Kalenderkrimis von der Küste - Rena C. Martens - E-Book

Kalenderkrimis von der Küste E-Book

Rena C. Martens

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Beschreibung

»Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Silja, wie sich der beleuchtete Boden veränderte. Ein Schatten kroch darüber hinweg, geradewegs auf sie zu. Sie erstarrte wie eine Maus vor der angreifenden Schlange ...« Mit Spannung durch ein ganzes Jahr! Jeden Monat ereignet sich ein mörderischer, verstörender oder dramatischer Vorfall - in einer alles verändernden Silvesternacht, an einem Valentinstag, der sich anders entwickelt als geplant, im Wonnemonat Mai durch einen ungewöhnlichen Leichenfund ... Die Schauplätze liegen hauptsächlich in Kiel, aber auch auf Fehmarn, Sylt, in Husum und an der Flensburger Förde. Die Geschichten sind in sich abgeschlossen und doch miteinander verbunden. So bleibt die Spannung bis zum Schluss. Antworten auf die Frage, was aus den handelnden Personen geworden sein könnte, finden sich im Epilog. Eine unbedingte Lektüre für dunkle Winterabende, laue Sommernächte oder wann immer man Spaß am Lesen von Krimis hat.

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Seitenzahl: 140

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Ähnliche


Rena C. Martens

KALENDERKRIMIS VON DER KÜSTE

Kurzgeschichten aus Schleswig-Holstein

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Personen und Begebenheiten dieses Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

ISBN 978-3-96145-671-0

Lektorat: Birgit Rentz, www.fehlerjaegerin.de

Coverfoto: Birgit Rentz

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Januar –Der Nachtwanderer

Februar –Unvergesslicher Valentinstag

März –Zwischenfall in der Wohnheimküche

April –Wassermangel auf Fehmarn

Mai –Das Mädchen am Strand

Juni –Frühlingsgefühle auf der Kieler Woche

Juli –Geliebter Berti

August –Ein denkwürdiger Ausflug

September –Das Netz des Fischers

Oktober –… bis dass der Tod uns scheidet

November –Der außergewöhnliche Strandfund

Dezember –Der Millenniumbecher

Epilog

Januar – Der Nachtwanderer

Aus den Lautsprecherboxen drang leise Musik. Aber Simon hörte nicht hin. Er stand am Fenster der spärlich möblierten Einzimmerwohnung. Nur noch vereinzelt explodierten bunte Raketen am Kieler Nachthimmel. Die Straße war fast menschenleer. Die meisten waren vor der Kälte zurück in ihre Wohnzimmer geflüchtet. Saßen jetzt wahrscheinlich gemütlich zusammen oder tanzten bis in den Morgen. Simon tat nichts dergleichen. Er nippte an dem alkoholfreien Prosecco und verzog das Gesicht. Angewidert kippte er ihn in die vertrocknete Pflanze auf der Fensterbank, als sein Blick auf die knochigen Hände fiel, mit denen er das Glas umklammerte. Was war bloß aus ihm geworden? Dem athletischen, vor Selbstvertrauen nur so strotzenden Geschäftsmann? Seine Finger sahen aus wie Beine von Taschenkrebsen, die verwaschene Jeans schlackerte erbärmlich an den Hüften, und das Gesicht, dessen Anblick im Spiegel er seit Wochen mied, war eingefallen. Er war erst Mitte vierzig, aber ein Wrack. Kein Wunder!

Durch die rauchige Luft starrte er zu der Häuserfront auf der anderen Straßenseite. Am Fenster gegenüber stand jemand hinter halb zugezogenen Gardinen. Nur der Kopf lugte hervor. Beiläufig ließ der Mann den Blick über die Straße schweifen. Dann zu dem Haus, in dem er, Simon, wohnte. War ja klar!

Er hob das leere Glas. »Frohes neues Jahr!«, zischte er dem Mann zu, der sofort den Kopf zurückzog. Noch so eine jämmerliche Figur, die niemand brauchte. Simon griff nach dem Band neben dem Fenster. Ruckartig zog er daran. Mit einem metallenen Scheppern sauste die Jalousie herunter. Er drehte sie so weit zu, dass nur ein Spalt zwischen den Lamellen offen blieb. Ohne sich von der Stelle zu rühren, nahm er eine Jacke vom Sessel. Sorgfältig hängte er sie an den Fensterrahmen, trat ein paar Schritte zurück und musterte deren Silhouette. Gut so! Er lächelte zufrieden.

Hinter ihm schlug die Uhr zwei Mal. Es wurde Zeit. Er stellte das Glas auf den mit Zetteln übersäten Couchtisch und ging in den Flur. An der Garderobe hing der schwarze Wintermantel – der letzte, der ihm geblieben war –, darüber die Wollmütze. Er setzte sie sich auf und zog sie weit über das Haar. Dann schlüpfte er in den Mantel und die ausgetretenen Stiefel. Im Licht der Deckenlampe sah er den weißen Streifen an ihren Rändern. Bald würden auch die hin sein. Zerfressen vom Streusalz seiner nächtlichen Ausflüge. Egal! Außerdem ließ er sich durch nichts und niemanden aufhalten. Schon gar nicht von so einem unverschämten amtlichen Schreiben.

Vorsichtig drückte er die Klinke der Wohnungstür herunter. Kein Licht im Treppenhaus. Er lauschte. Nichts zu hören. Mit einer Hand am Geländer tastete er sich bis zum Erdgeschoss. Hinter den Fenstern in der Haustür leuchtete der frisch gefallene Schnee. Er wandte sich ab. Lautlos stieg er die Stufen zum Hinterausgang hinunter, öffnete die Tür und verschwand in der Nacht.

Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen, als er über den Hof ging. Durch die dunkle Einfahrt erreichte er die Holtenauer Straße. Um ihn herum erhoben sich hochgeschossige Altbauten. Relikte aus längst vergangenen Zeiten. Hier hausten doch nur Arbeitslose, Studenten, Rentner – oder einfache Leute, die in ihrem Laden im Erdgeschoss erfolglos schufteten und sich bei der Kundschaft für ihren ausgeflippten Sohn entschuldigten. Instinktiv senkte er den Kopf. Nie wieder hatte er in so etwas wohnen wollen. Jetzt tat er es doch. Notgedrungen.

Er hastete weiter. Niemand begegnete ihm, als er in die Feldstraße abbog. Links hinter der weitläufigen Rasenfläche glänzte schwarzblau die Förde. Im Wasser spiegelten sich die Lichter der Kriegsschiffe im Tirpitzhafen. Aber Simon blieb im Schutz der Bäume, die die Straße säumten. Vor ihm lag die Forstbaumschule. Schneebedeckte Baumwipfel verdeckten das rot geklinkerte Fachwerk und den Biergarten dahinter. Für einen Moment schloss er die Augen. Wie oft hatte er da gesessen? Im Sommer. Unter ausladenden Kastanienbäumen, geschmückt mit bunten Lichterketten. Über ihm der tiefblaue Himmel, aus dem warme Sonnenstrahlen gefallen waren. Vor ihm lange Holztische mit schäumenden Biergläsern. Freunde, die ihm lachend zugeprostet hatten. Freunde? Von wegen!

Plötzlich drang Musik zu ihm herüber. Ein mystischer Klang. Eine tiefe Stimme. Vertraut und doch wie aus einer anderen Welt. Mit einem Mal überkam ihn ein Gefühl von Traurigkeit. Er öffnete die Augen. Über ihm erstreckte sich der klare Nachthimmel. Endlos. Er betrachtete die blinkenden Sterne, als könne er den besungenen Starman dort finden. Im selben Moment brach die Musik ab. Ein Zischen, und eine funkelnde Rakete erhellte den Himmel. Simon schlug den Kragen hoch. Zielstrebig lief er weiter. Vor der St.-Heinrich-Kirche, deren Turmspitze bedrohlich über ihm aufzuragen schien, bog er links ab. Mit großen Schritten durchquerte er die Parkanlage. Es war stockdunkel, aber er hätte den Weg auch mit geschlossenen Augen gefunden. Sein Herz begann heftiger zu schlagen, als er die alleeartigen Bäume erblickte, dahinter die noblen Einfamilienhäuser mit den gepflegten Vorgärten. Düsternbrook – sein Stadtteil! Er spürte einen Stich in der Brust. Noch letztes Jahr hatte eine der Villen ihm gehört. Wie stolz war er gewesen, hier zu leben. Wie hart hatte er dafür gearbeitet. Abrupt blieb er stehen. Er zog die Wollmütze tiefer ins Gesicht. Jetzt betrat er verbotenes Terrain.

Ein paar Schritte noch. Dann sah er sie. Eingerahmt von hohen Tannen. Weiß, majestätisch, Säulen am Eingang, Landhausfenster – wie Inge es gewollt hatte. Nirgends im Haus brannte Licht. Erleichtert atmete er auf. Er hatte Zeit. Das Grundstück würde er trotzdem nicht betreten. Zu gefährlich. Sein Blick wanderte über die glatt geputzte Fassade zum Dach. Die Schindeln glänzten im Mondlicht. Schwarz mussten sie sein. Inges Lieblingsfarbe. Auch der Kirschbaum vor dem Haus war ihre Idee gewesen. Er hatte ihn als Setzling gekauft. Ihn selbst eingepflanzt. Unter der Schneelast ließ er die Äste hängen. Wie hieß es? Du sollst einen Baum pflanzen, ein Haus bauen und ein Kind zeugen? Simon hatte alles gemacht. Nur dass das Kind von einer anderen war. Ein kleiner Fehltritt. Nicht weiter schlimm. Wenn nur Inge nicht dahintergekommen wäre.

Er strich über den Metallzaun und wischte Schnee vom Geländer. Den schwarzen Lack hatte er passend zu den Dachschindeln gekauft. Seine Frau hatte da schon einen Anwalt genommen. Er war ahnungslos gewesen, bis sie die Scheidung eingereicht hatte. Im Stich hatte sie ihn gelassen! Nach allem, was er für sie – ihretwegen – getan hatte. Simon ballte die Fäuste. Er, der Master of the Universe, der es allen gezeigt hatte, machte nur noch Fehler, trank zu viel, verpatzte sämtliche Aufträge. Bis es zu spät war. Die Firma pleite. Die Villa – Zwangsversteigerung! Er hatte nichts mehr. Wie damals, als er Inge kennenlernte. Da hatte es noch keinen Dr. Simon Gyske, den erfolgreichen Eventmanager, gegeben. Er war nur Siggy gewesen – cool, mit schrill geschminktem Gesicht und rot gefärbten Haaren, in jeder freien Minute mit der Gitarre auf der Bühne. Wieder schnürte es ihm die Kehle zu. Er ging am Zaun entlang, die Augen auf das Haus geheftet. Es kam ihm vor, als starrte es ihn aus toten Fenstern an.

Plötzlich stieß er mit dem Fuß gegen etwas. Er stolperte, rutschte. Reflexartig umklammerte er das Geländer. Genervt schaute er nach unten und zuckte zusammen. Vor ihm lag ein Körper. Zusammengerollt, eingehüllt in einen dunklen Mantel, der Schal halb über dem Kopf. Ein Mann. Seine Augen waren geschlossen. Aus der Nase strömten kleine Atemwolken. Simons Blick fiel auf die glänzenden Lederschuhe.

Teure Kleidung, dachte er. Also kein Penner. Wahrscheinlich betrunken. Der musste schon eine Weile da liegen. Auf dem Mantel glänzte eine dünne Eisschicht.

»Heh!« Er tippte den Körper mit der Fußspitze an. »Stehen Sie auf! Sie holen sich ja den Tod!«

Der Mann reagierte nicht. Simon beugte sich vor. Das Stück Haut, das er sehen konnte, wirkte unnatürlich bleich. Oder kam es ihm nur so vor? Vorsichtig griff er nach dem Schal und zog daran. Er schien an etwas festzukleben. Ein Ruck, und er sah das ganze Gesicht.

»Oh Gott!« Erschrocken fuhr er hoch, den Blick auf das dunkle Rinnsal geheftet, das von der Schläfe des Mannes über dessen Wange und Nase lief. Im Schnee hatte das Blut Flecken hinterlassen. Hektisch sah sich Simon um.

Nichts wie weg hier! Er stolperte rückwärts, wirbelte herum und rannte los. Dann stoppte er.

Ich kann den doch nicht so liegen lassen, schoss es ihm durch den Kopf. Mitten in der Nacht bei der Kälte. Wenn der draufgeht, bin ich schuld. Eine Telefonzelle! Aber wo? Verdammtes Handyzeitalter! Atmet der überhaupt noch?

Simon ging zu dem Mann zurück. Keine Atemwolken mehr zu sehen. Die Finger klamm vor Kälte, tastete er nach der Halsschlagader. Die Haut, die er berührte, war nicht viel wärmer. Nichts. Heftig schüttelte er die Hände aus, blies heißen Atem hinein, versuchte es wieder. Da! Ein Pochen. Schwach. Viel zu schwach.

Ihm zitterten die Finger, als er den Kragen des Mannes hochklappte und ihm den Schal um den Kopf wickelte. Notdürftig klopfte er die Eiskristalle vom Mantel. Er brauchte eine Decke! Simon richtete sich auf. An der Ecke des Grundstücks lag immer noch der Stapel Feuerholz. Darüber die Plane, mit der er das Holz gegen Frost geschützt hatte. Er griff über den Zaun, riss die Plane hoch und breitete sie über dem Körper aus.

Reicht das? Ist der nicht schon längst unterkühlt?

Es nützte nichts. Er musste jemanden finden!

Simon rannte zurück zur Straßenecke. Lauschte. War da ein Motorengeräusch? Tatsächlich! Es kam aus der Seitenstraße schräg gegenüber. Im nächsten Moment bog der Wagen um die Ecke. Unter der Straßenlaterne leuchtete weiß-blauer Lack, auf dem Dach eine Leiste mit Blaulichtern. Simon hielt die Luft an. Gleich würden die Scheinwerfer auf ihn gerichtet sein. Er hechtete hinter einen Busch. Langsam kam das Auto näher. Grelles Licht fiel durch die Zweige. Geblendet kniff Simon die Augen zusammen. In diesem Moment traf er eine Entscheidung. Er straffte den Rücken und trat mit erhobener Hand auf die Straße.

Der Wagen bremste, rutschte und blieb direkt vor ihm stehen. Ein kurzes Aufheulen der Sirene, dann flogen die Türen auf. Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus.

»Was machen Sie denn da?«, fragte einer. »Sie hätten unter die Räder kommen können!«

»Da … Da liegt ein Mann auf dem Bürgersteig«, stammelte Simon. »Ich war spazieren und habe ihn gefunden.«

»Wo?« Die Beamten musterten ihn.

»Da vorn.« Er zeigte in die Richtung, in der die zusammengerollte Plane lag. Die Polizisten gingen an ihm vorbei auf das schwarze Bündel zu. Einer zog die Plane weg, die raschelnd in den Schnee fiel. Der andere leuchtete mit einer Stablampe auf den Körper.

»Ruf den Notarzt!«, hörte Simon den Polizisten sagen. Aber da rannte er schon in die Seitenstraße. Aus der Ferne drang ein »Bleiben Sie stehen!« zu ihm.

Ängstlich sah er über die Schulter zurück. Verfolgten sie ihn? Er drückte sich an Mauern und Hecken entlang, jederzeit bereit, dahinter zu verschwinden. Bestimmt würden sie herausbekommen, was los war. Standen womöglich gleich vor seiner Wohnung. Und er war nicht da. Kein Alibi! Diese nutzlose Kapuzenjacke am Fenster! Er rannte weiter. Schweiß lief ihm von der Stirn. Endlich sah er die Einfahrt zum Hinterhof. Ein letztes Mal schaute er sich um. Dann huschte er in den dunklen Torbogen.

Nach Luft japsend tastete er sich vor. Der Hof lag verlassen da. Auch durch die Hintertür drang kein Licht. Er ließ die Mauer los und schlich zum Haus. Geräuschlos drückte er die Klinke herunter. Vor sich sah er die Haustür. Niemand stand davor. Er stürmte die Treppe hinauf, schloss mit zitternden Fingern die Wohnungstür auf, eilte hinein und warf sie hinter sich zu. Mantel und Stiefel schleuderte er unter die Garderobe.

Die Kapuzenjacke! Schnell!

Er nahm sie vom Haken und öffnete die Jalousie. Da lauerte er. Der Schatten am Fenster gegenüber. Simon nickte kaum merklich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und knipste das Licht aus. Mit einem tiefen Seufzer sank er auf die Couch. Schlafen konnte er nicht. Er horchte. Auf Schritte im Hausflur. Auf das klickende Geräusch, das die Treppenhausbeleuchtung machte, wenn sie angeknipst wurde. Über ihm tickte die Uhr auf der Vitrine. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Der Morgen graute bereits, als er in einen von Albträumen geplagten Schlaf fiel.

Simon schreckte auf. War das die Türklingel? Er schaute auf die Uhr über ihm – halb zehn. Sie waren da! Niemand sonst würde Neujahr um diese Zeit klingeln. Er schlug die Decke zurück. An der Wand gegenüber lehnte das Plattencover von Ziggy Stardust. Er sah die geschlossenen Augen von David Bowie. Die roten Haare. Das geschminkte Gesicht. Warum hatte er die Platte gestern aufgelegt? Nach so langer Zeit?

Die Klingel schrillte wieder. Diesmal länger. Ungeduldiger. Simon atmete tief ein. Bestimmt sah er grauenvoll aus. Aber das passte. Er hatte schließlich dank dieser übereifrigen Beamten nur wenig geschlafen. Entschlossen ging er zur Wohnungstür.

»Wer ist da?« Er versuchte, müde zu klingen.

»Polizei«, kam eine sonore Stimme zurück. »Wir würden gern mit Ihnen sprechen.«

Der Starman hallte in Simons Kopf nach. Cool bleiben! Konnte er das noch?

Er öffnete die Tür einen Spalt und lugte hindurch. Vor ihm standen zwei Polizisten in dunklen Uniformen. Mit ihren schwarzen Ledergürteln und den Waffen darin sahen sie bedrohlich aus. Simon schluckte. Waren das dieselben wie letzte Nacht? Es war dunkel gewesen. Wenn er sie nicht erkannte, konnten sie ihn dann wiedererkennen?

»Was ist los?« Es gelang ihm, vorwurfsvoll zu klingen. »Wissen Sie, wie spät es ist? Mann, es ist Neujahr!« Er rieb sich die Augen.

»Dürfen wir kurz hereinkommen?«, fragte der Beamte unbeirrt. »Es dauert nicht lange.«

»Von mir aus.«

Die Polizisten schoben sich an ihm vorbei. Der eine schaute sich ungeniert um und schien besonders am Mantel unter der Garderobe interessiert zu sein. Der andere ließ ihn nicht aus den Augen.

»Wo waren Sie letzte Nacht zwischen zwei und drei Uhr?«

Alle Achtung, dachte Simon. Der verliert keine Zeit.

»Zu Hause«, entgegnete er. »Was soll die Frage?«

»Gibt es dafür Zeugen?« Der forschende Blick des Polizisten durchbohrte ihn.

»Sehen Sie sich doch mal um.« Simon machte eine ausladende Handbewegung. »Sieht das so aus, als könnte man hier die große Sause machen? Nein, es gibt keine Zeugen.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich! Ich habe zwar gestern getrunken, wie Millionen andere auch, doch für einen Filmriss hat’s nicht gereicht. Ich muss nämlich sparen. Aber das wissen Sie ja bestimmt längst.« Er wurde sarkastisch. Perfekt! Das wirkte echt. Woher sollten die auch wissen, dass er mit dem Trinken aufgehört hatte.

»Sie sind nicht zufällig gestern wieder bei Ihrem ehemaligen Haus gewesen, haben zwei Beamte angehalten und sich aus dem Staub gemacht?« Den Bewusstlosen erwähnte der Polizist nicht. Vielleicht ein Versuch, ihn aus der Reserve zu locken? Simon fixierte ihn.

»Soll das ein Witz sein?« Er fing an zu lachen. »Überlegen Sie doch mal. Sie wissen ja anscheinend von der Unterlassungsverfügung. Sonst wären Sie wohl kaum hier, oder? Und das alles nur, weil sich ein paar Spießer von einem Spaziergänger vor ihrem Grundstück gestalkt fühlen.« Er prustete verächtlich. »Glauben Sie allen Ernstes, ich würde da rumlaufen und ausgerechnet einen Polizeiwagen anhalten?«

Zum ersten Mal blinzelte der Polizist.

»Wussten Sie, dass die Eigentümer eine Überwachungskamera installiert haben?«

Simon erstarrte. Bloß keine Regung zeigen! Was würde Siggy jetzt tun?

Er verschränkte die Arme. Lässig lehnte er sich gegen die Wand.

»Warum stellen Sie mir dann diese Fragen?« Teilnahmslos musterte er den Beamten. »Sie können ja die Videos auswerten.«

Der Polizist sah ihn überrascht an.

Jetzt wurde es Zeit für Simons Trumpfkarte. »Da fällt mir ein«, begann er und fasste sich an die Stirn. »Vielleicht habe ich doch einen Zeugen.«

»Ach ja?« Der Polizist hob die Augenbrauen.

»Hätte nicht gedacht, dass der mal zu was gut sein könnte.« Verstohlen beobachtete er den Beamten. »Na, der Typ von gegenüber. Da drüben.« Er zeigte auf das Fenster. »Der hat nichts Besseres zu tun, als mich auszuspionieren. Sobald bei mir das Licht angeht, steht der hinter der Gardine und gafft zu mir rüber. Den können Sie ja mal fragen.«

»Das werden wir.« Der Polizist wandte sich zum Gehen. »Wir melden uns wieder bei Ihnen. Einen schönen Tag noch.«

»Ja, ich wünsch auch ein frohes neues Jahr!«, schleuderte Simon den beiden hinterher und warf die Tür zu.