Als Fortführung seines Buches „Von Isis zu Jesus“ (2003) wurde der vorliegende Band „Jesus? – Tatsachen und Erfindungen“ konzipiert.

De omnibus dubitandum

(An allem ist zu zweifeln)

René Descartes

Inhalt

Einführung

Das Todesurteil: Barabbas oder Jesus?

Warum schon wieder ein Jesus-Buch?

Ein Vorwort mit Bitte an den Leser

Kapitel 1

Fragen über Fragen – Die vorliegenden Quellen

1.1. Erste Spurensuche

1.2. Prämissen für die vorliegenden Untersuchungen

1.3. Wer sagt was? Widersprüche und offene Fragen

Kapitel 2

Jesus in christlichen Quellen

2.1. Jesus im Neuen Testament – irgendetwas stimmt hier nicht

2.1.1. Der Ursprung – Die vier kanonischen Evangelien

2.1.2. Eingängig und stimmig: Die traditionelle Lebensgeschichte Jesu

2.1.3. Ein wichtiger Zeuge? Apostel Paulus und seine Geschichte

2.1.4. Apokalyptisches und Apokryphes – Die „Ketzerschriften“ des Thomas’ und Judas’

2.2. Rekonstruktion eines Lebenslaufes?

2.2.1. Der Geburtstag Jesu – vor oder nach Christi Geburt?

2.2.2. Im Namen Jesu Christi

2.2.2.1. Jehoschua, Jeschua, Jeschu oder wie?

2.2.2.2. Chrestos, Chrystos, Christos oder Christus? – oder gar KRST?

2.2.3. Geburt und Herkunft Jesu

2.2.3.1. Jesus von Nazareth – Nazarener, Nazaräer, Nazoräer oder Nasiräer?

2.2.3.2. Bethlehem – Altheidnischer Kultort des Thammuz oder Geburtsstätte Jesu?

2.2.3.3. Zwei Ahnenreihen und zu viele Väter

2.2.3.4. Maria – Hure oder Heilige?

2.2.4. Jesu Taufe – Wer wen?

2.2.5. Weg und Wirken – Jesus und das Reich Gottes

2.2.5.1. Jesu Reden und Handeln – Goldene Regeln oder Utopien?

2.2.5.2. Jesu Botschaft – ein verhängnisvoller Irrtum?

2.2.5.3. Die Prophetien Daniels – Stell dir vor: Die Zeit ist erfüllt und niemand kommt

2.2.6. Leidensweg und Auferstehung

2.2.6.1. Das Todesurteil – aber wofür?

2.2.6.2. Das geheime Markusevangelium

2.2.6.3. Und noch einmal: Das Rätsel um Barabbas

2.2.6.4. Auferstehung, Auferweckung oder Wiedergeburt?

2.3. Das große Loch – Die Datierung der Evangelien

2.4. Die Geschichte auf den Kopf gestellt?

Kapitel 3

Jesus in nichtchristlichen Quellen

3.1. Der Text des Josephus – Testimonium oder Kopistenwahn?

3.2. Der Text des Sueton – Historie oder Hofklatsch?

3.3. Der Text des Tacitus – Über Schandtaten und verderblichen Aberglauben

3.4. Der Text des Plinius – Ein Hilferuf an den Kaiser

Kapitel 4

Fakten oder Fiktionen? – Ein erstes Resümee

4.1. Die Evangelien – Alles oder nichts?

4.2. Schwindel, Betrug und Fälscherlust

4.3. Der Mensch Jesus – Das blasse Bild einer Legende

4.4. Von Zweiflern, Leugnern und der Leben-Jesu-Forschung

4.4.1. Nichts, was wir noch zu glauben hätten

4.4.2. Rationalisten, Supranaturalisten und liberale Optimisten

4.4.3. Radikale Kritiker und kritische Skeptiker

4.4.4. Jesus-Verfechter, -Zweifler und -Leugner heute

Kapitel 5

Die Erfindung Jesu

5.1. Die Zeit ist reif für neue Götter

5.2. Der Christus-Mythos

5.2.1. Als Christus noch Horus war

5.2.2. Wie sich die Dinge gleichen: Christus war überall

5.3. Weisheit aber reden wir unter den Vollkommenen – Ein Sieg der Schlichtheit und Eingängigkeit

5.3.1. Die Schaffung des Christentums

5.3.1.1. Jerusalem oder Alexandria: Die Wurzeln bei Juden und Griechen

5.3.1.2. Die christliche Taufe als Initiation

5.3.1.3. Von Vollkommenen und Einfältigen

5.3.1.4. Zutaten zum Menü „à la carte“

5.3.2. Sechs Kapitel einer Erfolgsgeschichte

5.4. Die Jesus-Legende

5.4.1. Die Puzzle-Teilchen zum Jesus-Mosaik

5.4.1.1. Nicht einer, sondern mehrere?

5.4.1.2. KRST und horus – Die altägyptischen Wurzeln des Christos-Glaubens

5.4.1.3. Jüdische Einflüsse des Messias-Glaubens

5.4.1.4. Ich bin die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25)

5.4.1.5. Vom Astralmythos zum Sonnengott

5.4.2. Der fertige Jesus – sein Name und das wechselnde Antlitz

Kapitel 6

Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende

6.1. Sieben Thesen und ein Fazit

6.2. Zwei Argumente, die keine sind

7. Quellenverzeichnis

8. Bildquellen

9. Personen- und Sachregister

Einführung

Das Todesurteil: Barabbas oder Jesus?

Die Szenerie wirkt gespenstisch. Alles, was Hollywood an Emotionen zu verkaufen hat, ist aufgeboten worden: Die monumentale Kulisse Jerusalems im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, die tobende Masse tausender Komparsen, gebrochen von den Großaufnahmen grotesker Masken: Wutrote Gesichter, deren grölende Münder nur eines fordern: Tötet sie!

Die dramatische Hintergrundmusik kündigt einen ersten Höhepunkt dieses sehenswerten Dramas an. Präfekt Pontius Pilatus, der Statthalter Roms in Judäa, tritt vor das jüdische Volk. Nach alter Sitte soll es am Vorabend des Passah-Festes die Wahl haben, wem von den zum Tode Verurteilten das Leben geschenkt werden soll: Barabbas oder Jesus? „Wen wollt ihr haben?“, ruft Pilatus in die Menge. „Den Mann, den manche von euch ihren König nennen? Oder wollt ihr Barabbas?“ Und wie aus einem Munde brüllt der tobende Mob dem ungeliebten Herrscher über Leben und Tod rhythmisch skandierend zu: „Barabbas … Barabbas … Wir wollen Barabbas!“

Was darauf folgt, ist bekannt. Noch am selben Tag wird man Jesus von Nazareth, den König der Juden, ans Kreuz schlagen…

Das monumentale Filmkunstwerk mit Anthony Quinn in der Titelrolle /298/ hat beeindruckt. Noch lange nachdem man die Schwüle des Vorführsaales hinter sich gelassen hat und das erfrischende Umfeld der Straße den Kinobesucher wieder an die Realität erinnert, bleiben die großartigen Bilder im Gedächtnis. Doch plötzlich mischen sich in diese Erinnerungen schlichte Fragen, auf die im Augenblick keine schlüssigen Antworten zu finden sind. Eine dieser Fragen scheint banal, und dennoch drängt sie hartnäckig nach einer vernünftigen Klärung: Wieso hat das Volk von Jerusalem eigentlich Jesus ans Kreuz schlagen lassen? Wieso ihn, der noch wenige Stunden vor dieser Szene von den Massen in Jerusalem jubelnd in der Stadt begrüßt wurde? Wieso ihn, den man noch einen Tag vor seiner Verhaftung als künftigen Retter und Erlöser mit Palmenzweigen und lautem Hosianna an den Toren Jerusalems empfangen hatte?

Geht man diesen bohrenden Fragen nach, indem man den originären Bericht über die Leidensgeschichte des Jesus von Nazareth zu Rate zieht, wird die Verwirrung eher größer. Hatte man aus den Geschichten der Bibel eine klärende Antwort erhofft, so enttäuscht diese Quelle umso mehr. Sie bringt nicht nur weitere Unstimmigkeiten zu Tage, sondern sie verleiht darüber hinaus dem gesamten Geschehen ein unerwartetes Ausmaß an Absonderlichkeit.

So etwa im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 27, Vers 16. Hier wird Barabbas von Bibel zu Bibel immer krimineller.

Ist er in der Einheitsübersetzung der Bibel nur ein „berüchtigter Mann“ /141/ und in anderen Übersetzungen ein „berüchtigter Gefangener“ /113//140//142//143//148/, macht ihn die Neue Genfer Übersetzung schon zu einem „berüchtigten Aufrührer“. /147/ Kein Wunder, dass der von Pilatus Freigelassene an anderer Stelle der Bibel (Mk 15,7) sogar vom bloßen Gefangenen zum überführten Mörder heraufstilisiert wird. So etwa liest man in einer modernen Ausgabe der Luther-Bibel von Barabbas, dass er zusammen mit „Aufrührern, die beim Aufruhr einen Mord begangen hatten“, im Gefängnis war. (Mk 15,7) /140/ In der Bibel „Hoffnung für alle“ /142/ erfährt man an gleicher Stelle, dass der von Pilatus Freigelassene „wegen Mordes angeklagt war“, während die Bibelübersetzung Neues Leben /167/ sogar zu berichten weiß, dass Barabbas „zusammen mit anderen des Mordes überführt worden war.“ Kein Wunder, dass Barabbas dann im Johannesevangelium (Joh 18,40) abhängig vom Übersetzergeschmack ebenfalls vom einfachen „Straßenräuber“ /141//148/, „Räuber“ /113//140/ oder „Verbrecher“ /142//147//167/ zum „Mörder“ /143/ herabgewürdigt wird.

Noch erstaunlicher ist, dass man den Namen des Begnadigten einfach mit „Barabbas“ und noch verfälschender sogar als „Barabas“ /29/, „Barbaras“ /316/ oder „Barrabas“ /195/ /297/ /343/ wiedergibt.

Gibt man sich bei der Übersetzung oder dem Zitieren der uralten Bibeltexte so wenig Mühe, dass sogar Namen falsch geschrieben werden? Sind diese Unstimmigkeiten nur Nachlässigkeit und Ermessensfragen der Übersetzer? Oder hat man hier und da etwa den Namen des Aufrührers bewusst als „Barrabas“ wiedergegeben?

Was bedeutet der Name eigentlich? Ist er überhaupt wichtig?

Die Verwirrung nimmt zu, wenn man theologische Nachschlagewerke zu Rate zieht, in denen speziell die Namen biblischer Personen erläutert werden. In einem dieser Lexika /157/ wird Barabbas ebenfalls ohne Umschweife zum „Aufrührer und Mörder“, was er nach mancher Bibel aber niemals war. In einem anderen steht zum Staunen des Laien eine weitere Information, die man dem Bibelleser offenbar unterschlagen hat:

„Der Name des Barabbas bedeutet eigentlich ‚bar Abbas’, zu Deutsch: Sohn des Vaters.“ /46/

Der in unserer Bibel stehende Name „Barabas“ oder „Barabbas“ ist also gar kein Eigenname, wie man annehmen konnte. Fachleute nennen solche Namen Patronyme, also eine vom Namen des Vaters abgeleitete Bezeichnung.

Viel mehr aber überrascht die letzte Zeile dieser Namenserklärung. Erst nachdem man sich durch zahlreiche unverständliche Abkürzungen und Querverweise dieses Lexikons hindurchgearbeitet hat, steht da, scheinbar nur der Vollständigkeit halber noch angefügt, was ein Namenslexikon dem Nachschlagenden eigentlich in der ersten Zeile des Eintrags hätte offenbaren sollen:

„nach einigen Zeugen … hätte er auch Jesus geheißen.“/46/

Nun ist die Verwunderung für den Nichttheologen komplett!

Bedeutete diese Erklärung, dass Pontius Pilatus dem Volk von Jerusalem am gleichen Tag und zur selben Stunde zwei Verurteilte zur Wahl stellte, die beide Jesus hießen? Und nicht nur dies! Kennen wir nicht Jesus schon als „Sohn des Vaters“, genau wie auch Barabbas „Jesus Bar Abbas“ ist, also ebenfalls „Jesus, Sohn des Vaters“ bedeutet?

War das Ganze ein bloßer Zufall? Eine dumme Übereinstimmung, die man geschickt aus der Bibel entfernt hat, um lästigen Fragen zu entgehen? Der Verdacht drängt sich auf! Schaut man sich weiter in der Bibel um, findet man eine andere Stelle, die ebenfalls von Barabbas berichtet, diesmal im Matthäus-Evangelium. (Mt 27,16) Während zahlreiche alte wie moderne Bibelübersetzungen1 hier nur von einem Gefangenen „mit Namen Barabbas“ berichten, sind andere Bibelausgaben aufschlussreicher. In der 1984 revidierten Luther-Bibel heißt es im gleichen Vers ganz klar, der Gefangene hieß „Jesus Barabbas“. /140/ Andere Bibelversionen bestätigen dies. /147//148/

Als Erläuterung gibt die Stuttgarter Erklärungsbibel den Hinweis, dass dies ein „wundersames Spiel der göttlichen Vorsehung“ sei, weil „der Echte für den Unechten, der Gerechte für die Ungerechten den Tod leiden muss.“ /3/ Aha…!

Warum aber hat man den eigentlichen Namen „Jesus“ in allen anderen Bibeln einfach weggelassen? Und noch erstaunlicher: Warum schrieben sogar hochgelehrte Theologen, die bis ins Detail hinein die „Gestalt und Geschichte“ Jesu zu kennen glauben, ebenfalls von „Barrabas“?

So der Neutestamentler Ethelbert Stauffer. /343/ Er räsonierte nicht nur, ob die Augenfarbe Jesu braun oder blau war. Er weiß darüber hinaus sogar Bescheid, dass „Barrabas“ nicht nur Widerstandskämpfer, sondern auch Theologensohn war. Wie ist es dann aber zu erklären, dass solch ein Fachmann, der seinen Lesern glauben macht, die Geschichten und Geschichte rund um Jesus bis ins Kleinste zu kennen, nichts vom wahren Namen des Jesus Bar Abbas weiß?

Ähnlich Merkwürdiges gibt es in Menge, wenn es um den geschichtlichen Jesus geht. Und jedes Mal drängt sich der Verdacht auf, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Grund genug für den Laien, dieser Sache nachzugehen und sich auch die anderen Berichte über Jesus genauer anzuschauen…

Warum schon wieder ein Jesus-Buch?

Ein Vorwort mit Bitte an den Leser

Über Jesus wurden mehr als 6000 Bücher veröffentlicht. Nicht dazu gezählt abertausende Aufsätze, wissenschaftliche Schriften und Artikel in Zeitschriften und Kirchenblättchen. Warum dann noch ein weiteres Buch zu diesem Thema? Ist nicht alles schon gesagt worden?

Eine genauere Analyse bringt ein differenzierteres Bild. Erstens ist das Gros dieses Schriftgutes dahin ausgerichtet, den biblischen Jesus, den Heiland Jesus Christus zu zeigen. Diese Bücher wollen somit den Jesus des Glaubens darstellen oder klarstellen, deuten und verdeutlichen oder wie auch immer das Leben und Wirken Jesu und dessen Folgen würdigen. Fast ausnahmslos sind derartige Schriften von Theologen oder zumindest gläubigen Christen verfasst worden. Und so liest man auch von hochrangigen Theologen und Geschichtsforschern Sätze wie diesen: „Dass Jesus gelebt hat, darüber gibt es keinen Zweifel…“. /5/ Laut Walter Künneth (1901-1997), Professor für Theologie und renommierter Kritiker der modernen Theologie, gibt es „kein einziges Argument, keinen einzigen Grund, den man anführen könnte, dass er nicht gelebt hat.“ /5/ Aber, „ist es wirklich so, dass die Frage nach der Historizität Jesu absolut geklärt und obendrein noch so nebensächlich ist, wie man in Gesprächen mit Theologen zu hören bekommt?“, fragt auch Bernhard Hoffers in seinem Vortrag über den Jesus-Forscher Arthur Drews. /456/

So ist es nicht! Denn all diesen Büchern, die aus dem Glauben an Jesus Christus heraus verfasst wurden, ist das Anliegen gemeinsam, Jesus Christus bedingungslos als historisch gegeben vorauszusetzen. In dieser Hinsicht ist sicherlich viel Wichtiges wie auch Belangloses zu diesem Thema gesagt.

Viel weniger ist dagegen gefragt worden.

Gefragt nach dem Wahrheitsgehalt all der Geschichten um Jesus, nach den zahlreichen Widersprüchen in diesen Berichten und nach den möglichen Ursachen dieser Ungereimtheiten. Doch auch hier hat die sogenannte Leben-Jesu-Forschung der letzten einhundertfünfzig Jahre viel entdeckt, ja sogar enthüllt. Leben-Jesu-Forschung und die Suche nach einem historischen Jesus setzen aber per se schon die reale historische Existenz dieses Menschen voraus. Denn man sucht nur dann nach etwas Bestimmtem, wenn man annimmt, dass dieses Etwas auch vorhanden ist.

All diesen Büchern steht nur eine weit geringere Anzahl von Untersuchungen gegenüber, die von einer Nichtexistenz Jesu ausgehen und diesen Sachverhalt beweisen wollen. Fragen stellen sollte aber nicht von vornherein darauf angelegt sein, infrage zu stellen.

Entsprechend dieser vereinfachenden Gliederung der Jesus-Literatur lässt sich die gesamte Autorenschaft grob in drei Gruppen einteilen: Die Jesus-Bekenner, die Jesus-Zweifler und die Jesus-Leugner.

Nahezu allen bisherigen Arbeiten der Bekenner und Leugner zum Thema „Jesus“ ist gemein, dass deren Autoren ein von vornherein für sie feststehendes oder wahrscheinliches Jesus-Bild verfolgen. So schreibt zum Beispiel Kamal Salibi, obschon er bereits im Titel seines Buches die Suche nach dem „wirklichen“ Jesus ankündigt: „Dass Jesus existiert hat, steht außer Frage.“ /360/ Als Begründung für diese feste Überzeugung sieht der Autor die „Briefe des Paulus“ sowie „genügend historische Belege … auch außerhalb der christlichen Schriften.“ /360/ Ob aber die Schriften des Paulus sowie die außerchristlichen Quellen historisch verlässliche Nachricht geben, untersucht Salibi nicht.

Naturgemäß wird je nach Denkrichtung sehr engagiert und sogar eifernd alles das an Fakten und Vermutungen angeführt, was dieses persönliche oder beruflich geprägte Jesus-Bild stützt oder im anderen Fall stürzt. Und so sieht denn der oben zitierte Theologe Künneth in allen Jesus-Zweiflern keine „ernstzunehmenden Forscher oder Theologen“ /5/. Zweifeln deshalb an der „Geschichtlichkeit der Person Jesu“ nur „Narren“? So jedenfalls titulierte schon Deussen 1919 Andersdenkende abfällig, dabei den gleichen Begriff gebrauchend, den schon der erste Kirchenvater Irenäus (um 135 – 202 u.Z.) zur Brandmarkung der gegnerischen Gnostiker verwendet hatte. /348/

Vom theologischen Fachmann über den guten Gläubigen und Gutgläubigen bis hin zum „närrischen“ Jesus-Verneiner und Kirchengegner reicht also die Palette der Autoren, die sich an diesem um Jesus entzündeten Disput beteiligen. Ein Meinungsstreit, der allzu oft in den Angriff gegen das Christentum oder die Verteidigung des Glaubens eingebettet ist und seit beinahe zweitausend Jahren anhält.

Im Vergleich zum Gesamtangebot an Jesus-Literatur beschäftigt sich nur ein sehr viel geringerer Teil aus rein historischem Interesse objektiv und ohne Vorbehalt mit Jesus. Dies ist nicht allein Forschung nach dem historischen Jesus, sondern vielmehr das historische Fragen und Forschen nach Jesus. Diese Art der Suche beschränkt ihr Interesse nicht nur auf die Person Jesu und damit auf einen Menschen, der vielleicht im 1. Jahrhundert u.Z. wirklich gelebt hat, sondern öffnet auch die Möglichkeit, sich einem möglichen Phänomen Jesus zu nähern, das als Personifizierung einer religiös-politischen oder philosophisch-spirituellen Idee zu verstehen ist.

Das vorliegende Buch kann den Streit zwischen Jesus-Bekennern und Jesus-Leugnern nicht entscheiden. Die Recherchen zu dieser Arbeit hatten hauptsächlich das Ziel, dem Autor selbst möglichst Klarheit zu verschaffen; Klarheit über die historische Existenz oder Nichtexistenz des Menschen, der einst in Palästina gewirkt haben soll und den man heute Jesus nennt. Denn die „geschichtlichen Konturen des Mannes aus Nazaret“, daran zweifeln selbst heute Theologen nicht, sind von der „späteren Überlieferung bis zur Unkenntlichkeit verwischt worden.“ /30/ Der Autor hatte das Manuskript des vorliegenden Buches ursprünglich als Recherche für ein ganz anderes Projekt ins Auge gefasst. Dementsprechend ist eine Vielzahl von Literaturdaten in diese Recherche eingeflossen. Ganz bewusst wurden die wichtigen Aussagen dieser Quellen als Zitate belassen, da nur so eine möglichst objektive Wiedergabe der verschiedenen Tatsachen, Meinungen und Erkenntnisse erreicht wird.

Sollte der Leser Interesse an dieser vorurteilsfreien Suche haben, ist er gern zur Lektüre eingeladen.

(Für kritische Einwände, hilfreiche Ergänzungen, notwendige Korrekturen und sachdienliche Hinweise möchte sich der Autor im Voraus bedanken. Bitte richten Sie diesbezügliche Bemerkungen an den Verlag.)

Köthen / Anhalt im März 2009

1 so in /3//113//141//142//143//167/

Kapitel 1

Fragen über Fragen – Die vorliegenden Quellen

1.1. Erste Spurensuche

Hat Jesus jemals gelebt? Oder ist er nur ein Phantom? „War Jesus doch nur eine Erfindung der urchristlichen Gemeinde?“, fragt Augstein. /16/ Eine erdichtete Figur, ausgesponnen von frühen Christen und Kirchenmännern? Kann man diese Fragen heute noch klären? Gibt es von Jesus überhaupt noch greifbare Spuren in der Geschichte?

Jesus-Leugner wie auch Jesus-Bekenner sind häufig der gleichen Meinung, wenn es um die Zahl und die Qualität antiker Zeugnisse in Bezug auf den Menschen Jesus geht. Meist verweisen sie darauf, dass nur sehr wenige Quellen auf den Mann aus Nazareth hinweisen.

Dies ist nur bedingt so.

Richtig ist, dass uns von Jesus eigener Hand keinerlei schriftlicher Nachlass noch anders geartete Zeugnisse überkommen sind. Von seiner Person fehlt jegliche gegenständliche Spur. Auch von seinen Zeitgenossen haben wir keine Indizien, die direkt auf Jesus aus Nazareth verweisen würden. Somit gibt es weder schriftliche Dokumente noch irgendwelche archäologischen Befunde oder sonstige Artefakte, die auf eine geschichtliche Existenz des Menschen Jesus schließen lassen würden. Keine Pyramiden noch Stelen, kein Denkmal und kein Grab erinnern an diese – laut Bibel – außergewöhnliche Persönlichkeit. An Dinglichem hat die wohl berühmteste Gestalt der Menschheitsgeschichte nichts hinterlassen. (Vielleicht sollte an dieser Stelle doch darauf verwiesen werden, dass sämtliche bekannten Artefakte, die auf Jesus zurückgehen sollen, als reine Objekte des Glaubens zu sehen sind. Reliquien, wie etwa das bekannte Grabtuch von Turin /23-25/ oder der angeblich echte Titulus von Jesu Kreuzigung /38/ scheiden für unsere Betrachtungen ebenso aus wie bizarre „Erinnerungsstücke“ von der Windel Jesu über ein Fläschchen mit der Muttermilch Mariens bis hin zu Holzsplittern oder den Nägeln, /26/ die angeblich von der Kreuzigung Jesu stammen. Das gleiche gilt für touristische Attraktionen von der Grabeskirche in Jerusalem über die vermutete Grabstätten Jesu im Süden Frankreichs /27/ oder im fernen Indien /28/ bis hin zum „Haus am See Genezareth...“, das laut Klappentext eines der heute üblichen Jesus-Büchlein von „Archäologen“ als der Ort „entdeckt“ wurde, „in dem Jesus eine Zeit lang lebte.“ /29/ Und so sind Aussagen, wonach auch „zahlreiche archäologische Funde“ von „Jesus sprechen“ und „alles Vorstellbare sprengen“, /39/ sämtlich unseriös.)

Auch schriftliche Hinterlassenschaften seiner engsten Jünger fehlen. Vermutlich konnten die meisten Anhänger Jesu sogar weder lesen noch schreiben, so dass die Überlieferungen über ihren Meister sicherlich nur mündlich weitergegeben werden konnten. Aufzeichnungen oder Akten, etwa über den Gerichtsprozess gegen Jesus, wurden entweder nie gefertigt oder vernichtet. Das Wirken des großen Religionsstifters blieb den meisten seiner Zeitgenossen außerhalb seines direkten Wirkungskreises offensichtlich völlig verborgen.

Es stellt sich daher die Frage: Gab es Jesus, so wie wir ihn kennen oder zu kennen glauben, überhaupt?

Zahlreiche Indizien weisen darauf hin. Dokumente, die frühestens etwa 60 bis 80 Jahre nach dem Auftreten Jesu entstanden sein sollen und zumindest in Überarbeitungen oder Abschriften noch heute zugänglich sind. Aus antiker Zeit existieren über Jesus nicht nur die recht umfangreichen Texte des Neuen Testaments, sondern auch schriftliche Hinweise nichtchristlichen Ursprungs, deren Autoren mit Sicherheit außer Verdacht stehen, christliche Propagandisten zu sein. Ab Mitte des 2. Jahrhunderts u.Z. erschienen darüber hinaus auch zahlreiche Dokumente der sogenannten apokryphen (verborgenen; geheimen), nichtkanonischen Literatur, in deren Mittelpunkt das Wirken Jesu steht.

Vergleicht man also das, was wir über das Leben Jesu wissen mit dem, was uns von anderen Persönlichkeiten der Antike überliefert ist, so fällt die Bilanz auf den ersten Blick eher positiv aus. Oft wird als Beispiel in der Literatur das Leben des bekannten Philosophen Sokrates angeführt. Manch Historiker wäre sicherlich froh, zu dessen Vita auch nur annähernd soviel sagen zu können wie über Jesus aus Nazareth. Im Fall des antiken Philosophen beruht das biografisch Bekannte auf wenigen zeitgenössischen Quellen, die darüber hinaus ein widersprüchliches Lebensbild zeichnen. Neben dem Dichter Aristophanes haben vor allem die Sokrates-Schüler Xenophon und Platon für uns das Bild des Philosophen bewahrt. Über die erste Lebenshälfte Sokrates’ ist kaum etwas bekannt. Würde die philosophische Leistung des „Meisters aller Meister“, wie ihn Michel de Montaigne einmal nannte, nicht bis heute durch seine Schüler nachwirken, hätte man den Menschen Sokrates vermutlich längst vergessen.

Für die Zeit bis ins 4. Jahrhundert ist das Vorhandensein von Biographien oder gar Autobiographien generell sehr selten. Nur in Ausnahmefällen, wie zum Beispiel durch die Berichte des Herodot, der in seinen Historienschriften /33/ auch über Kyros und Kambyses schreibt, wissen wir ausführlicher über das Leben antiker Persönlichkeiten Bescheid. Abgesehen von den Hofberichterstattungen eines Sueton mit seinen zwölf Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian /13/ oder seines Zeitgenossen Tacitus /20/ waren die Lebensläufe Einzelner in griechisch-römischer Zeit kaum von Interesse. Selbst Plutarchs Lebensbeschreibungen über die Herrscher von Augustus bis Vitellin sind eher fortlaufende Geschichtsdarstellung als kaiserliche Einzelviten. Und trotz ihrer historischen Bedeutung sind uns auch diese Nachrichten nur fragmentarisch erhalten geblieben. (Außer den Lebensbeschreibungen zu Galba und Otho und Teilen zu Tiberius und Nero sind Plutarchs Biografien verschollen.)

Es ist also nichts Ungewöhnliches, dass uns heute kaum verlässliche Lebensdaten antiker Persönlichkeiten bekannt sind. Und noch von Herrschern und außergewöhnlichen Personen des Mittelalters wissen wir häufig weder den Tag der Geburt noch andere wichtige Lebensdaten. Im Falle Jesu müssen wir außerdem davon ausgehen, dass sein Wirken auf einen extrem begrenzten Raum am Rande des riesigen Römischen Reiches und darüber hinaus auf eine kurze Zeitspanne von wenigen Monaten begrenzt war. Wen interessierte es in Rom, was in der tiefsten Provinz, am äußersten Ende des Imperiums passierte?

Bleiben uns also die bereits erwähnten Hinweise in Historiographien oder Briefen nichtchristlicher Autoren, ferner natürlich die uns bekannten biblischen Quellen, wie sie uns im sogenannten Neuen Testament von Christen der ersten Stunde aufgeschrieben wurden sowie zahlreiche Berichte über Jesus, wie sie uns in den apokryphen Schriften zugänglich sind. Zur Klärung unserer Frage sind aber nur jene Quellen von besonderem Interesse, die nachweislich aus dem 1. oder beginnenden 2. Jahrhundert u.Z. stammen. Schriftliche Zeugnisse aus späterer Zeit sind wegen der dann einsetzenden Verbreitung christlicher Glaubensnachrichten über Jesus sicherlich viel weniger dazu geeignet, die Existenz des Menschen Jesus zu belegen, dessen Wirken zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Generationen zurücklag.

Sind dann also wenigstens die frühesten Quellen des 1. Jahrhunderts u.Z. Berichte zuverlässiger Zeitgenossen Jesu, Darstellungen von Augenzeugen, Schilderungen von Menschen, die beim Geschehen dabei waren?

Mit Ausnahme der Texte des Neuen Testaments, deren Entstehen man nach traditioneller Sicht auf die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts u.Z. ansetzt, sind alle noch vorliegenden Dokumente (bzw. deren verschollene Originale) mindestens 60 Jahre, im Fall der apokryphen Literatur zum Teil sogar mehrere Jahrhunderte nach den eigentlichen Ereignissen um Jesus verfasst worden. Da es keine Nachrichtendokumentation im heutigen Sinne gab, dürften die meisten Informationen nur mündlich weitergegeben worden sein. Eine Augen- und Ohrenzeugenschaft ist demnach bei diesen Dokumenten auszuschließen. Auch von den Berichten im Neuen Testament weiß man heute, dass sie nicht von den Verfassern stammen, deren Namen sie tragen. Nahm man zum Beispiel früher an, dass der Evangelist Johannes Markus das nach ihm benannte Werk verfasste, so weiß man heute, dass diese Namen nichts mit den eigentlichen Verfassern dieser Dokumente zu tun haben. Sämtliche (!) Evangelien sind daher sogenannte Pseudepigraphien. /30/

Gleiches gilt für die Apostelgeschichte. An der Art der Darstellung glaubte man zu erkennen, dass hier ein Augen- und Ohrenzeuge die Feder führte. Ging man bald zwei Jahrtausende davon aus, dass dies der Arzt Lukas, ein Reisebegleiter des Apostels Paulus gewesen sei, so ist dies im Lichte aktueller wissenschaftlicher Ergebnisse ganz anders zu sehen. „Jedenfalls wird in der heutigen neutestamentlichen Forschung selbst von konservativen Forschern (W.G. Kümmel!) anerkannt, dass es sich beim Verfasser nicht, wie früher vielfach ange nommen, um einen Reisebegleiter des Paulus handeln kann.“ /30/ Die Theologin Uta Ranke-Heinemann spricht daher ganz offen von Grimms Märchen, wenn sie die Historizität dieser Berichte und die Bekehrung des Paulus beurteilt. /48/ Für die Suche nach dem geschichtlichen Jesus ist dieses Stück des Neuen Testaments daher weitgehend ungeeignet. Über Argumente zu dieser Sichtweise jedoch später mehr.

Mit den Worten des Neutestamentlers Traugott Holtz wäre zu schlussfolgern, dass wir „in den Briefen des Apostels Paulus … die ältesten schriftlichen Zeugnisse von Jesus“ vor uns haben. /10/ War dies vor wenigen Jahren die allgemeine Auffassung der Theologen, so ist dieser Sachverhalt spätestens seit den Arbeiten des Berliner Theologen Hermann Detering /30/ ebenfalls neu zu beurteilen. (vgl. 2.3.1.) Hinzu kommt, dass uns auch alle Berichte der nichtchristlichen römischen Historiographen nur als Abschriften christlicher Schreiber vorliegen, so dass, wie man nachweisen konnte, die Gewähr für eine detailgenaue Textübertragung nicht gegeben ist und in einigen Fällen sogar mit bewussten Einschüben oder sonstigen Verfälschungen im Vergleich zum Originaltext zu rechnen ist. „Es gibt unter den Gläubigen einige, die … das Evangelium nach seiner ersten Niederschrift dreifach und vierfach und vielfach umprägen und umformen, um den Beweismitteln gegenüber die Möglichkeit des Ableugnens zu haben“, so der platonische Philosoph Celsus schon Ende des ausgehenden 1. Jahrhunderts u.Z. in seiner Kritik am Christentum. /41/ Vorsicht bei der Beurteilung dieser Quellen ist also in jedem Fall geboten.

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich eine Reihe von Fragen, deren Untersuchung und Beantwortung Gegenstand der vorliegenden Recherche sein sollen:

- Wie sind die vorhandenen Quellen zu bewerten, die uns über Christus oder Jesus berichten?

- Kann das Leben Jesu in Form einer Biographie erkundet und nachgezeichnet werden?

- Hat Jesus als Mensch aus Fleisch und Blut überhaupt jemals gelebt oder ist er eine rein literarische Figur?

Ziel der vorliegenden Recherche ist es also, insbesondere die letzte Frage – so weit heute noch möglich – zu beantworten, um das „Fragezeichen“ hinter dem Namen Jesus überflüssig zu machen.

1.2. Prämissen für die vorliegenden Untersuchungen

Um ein möglichst klares Bild von dem Menschen zu bekommen, den wir allgemein unter der Bezeichnung „Jesus von Nazareth“ kennen, sollen folgende Bedingungen für unsere Recherche gesetzt werden:

1. Es gibt a priori keinen Grund, die Geschichtlichkeit Jesu anzuzweifeln noch sie als gegeben vorauszusetzen. Da es bisher nicht gelungen ist, Beweise für oder gegen diese Historizität zu erbringen, bleibt derzeit nur die Feststellung ihrer Wahrscheinlichkeit. Dies erfordert die unvoreingenommene, vorurteilsfreie Untersuchung und Nutzung vorhandener Indizien (literarische Quellen, historische Fakten, archäologische Befunde etc.) und deren sachliche Wertung.

2. Zur Ergebnisfindung wird religiöser Glaube ausgeschlossen. Einzig die sich der menschlichen Vernunft erschließenden Fakten und Zusammenhänge sollen berücksichtigt werden.

Falls Jesus eine historische Persönlichkeit ist und somit ein „Mensch aus Fleisch und Blut“ war, so ist er auf natürlichem Wege geboren worden und gestorben. (Hinweise zu seiner übernatürlichen Geburt und seiner Wiederauferstehung nach dem Tod können im Rahmen dieser Untersuchung demnach nur insoweit von Interesse sein, wie sie andere Fakten oder Zusammenhänge erhellen können. Dasselbe gilt für die Jesus zugeschriebenen Wundertaten und sein rational unerklärliches Wirken entgegen der Naturgesetze.)

3. Stellt sich die Historizität Jesu als eher wahrscheinlich heraus, sollten die historischen Gegebenheiten zur Zeit seines Auftretens und die Folgen seines Wirkens auf die Herausbildung des Christentums von besonderem Interesse sein. Rückwirkend mag dadurch die Geschichtlichkeit Jesu untermauert werden.

Zeigt sich dagegen, dass an der historischen Existenz Jesu eher gezweifelt werden muss, steht weiter zu untersuchen, was zur Erfindung dieser fiktiven Figur führte. Dies mag Irrtümer im Rahmen der Befürwortung eines historischen Jesus klären helfen.

4. Da bisher weder archäologische noch andere Artefakte die Geschichtlichkeit der Person Jesu stützen, bleibt nur die Heranziehung und Wertung literarischer Quellen. Hierbei ist von Fall zu Fall zu entscheiden, was als wahrscheinliches Zeugnis für oder gegen die Historizität Jesu gelten kann. Da die Zeugniskraft derartiger Quellen mit zunehmender apologetischer Literatur naturgemäß immer geringer wird, sind besonders frühe Hinweise der Literatur für unser Anliegen sehr viel wertvoller als spätere Schriftindizien. Eine möglichst exakte Datierung der Quellen ist damit ebenso wichtig wie die Berücksichtigung eventueller gegenseitiger Beeinflussung.

5. Da die hier zu untersuchende Frage zahlreiche wissenschaftliche Einzeldisziplinen von den unterschiedlichen Sparten der Theologie über die Archäologie bis hin zu verschiedenen historischen Fachgebieten umfasst, ist weitgehend auf die Forschungsergebnisse und Einschätzungen der Experten zurückzugreifen. Die vorliegende Studie ist daher vor allem eine Literaturrecherche. So oft wie es sinnvoll ist, sollen daher auch die Ansichten der einzelnen Experten vorgestellt werden. Ganz bewusst wird deshalb häufiger als üblich mit Zitaten anderer Autoren gearbeitet.

1.3. Wer sagt was? Widersprüche und offene Fragen

Schon bei einer flüchtigen Durchsicht der grundlegenden Quellen zur Geschichtlichkeit Jesu fallen zahlreiche Widersprüche auf. Bereits der brillante alexandrinische Kirchenvater Origenes (185-253/254 u.Z.) bemerkte derartige Ungereimtheiten zwischen den synoptischen Evangelien und dem Johannes-Evangelium. Origenes äußerte daraufhin die Vermutung, der Heilige Geist hätte bewusst solche Antinomien in das Johannes-Evangelium eingefügt, „damit der Leser sich durch Verblüffung zu der Frage genötigt sehe, was sie ihm wohl sagen wollten.“ /331/ Derartige Widersprüche betreffen aber nicht nur die Texte des Neuen Testaments, sondern auch deren heutige Interpretationsversuche. Daraus resultierende Fragen gibt es also zuhauf. Willkürlich ausgewählte Beispiele sollen das belegen:

- Warum sind schon die Angaben über Jesu Herkunft, Geburt und Familie so unbestimmt? Die Bibel gibt uns zwei völlig verschiedene Stammlinien seiner Vorfahren.

Auch aus der Zusammenlegung von prophetischer und danielisch-apokalyptischer Eschatologie ergibt sich ein Persönlichkeitsproblem, wie schon Albert Schweitzer bemerkte. /195/ Wie konnte der Messias Abkömmling Davids und zugleich der übernatürliche Menschensohn sein?

Und was ist mit Jesu Vita? Wann und wo wurde er geboren? Einige Forscher glauben, Jesus sei in Bethlehem zur Welt gekommen, andere sehen Nazareth als Geburtsort Jesu an. Der Verfasser des Lukas-Evangeliums geht von vornherein davon aus, dass Jesu Wohnort Nazareth ist, während das Matthäus-Evangelium nahelegt, dass Jesu Eltern bereits in Bethlehem wohnten und erst später nach Nazareth umsiedelten. Auch die weiteren Einzelheiten dieser beiden Geschichten passen in keiner Weise zusammen, wie Antes ausführlicher darlegt. /19/ Historisch verifizierbare Angaben über die Eltern Jesu gibt es nicht. „Über Jesu Vorfahren ist nichts bekannt.“, so das nüchterne Urteil Augsteins. /16/

- Warum übersetzt Luther den Namen des Mosenachfolgers im Alten Testament mit „Josua“, obwohl er den gleichen Namen hat wie „Jesus“? Beide heißen im Hebräischen „Jeschua“, das bedeutet „(Gottes)Rettung“. Wieso also dieser Unterschied im Text unserer Bibeln, während die Bibeln der Ostkirchen beide Namen ganz richtig als „Jesus“ übersetzen?

- Hatte Jesus Geschwister? Die Bibel berichtet davon und nennt sogar Namen. (Mk 6,3 und Mt 13,55) Danach hatte er „mindestens zwei Schwestern und vier Brüder“. /5/ Neben Jakobus, der später die christliche Urgemeinde Jerusalems geführt haben soll, die weiteren Brüder mit Namen Joses (=Joseph), Judas und Simon. Die katholische Kirche bestreitet dies vehement. Sie ist der festen Überzeugung, dass die Jesus-Mutter Maria vor, während und nach der Geburt ihres erstgeborenen Sohnes Jungfrau war und blieb und Jesus ihr einziges Kind gewesen sei. /1//507/ Warum aber spricht man überhaupt von einer „Jungfrauengeburt“, obwohl die älteren Schriften immer nur von einer „jungen Frau“ berichten?

- Warum erfahren wir so viel Unklares und zum Teil Widersprüchliches über die Jünger Jesu und warum haben dieselben Personen verschiedene Namen? So heißt der Zöllner des Lukas-Evangeliums „Levi“ (Lk 5, 27-29), im anderen Evangelium nur „Sohn des Alphäus“ (Mk 2,14) und in einem weiteren Evangelium sogar „Matthäus“ (Mt 9,9 und 10,3), ein Name, der von den Evangelisten Markus (Mk 3,18) und Lukas (Lk 6,15) einem ganz anderen Jünger zugeordnet wird.

Verwirrung auch bei Petrus, dessen Name Simon Kephas ist. Bei Matthäus (Mt 16,17) und Johannes (Joh 1,42) ist er ein Sohn des Jonas1, an einer anderen Stelle (Joh 21,15) spricht der gleiche Evangelist Johannes von diesem bedeutenden Jünger und Apostel aber als „Simon, Sohn des Johannes“. Weder der Evangelist Markus noch der Evangelist Lukas nennen denselben Jünger so.

- Wie erklären sich die widersprüchlichen Darstellungen von Jesu Kreuzigung? Weder Tag noch Stunde werden in den verschiedenen Evangelien übereinstimmend genannt. Es steht nicht einmal fest, sagen Historiker angesichts der bekannten Kreuzigungsszene, „dass die Mutter des historischen Jesus Maria hieß“. /360/ Nach Johannes war Jesu Mutter Maria zusammen mit ihrer Schwester (griechisch: adelphe) zugegen, die aber ebenfalls als „Maria, die Frau des Klopas“ bezeichnet wird. (Joh 19,25) Wie können zwei Schwestern den gleichen Namen tragen, wenn sie Kinder gleicher Eltern waren?

- Was hat es mit den offensichtlichen Textlücken im Markus-Evangelium auf sich? (z.B. Mk 10,46) Was und warum wurde hier später gestrichen und was passierte in Jericho? Wer ist der ominöse „junge Mann“ in diesem Evangelium (Mk 14,50-52), der nur mit einem Leinentuch bekleidet war und nackt floh, als man Jesus gefangen nahm? Wieso gibt es neben dem uns bekannten Markus-Evangelium noch ein weiters, „geheimes Markus-Evangelium“?

- Wie verlässlich und detailtreu sind die Aussagen der Augen- und Ohrenzeugen, deren Berichte die Grundlage unserer Evangelien sein sollen? Dazu wenige Beispiele: Nach dem Evangelium des Lukas war Jesus ungefähr 30 Jahre alt, als er etwa gleichzeitig mit dem Täufer Johannes auftrat. (Lk 3,23) Das Johannes-Evangelium legt aber nahe, dass Jesus damals schon fast 50 Jahre alt war. (Joh 8,57) Wer hat eigentlich Recht?

Oder: Wieso gibt es im Evangelium nach Matthäus eine Rede Jesu auf einem Berg, während der Evangelist Lukas nur von einer Ansprache auf einem Feld weiß? Und warum ist das anlässlich dieser Rede verkündete Reich Gottes so schwer fassbar? Ist dieses Himmelreich bereits da, wie im Markus-Evangelium verkündet wird (Mk 1,15) /140/ oder ist es „die absolute Zukunft“, wie andere Bibelstellen bezeugen und manche Theologen meinen? /268/ Ist dieses Reich in uns oder gilt es für die äußere Welt? Ist es sowohl als auch oder weder noch? Jesus hat dieses Reich schon denjenigen versprochen, die ihm einst zuhörten. Warum sind jedoch (bis heute) schon zweitausend Jahre vergangen, ohne dass dieses Versprechen erfüllt wurde?

- Wieso berichtet das Johannes-Evangelium bei hochwichtigen Einzelheiten etwas anderes als die Synoptiker? Während Markus, Matthäus und Lukas übereinstimmend aussagen, dass die Vertreibung der Wechsler und Händler aus dem Tempelgelände zu Jesu letzten Taten in der Öffentlichkeit zählte, ist dies bei Johannes die erste öffentliche Handlung. Auch von den letzten Tagen Jesu erfahren wir bei Johannes eine ganz andere Version als in den übrigen Evangelien des Neuen Testaments.

- Welche Rolle spielt der Jesus-Verräter Judas eigentlich in der ganzen Geschichte? War er wirklich ein Verräter? Dann müsste auch Gott seinen Sohn Jesus „verraten“ haben, wie ein Blick in den griechischen Originaltext der Evangelien zeigt. Und was sagt das erst vor wenigen Jahren wiederentdeckte Evangelium des Judas dazu?

- Wann feierte Jesus das letzte Mahl mit seinen Jüngern? Nach den synoptischen Evangelien am 15. Nisan, nach dem Evangelium des Johannes aber schon am 14. Nisan. Wieso heißt es, der Gekreuzigte werde nach drei Tagen auferstehen (Mk 8,31), wenn es doch von Karfreitag bis zum Morgen des Ostersonntags nicht einmal zwei Tage sind? Starb Jesus am Donnerstag oder Freitag, wurde er am Morgen oder erst am Nachmittag gekreuzigt? In der Bibel werden alle diese Tage und Termine genannt.

Was also ist die Wahrheit? Welche Fassung ist dichterische Freiheit? Was ist Geschichte und was dogmatische Absicht?

War Jesus nun Mensch, ein leibliches Wesen aus Fleisch und Blut? Oder sollte er eher als Sohn Gottes gesehen werden, wie es die katholische Kirche meint? Als Sohn, neben dem Vater und dem Heiligen Geist? Wieso spricht man eigentlich von dieser Dreifaltigkeit Gottes, obwohl die christliche Religion sich eindeutig als monotheistisch bezeichnet?

1 Die deutsche Schreibweise Sohn Jonas entspräche dem aramäischen „Bar Jona“ (bar yawna) /360/. Es könnte dabei sich um einen Kosenamen („Täubchen“ oder wörtlich „Sohn der Taube“) handeln. Dennoch sind die Wirrungen um die unterschiedlichen Bezeichnungen des Jüngers damit nicht geklärt. Kamal Salibi bemerkt dazu: „Dürfen wir das etwa so verstehen, dass Jesus Simon Kephas manchmal zärtlich mit „Täubchen“ anredete, was Matthäus und Johannes als seinen Familiennamen ansahen? Kann es sein, dass sein Vater tatsächlich Johannes hieß? Oder besteht auch hier wieder die Möglichkeit, dass die Evangelien zwei verschiedene Personen verwechseln, die zwar den gleichen Vornamen, jedoch verschiedene Familiennamen haben?“ /360/

Kapitel 2

Jesus in christlichen Quellen

2.1. Jesus im Neuen Testament – Irgendetwas stimmt hier nicht!

2.1.1. Der Ursprung – Die vier kanonischen Evangelien

Das sogenannte Neue Testament, also jener Teil der Bibel, der zusammen mit der hebräischen Bibel der Juden den Christen als Heilige Schrift der göttlichen Offenbarung gilt, gibt uns die ersten Nachrichten über Jesus Christus und sein Wirken. Es vereint 27 Schriften aus der Zeit des sich herausbildenden Christentums, die Jesus Christus im Rückbezug auf die hebräische Bibel als Messias und Sohn Gottes verkünden. Das Neue Testament umfasst die vier bekannten Evangelien nach Markus, nach Matthäus, nach Lukas und nach Johannes, in denen über Jesu Leben, sein Sterben und Auferstehen berichtet wird, ferner die Apostelgeschichte und 21 Briefe an frühchristliche Gemeinden, die in der Mehrzahl traditionell dem Apostel Paulus zugeschrieben werden. Das letzte Buch ist in der Art einer Apokalypse verfasst worden. Es ist die Johannesoffenbarung.

Welch hohe Bedeutung dem Neuen Testament auch für die Suche nach dem historischen Jesus zukommt, lässt sich bereits anhand des „Katechismus der katholischen Kirche“ ermessen: Wörtlich ist da zu lesen:

„Das Neue Testament, dessen zentrales Thema Jesus Christus ist, bietet uns die endgültige Wahrheit der göttlichen Offenbarung. Die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die das Hauptzeugnis für das Leben und dieLehre Jesu sind, bilden darin das Herzstück aller Schriften und nehmen in der Kirche eine einzigartige Stellung ein.“/1/ (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Neben diesen sogenannten „Hauptzeugnissen der endgültigen Wahrheit über Jesu Leben“ existieren zahlreiche weitere Textnachrichten über Jesus und sein Wirken aus den ersten Jahrhunderten u.Z., die der sogenannten apokryphen, also geheimen oder verborgenen, nichtkanonischen Literatur zugerechnet werden. Auch sie wurden von Christen verfasst, verbreitet und genutzt, aber aus verschiedenen Gründen nicht in den Kanon der neutestamentlichen Schriften aufgenommen.

Beispiele dafür sind die Evangelien des Petrus (2. Jh.), das des Jakobus (um 150 u.Z.) und des Thomas (2. Jh.) sowie das erst kürzlich wiederentdeckte Evangelium des Judas (Ende 2. Jh.). Ferner gnostische Evangelien, wie „Die Sophia Christi“ oder „Die Pistis Sophia“, eine umfangreiche Literatur zur Apokalyptik sowie einige Kindheitsevangelien jüngeren Datums. /52/ Alle uns heute vorliegenden christlichen Texte, ob als kanonisch anerkannt oder als apokryph nicht in die Bibel aufgenommen, sind in Koiné-Griechisch verfasst worden, einer zu griechisch-römischer Zeit im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten Verkehrs- und Handelssprache.

Die vier Evangelien des Neuen Testaments gelten neben den Schriften des Apostels Paulus gemeinhin als die ersten und ältesten Nachrichten über das Leben Jesu. Wegen ihrer Ähnlichkeit und inneren Zusammenhänge bezeichnet man die ersten drei auch als synoptische Evangelien. Die schriftliche Fixierung des ältesten dieser Evangelien nach Markus setzte man bisher im Allgemeinen auf die Zeit um 60 bis 70 u.Z. an. /16//68//77/ Textanalysen zeigen, dass es neben anderen Quellen auch als Vorlage für die Evangelien nach Matthäus und Lukas anzusehen ist. Deutlich ist zu erkennen, dass Matthäus den Inhalt des Markus-Evangeliums voraussetzt, benutzt der Autor doch insbesondere für seine Beschreibung des geografischen und zeitlichen Auftretens Jesu die Darstellung seines Vorgängers. Da der Text des Matthäus-Evangeliums in einem Brief des Bischofs Ignatius bei seinen Adressaten als bekannt vorausgesetzt wird und Ignatius nach traditionellem Verständnis spätestens 117 u.Z. den Märtyrertod erlitten haben soll, wurde die Fixierung des Matthäus-Evangeliums auf etwa 80 bis 100 u.Z., die des Markus-Evangeliums naturgemäß zeitlich früher auf etwa 70 u.Z. festgesetzt. /10//68/ Für die Evangelien nach Lukas und Johannes wird die Zeit um 90 bis 100 u.Z. vermutet. /68/ Da einige Forscher auch um Jahrzehnte später datieren, wurde traditionell der Zeitraum von 70 bis 130 u.Z. als Entstehungszeitraum für die Evangelien angenommen. /72/ Heute geht man allerdings davon aus, dass die Ereignisse um Ignatius erst in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts u.Z. und demzufolge etwa 70 Jahre später stattfanden /63/, so dass die herkömmliche Datierung der Evangelienabfassungen nicht aufrecht erhalten werden kann. Dies führt zu erheblichen Konsequenzen und neuen Konstellationen.,(vgl. 4.1.)

Schon der sehr unterschiedliche Aufbau der synoptischen Evangelien erklärt das kaum entwirrbare Durcheinander, wenn es darum geht, auch nur den zeitlichen Ablauf der Ereignisse um Jesu Wirken genauer zu fixieren. Und so ist das Ergebnis der schwierigen analytischen Arbeit der Fachleute weder einfach zu vermitteln, noch leicht zu verstehen. Welche Probleme sich allein hier ergeben, verdeutlichen exemplarisch acht schwer zu lesende Seiten, die Delling diesem Bemühen widmet. /50/ Die Bibelforscher schlagen sich denn auch mit „Sondergut“, speziellen „Überlieferungsstücken“ und „Redequellen“ herum, die in dem einen oder anderen Evangelium „weithin ganz anders geordnet“ sind und nur selten um einen hier und da vorgegebenen „Aufriss“ in einen einigermaßen nachvollziehbaren „Rahmen“ zu bringen sind. So ist zum Beispiel der gemeinsame Stoff des Lukas-Evangeliums und Matthäus-Evangeliums im letztgenannten Evangelium „weithin ganz anders geordnet“, so dass für beide Texte zwar eine gemeinsame Vorlage anzunehmen ist, dennoch aber zahlreiche Unstimmigkeiten nicht von der Hand zu weisen sind. Ein tiefgründiger Vergleich der Evangelien macht ferner deutlich, dass manche ihrer Einzelstücke verschieden gewichtet auch in unterschiedliche Zusammenhänge gestellt werden. Da letztlich auch textliche Unterschiede zwischen diesen parallelen Einzelstücken auffallen, ist außerdem davon auszugehen, dass vielleicht sogar mehrere Vorläufer dieser Quelle, etwa in unterschiedlichen Sprachen, existierten. Im Gegensatz dazu weist die völlige Übereinstimmung einzelner Passagen wiederum auf einen einzigen Überlieferungsstrang oder die nachträgliche Textangleichung bei Abfassung des griechischen Textes hin.

Als wahrscheinliche Quelle sieht Holtz eine “Sammlung von Jesusworten“, deren Vorlage in geschlossener Form aber wiederum infrage steht. /10/ Während Holtz berechtigt zweifelt, hat Delling sogar ziemlich genaue Vorstellungen über die Vorgeschichte der Evangelien. Selbst die sprachliche Fassung und regionale Verbreitung etwaiger Vorgängerquellen ist für diesen Theologen klar: „Am Anfang der Vorgeschichte der Synoptiker steht“, so Delling, „die mündliche Weitergabe der Worte und Gleichnisse Jesu und der Berichte über ihn, im Ganzen zunächst in aramäischer Sprache, solange die Christenheit auf Palästina beschränkt blieb.“ /50/ Diese Vermutungen leitet Delling unter anderem vom sogenannten „Sondergut“ im Lukas-Evangelium ab, dessen „Inhalt weithin deutlich durch seine palästinischen Züge gekennzeichnet“ ist und demnach „alte Überlieferung“ bietet. /50/ Scheinbar steht diese Mutmaßung aber doch auf zu tönernen Füßen, schließt doch der Autor an gleicher Stelle für das Lukas-Evangelium nicht aus, „dass die Wiedergabe des Stoffes schon in dem möglicherweise im Luk.-Ev. verarbeiteten Evangelium eine gewisse hellenistische, außerpalästinische Farbe erhalten haben mag.“ /50/ Solange die Christenheit auf Palästina beschränkt blieb, so die weitere Schlussfolgerung, erfolgte die mündliche Weitergabe in aramäischer Sprache. Da von Delling allein dieser Verbreitungsweg der Evangelien vorausgesetzt wird, sind seine weiteren Ableitungen zwar folgerichtig, aber nicht unbedingt historisch korrekt. Danach hat „die Christenheit… recht früh … diese Grenzen überschritten. Im Anschluss an das Martyrium des Stephanus (um 31 u.Z.; Anm. d. Verf.) erhebt sich eine Christenverfolgung in Jerusalem, die zur Folge hat, dass das Evangelium in die Diaspora hinausgetragen wird.“ /50/ Dadurch wurde es notwendig, die Jesusüberlieferung ins Griechische zu bringen, zumal man sich mehr und mehr an „Griechen“, d.h. Nichtjuden, also Unbeschnittene griechischer Zunge, wandte. Wann dies geschehen ist, so Delling, ist nicht mehr feststellbar. /50/

Ganz anders Brinkmann. Nach seiner Auffassung wurde keines „der Evangelien … in Israel geschrieben. Alle reflektieren das Verständnis von sich herausbildenden christlichen Gemeinschaften in den jeweiligen geographischen Orten, die sie repräsentieren.“ /86/ Auch Stauffer betont, dass „viele Jesusworte der Evangelien, die man bisher für gut jesuanische hielt … vielmehr aus der vorjesuanischen (täufertheologischen) oder nachjesuanischen (palästinachristlichen) Lehrüberlieferung“ stammen…“. /343/

Ob also die Vorstellung Dellings, dass die Evangelien von Jerusalem „in die Diaspora hinausgetragen“ wurden, den einzig denkbaren Verbreitungsweg frühchristlicher Inhalte beschreibt, ist noch zu untersuchen.

Allein diese wenigen Bemerkungen zeigen, wie kompliziert eine sach- und fachgerechte Beurteilung derartiger Quellen ist.

Obwohl laut Bornkamm der „Versuch den ursprünglichen Entwurf des Evangeliums nach Markus zu rekonstruieren … ein hoffnungsloses Unterfangen“ ist /166/, liefert uns der Markusstoff laut James D. Tabor zumindest das „narrative Grundgerüst der Laufbahn Jesu“, auf dem Matthäus zwar als Hauptquelle aufbaut, dessen Text er aber nachhaltig redigiert. Darüber hinaus soll Matthäus eine Sammlung der Reden und Aussprüche Jesu verwendet haben, die in der Fachwissenschaft auch als sogenannte Logien-Quelle „Q“ („Q“ von Quelle) bezeichnet wird, die dem Verfasser des Markus-Evangeliums aber offensichtlich noch nicht bekannt war. /68/

Ursprung dieser Ansicht über eine jesuanische Sprüchequelle ist die bereits erwähnte Tatsache, dass beide Evangelien zahlreiche und zum Teil wörtliche Übereinstimmungen aufweisen, die in den übrigen Evangelien nicht zu finden sind. Hieraus leitete die neutestamentliche Fachwelt ab, dass den Verfassern Lukas und Matthäus eine prinzipiell identische schriftliche Fassung von Jesussprüchen vorlag, die beide in ihren Texten berücksichtigten (Zweiquellentheorie). Danach verwendete der Evangelist Lukas sowohl die Texte des Markus als auch der Logienquelle als Vorlage seines Berichtes, den er dann durch eigenen Erzählstoff anreicherte.

Die Annahme einer solchen Spruch- oder Logienquelle „Q“ ist jedoch rein hypothetisch, gibt es doch unabhängig von der Zweiquellentheorie keinerlei Beleg für eine Sprüchesammlung, die wirklich auf Jesus zurückginge. „Q“ ist also nie gefunden oder nachgewiesen worden. Obwohl diese Quelle für viele deutsche Theologen ein unantastbares Faktum ist, sieht Augstein darin eine „ominöse Quelle“ und „reine philologische Konstruktion“. /16/ Selbst innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft ist umstritten, ob es schon vor der Fixierung des Markus-Evangeliums überhaupt schriftliche Aufzeichnungen über Jesus gab, die als Vorlage der Evangelien gedient haben könnten. Der Historiker Kamal Salibi verweist auf Vermutungen über eine vergessene „Anthologie von Aphorismen und Sprüchen“, die eventuell „zur überlieferten aramäischen Folklore“ gehört haben könnten. /360/ Doch selbst wenn derartige literarische Vorläufer existiert haben sollten, ist nicht sicher, wieweit darin Historisches mit Brauchtum, Folklore und mit Vorstellungen des Glaubens vermischt war. Auch der Neutestamentler Stauffer betont, dass die Logienquelle „keineswegs überall authentische und unverfälschte Jesusworte“ bot, sondern „vielerlei täufertheologisches und urkirchliches Logiengut“ enthielt, „das mit Jesus wenig oder gar nichts zu tun hat.“ /343/

Mit seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ veröffentlichte Bultmann schon 1921 ein Standardwerk zur Exegese neutestamentlicher Literatur, in dem er eine sehr tiefgründige formgeschichtliche Analyse der synoptischen Evangelien gibt. Wie andere (z.B. Dibelius) kommt auch er zur Ansicht, dass selbst die ältesten Quellen, die den Evangelien zugrunde gelegen haben mochten, „nicht als objektive historische Berichte betrachtet werden“ können, weil auch sie schon vom Glauben geprägt wurden. /87/ Auch nach der heute gängigen formgeschichtlichen Auffassung gelten die Evangelien nicht als Produkte aus einem Guss, sondern als Kompositionen unterschiedlicher Tradition. „Nun sollte man erwarten“, so Detering, „dass diese Traditionen auch vor der Entstehung der Evangelien kursierten und dann von deren Verfassern gesammelt, bearbeitet und ergänzt wurden. Das Erstaunliche aber ist: Es lassen sich keinerlei Spuren des Markus-Evangeliums vor seiner literarischen Fixierung nachweisen bzw. es gibt schlechterdings keine Zeugen für die Existenz synoptischer Traditionen aus der Zeit vor Markus (bzw. den übrigen Synoptikern).“ /32/

Auch im vierten unserer kanonischen Evangelien, dem Evangelium nach Johannes, ist die Chance, dem historischen Menschen Jesus näher zu kommen, von vornherein begrenzt. „Sein Evangelium ist durchtränkt von der … ‚Gnosis’ (=Erkenntnis) /16/, weil sie laut Conzelmann „biblische (alttestamentarisch-jüdische, später auch neutestamentliche) Aussagen mit iranischen, babylonischen und ägyptischen Ideen verbindet.“ /262/ Originär und anders als bei den Synoptikern legt dieses Evangelium sich sehr klar darauf fest, dass der Mensch allein durch den Glauben an Jesus zur wahren Gotteserkenntnis gelangen könne. Jesus wird hier als der einzige „von oben“ her Kommende präsentiert: „Ihr stammt von unten, ich stamme von oben; ihr seid aus dieser Welt, ich bin nicht aus dieser Welt“ (Joh 8,23) und „der von oben kommt, steht über allen“ (Joh 3,31). Durch Jesus Christus ist „die Welt gemacht“ (Hebräer 1,2) und allein durch diese „christologische Ausrichtung des Schöpfungsglaubens unterscheidet sich das Christentum von allen anderen Religionen.“ /362/

Nahezu alle Fachwissenschaftler sehen im Johannes-Evangelium die jüngste der neutestamentlichen Frohbotschaften. Nach traditioneller Auffassung Ende des 1. Jahrhunderts u.Z. entstanden, weist es „keinerlei literarische Beziehung zu den drei synoptischen Evangelien auf.“ „Unter den Schriften des Neuen Testaments gehört das Johannesevangelium in den gnostischen Einflussbereich“. /362/ Der Verfasser von Johannes führt uns eine „vollkommen unabhängige Tradition vor, die sich um Jesus als übermenschlichen und erhabenen Sohn Gottes zentriert.“ /68/ Bereits Origenes stellte fest, dass in den drei synoptischen Evangelien mehr vom Menschen Jesus die Rede ist und „keines von ihnen mit gleicher Eindeutigkeit von Jesu Göttlichkeit spricht wie Johannes.“ /338/ Zwar gebrauchen auch die Synoptiker Begriffe wie „Sohn Gottes“ oder „Messias“, die man als Charakterisierung der Göttlichkeit Jesu interpretieren könnte. Zur Zeit der Niederschrift dieser Evangelien waren dies aber durchweg Bezeichnungen, die auf menschliche Rollen angewendet wurden. /339/ „Der johannesische Jesus“, so die Religionswissenschaftlerin Pagels von der Princeton University, ist aber „kein Geringerer als Gott in Menschengestalt“. /331/ Wegen seiner „übertriebenen christologischen und gnostischen Tendenzen“ wird das Johannes-Evangelium daher heute „als das am wenigsten authentische angesehen.“ Für den katholischen Theologen Terhart ist das Johannes-Evangelium „seiner geistigen Aussage nach ohnehin eher eine esoterische Offenbarung“ /310/ und sein evangelischer Kollege Bultmann bezeichnete das Johannes-Evangelium sogar als einen „Tendenzroman“. /86/

Pagels bietet eine interessante Erklärung für die Entstehung dieses „eigenartigen“ Evangeliums. Beim einem Vergleich mit den apokryphen Thomasakten erkannte sie, dass sich Thomas wie Johannes „unverkennbar einer ähnlichen Sprache und ähnlicher Bilder“ bedienten und „allem Anschein nach … ähnliche ‚geheime Worte’ die Ausgangspunkte“ beider Niederschriften waren. /331/ Letztlich kam Pagels nach monatelanger Detailarbeit zum Schluss, dass Johannes sein Evangelium in einem zu Thomas ganz verschiedenen Sinn verstanden wissen wollte und Johannes sein Evangelium nur geschrieben habe, um „das Thomasevangelium zu desavouieren.“ Dies bestätigt der Kultur- und Religionshistoriker Riley, wonach der Evangelist Johannes die uns geläufige Bibelfigur des „ungläubigen Thomas“ nur erfunden hat, um über die konkurrierenden Gemeinden der Thomas-Christen und deren Lehre den Stab zu brechen. Dies deutet klar auf verschiedene frühchristliche Gruppierungen, unterschiedliche Glaubenslehren und entsprechende polemische Auseinandersetzungen hin. (Vgl. 5.3.1.) Gegenstand der inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen christlichen Glaubensgruppen war nicht zuletzt das Johannes-Evangelium selbst. So erklärten die Anhänger der sogenannten „neuen Prophetie“ ganz im Sinne dieses Evangeliums zu handeln, wenn sie durch die Taufe dazu befähigt wurden, selbst die prophetische Gabe zu besitzen und nun sowohl Visionen empfangen als auch weissagen könnten. Gegner, wie der Führer einer römischen Gemeinde Gaius entgegneten daraufhin, das Johannes-Evangelium sei genau wie auch die Offenbarung gar nicht von Johannes verfasst, sondern von dessen ärgstem Feind Cerinth1 geschrieben worden. /331/

Ungeachtet der zahlreichen Widersprüche, die sich beim genaueren Hinsehen allein in den vier kanonischen Evangelien finden (vgl. 2.1.7.), wird für Jesus heute meist eine zusammengefasste und auf den ersten Blick stimmige Lebensgeschichte tradiert. Man vermittelt sie im Religionsunterricht wie in einschlägigen Jesus-Büchlein. Man predigt sie in Auszügen von der Kanzel oder stellt sie zu Weihnachten gar als beeindruckendes Schauspiel dar. Und so werden seit fast zweitausend Jahren merkwürdige Dinge von Jesus Christus berichtet, die der Gläubige weder anzweifelt noch hinterfragt. Auch Wundersames, das der vernünftig denkende Mensch nicht als wahres Geschehen anerkennen kann, ist darunter. Bis weit in das ausgehende Mittelalter hinein wurden diese biblischen Erzählungen als Augenzeugenberichte und Tatsachendokumente verstanden, die historische Ereignisse wiedergeben. Man war überzeugt, „Jesus habe genau so geredet und gehandelt, wie es in der Bibel steht.“ /4/ Der Gläubige von heute erinnert sich meist nur grob an diese Geschichten, die ihm seit seiner Kindheit immer wieder erzählt und ausgemalt wurden. Schon eine intensivere Beschäftigung mit der Bibel ist den meisten Menschen heutzutage fremd. Und so kennt man gerade noch in groben Zügen, was über Jesus geschrieben steht. Zusammengefasst und vom Hinterfragen befreit, ergibt sich so eine „traditionelle Lebensgeschichte Jesu“, die widerspruchsfrei zur klaren und leicht fassbaren Selbstverständlichkeit wird.

2.1.2. Eingängig und stimmig: Die traditionelle Lebensgeschichte Jesu

Nach den Berichten des Neuen Testamentes wurde Jesus von Nazareth in Bethlehem auf ganz ungewöhnliche Weise von einer Jungfrau namens Maria geboren. Seiner Mutter wurde die Geburt durch einen Engel Gottes verkündet. Einen leiblichen Vater hatte Jesus nicht, da seine Geburt von Gott veranlasst wurde, um Jesus als seinen Sohn in die Welt zu bringen.

Unter dem Dach des Zimmermanns Joseph wuchs Jesus als Ältester unter mehreren Geschwistern im Örtchen Nazareth in Galiläa auf. Über die Kindheit Jesu ist aus den Evangelien zu erfahren, dass er bereits als Zwölfjähriger die Schriftgelehrten des Jerusalemer Tempels durch seine klugen Fragen und Antworten verblüffte.

Erst über seine Taten als Erwachsener berichtet die Bibel ausführlicher. Danach verließ Jesus das Elternhaus, um sich nach seiner Taufe durch Johannes den Täufer für vierzig Tage in die Wüste zu begeben. Hier widerstand er den Versuchungen Satans, worauf Jesus in seine galiläische Heimat zurückkehrte, um in der Öffentlichkeit zu predigen und zu lehren. Er scharte zwölf gleichgesinnte Jünger um sich, heilte auf wundersame Weise Kranke und ließ selbst Tote aus ihrem Grab auferstehen. Er vollbrachte Naturwunder, predigte Nächstenliebe wie auch Feindesliebe und sprach den Armen, Kranken, Verfolgten und Beladenen das Reich Gottes zu. Überall verkündete er seine frohe Botschaft, die im Markus-Evangelium (Mk 1,15) in wenige Worte gefasst ist und von Luther so ins Deutsche übertragen wurde: „Die Zeit ist erfüllet, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Thut Buße, und glaubt an das Evangelium!“ /6/ Weil Jesus sich auch den Außenseitern der streng religiösen jüdischen Gesellschaft zuwandte, die nicht wortgetreu nach der Thora lebten und weil man ihm vorwarf, ein falscher Prophet zu sein, geriet er in die Kritik der jüdischen Religionsführer. Sie warfen ihm vor, die jüdischen Gesetze zu missachten, Gott zu lästern und das Volk aufzuhetzen. Seine eigenen Jünger verrieten und verleumdeten ihn. Von jüdischen Behörden wurde Jesus gefangen genommen und schließlich von der römischen Besatzungsmacht wegen Volksverhetzung und Gotteslästerung angeklagt und hingerichtet.

Wenige Tage, nachdem man den Gekreuzigten ins Grab gelegt hatte, war das Grab Jesu leer...

Die Bibel berichtet davon, wie Engel die Auferstehung Jesu von den Toten verkünden. Wurde dies anfangs selbst von den Anhängern Jesu nicht geglaubt, so konnten auch sie sich von dieser Wiedererweckung ins Leben überzeugen, als Jesus ihnen erneut als Mensch aus Fleisch und Blut gegenübertrat. Seine Schüler beauftragte er nun, als Sendboten allen Menschen das Evangelium zu verkünden. Daraufhin wurde Jesus vor den Augen einiger Jünger zum Himmel emporgehoben. Als Sohn Gottes kehrte er zu seinem himmlischen Vater zurück.

2.1.3. Ein wichtiger Zeuge? – Apostel Paulus und seine Geschichte

Paulus von Tarsus (gest. um 60 u.Z.) und seine Schriften gelten neben den Evangelien als wichtigste Zeugen für die Geschichte Jesu. Traditionell sieht man in Paulus neben dem Jesus-Jünger Petrus nicht nur den wichtigsten Apostel und ersten Theologen, sondern auch den erfolgreichsten Missionar des frühen Christentums. /325/ Als Jude mit dem hebräischen Namen Scha’ul soll er als gesetzestreuer Pharisäer die ersten Christen verfolgt und der Obrigkeit ausgeliefert haben. Seit seiner Bekehrung zum christlichen Glauben, dem sogenannten Damaskuserlebnis, wandelte er sich vom Gegner zum glühenden Verfechter des Christentums, sah er sich selbst als „Apostel des Evangeliums für die Völker.“ (Gal 1,15f) Auf drei langen Missionsreisen im östlichen Mittelmeerraum soll der nun „von Saulus zu Paulus“ Gewandelte vor allen den Nichtjuden den auferstandenen Christus Jesus verkündet haben. Die Apostelgeschichte nach Lukas berichtet davon. Obwohl sie erst einige Jahrzehnte nach den Ereignissen niedergeschrieben worden sein soll und wegen ihrer Idealisierungen als wenig historisch verlässlich gilt, bestätigt und vervollständigt sie unsere Kenntnisse über einige theologische und biographische Angaben der umfangreichen paulinischen Briefliteratur.

Auf seinen Reisen soll Paulus christliche Gemeinden gegründet und sie durch seine Briefe im rechten Glauben unterwiesen haben. Obwohl Zeitgenosse Jesu, war er Jesus nie begegnet, bekam er auch niemals einen Auftrag zur Verkündigung aus dem Munde seines Herrn. „Die Briefe des Paulus handeln befremdlich wenig von dem historischen Jesus, dessen Anhänger er verfolgt, den er aber nie gesehen hat“, stellt denn auch Augstein fest. /16/ Selbst wenn der 1. Korintherbrief Paulus von sich sagen lässt: „Zuletzt von allen ist er auch von mir … gesehen worden“ (1. Kor 15.8) /140/, so hat Paulus Jesus niemals mit eigenen Augen gesehen. Das wird in der Bibel auch gar nicht behauptet, lautet doch das verwendete Wort, das oft mit „sehen“ oder „erscheinen“ ins Deutsche übersetzt wird, „ophthe“. Gerade dieser Begriff aber wurde von den Anhängern der Mysterienreligionen regelmäßig verwendet, wenn im Unterschied zum Sehen nach Augenschein das „visionäre Sehen“ gemeint war. /246/

Für die Suche nach dem geschichtlichen Jesus wäre Paulus dennoch aus mehreren Gründen der wohl wichtigste Zeuge. Er war nicht nur der Zeit Jesu am nächsten, sondern laut Überlieferung auch bekannt mit dessen engsten Vertrauten. Es heißt, er ging nach Jerusalem, „um Kephas (also Petrus; Anm. d. Verf.) kennenzulernen“, und er sah Jakobus, den Bruder des Herrn. (Gal 1,18f) Dies soll schon um das Jahr 35 u.Z. gewesen sein. /324/ Dreizehn Briefe des Paulus, angeblich zwischen 50 und 60 u.Z. verfasst, wurden in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen. Merkwürdig jedoch, dass der Apologet und Kirchenlehrer Justin (etwa 100–163/166 u.Z.) von Paulus und seinen Schriften offenbar nichts weiß. Das gilt in gleichem Maße für den jüdischen Geschichtsschreiber Josephus und die an allen religiösen Entwicklungen besonders interessierten Zeitgenossen Philo von Alexandrien (um 15/10 v.u.Z.-40 u.Z.) und Plutarch (um 45-120 u.Z.), aber auch für andere Beobachter dieser Epoche, wie Seneca (um 1-65 u.Z.), Lucanus (39-65 u.Z.) oder Pausanias Periegetes (um 115 u.Z.). Dies gilt umso mehr für die historische Gestalt des Jesus von Nazareth. Die gesamte übrige Geschichte, so bemerkte Moutier-Rousset, weiß nichts von diesem Jesus von Nazareth, weder Josephus, Philo, Justus von Tiberias, Plutarch, Tacitus, Sueton, Plinius der Jüngere, Juvenal, Persius, noch Martial. /462/

Weder Jesus noch die schriftlichen Zeugnisse des Apostels oder gar seine Person werden in ihren Schriften erwähnt. Trotz der überragenden Rolle und der zum Teil aufsehenerregenden Ereignisse, die von Paulus in der Apostelgeschichte berichtet werden, nahm offensichtlich niemand Notiz von ihm. Erst beim Kirchen-Reformer und als Häretiker gebranntmarkten Marcion (vor 100-160 u.Z.) finden wir einen entsprechenden Briefkanon zu Paulus. Er ließ zehn Briefe des Paulus und das Lukasevangelium gelten, verwarf aber alles andere, einschließlich des jüdischen Schriftkanons. /362/

Von den heute als Paulinische Briefe2 bekannten Schriften werden nach traditioneller Auffassung sieben dem Apostel selbst zugeschrieben, während die übrigen Texte auch in weiten Fachkreisen als Pseudepigraphien gelten. Wir haben daher, so die landläufige Meinung, die „ältesten schriftlichen Zeugnisse von Jesus nicht in den Evangelien des Neuen Testaments, sondern in den Briefen des Apostels Paulus“ zu sehen. /10/ Nur selten werden das Matthäus-Evangelium und der Jakobsbrief für älter gehalten. /50/ Wenn es sich also bei den Paulinischen Schriften um die am weitesten in die Zeit Jesu zurückreichenden christlichen Dokumente handelte, dann musste „auch das, was Paulus über Jesus sagte, um die Mitte des ersten Jahrhunderts gesagt worden sein, so dass man mit Sicherheit von der geschichtlichen Existenz des Mannes aus Nazaret vor der Bekehrung des Paulus ausgehen durfte.“ /30/ Sind also Paulus, seine Briefe und die Apostelgeschichte die Quellen für eine Suche nach dem historischen Jesus? Leider nein. Widmet man sich der tiefergehenden Lektüre dieser Schriften, fallen unweigerlich Merkwürdigkeiten auf. Obwohl Paulus als Zeitgenosse und unermüdlicher Eiferer für Jesus gilt, berichtet er in seinen vielen Texten kaum Nennenswertes über ihn. Selbst seine ausführlichen Briefe enthalten kaum Angaben über den Menschen Jesus. Darüber hinaus ist es erstaunlich, dass „der angeblich bei Rabbi Gamaliel in die Schule gegangene Paulus offenbar Schwierigkeiten mit der hebräischen Sprache hat und nicht in der Lage ist, die hebräische Bibel in der Originalsprache zu lesen, sondern statt dessen durchgehend die griechische Übersetzung (Septuaginta) benutzt, dazu noch in einer Version, die enge Verwandtschaft mit einer erst im 2. Jahrhundert entstandenen Ausgabe (Theodotion) hat.“ /30/ Auch der Historiker Kamal Salibi zeigt sich verwundert, dass in „den Schriften von Paulus … der historische Jesus als eher schattenhafte Gestalt“ auftaucht und somit „zu relativer Bedeutungslosigkeit reduziert wird“. /360/ Der Theologe Günther Bornemann spricht in seinem Buch über Paulus ebenfalls vom „erstaunlichen Sachverhalt“, nirgends in dessen Schriften über den „Rabbi von Nazareth, den Propheten und Wundertäter der Zöllner und Sünder, von seiner Bergpredigt, seinen Reich-Gottes-Gleichnissen und seinem Kampf gegen Pharisäer und Schriftgelehrte“ zu finden. /323/ „Alles was wir bei Paulus über Jesus erfahren, bleibt eigenartig blass und schemenhaft.“ /30/ Wir erfahren, Jesus sei „geboren von einer Frau“, (Gal 4,4) doch wir lesen nichts von einer wunderbaren Geburt. Der Name der Gottesmutter wird nicht einmal genannt! Ob Paulus je von Maria gehört hatte? Wir erfahren Spärliches von Jesu Abstammung und Herkunft (Gal 3,18 und Röm 1,4/9,4) sowie seiner Kreuzigung und Auferstehung (Röm 6,4-6,6 und Röm 4,24), doch unter welchen Umständen dies geschah, bleibt im Dunklen. Auch den Namen des Pilatus lesen wir nicht, obwohl dieser noch heute im christlichen Glaubensbekenntnis zu finden ist. Selbst vom Geschehen in Galiläa, Jerusalem und Gethsemane oder von so vertrauten Menschen wie Johannes dem Täufer und dem Zimmermann Joseph findet sich bei Paulus kein einziges Wort. Kaum verwunderlich, wenn auch von der berühmten Bergrede Jesu in den zahlreichen paulinischen Texten nichts zu finden ist.

Auch einen historisch existierenden Menschen namens Jesus erwähnen diese Schriften nie. Dagegen wird der transzendierte Begriff „Christos“ etwa 270 Mal benutzt!