Jona Ravens Rabentage - Ruth Gontrum - E-Book

Jona Ravens Rabentage E-Book

Ruth Gontrum

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Beschreibung

Gibt es andere Welten? Ist es möglich, in die Vergangenheit zu reisen, um den Ablauf der Ereignisse zu verändern?Für den 12-jährigen Jona sind diese Fragen keine Gedankenspielereien, sondern bitterer Ernst. Denn nur wenn er bereit ist, sich darauf einzulassen, wird er das drohende Unheil abwenden und seine Familie aus der tödlichen Gefahr erretten können. Das hat ihm sein neuer Mitschüler Quirin erklärt, dieser seltsame Junge, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Niemand weiß etwas über ihn, aber er kennt nicht nur Jonas Gedanken und Alpträume, sondern scheint auch mit dessen Mutter sehr vertraut zu sein. Kein Wunder, dass Jona verwirrt ist und weder von Quirin noch von seinen unbegreiflichen Erklärungen über Zeit und Raum und andere Welten etwas wissen will. Aber die Lage spitzt sich immer weiter zu und Jona hat es bald nicht mehr nur mit einer unbestimmten Bedrohung aus der Zukunft zu tun, sondern mit ganz massiven Problemen im Hier und Jetzt. Doch nicht nur er allein steckt in Schwierigkeiten. Offenbar quälen auch seinen Vater große Sorgen, über die er nicht spricht, und sogar seine Schwester, die Jona sehr nahe steht, hat ihre Geheimnisse. In dieser schwierigen Situation scheint es das Beste zu sein, Abstand zu gewinnen und wegzufahren.Aber schon bald muss Jona erfahren, dass dadurch alles nur noch schlimmer wird. In dieser fast ausweglosen Lage erweist sich Quirin als echter Freund, der Jona bei seinem Auftrag hilfreich zur Seite stehen will. Und endlich ist Jona auch bereit zu handeln. Nun beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit, denn die dunklen Ereignisse der Zukunft rücken immer näher und für eine Änderung ist es schon fast zu spät…

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Seitenzahl: 362

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Jona Ravens Rabentage
Originalasugabe:
Impressum:
1. Schatten
2. Schwarzer Montag
3. Alptraum hinter der Wand
4. Der Neue
5. Chaos
6. Frühling mitten im Herbst
7. Fragen über Fragen
8. Unter Verdacht
9. Der Auftrag
10. Flucht
11. Begegnungen im Herbstwald
12. Warnungen
13. Wechselbad der Gefühle
14. In der Falle
15. Blick durch das Tor
16. Ausflug in die Vergangenheit
17. Umkehr
18. Heimliche Zeugen
19. Geständnisse
20. Warten
21. Fakten und ungeklärte Details
22. Das Ende des Tunnels
23. Licht
Anmerkungen:
Shalton Village
Shalton Village
Shalton Village
Shalton Village
Shalton Village
Des Einhorns silberne Träne
Die Katze, die ein Engel war

Jona Ravens Rabentage

Ruth Gontrum

Ich widme dieses Buch

meinen wunderbaren Kindern

Anni und Johannes

Originalasugabe:

Ruth Gontrum

Jona Ravens Rabentage

ISBN 978-3-940868-99-2

© copyright 2011 Ruth Gontrum

© copyright 2012 Hierophant-Verlag

© Coverfoto: Ruth Gontrum

Lektorat: Ruth Gontrum

Grafik, Satz, Typografie: Hierophant-Verlag

1. Auflage 2012

Hierophant-Verlag

Im Bollerts 4 - 64646 Heppenheim

http://www.hierophant-verlag.de

Impressum:

Ruth Gontrum

Jona Ravens Rabentage

ISBN 978-3-944163-66-6

© copyright 2011 Ruth Gontrum

© copyright 2012 Hierophant-Verlag

© Coverfoto: Ruth Gontrum

Lektorat: Ruth Gontrum

Grafik, Satz, Typografie: Hierophant-Verlag

1. Auflage 2013

Hierophant-Verlag

Im Bollerts 4 - 64646 Heppenheim

http://www.hierophant-verlag.de

1. Schatten

„Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.“

Ich weiß noch genau, wie meine Tante das zu mir sagte. Wir saßen zusammen auf dem Sofa vor dem Fernseher und sahen uns einen alten Film an. In dem Moment habe ich gar nicht verstanden, was sie damit meinte, weil das mit dem Film gar nichts zu tun hatte. Erst viel später dachte ich darüber nach. Das soll wohl heißen, dass sich die wichtigen Erfahrungen im Leben irgendwie vorher ankündigen, vermute ich. Dass man schon vorher spürt, wenn etwas Besonderes auf einen zukommt.

Aber ist das wirklich so? Ich habe da so meine Zweifel. Die Erwachsenen würden wahrscheinlich sagen, dass ich eben noch zu jung bin, um das so richtig zu verstehen. Ich bin ja noch nicht mal dreizehn. Kann ja sein, dass der große Durchblick erst später kommt, aber sicher bin ich mir da nicht. Denn was war mit meiner Tante? Hat sie denn geahnt, was ihr bevorstand? Mir hat sie damals jedenfalls noch gesagt, dass sie keine Schatten erkennen könne, wenn sie an die Zukunft denkt, sondern nur Licht.

Und wenn ich an den letzten Herbst denke, dann kann ich nur sagen: da war nichts, rein gar nichts, was mich irgendwie vorgewarnt hätte. Noch eine Sekunde vorher war alles wie immer und ich hatte keinen Schimmer von dem, was da auf mich zukam – und dann plötzlich: Alptraum pur!

Aber am besten erzähle ich alles von vorne und der Reihe nach.

Ich bin, wie gesagt, erst zwölf, und ich habe eine große Schwester, die heißt Saskia und ist schon fast achtzehn, aber trotzdem schwer in Ordnung.

Und ich heiße Jona. Ja, genau, wie der in der Bibel. Früher habe ich mir nichts dabei gedacht. Man sucht sich seinen Namen ja nicht aus und nimmt ihn ganz selbstverständlich hin. Aber dann haben wir in der Grundschule irgendwann mal über den Propheten Jona im Walfischbauch gesprochen, und von da an hatte ich meinen Spitznamen weg: Fischli. Das hört sich zwar witzig an, hat mich damals aber total geärgert. Vor allem weil er von Albert kam, den ich sowieso nicht leiden konnte. Frau Gernheim, unsere Lehrerin, erzählte in der Religionsstunde, dass Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des großen Fisches zugebracht hat, und da rief Albert: „Na, Jona, jetzt wissen wir auch endlich, warum deine Haare immer so strähnig sind: Sicher hast du noch Fischtran drin!“

Alles grölte, und selbst Frau Gernheim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das habe ich ihr ziemlich übel genommen. Ich gebe es ja zu, dass es unter den Dingen, die mir manchmal das Leben schwer machen, vor allem zwei Sachen gab, die ich besonders hasste: Haare schneiden und Haare waschen. Meine Freunde hat das nie gestört, wie ich aussehe, das spielt doch nun wirklich keine Rolle. Aber der Albert, der lief schon damals immer so geschniegelt rum, dass einem übel werden konnte. Dabei sah er zu der Zeit selbst so aus, als würde er sich die Haare mit Majonäse waschen. Das habe ich ihm dann auch an den Kopf geworfen, aber er darauf ganz spitz: „Davon verstehst du noch nichts, Fischli, das ist Haargel und total in. Im Gegensatz zu fettigen, ungewaschenen Haaren.“

Und wieder hatte er die Lacher auf seiner Seite. Ich hab nur noch Rot gesehen. Meine Freunde haben mich dann zwar daran gehindert, Albert in der Pause zu verkloppen, aber dass ich von da an nur noch „Fischli“ genannt wurde, das hat niemand verhindern können. Und mit der Zeit wurde das so selbstverständlich, dass sich bald niemand mehr an den Ursprung erinnerte und keiner mehr etwas dabei fand. Nicht einmal ich selbst.

Soweit zu meiner Person. Auch sonst gibt es eigentlich nichts Bemerkenswertes an mir oder meiner Familie. Bis zu dem Montagmorgen im Oktober, nach dem nichts mehr so war wie vorher. Montage gehören für mich auch zu den lästigen Erscheinungen, die mich ziemlich nerven. Eben war noch Wochenende, keine Schule, keine Hausaufgaben, kein ewiges „Du musst jetzt ins Bett“, obwohl ich überhaupt noch nicht müde bin und der Film gerade so spannend ist – und dann ist plötzlich wieder Montagmorgen und angesagt ist aufstehen mitten in der Nacht, und vor einem liegen sechs lange Stunden Unterricht, einschließlich Geschichte bei Herrn Losemann. Das ist nicht nur endlos langweilig, sondern die anderen sind auch immer so laut, dass man nicht mal in Ruhe schlafen kann.

Noch gar nicht ganz da, saß ich wie immer morgens schon seit einer Viertelstunde auf dem Klo und versuchte, mich mit den Tatsachen abzufinden. Und wie ich mit halb geschlossenen Augen vor mich hindöse, starrt mich plötzlich von der gegenüberliegenden Wand jemand an, keinen Meter von mir entfernt! Und das war so ein böser Blick, dass mir der Schreck in alle Glieder fuhr und ich mit einem Schlag hellwach war. Aber als ich dann mit weit offenen Augen noch einmal hinsah, war da gar nichts mehr. Die gekachelte Wand, das Badehandtuch über der Stange. Sonst nichts. Ich suchte jeden Zentimeter ab, ohne Erfolg. Da war einfach nichts.

Und da höre ich auch schon meinen Vater an die Tür klopfen. „Jona? Dauert’s noch lange? Hast du dich schon gewaschen?“

„Bin grad dabei“, rufe ich zurück und lasse eine Weile das Wasser laufen. So, noch schnell den Waschlappen nass machen und dann rein in die Klamotten. Na gut, noch ein paar Spritzer Wasser auf die Haare, das wirkt überzeugender.

Und dann reiße ich die Tür auf, mach einen Schritt nach vorn – und steh mitten im Wald.

2. Schwarzer Montag

Da, wo eigentlich der Flur hätte sein müssen, mit der Streifentapete und dem Schuhschrank, waren Bäume. Unter mir fühlte es sich feucht an. Und als ich an mir herunter sah, stellte ich fassungslos fest, dass ich in Socken in einem matschigen Tümpel stand, einer Wildschweinsuhle oder so.

„Oh Mann, die Socken waren frisch gewaschen! Mami rastet aus, wenn sie die sieht!“, war mein erster Gedanke. Und dann erst wurde mir klar, dass das noch das geringste Problem war. Denn die Frage war, ob sie sie jemals zu Gesicht bekommen würde.

Wo war ich? Wo war der Flur, mein Zuhause, meine Familie? Wie war ich hierhergekommen? Wie sollte ich wieder zurückfinden? Das alles schoss mir im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, und dann erst spürte ich, dass ich noch immer die Klinke der Badezimmertür in der Hand hielt. Wie einen Rettungsanker umklammerte ich sie und machte dabei vorsichtig einen Schritt zurück, so, als könnte ich den Ablauf der Zeit umkehren und alles ungeschehen machen. Ich wagte es nicht mich umzudrehen, aber erleichtert stellte ich fest, dass der Boden unter meinem Fuß fest und eben war. Noch immer sah ich den Wald vor mir, aber als ich auch mit dem anderen Fuß wieder auf dem Fußboden stand, zog ich die Tür mit einem Ruck fest zu. Und um mich herum waren keine Bäume, sondern nur die Badezimmerwände mit ihren vertrauten Fliesen. Erleichtert atmete ich auf. Aber noch ehe ich mir Gedanken darüber machen konnte, was ich als Nächstes tun sollte, wurde die Tür von außen so heftig aufgerissen, dass ich beinahe hingefallen wäre, denn den Türgriff hielt ich noch immer fest umklammert.

„Kann ich wohl jetzt auch endlich mal ins Bad? Wofür brauchst du eigentlich so lange, wenn du dich sowieso nicht wäschst?“, fauchte mich meine Schwester an. „Und auf höfliches Anklopfen reagierst du wohl auch nicht mehr, was? Wie lange soll ich denn noch da draußen stehen und warten?“

Ich war völlig verwirrt, vor allem aber so erleichtert, dass mir ganz schwindelig wurde. Ich griff nach ihrem Arm, um mich festzuhalten, und stammelte: „Oh Saskia, bin ich froh, dass du da bist, oh Mann, ich dachte schon...“

Misstrauisch sah sie mich an. „Is’ was? Geht’s dir nicht gut?“ Sie musterte mich von oben bis unten – und dann blieb ihr Blick an meinen Füßen hängen.

„Du, Jona“, sagte sie langsam und in einem merkwürdigen Ton, „dass du vom Waschen nicht viel hältst, ist mir ja klar, aber – übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?“

Ich folgte ihrem Blick und – ja, meine Füße sahen aus, als hätte ich im Matsch gestanden. Als hätte ich? Dann war es kein Traum, keine Halluzination gewesen? In Panik riss ich die Socken von meinen Füßen und spülte mir schnell die Füße ab. Suchend sah ich mich um und stopfte dann die durchweichten Strümpfe kurzerhand in den Abfalleimer.

„Sag Mami nichts, okay?“, bat ich meine Schwester, und bevor ich mich hinauswagte, warf ich einen ängstlichen Blick in den Flur.

In den Flur. Natürlich in den Flur. Was sollte vor der Badezimmertür denn auch sonst sein? Der Flur mit seiner Streifentapete und dem Schuhschrank, über dem eines der Bilder hing, die meine Mutter malte und die im ganzen Haus verteilt waren. Dieses kannte ich noch nicht. Es stellte einen Herbstwald dar. Und es war so echt gemalt, dass man fast meinte, das modrige Laub zu riechen und den feuchten Waldboden zu spüren...

In der Küche saßen meine Eltern schon beim Frühstück.

„Morgen“, murmelte ich, setzte mich auf meinen Platz und schüttete Müsli in meine Schale. Wie üblich antwortete mein Vater betont: „Guten Morgen, mein Sohn. Das wolltest du doch sicher auch sagen.“

„Na, mein Schatz, hast du gut geschlafen? Hast du was Schönes geträumt?“ Das ist die morgendliche Standardbegrüßung meiner Mutter. Eine Antwort erwartet sie meistens nicht, weil sie dabei ständig herumwuselt und mit den Gedanken schon wieder woanders ist. Es ist ja eine Menge, was sie morgens so alles bedenken muss. Auch an diesem Morgen schwieg ich also, um ihr Gelegenheit zu geben, auch den Rest noch herunterzuspulen. Ich hätte sie synchronisieren können, so gut kannte ich ihren Text: „Hast du deine Schultasche gepackt? Alle Hausaufgaben gemacht? Du musst dir noch das Gesicht eincremen und die Haare kämmen. Was möchtest du aufs Frühstücksbrot?“

Da diese Frage die einzig wichtige ist, beantwortete ich auch nur diese: „Erdnussbutter.“ Es nervt nämlich, wenn ich in der Pause voller Heißhunger in mein Brot beiße und zu spät merke, dass Käse drauf ist.

Und dann wäre eigentlich dran gewesen: „Was möchtest du jetzt trinken? Tee oder Saft?“, aber irgendwie war sie aus der Routine gekommen, denn sie sah mich verwirrt an und fragte besorgt: „Jona, wieso hast du keine Socken an? Du wirst dich erkälten! Soll ich dir welche holen?“

„Nein, schon gut, mach ich gleich“, murmelte ich wie ertappt, und um sie abzulenken, sagte ich etwas lebhafter: „Übrigens, Mum, dein neues Bild finde ich gut, so richtig natürlich gemalt, wie echt! Ich hatte fast das Gefühl...“

„Neues Bild?“, unterbrach sie mich. „Was für ein neues Bild?“ Ein misstrauischer Blick fixierte mich.

„Na, das mit dem Herbstwald, über dem Schuhschrank im Flur!“ Ich war gerade dabei, den letzten Rest meines Bananenmüslis in mich hineinzuschaufeln und warf dabei einen Kontrollblick auf meine Armbanduhr, deshalb musste mir wohl etwas entgangen sein. Stutzig wurde ich erst, als auch nach längerer Zeit noch keine Antwort kam. „Is was?“, fragte ich einigermaßen verwirrt, als ich aufsah und bemerkte, dass drei Augenpaare mit verwundertem Blick auf mich gerichtet waren.

„Nein“, antwortete mein Vater in seiner gewohnten trockenen Art, „gar nichts. Wenn man davon absieht, dass über dem Schuhschrank auch heute wie seit Jahr und Tag ein Spiegel hängt.“

Beinahe hätte ich mich verschluckt. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Wie verpennt war ich denn heute Morgen? Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und rannte zum Flur. Über dem Schuhschrank starrten mir zwei entsetzt aufgerissene Augen aus einem bleichen Gesicht entgegen. Mein Spiegelbild. Keine Bäume. Kein Herbstbild. Überhaupt kein Bild. Nur der Spiegel, wie immer. Und davor die Bürste, mit der ich mir jeden Morgen durchs Haar fahre, bevor ich zum Bus renne.

Betreten und mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend schlich ich in die Küche zurück.

„Hm, versteh ich nicht“, brummte ich, „dann hab ich wohl noch geträumt, aber das war so...“

„Ist schon gut“, meinte meine Mutter verständnisvoll und tätschelte liebevoll meinen Arm. Und doch hatte ich das Gefühl, als sei gar nichts gut und als wollte sie mich unbedingt davon abhalten, weiter darüber zu sprechen. Und der Blick, mit dem sie mich eindringlich ansah... War das Verwunderung? Besorgnis? Eine unausgesprochene Bitte, eine Warnung sogar?

Oder war es – Angst?

An diesem Morgen war ich in der Schule nicht gerade ein Musterschüler. Ich meine, das bin ich sonst auch nicht unbedingt, jedenfalls nicht so ein Streber, der nichts anderes als Lernen im Kopf hat. Aber zu den Nieten gehöre ich auch nicht. Nur heute war einfach nicht mein Tag. Nicht nach diesem Morgen. Nicht nach diesen Erlebnissen. Oder hatte ich mir das alles nur eingebildet? War ich drauf und dran verrückt zu werden? Oder krank? Hatte mir am Ende jemand was ins Essen gemischt, das Halluzinationen hervorrief? Ich hatte mal einen Bericht gesehen über Drogendealer, die den Leuten in der Disco heimlich was ins Getränk schütten, damit sie neue Kunden kriegen. Aber ich war noch nie im Leben in einer Disco oder so gewesen. Und alles, was ich gestern gegessen und getrunken hatte, hatte der Rest der Familie auch zu sich genommen.

Und selbst wenn ich mir das alles nur eingebildet hatte – da waren immer noch die verdreckten Socken. Sobald ich zu Hause war, musste ich sofort nachsehen. Denn sie waren der handfeste Beweis, dass ich nicht geträumt hatte. Falls ich nicht doch geträumt hatte.

Die Stunden zogen sich endlos hin, aber schließlich ging auch dieser Schultag einmal zu Ende. Als ich nach Hause kam, öffnete mir meine Mutter die Tür und ich ließ wie jeden Mittag auch dieses Ritual ihrer Fragen über mich ergehen. „Hallo, mein Lieber, schön, dass du da bist. Wie war’s in der Schule? Hast du Hausaufgaben auf? Zieh bitte deine Schuhe draußen aus. Hast du dich verabredet?“

Na also. Alles wie immer. Keine misstrauischen Blicke. Kein Anzeichen, dass dieser Morgen nicht wie alle anderen vor ihm abgelaufen war. Ich schöpfte wieder Hoffnung. Wenn jetzt auch noch der Abfalleimer ohne Spuren war...

Da ich ohnehin nach der Schule immer gleich zum Händewaschen ins Bad geschickt werde, war es nicht weiter verdächtig, dass ich sofort dorthin ging. Behutsam schloss ich die Tür, drehte leise den Schlüssel herum, und während ich das Wasser laufen ließ, untersuchte ich den Abfalleimer. Die leere Shampooflasche lag noch darin, eine Unmenge ausgekämmter langer Haare von meiner Schwester und obenauf das Korallenbäumchen, das in meinem Zimmer gestanden hatte und in Folge von permanentem Wassermangel eingegangen war. Schade drum, vielleicht hätte ich doch mal daran denken sollen, es zu gießen. Aber mein Bedauern hielt sich in Grenzen. Was überwog, war die Erleichterung. Denn Socken waren da nicht drin. Kein einziger, weder schmutzig noch sauber.

Na also. Ich setzte mich auf den Klodeckel und wusste nicht so recht, ob das nun wirklich ein gutes Zeichen war oder doch eher ein schlechtes. Was war denn schlimmer: Wenn ich das heute Morgen wirklich und wahrhaftig erlebt hatte – oder wenn ich anfing, Dinge wahrzunehmen, die gar nicht da waren?

Bevor ich zu einem Ergebnis kommen konnte, hörte ich meine Mutter rufen, dass das Essen fertig sei. Es gab Kartoffelsuppe, eines meiner Lieblingsgerichte, und ich dachte, wenn es jetzt auch noch Schokoladenpudding zum Nachtisch gibt, dann ist die Welt wieder in Ordnung. Dann werde ich einfach alles vergessen, was da heute Morgen los war. Alles Quatsch. Abgehakt, vergessen und vorbei. Und was soll ich sagen? Wir waren fertig und Mami öffnete den Kühlschrank und zauberte für jeden eine große Schale mit leckerem Pudding hervor. Ich war selig. Natürlich griff ich nach der Schale, die am vollsten aussah, und fing sofort an zu löffeln.

Da höre ich meine Mutter in strengem Ton sagen: „Verdient hast du ihn eigentlich nicht, Jona. Du weißt genau, dass du deine dreckigen Socken in den Wäschekorb bringen musst und dass sie nichts im Abfall verloren haben, auch wenn sie noch so schlimm aussehen. Ich möchte bloß wissen, wie du die so einsauen konntest! Als wärst du durch Morast gewatet. Kannst du mir das vielleicht erklären?“

Mir wurde schlecht. Es war, als hätte mir eine Riesenfaust einen Schlag in den Magen verpasst. Ich konnte nur noch eine Entschuldigung stammeln, dann rannte ich aufs Klo und gab all die leckeren Sachen wieder von mir, die ich eben noch im Hochgefühl und mit bestem Appetit gegessen hatte.

Den Pudding. Die Suppe. Und sogar mein Erdnussbutter-Frühstücksbrot.

Danach schlich ich zu meinem Zimmer, zog die Vorhänge zu und legte mich aufs Bett. Ich starrte die Decke über mir an und war nicht in der Lage einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen.

Leise öffnete sich die Tür und ich sah das besorgte Gesicht meiner Mutter im Türspalt. „Jona, was ist denn mit dir? Bist du krank? Soll ich dir einen Tee kochen?“

Matt erwiderte ich: „Lass man, Mami, ich glaub, ich muss mich nur ein bisschen ausruhen. Vielleicht habe ich einfach zu hastig gegessen.“

„Bist du sicher, dass ich nichts für dich tun kann? Soll ich Doktor Haase Bescheid sagen?“

Ich konnte nur noch den Kopf schütteln und musste die Zähne zusammenbeißen, damit ich nicht anfing zu heulen. Einerseits hätte es sicher gut getan, meiner Mutter alles zu erzählen, mich in ihren Armen auszuweinen und von ihr trösten zu lassen. Aber dann fiel mir wieder ihr Gesichtsausdruck von heute Morgen ein und es war, als hätte sich ein Graben zwischen uns aufgetan. Und wie zur Bestätigung hörte ich ihre Stimme, die mit einem Mal ganz fremd und lauernd klang: „Jona, willst du mir nicht alles erzählen?“

Ich riss die Augen auf und starrte sie an.

„Was soll ich dir denn erzählen? Was meinst du damit?“

„Über die Socken vielleicht, wo du sie so schmutzig gemacht hast. Oder ... woher du etwas über den Herbstwald weißt ... über das Bild, an dem ich seit einiger Zeit male...“

Sie sprach so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Und dann schien es, als würde sie mühsam schlucken. Ich starrte sie nur an und brachte keinen Ton heraus. Da setzte sie sich auf meine Bettkante, strich mir liebevoll über den Kopf und sagte mit ihrer gewohnten sanften Stimme: „Vielleicht ist es besser, du schläfst jetzt ein bisschen. Wahrscheinlich brütest du doch irgendeine Krankheit aus, dann solltest du dich schonen. Und morgen bleibst du am besten zu Hause.“

Dann nickte sie mir noch einmal lächelnd zu, ging aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich ins Schloss.

Ich muss dann wohl tatsächlich eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war es bereits dämmrig im Raum. Nur durch einen Spalt zwischen den Gardinen drang noch ein wenig Licht herein. Ich richtete mich auf und lauschte. Hatte vorhin nicht jemand geschrien oder geweint? Aber jetzt war alles still.

Noch ganz benommen stand ich auf und verließ mein Zimmer. Von der Küche her hörte ich das leise Klappern von Geschirr und Besteck. Also war doch jemand da. Als ich eintrat, waren mein Vater und Saskia gerade dabei, ihr Abendessen zu beenden.

„Na, Jona? Geht es dir wieder besser?“, fragte mein Vater und bemühte sich mitfühlend zu klingen. Aber ich spürte, dass er mich eigentlich gar nicht richtig wahrnahm. Saskia kaute schweigend auf ihrer Unterlippe.

„Ja, geht so. Was ist denn los? Wo ist Mami?“

Saskia warf mir einen warnenden Blick zu und mein Vater presste die Lippen zusammen. „Sie hat sich zurückgezogen“, sagte er dann kurz angebunden.

Ich brauchte nicht nachzufragen. Ich wusste, was das hieß. Dann hatte ich mir das Schreien und Weinen doch nicht eingebildet. Meine Mutter ist die beste auf der Welt, aber manchmal war sie ... schwierig. Ein unbedeutender Anlass, eine geringfügige Kleinigkeit genügte, und ohne Vorwarnung rastete sie aus. Zuerst schrie sie einen an und tobte, dass man es mit der Angst bekam und schließlich fing sie furchtbar an zu weinen. Einmal, ganz zu Anfang, als ich noch klein war, hatte mein Vater sogar einen Arzt gerufen, der ihr dann eine Beruhigungsspritze gab. Sie schlief danach ziemlich lange, und während der Arzt mit meinem Vater im Wohnzimmer sprach, habe ich heimlich gelauscht. Irgendwas mit „manisch“ und „Depressionen“ habe ich verstanden, und ich war furchtbar erschrocken, als ich die Wörter „Klinik“ und „geschlossene Abteilung“ hörte. Damals stellte ich mir vor, ein Krankenwagen würde sie abholen und wegbringen und ich würde sie nie wieder sehen. Aber der Arzt ist dann bald gegangen und wir haben ihn auch nie wieder kommen lassen. Unser Hausarzt wurde dann Dr. Haase und ich weiß gar nicht, ob er über meine Mutter Bescheid wusste, ich meine, über ihre „Abstürze“, wie sie selbst diese Stimmungen nannte. Jedenfalls haben wir dann einfach immer alles über uns ergehen lassen und gewartet, bis alles vorbei war. Früher oder später zog sie sich dann in ihr Zimmer zurück und wir ließen sie in Ruhe. Am nächsten Tag sah sie dann sehr blass aus und hatte Schatten unter den Augen und war wie abwesend, aber nach und nach wurde sie wieder sie selbst, lebhaft und liebevoll, und dann konnte man sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie auch ganz anders sein konnte.

Ich wusste also Bescheid, was mein Vater meinte. Und auch Saskias Blick war verständlich. Es war eine stillschweigende Übereinkunft, dass wir nicht darüber sprachen, um unseren Vater nicht noch mehr zu quälen. Aber ich fragte mich, was diesmal wohl der Anlass für ihren Absturz gewesen war, denn ich fühlte mich irgendwie schuldig und hatte das unbestimmte Gefühl, dass es einen Zusammenhang gab zwischen meinem Befinden und ihrem.

Mein Vater räusperte sich und stand auf. „Ja, dann, ich geh dann mal in mein Arbeitszimmer. Ich habe noch zu tun. Bleibt nicht zu lange auf.“

Er ist Lehrer und verbringt viel Zeit an seinem Schreibtisch. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich so viel für die Schule tut. Vielleicht will er oft auch einfach nur seine Ruhe haben.

„Soll ich dir ein Brot abschneiden?“, unterbrach Saskia mit ihrem Sinn für das Praktische die belastende Stille, als wir dann allein waren. Plötzlich spürte ich eine große Leere in meinem Bauch und der Gedanke an Essen hatte etwas Tröstliches. Mein Appetit schien jedenfalls wieder hergestellt zu sein.

„Ja, bitte“, antwortete ich und sah sie dankbar an. „Und ... leistest du mir noch ein bisschen Gesellschaft?“

„Klar.“

Sie setzte sich mir gegenüber und sah mich erwartungsvoll an, während ich ausgehungert und mit Genuss mein Brot kaute. Ich wusste, worauf sie wartete. Oft genug schon war ich mit meinen Problemen lieber zu ihr gekommen, als mich unseren Eltern anzuvertrauen. Erwachsene versuchen immer gleich eine Lösung zu finden, während man vielleicht einfach nur mal Dampf ablassen will, und manchmal grübeln sie noch darüber nach, wenn die Sache schon längst vorbei und vergessen ist.

Mit Saskia war das anders. Sie verstand mich. Sie nahm mich ernst, aber sie rückte mir auch den Kopf zurecht, wenn ich mich in etwas verbissen hatte, das den Aufwand nicht lohnte. Und sie hatte die seltene Gabe, die Sache auf den Punkt zu bringen, bevor ich sie selbst noch richtig durchschaut hatte. Manchmal hatte ich fast den Eindruck, als wäre da eine unsichtbare Verbindung zwischen uns. Das war schon immer so gewesen, von klein auf, ganz anders als bei den Geschwisterbeziehungen, die ich von meinen Freunden kannte. Für die waren kleinere Geschwister Nervensägen, um die sie sich ständig kümmern mussten, und größere waren unerträglich in ihrer Überheblichkeit, weil sie sich auf ihre paar Jahre Vorsprung etwas einbildeten. Meine Schwester ist fünf Jahre älter als ich, aber sie hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich für irgendetwas noch zu klein und zu dumm wäre.

Ich wusste, dass jetzt der richtige Moment war, ihr alles zu erzählen. Aber wie sollte ich das alles in Worte fassen?

„Saskia“, begann ich langsam, biss noch einmal in mein Brot und kaute bedächtig, ohne sie anzusehen. „Glaubst du, dass es ... außer unserer Welt noch ... andere Welten gibt?“

„Worüber möchtest du sprechen“, erwiderte sie und in ihrer Stimme schwang so etwas wie Ungeduld mit, „über Science Fiction, hypothetische Paralleluniversen, oder ...“ Die Pause, die folgte, war nur unmerklich, aber sie ließ mich aufhorchen. Und als ich zu ihr aufblickte, vollendete sie ihren Satz: „...oder darüber, wo du dir heute früh deine Socken eingesaut hast?“

Ich starrte sie an wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Woher wusste sie...? Ich holte tief Luft und dann erzählte ich ihr, wie ich am Morgen die Badezimmertür geöffnet und statt im Flur plötzlich im Wald gestanden hatte. Gespannt sah ich sie an. Wie würde sie auf diese Geschichte wohl reagieren? Aber meine große Schwester nahm einen Schluck Tee aus ihrer Tasse, nickte und sagte so beiläufig, als hätte ich ihr ein Erlebnis von meiner letzten Klassenfahrt erzählt: „Wie bei Lucy.“

„Lucy? Was für eine Lucy?“

„Erinnerst du dich nicht mehr an die Narnia-Bücher? Lucy versteckt sich in dem alten Haus im Wandschrank und findet sich plötzlich in einer anderen Welt, in Narnia, wieder. Als sie wieder zurückkehrt, glauben ihre Geschwister kein Wort von dem, was sie erzählt, aber dann geraten sie alle in diese Welt und erleben viele Abenteuer. Schließlich werden sie dort sogar Königinnen und Könige. Es gibt eine ganze Reihe von diesen Büchern, die alle in Narnia spielen. Hast du das wirklich vergessen?“

Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern und starrte sie noch immer ungläubig an.

„Aber hat sie denn keiner vermisst? Ich meine, in ihrer richtigen Welt?“

„Nein. Als sie nach vielen Jahren aus Narnia zurückkehrten, waren sie wieder Kinder und in ihrer Welt war überhaupt keine Zeit vergangen. Zeit ist halt was Relatives.“

„Und diese Geschichten – woher kennst du die?“

„Sag mal, hast du wirklich keinen Schimmer mehr davon? Mami hat sie uns früher vorgelesen, als du noch klein warst. Ich weiß gar nicht, ob die Bücher noch existieren. Sie waren damals schon reichlich zerfleddert. Sie stammten noch aus Mamis Kindheit und sie hat sie nie aus der Hand gegeben.“

Noch einmal dachte ich angestrengt nach, aber da tauchte nichts aus meiner Erinnerung auf. Und selbst wenn ich mich erinnerte – was hatten diese Geschichten mit mir zu tun?

„Meinst du, ich habe mir das Ganze heute Morgen nur eingebildet? Oder ob es so was wirklich gibt?“

Saskia zuckte die Schultern. „Was weiß ich. Möglich ist alles. Vielleicht bist du aber auch bloß schlafgewandelt und hast gar nicht gemerkt, dass du draußen warst. Oder du warst noch so müde, dass du aus Versehen dreckige Socken angezogen hast.“

Das überzeugte mich nicht im mindesten. Und Saskia wusste so gut wie ich, dass ihr Versuch, etwas Unerklärliches zu erklären, kläglich gescheitert war. Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und sagte leichthin: „Tja, Bruder, da ist selbst meine Weisheit am Ende. Ach, vergiss es doch einfach. Es hat eh keinen Sinn, sich den Kopf noch über etwas zu zermartern, was längst vorbei ist. Am besten machst du dich jetzt bettfertig, damit du morgen ausgeschlafener bist als heute. Morgen früh sieht die Welt dann wahrscheinlich schon ganz anders aus.“

Und als ich noch zögerte, fügte sie verständnisvoll hinzu: „Soll ich mitkommen zum Bad?“

Erleichtert nahm ich ihr Angebot an. Dass ich sie dabeihaben wollte, lag weniger daran, dass ich Angst hatte, der Flur könnte sich wieder in den Wald verwandelt haben. Im Gegenteil. Ich hoffte es beinahe, denn dann könnte ich ihr beweisen, dass ich mir nichts eingebildet hatte.

Aber das war natürlich Unsinn. Saskia blieb vor der Tür stehen, bis ich fertig war, und als ich herauskam, war dort selbstverständlich immer noch nur der Flur. Der Flur mit seiner vertrauten Streifentapete, dem Schuhschrank und dem Spiegel darüber. Nichts anderes.

Und dann ging ich ins Bett. Meinem Vater sagte ich vorher noch kurz Gute Nacht, aber an der Tür meiner Mutter ging ich nach einem kurzen Zögern vorbei, ohne anzuklopfen. Wie gern wäre ich zu ihr gegangen, wie gern hätte ich sie umarmt, ihr gesagt, dass ich sie lieb habe, aber ich traute mich einfach nicht. Wenn sie in diesem Zustand war, hatte ich das Gefühl, als wäre sie weit weg und als wolle sie mit uns allen nichts mehr zu tun haben. Die Vorstellung, von ihr angeschrien oder auch nur kalt abgewiesen zu werden, war mehr als ich jetzt hätte ertragen können. Das war schlimmer, viel schlimmer noch, als ohne Gute-Nacht-Kuss schlafen zu gehen.

3. Alptraum hinter der Wand

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, war die Versuchung groß, einfach liegen zu bleiben. Ich war noch so müde und fühlte mich wie zerschlagen. Hatte mir Mami nicht gestern selbst gesagt, es wäre besser, wenn ich heute nicht zur Schule ginge?

Mami.

Sofort war alles wieder da und legte sich wie eine dunkle Wolke auf meine Stimmung. Einen ganzen Vormittag mit ihr allein im Haus? In dieser Situation?

Nein. Alles war besser als jetzt zu Hause zu bleiben. Selbst früh aufstehen und sechs Stunden Schule. Heute Mittag waren dann die anderen auch wieder da und wer weiß, vielleicht hatte Mami bis dahin ihre Stimmung schon wieder überwunden und alles war wieder gut.

Ich sprang also aus dem Bett, machte mich fertig und war zeitig genug in der Küche, um mit meinem Vater und Saskia zu frühstücken. Gemeinsam verließen wir später das Haus.

Von Mami war nichts zu sehen und zu hören.

In den ersten beiden Stunden hatten wir Englisch und Mathe, beides Fächer, die ich ganz gern mag, und ganz bewusst schob ich jeden anderen Gedanken beiseite, der nichts mit Unterricht zu tun hatte. Es war gut, dass ich zur Schule gegangen und nicht zu Hause geblieben war. So konnte ich wenigstens für kurze Zeit alle Probleme vergessen.

In der großen Pause ging ich zu der Bank, wo wir uns immer treffen, meine Freunde und ich.

„Ey Fischli! Du bist ja mal wieder schwer in Form heute Morgen“, schrie Moritz und haute mir zur Bekräftigung auf den Rücken, dass mir fast mein Frühstücksbrot wieder raus kam. „Gestern dachte ich schon, du wirst krank oder so was.“

Jan, mein zweitbester Freund, hatte Klassendienst, deshalb waren wir heute allein. Und da kam mir der Gedanke, ob ich Moritz nicht alles erzählen sollte. Er ist nicht unbedingt der Hellste, jedenfalls nicht, was Schule betrifft, aber er ist schon in Ordnung. Und so lange wir uns kennen, nämlich vom Kindergarten an, waren wir immer die dicksten Freunde.

„Na ja, geht schon wieder“, antwortete ich und begann dann zögernd: „Du, Moritz, könntest du dir vorstellen, dass du ... mit einem Mal gar nicht mehr ... hier wärst?“

Er starrte mich entgeistert an. „Nicht mehr ...? Tot, meinst du?“ Vor lauter Entsetzen hatte er die Stimme gesenkt und flüsterte ungläubig: „Bist du ... ich meine, hast du ...?“

„Nee, das meine ich nicht, ich bin okay, ehrlich“, unterbrach ich ihn. „Was ich meine ist: Im einen Moment stehst du noch hier, sagen wir mal, auf dem Schulhof, dann machst du einen Schritt zur Seite und bist ... bist ... ganz woanders.“

Moritz legte die Stirn in Falten und schien angestrengt nachzudenken. Fast bereute ich es, dass ich davon angefangen hatte. Was sollte das schon bringen?

„Woanders? Wie – woanders? Oder meinst du ...“ Er machte eine kurze Pause und ich konnte seinem Gesicht ansehen, dass ihm ein Licht aufging. „Meinst du, wie bei Star Trek, beim Beamen? Du stellst dich dahin, dann: Energie – und swusch bist du weg und tauchst woanders wieder auf!“

Ich grinste ein bisschen gequält. „Na ja, so ungefähr, bloß dass du nicht darauf vorbereitet bist. Und? Wie würdest du das finden? Was würdest du denn machen, wenn du plötzlich mitten im ... in einer fremden Landschaft stehen würdest und keine Ahnung hättest, wie du da hingekommen bist?“ Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Was, wenn er jetzt nachfragen würde? Wenn er jetzt wissen wollte, wie ich darauf käme? War ich wirklich bereit, ihm alles zu offenbaren?

Aber meine Befürchtungen waren unbegründet. Moritz ist nicht so. So weit denkt er einfach nicht. Er strahlte mich bloß an und meinte: „Wenn es so was in echt gäbe? Das würde ich schon irre geil finden! Stell dir mal vor, was du da für Möglichkeiten hättest! Du könntest ...“

„Ja, ja“, unterbrach ich ihn ungeduldig, „aber was wäre, wenn dir so was passieren würde, wenn du wirklich von einem Moment zum nächsten ...“

Er hörte mir gar nicht zu und redete einfach weiter. Ich hatte ihm das Stichwort geliefert, und es war schon erstaunlich, was ihm dazu alles einfiel. Heimlich sah ich auf die Uhr. Die Pause musste ohnehin gleich vorbei sein.

„... man könnte nicht nur unsere Welt erforschen, ohne lange Anreise, sondern auch fremde Planeten. Oder vielleicht landet man ja auch in einem Paralleluniversum. Oder in einer virtuellen Welt. Das müsste man natürlich als Erstes rausfinden, wo man überhaupt ist. Und dann ... na, so wie die bei Enterprise das auch immer machen, rumgehen und alles erforschen. Ey, hast du die Folge gesehen, wo Kirk und Spock auf diesem Planeten gelandet sind, der wie ein Paradies aussah und der sich dann als der totale Horror entpuppte?“

Es klingelte, und während ich neben ihm her zum Schulgebäude trottete, erzählte er mir die gesamte Story. Ich kannte sie. Vor einiger Zeit waren alle alten Folgen im Fernsehen wiederholt worden und ich hatte sie mir mit meiner Mutter zusammen angesehen. Aber ich ließ ihn einfach reden und dachte nur: was soll’s. War ne blöde Idee gewesen, ihm davon zu erzählen. Wenn das so einfach wäre: rausfinden wo man ist und alles erforschen. Wenn man mutterseelenallein mitten im Wald steht und sich vor Angst fast in die Hosen macht!

Aber für ihn war es ja auch nichts als eine Gedankenspielerei, reine Fantasie, die mit der Realität nicht das Geringste zu tun hatte. Da war es natürlich nicht schwer den Helden rauszuhängen. Ich konnte von ihm ja auch nicht erwarten, dass er diese Idee ernst nahm. Und selbst wenn – wahrscheinlich war er gar nicht in der Lage, sich mit Leib und Seele in eine solche absurde Situation hineinzuversetzen. Sich dann auszumalen, nein, wirklich zu erleben, hautnah zu spüren, wie man sich dann wohl fühlt. Diese totale Panik. Nackte Angst und Verzweiflung.

Oder ... empfanden andere wirklich anders als ich? Würden sie sich tatsächlich anders, mutiger, verhalten? War ich am Ende einfach nur – ein jämmerlicher Feigling?

Ich schob den Gedanken beiseite und versuchte mich auch in den nächsten Stunden einzig und allein auf den Unterricht zu konzentrieren. Das war nicht gerade leicht. Denn dieser Gedanke hatte sich nun einmal in mir festgesetzt und drängte sich immer wieder in mein Bewusstsein: Du bist ein Feigling. In den letzten beiden Stunden hatten wir Sport, nicht unbedingt mein Ding, aber ich holte das Letzte aus mir heraus, wie um mir selbst zu beweisen, dass ich keine Memme war. Danach war ich so ausgepowert, dass ich mich im Bus nur noch in den Sitz fallen ließ und auf ein gutes Mittagessen hoffte.

Als ich nach Hause kam, öffnete mir meine Mutter die Tür, es roch verheißungsvoll nach selbst gemachter Pizza und – ich hätte jubeln mögen vor Freude und Erleichterung – sie spulte ihr ganz normales Begrüßungsritual ab. Also war alles überstanden und wieder in Ordnung, auch wenn sie noch sehr blass aussah und mir die Schatten unter ihren Augen dunkler als sonst vorkamen. Aber was immer es gewesen war, das da für einige Zeit meine Welt aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, jetzt war jedenfalls alles wieder im Lot. Dachte ich.

Der Nachmittag verlief ohne besondere Vorkommnisse und am Abend ging ich ganz zufrieden und allein zum Bad, um mir noch schnell die Zähne zu putzen, bevor ich endlich ins Bett fallen konnte. Im Stehen zog ich meine Socken aus und um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, stützte ich mich dabei an der Wand ab. Aber sofort zuckte ich zurück und schrie unwillkürlich auf. Ein Schmerz durchfuhr meine Hand, als hätte ich in Dornen gefasst. Ich starrte die Fliesen an, ich starrte meine Hand an. An der Wand war nichts zu sehen. Kein abgebrochener Nagel, den man herauszuziehen vergessen hatte. Keine zerbrochene Fliese, an deren scharfer Kante ich mich hätte verletzen können. Nichts. Auch meine Hand war völlig in Ordnung, und doch spürte ich noch immer einen leichten Schmerz.

Obwohl eigentlich nichts weiter passiert war, begann meine Kopfhaut zu prickeln. Mein Atem stockte und mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich wollte hinauslaufen, mich zu meiner Mutter flüchten, mich trösten lassen, Hilfe holen. Aber ich blieb, wo ich war. Und es war nicht einmal so sehr die Angst, die mich lähmte, sondern dieses Wort, das sich mir jetzt wieder aufdrängte, lauter, viel lauter als zuvor, das in meinen Ohren dröhnte, als würden tausend Stimmen es mir höhnisch entgegen schleudern: Feigling! Feigling! Feigling!

Ich holte tief Luft und nahm allen Mut zusammen. Was konnte mir schon passieren, hier im Badezimmer? Vorsichtig strich ich mit der Hand über die Fliesen, an die ich mich vorhin gelehnt hatte, tastend, ob da irgendeine Unebenheit war, an der ich mich vielleicht verletzt hatte. Und dann ging alles so rasend schnell, dass mir nicht einmal die Zeit zum Schreien blieb. Da, wo ich eigentlich die glatte Oberfläche der Fliesen hätte spüren müssen, war – nichts. Meine Hand hing für den Bruchteil einer Sekunde einfach in der Luft, bevor ich plötzlich wieder diesen stechenden Schmerz verspürte. Etwas Scharfes, Spitzes schien sich in meine Hand zu bohren, von oben und von unten, wie eine Zange, und gleichzeitig versank alles um mich herum, ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, schien durch die Luft zu wirbeln, gezogen zu werden, hin und her geworfen, hilflos ausgeliefert. Es gab kein Oben und kein Unten mehr, nichts, woran ich mich hätte orientieren können, auch so etwas wie Zeit hatte aufgehört zu existieren. Das Dröhnen in meinen Ohren war lauter geworden, wirklicher, wie das schrille Stimmengewirr von unzähligen Menschen, aber ich konnte nicht unterscheiden, ob es tatsächlich von außen kam oder nur in mir war. Grelle Lichtblitze tanzten vor meinen Augen, so dass sie schmerzten, aber auch dabei wusste ich nicht, ob sie real waren oder ob sich das alles nur in meinem Kopf abspielte. Überhaupt schien kein Unterschied mehr zu bestehen zwischen mir und meiner Umgebung, es waren nicht mehr meine Wahrnehmungen, vielmehr war ich selbst ein Teil davon. Mein Ich begann sich aufzulösen und eins zu werden mit den Geräuschen und dem Licht.

Wie lange dieser Zustand anhielt, weiß ich nicht. Solange er bestand, war es, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Dann begann ich allmählich wieder mich selbst zu spüren und es fühlte sich an, als würde ich ganz langsam aus einem unendlich tiefen Traumzustand wieder auftauchen. Mir dämmerte, dass mich irgendetwas von außen erreicht haben musste, das diese Veränderung bewirkt und mich sozusagen geweckt hatte. Noch immer fühlte ich mich benommen und die Versuchung war groß, mich einfach wieder fallen zu lassen, in diesen Traum, diesen Zustand der Bewusstlosigkeit, in dem es mich nicht mehr gab. Nichts mehr empfinden. Einfach aufhören zu sein.

Denn je mehr ich wieder mich selbst wahrnahm, desto stärker fühlte ich mich auch dieser unbegreiflichen Situation ausgeliefert, so dass die Angst fast nicht mehr zu ertragen war. Und doch wehrte sich ein Teil von mir, wieder hinüber zu gleiten, weil es von dort, das war mir irgendwie klar, keine Rückkehr mehr gab. Mit höchster Konzentration versuchte ich meinen Körper zu spüren, meine Sinneswahrnehmungen wieder zu aktivieren. Es war meine linke Hand, die ich als erstes wieder spürte, diesen durchdringenden Schmerz, als hätten sich glühende Nägel hineingebohrt. Aber so heftig dieser Schmerz auch war, ich klammerte mich daran, denn er bewies, dass es meinen Körper tatsächlich noch gab. Und dann waren auch diese Stimmen wieder da. Nach wie vor konnte ich nicht unterscheiden, woher sie kamen, geschweige denn, irgendeinen Sinn darin erkennen. Angestrengt lauschte ich, versuchte, wenigstens einzelne Stimmen auseinanderzuhalten, irgendein Wort, ein Bruchstück eines Satzes zu verstehen. Und immer deutlicher hob sich eine Stimme ab und ein Wort, das emportauchte aus dem Strom des vielfältigen Stimmengewirrs: „Jona ... Jona“.

Die Stimme meiner Mutter. Klagend, schmerzerfüllt.

„... nein ... doch nicht Jona ... warum ... Jona ... mein Junge ...“

War es die Art, wie sie meinen Namen nannte? Die Qual in ihrer Stimme? Irgendetwas gab mir plötzlich die Kraft, wieder ganz zu mir zu kommen, meinen Körper wieder in Besitz zu nehmen, wieder ganz Herr über meine Sinne zu sein. Ich öffnete den Mund und schrie, so laut ich konnte: „Mami! Ich bin doch da, ich bin ...“

Und wie auf Knopfdruck hatte sich die Szene verändert. Ich lag im Badezimmer auf dem Fußboden, fühlte überdeutlich die glatten Fliesen unter mir, sah die Lampe an der Decke über mir, hörte eilige Schritte im Flur und spürte einen Lufthauch, als die Tür aufgerissen wurde. Im nächsten Moment hielt mich meine Mutter in den Armen und ich vernahm ihre besorgte Stimme: „Jona, mein Junge, was ist denn passiert?“ Sie half mir aufzustehen und beschämt merkte ich, dass meine Schlafanzughose ganz nass war. Ich hatte immer gedacht, es sei nur eine Redensart, dass man sich vor Angst in die Hosen pinkelt. Aber genau das war mir passiert, und es war mir entsetzlich peinlich.

Ohne ein Wort darüber zu verlieren brachte meine Mutter mich in mein Zimmer und half mir mich umzuziehen. Als ich dann im Bett lag, deckte sie mich zu, wie früher, als ich noch klein war, und dann nahm sie mich ganz fest in die Arme, so fest, als wollte sie mich überhaupt nicht mehr loslassen. Und genau wie früher fühlte ich mich sicher und geborgen und vor lauter Erleichterung kamen mir wieder die Tränen.

„Ist ja gut“, murmelte meine Mutter immer wieder und strich mir besänftigend über den Kopf, „ist ja alles gut jetzt.“

„Was ist denn passiert?“, hörte ich plötzlich die erschrockene Stimme meines Vaters, der unbemerkt ins Zimmer getreten war. Wie ertappt ließ meine Mutter mich los und antwortete: „Jona scheint im Badezimmer ausgerutscht zu sein, dabei muss er sich wohl den Kopf angestoßen haben.“

Das klang einleuchtend. Vielleicht hatte es sich wirklich so abgespielt. Vielleicht hatte ich das Gleichgewicht verloren, als ich mir den Socken ausziehen wollte. Vielleicht hatte ich mir dabei den Kopf gestoßen und war für einen Moment bewusstlos gewesen, einen schrecklichen Moment lang, der in mir diesen grauenhaft Alptraum hervorgerufen hatte.