Kalila - Klaus Muller - E-Book

Kalila E-Book

Klaus Müller

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

»Weil wir schon reichlich Probleme haben! – Erinnerst du dich noch schwach an letzte Nacht? Da draußen treibt ein Toter im Fluss, die Polizei geht hier im Laden ein und aus, wir sind mit der internationalen Drogenmafia aneinandergeraten und du …« Die Frau, die diese Worte, alles andere als ruhig aussprach, war Kalila. Sie lebte mit ihren drei Schwestern in einem kleinen Haus direkt am Fluss. Und so ruhig und gleichmäßig, wie der Fluss in Richtung Meer strömte, verlief bis vor ein paar Tagen auch das Leben der vier Schwestern. Yashar war ein kleines, unbedeutendes Dorf, auf dieser Welt. Und wäre nicht der alten Tempel gewesen, hätte nie jemand von ihm gehört. Der Ort war so unwichtig, dass es zwar einen Fußballplatz gab, aber nicht einmal eine Polizeistation. Es hätten sich wohl auch keine Touristen dorthin verirrt, um Fotos zu machen oder in dem kleinen Laden von Kalila, Gewürze zu kaufen. So aber, sorgte der Tempel das ganze Jahr über, für die nötigen Besucher. Das Leben war friedlich in Yashar und wäre es auch lange noch geblieben, hätte Kalila nicht eines Morgens, etwas sehr Ungewöhnliches in ihrem Laden entdeckt …

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Seitenzahl: 543

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Klaus Muller

Kalila

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Impressum neobooks

Kapitel 1

Kalila

Klaus Muller

– Die Schwestern –

Selbst in einem so kleinen Dorf wie Yashar, das irgendwo, ganz am äußersten Rand dieser Weltkugel lag, gab ein breiter, grauer Fluss den Takt des Lebens vor. Er protzte zuweilen wie ein Mann mit seiner ungestümen Kraft und war ein anderes Mal so sanft wie eine Frau. Sein Wasser aber war das ganze Jahr über, für alle, die hier wohnten, Segen und Fluch zugleich. Er versorgte sie und ihre Felder, die außerhalb des Dorfes lagen, mit Nahrung und spülte, ohne Ansehen der Person, alles mit sich fort, wenn er von Zeit zu Zeit über die Ufer trat.

Allerdings, so ganz ohne Ansehen war es nicht, denn es traf die ärmeren Bewohner des Dorfes, die dicht an seinem Ufer wohnten und weggespült wurden, immer als Erste. Die Reicheren, konnten von ihren erhöhten Gärten aus zusehen und waren dankbar, für einen ungestörten Ausblick auf die Geschehnisse. Hinterher spendeten sie bereitwillig etwas von ihrem Geld, für den Wiederaufbau der vielen, kleinen Häuser.

Die Menschen von Yashar hatten über all die Jahre gelernt, mit ihrem Fluss zu leben, wie mit einem Verwandten. Sie waren froh, wenn er seinen Besuch vorher ankündigte, und ebenso froh, wenn er sich, nach einer überschaubaren Zeit, auch wieder zurückzog.

Dankbar aber waren alle für die Geschenke, die er mitbrachte. Den Schlamm für die Felder und die Touristen für ihre einträglichen Geschäfte.

Dankbar war auch Kalila. Denn sie lebte seit nunmehr einunddreißig Jahren davon, ihre Gewürze zu leicht überhöhten Preisen an die Ausflügler zu verkaufen.

Auch die Bewohner aus dem Dorf kauften bei ihr, war es doch der einzige Gewürzhandel, den es dort gab, aber leben konnte sie von ihnen nicht. Dazu brauchte es schon die vielen Besucher aus der Stadt.

Und es brauchte zusätzlich auch noch den Tempel. Er war, seit über hundert Jahren, der Grund dafür, dass so viele Fremde für einen kurzen Besuch ihr Dorf besuchten.

Es kamen viele Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern. Und sie alle hatten das gleiche Ziel, sie wollten ein altes, schon halb zerfallenes Bauwerk staunend bewundern.

Wären sie auf ihrem Weg, nur einmal kurz stehen geblieben, um sich umzudrehen, dann hätten sie zusätzlich noch die kleinen, verfallenen Häuser der Neuzeit bestaunen können. Aber die hatte leider kein tyrannischer Herrscher vor tausend Jahren, von seinen Sklaven erbauen lassen, sondern waren erst wenige Jahre alt.

Engländer, Deutsche, Franzosen und Italiener sah man das ganze Jahr über durch das Dorf laufen und in Richtung des Tempels pilgern. Es war zuweilen ein einziges Sprachen- und Stimmengewirr auf den schmalen, staubigen Straßen zu hören.

Sogar Chinesen und Japaner wurden in letzter Zeit immer häufiger gesehen. Sie waren freundlich, kauften gerne bei Kalila und kamen in großen Gruppen.

Alle waren sie mit den neuesten Fotoapparaten und Handykameras ausgestattet, um ihre Eindrücke von dem alten Bauwerk und dem hübschen, malerischen Dorf für zu Hause festzuhalten.

Es gab im ganzen Dorf nichts Hübscheres als Kalila, wenn sie vor ihrem kleinen Laden mit all den geflochtenen Körben stand, die randvoll mit bunten, duftenden Gewürzen befüllt waren und lächelte.

Kein Haus wurde so oft fotografiert wie ihres.

»Dürften wir bitte ein Foto machen?« wurde sie immer wieder freundlich gefragt.

Häufig verstand sie nicht einmal den Inhalt der ihr gestellten Frage, warf dann nur die langen, schwarzen Locken zurück über ihre Schultern, lächelte und stellte sich bereitwillig, mit der linken Hand in der Hüfte und die rechte nach oben gedreht, vor ihre Körbe.

Mit einem sanften, lange eingeübten Hüftschwung und einer kleinen Bewegung der Finger, fanden immer ein paar Geldscheine den Weg in ihre offene Hand.

Und genauso wie die Menschen, die hierher zu Besuch kamen, waren auch ihre Banknoten, die sie in Erwartung eines schönen Fotos aus den Taschen zogen, international. Sie waren ebenso bunt und weit gereist, wie die, die mit ihnen bezahlten.

Kalila kümmerte es nicht, dass sie die Besucher häufig weder verstehen noch die Zahlen auf den Scheinen lesen konnte. Die Geste von ihrem Daumen, den sie leicht mit Zeige- und Mittelfinger aneinander rieb, war auf der ganzen Welt bekannt.

So ließ sie die Besucher bereitwillig von sich und dem Laden Fotos machen, oder fotografierte sie selbst, wie sie sich lachend über die Auslagen beugten. Die Touristen waren zufrieden und Kalila steckte die erhaltenen Noten diskret in die Tasche.

In die linke Tasche.

Denn die Rechte, so hatte sie es einmal beschlossen, war ausschließlich für einheimisches Geld reserviert, das sie mit dem Verkauf der Gewürze einnahm.

Und dieses Vorgehen hatte einen triftigen Grund.

Denn jeden Abend, wenn sich die Straßen des Dorfes wieder leerten, und die letzte Fähre abgelegt hatte, ging sie zurück in ihren Laden und setzte sich an einen Holztisch, der, umringt von vier Stühlen, zwischen all den duftenden Säcken mit den Gewürzen stand.

Dieser Tisch war nicht nur ihr Büro. Er war gleichzeitig der Ort, an dem gegessen, getrunken und auch geredet wurde.

Es wurde viel geredet in Kalilas kleinem Laden.

Von ihrem Platz aus konnte sie das gesamte Geschäft und die offene Tür zur Straße hin überblicken. Eine Tür, die eigentlich nie abgeschlossen war.

Kalila griff in die rechte Tasche und leerte den Inhalt auf das spröde Holz vor sich. Sie glättete sorgfältig alle Scheine und sortierte sie, sowie auch die wenigen, einheimischen Münzen nach ihrem Wert. Danach verschwand alles, nachdem sie die Einnahmen ordentlich in einem Buch notiert hatte, in dem kleinen Metallkasten, auf dessen Deckel noch, in schon leicht verblassten Farben, die Umrisse von Arielle der Meerjungfrau zu erkennen waren.

Sie schloss den schon leicht klemmenden Deckel, und stellte die Schatulle wieder zurück in die Schublade unter dem Tisch.

War diese Arbeit getan, holte sie, wie jeden Abend, aus einem Schränkchen, das an der Wand stand, ein Tablett heraus. Auf ihm standen, nebeneinander fein säuberlich aufgereiht, mehrere mit einem Metalldeckel verschraubte Gläser. Sie schob alles langsam über den Tisch.

Jetzt war es an der Zeit für ihre linke Tasche.

Sie griff hinein und leerte den Inhalt, indem sie es manchmal mehrfach wiederholte, vor sich aus. Direkt vor das Tablett mit den Gläsern.

Wie schon das Geld zuvor wurden auch diese Banknoten von ihr sorgsam glatt gestrichen. Dabei betrachtete sie jeden einzelnen Schein eingehend. Und je unbekannter ein Geldschein war, desto genauer wurde er von ihr begutachtet. Das Papier, die Größe, die Gestaltung, ja sogar den Geruch, beurteilte sie.

Es gab wunderhübsche unter ihnen, wie Kalila fand. Richtige, kleine Kunstwerke. Eines Tages fiel ihr sogar auf, dass die Scheine der Touristen immer sauberer waren als die der Einheimischen.

Kalila bemaß den Wert einer Banknote, obwohl ihr der Geldwert natürlich bekannt war, nicht nach den Zahlen, die auf ihm gedruckt waren. Sie erfreute sich erst einmal an den schönen Bildern und Bauwerken sowie den ganzen Unterschiedlichkeiten, die auf ihnen zu erkennen waren.

Mit der Zeit hatte sie gelernt, die Herkunft vieler, aber eben nicht aller Scheine, die sie erhielt, zu bestimmen.

Bargeldloses Bezahlen war in ihrem Laden ohnehin nicht erwünscht. Es hätte sie zwar nicht ärmer gemacht, aber mit Sicherheit um eine große Freude gebracht.

'Cash only!' hatte sie als Motto auf ein Schild über der Eingangstür geschrieben.

Und so kam alles Geld, das sie in Münzen oder Scheinen, während des Tages einnahm, entweder in die rechte oder eben in die linke Tasche.

Es gab Dollar, Yen und Euro. Aber, es gab auch noch einige Scheine, bei denen sie ihre Herkunft nicht sofort erkennen konnte.

Es war auf jedem Deckel, der ein Glas verschloss, ein Zeichen für die entsprechende Währung geschrieben worden. Eins der Gläser jedoch war anders. Es hatte ein dickes, rotes Fragezeichen auf dem Verschluss und war für jene Scheine gedacht, die sie noch keinem Land zuordnen konnte.

Kalila lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Tee und ergriff eine von den Banknoten. Sie betrachtete sie im sanften Licht des schwindenden Tages. War die Herkunft unzweifelhaft, dann öffnete sie den Schraubverschluss des entsprechenden Glases und steckte sie hinein.

Das machte sie so lange, bis für alle Scheine der richtige Platz gefunden war.

Keine ausländischen Münzen!

War das Glas einmal voll, gab sie es Anila.

Anila war eine ihrer Schwestern.

Insgesamt waren sie zu viert, – vier Schwestern!

Die jüngste war Rabia, sie war gerade erst zehn Jahre alt geworden. Die zweitjüngste war die jetzt neunzehnjährige Shumaila.

Und dann war da auch noch Anila.

Sie war nur zwei Jahre jünger als Kalila und arbeitete in der Bank des Ortes. Sie kümmerte sich um alle Dinge, die Geld betrafen und war der unumstrittene Finanzminister der Schwestern.

Kontoverwaltung, Rechnungen, eben alles, was mit Geld zu tun hatte, war ihre Aufgabe.

Anila liebte nichts, was sich nicht auch berechnen ließ.

Und wenn man ihren Worten Glauben schenkte, dann ließ sich auf dieser Welt alles berechnen.

Ihre große Liebe waren die Zahlen.

Es hatte aber auch schon eine Zeit gegeben, in der standen die jungen Männer vor der Tür Schlange, um mit ihr auszugehen.

Aber, sie ließ alle Bewerber unverrichteter Dinge wieder gehen.

»Mein Lebensplan ist ein anderer«, erklärte sie jedes Mal. »Ich habe nicht vor, in diesem Dorf zu sterben! Und schon gar nicht länger als unbedingt nötig, hier zu leben!«

Kalila schaute sie dann immer nur verständnislos an, weil sie fand, dass ihre jüngere Schwester, die schönste von ihnen war und ein paar ganz ansehnliche Männer mit ihr ausgehen wollten.

»Außerdem«, erklärte Anila, wenn sie mal wieder einen Verehrer abgewiesen hatte, »müssen wir erst einmal einen Mann für Kalila finden.«

»Solch ein Blödsinn!«, erwiderte diese jedes Mal und wurde rot. »Ich muss doch erst euch alle groß bekommen.«

Wenn ein Gespräch an diesem Punkt angekommen war, beugte Anila sich vor und ergriff die Hand ihrer großen Schwester.

»Warum? Du bist eine wunderschöne Frau und hast ein großartiges Geschäft!« Mit einem verständnislosen Blick und wie zur Krönung ihrer Argumente fügte sie noch »Du bist eine gute Geschäftsfrau, Himmel!« schimpfend hinzu.

Kalila küsste sie dann beruhigend auf die Wange und beschränkte ihre Antwort auf ein leises »Ja, ja.«

»Aber das ist doch was!«

»Sicher ist das etwas. Und wo, meinst du, soll mein Herr Gemahl schlafen? Etwa in dem Bett zwischen uns beiden?«

»Das fände er bestimmt nicht schlecht!« scherzte Anila.

Die beiden Frauen lachten laut und wussten, dass die Diskussion zu Ende war.

Nun war es nicht so, dass es im Leben von Kalila keine Männer gegeben hätte.

Da war Zaid mit seinen wilden Locken.

Er war ungefähr in dem gleichen Alter wie Kalila. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter, so genau wussten sie es nicht.

Zaid war gut aussehend, wie alle ihre Schwestern fanden, hatte ein gewinnendes Lächeln und wohnte in einem einfachen Haus nur eine halbe Stunde entfernt von ihrem Laden.

Bis vor ein paar Monaten kam er häufig, um bei Kalila Gewürze zu kaufen.

Auffällig häufig, wie sie fand. Wer benötigt schon so viele Gewürze?

Fast täglich stand er plötzlich etwas verlegen in ihrem Laden, lächelte sie hintergründig an, kaufte ein paar Beutel mit unterschiedlichem Gewürzpulver, trank einen Tee und ging wieder, ohne jemals konkreter zu werden.

Kalila war sich zu der Zeit nicht einmal sicher, ob sie es überhaupt wollte, dass er aktiver wurde.

Zaid schaffte es sogar, zeitweise beim Abendessen zum Gesprächsthema der vier Schwestern zu werden.

»Hat er dich schon geküsst?« wollte Rabia wissen.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Warum sollte er?«

»Hast du ihn geküsst?«

»Auch nicht.«

»Warum nicht?«

»Warum sollte ich?«

»Weil ihr euch doch so furchtbar, furchtbar liebt!«, kicherte sie und machte schmatzende Geräusche mit ihren Lippen.

Alle lachten.

»Ihr seid ganz besonders blöde, alberne Gänse, wisst ihr das eigentlich?«

Zeitweilig dachte Kalila, dass Zaid vielleicht der Koch in einem der Hotels an der Uferpromenade wäre, und nur in ihren Laden käme, um sich Gewürze für seine erlesenen Speisen auszusuchen.

Eines Tages fragte sie ihn danach. Es stellte sich schnell heraus, dass er gar kein Koch war, ja nicht einmal kochen konnte!

Zaid war ein einfacher Kunstmaler, der aus ihren Gewürzen, vermengt mit etwas Terpentin und Leinöl, Farben für seine Bilder herstellte.

So war es nicht weiter verwunderlich, dass seine Gemälde fast so gut rochen wie der Laden von Kalila. Die fertigen, duftenden Gemälde verkaufte er dann am Fähranleger an die Touristen.

Anila hatte einmal vorgeschlagen, seine Bilder zusammen mit den entsprechenden Gewürzen im Laden zu verkaufen. Kalila lehnte das Vorhaben mit den Worten: »Wir sind keine Galerie!« ab, obwohl sie die Idee gar nicht einmal so schlecht fand.

Sie hatte wohl ihre eigenen, stillen Gründe für die Weigerung, behielt sie aber für sich.

Die Besuche von dem Maler wurden mit der Zeit immer seltener. Entweder, so vermutete sie, war die anfängliche Leidenschaft schnell abgekühlt, oder er brauchte weniger Farben für seine Bilder, weil das Geschäft schlecht lief.

Kalila kannte den Grund nicht, machte sich aber auch keine weiteren Gedanken um ihn.

Denn obwohl sie auch fand, dass er gut aussah und wirklich nett war, fehlte ihr etwas an ihm, von dem sie meinte, dass es hätte da sein müssen, wenn er der Richtige gewesen wäre.

Sie wusste nicht einmal, was es war, was ihr fehlte. Sie merkte nur, dass es fehlte. Als sie dann eines Abends versucht hatte, Shumaila alles wortreich zu erklären, rollte diese nur vielsagend mit den Augen.

»So wirst du nie einen Mann abbekommen«, bemerkte sie abschließend.

Die jüngste von ihren Schwestern war Rabia. Sie war gerade zehn Jahre alt geworden und ging noch in die Schule.

Mit ihren zehn Jahren hatte sie, wie auch die anderen Schwestern, schon einige bedauerliche Verluste zu verkraften gehabt. Zwei große Einschnitte bestimmten bis jetzt ihr Leben und es war immer noch Kalilas Ehrgeiz, diese Einschnitte möglichst schnell verheilen zu lassen.

Rabia war gerade ein Jahr alt, als der Vater bei einem schweren Unfall ums Leben kam.

Da der Gewürzhandel zu jener Zeit noch nicht genug einbrachte, war er gezwungen, um seine Familie über Wasser zu halten, zusätzliche Arbeiten anzunehmen. Je nach Jahreszeit, half er den Bauern bei der Ernte, oder am Anlegesteg, die Boote mit den Touristen zu befestigen. Eines Tages war er dabei ins Wasser gefallen und durch den Sog unter ein Schiff geraten. Sie haben ihn nie wiedergefunden. Mit Sicherheit ist er ertrunken und vom Fluss mitgenommen worden. Es schien eine merkwürdige Ironie zu sein, dass er die Familie über Wasser halten wollte und selbst dabei ertrank.

Er hatte nach Shumaila nie ein weiteres Kind gewollt, erzählte die Mutter. Da sie aber kein Mittel zur Verhütung bekommen konnten, und es sich auch nicht hätten leisten können, nahm die Natur ihren Lauf.

Als Rabia dann da war, wurde sie sein ganzer Stolz. Für ein Jahr noch war er ein liebevoller, besorgter Vater von vier wilden Mädchen.

Im Dorf wurde er von einigen belächelt, weil es nur Frauen in seiner Familie gab.

»Halim«, riefen sie, »wer wird sich einmal um deinen Gewürzladen kümmern?« ohne, dass sie deswegen wirklich besorgt waren.

»Vielleicht einer von euren dummen Jungen, meine Mädchen sind zu schlau dafür!«, rief er ihnen hinterher, wenn er das Gerede leid war.

Er war ein kluger Mann, der schon immer dafür gesorgt hatte, dass seine geliebten Kinder zur Schule gingen und lernten. So würde er, wie er überall erzählte, Gott ehren und sich für eine große Familie bedanken.

Anila fing damals an, in der Bank eine Ausbildung zu machen. Sie hatte immer schon Freude an Zahlen gehabt.

Abends saß sie häufig mit ihrem Vater zusammen und zeigte ihm stolz, wie gut sie schon rechnen konnte.

Kein Sudoku war ihr zu schwer oder blieb ungelöst.

Und so lernten sie alle nicht nur Mathematik und Schreiben, sondern durch ihn auch, aufrecht durch das Leben zu gehen und sich nicht mit dem erstbesten zu begnügen.

Von dem Tag an, als er nicht mehr nach Hause kam, übernahm Kalila die Aufgabe, ihre Mutter bei der Führung des Ladens zu unterstützen.

Das tat sie immer mit großem Einsatz, obwohl es vorher nie ihr Lebensplan gewesen war. Aber die Zeit und das Wohl der Familie erforderten es.

Und so wanderten die abgegriffenen Magazine mit der schönsten Mode und den neusten Kleidern aus Paris ganz nach oben in das Regal, direkt neben die Schachteln mit dem goldenen Safran. Aber sie blieben dort immer in ihrer Sichtweite. Und wenn sie abends allein war, zündete sie häufig eine Kerze an, blätterte in ihnen und träumte ein wenig von Paris.

So verloren sie, als Rabia gerade ein Jahr alt war, ihren Vater.

Eshaal, wie ihre Mutter hieß, traf der Verlust sehr schwer. Sie versuchte jedoch auch weiterhin, ihren Töchtern das zu ermöglichen, was ihnen schon immer von Bedeutung gewesen war.

Und da das Geld durch die Gewürze nie ausreichte, lernte sie zu sticken. Sie verzierte Taschen mit kunstvollen Motiven, die sie aus den alten Jutesäcken der Gewürze herstellte und verkaufte sie dann zu einem guten Preis.

Ihre Taschen waren sehr begehrt bei den Fremden und brachten der Familie zusammen mit den Gewürzen ein anständiges Einkommen.

Eine Krebsdiagnose beendete ihr Leben viel zu früh, nach fünf weiteren Jahren.

Den letzten Monat ihres Lebens konnte sie nur noch im Krankenhaus verbringen. Abwechselnd besuchten die Töchter sie dort, sodass sie immer jemanden aus der Familie um sich hatte.

»Vielleicht ist es gut, wenn ich jetzt gehe«, hatte sie eines Tages zu Kalila gesagt.

»Was redest du da, Mama?«, fragte diese empört zurück.

Daraufhin nahm Eshaal ihre Hand, drückte sie leicht und schaute ihre älteste Tochter lange an.

»Dann sehe ich deinen Vater bald wieder«, sagte sie sichtbar angestrengt. »Und außerdem fliegen sie jetzt schon zum Mond, das ist nicht mehr meine Welt.« Die beiden Frauen lachten über ihre Worte. »Aber es ist deine, meine liebe Kalila – mach was daraus! Und kümmere dich um deine Schwestern.«

»Natürlich werde ich das, Mama« versprach sie.

»Das wird nicht leicht für dich«, gab ihre Mutter zu bedenken. »Es sind manchmal verdammt wilde Biester! Und denk daran, Rabia soll sich morgens nicht immer so vollstopfen, achte darauf!«

Sie mussten beide über diese Anweisungen lachen und Kalila wunderte sich, was nach einem langen Leben wichtig zu sein schien. Sie nahm ihre Mutter in den Arm.

Zwei Tage später starb Eshaal.

Von dem Tag an hatte die älteste Tochter die Verantwortung für die ganze Familie und besonders natürlich für die kleine Rabia. Sie wurde so etwas wie der Mutterersatz für sie. Und es passierte nicht nur einmal, dass die Kleine unabsichtlich, aber voller Überzeugung, ‚Mama‘ zu ihr sagte.

Kalila korrigierte sie nicht, war sie doch der Meinung, dass das Leben diese kleine Unebenheit beizeiten wieder glätten würde.

Und ihr schien es richtige zu sein. Denn wenn es Rabias Bauch guttat, – ihrem schmerzte es nicht.

Ganz im Gegenteil, auch sie bekam etwas von der Kleinsten zurück, wenn sie ihr morgens vor der Schule die Zöpfe geflochten hat und mit ihr dabei Lieder sang.

Das waren nicht etwa irgendwelche alten, verstaubten Volkslieder. Shumaila hatte ihr einige der neusten Hits beigebracht und ließ sie sogar zuschauen, wenn sie wieder mal mit ihren Freundinnen die coolsten Dance Moves von Brittney Spears vor dem Spiegel übten. Oder aber lasziv, wie Amy Winehouse, ein Lied in das Zucchini-Mikrofon hauchte.

Shumaila, ihre Haut hatte die Farbe von dunklem Safran. Sie war gerade mitten in der Pubertät, als die Mutter starb.

Und so oft wie Rabia ‚Mama‘ zu Kalila sagte, hörte sie von Shumaila genau das Gegenteil.

»Du bist nicht meine Mutter!«, explodierte sie und knallte dann die Zimmertür zu, um ihren Worten noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen.

Sie war ein gutaussehendes Mädchen, und wusste es auch. Schon früh war sie sich ihrer Wirkung und den daraus zu ziehenden Vorteilen bewusst.

In jener Zeit schaffte es jeder noch so kleine Pickel auf ihrer Nase, ihr Leben für immer und ewig zu beenden und sorgte für ergiebige Heulkrämpfe vor dem Spiegel.

Der Vorteil war, dass 'Immer und ewig' in dem Alter, nur ungefähr eine Zeitspanne von zwei Stunden umfasste.

Sie war eine Schülerin, der das Lernen leichtfiel.

Und es war recht früh klar für sie, dass sie in einem der großen Hotels arbeiten wollte.

»Es ist sooo cool da!« wurde sie nie müde abends allen mitzuteilen.

So begann sie voller Tatendrang mit siebzehn Jahren eine Lehre im nobelsten Quartier des Dorfes.

Wahrscheinlich half ihr gutes Aussehen und ihre erstaunliche Begabung für Sprachen dabei, dass sie schon bald an der Rezeption arbeiten durfte. Ihr Chef, Imano Saif, hielt große Stücke von ihr und versprach, sie nach besten Kräften zu fördern.

Sie erreichte schon nach kurzer Zeit, den Küchenchef davon zu überzeugen, sich von Kalila, mit den besten und frischesten Gewürzen beliefern zu lassen.

Wahrscheinlich mit genau dem Augenaufschlag, so vermutete Anila, den sie früher für das Lied „You know I`m no good“ hundertmal vor dem Spiegel mit ihren Freundinnen geübt hatte.

So hatte Kalilas Gewürzhandel einen Großkunden, und hundert kleine. Das Geschäft fing langsam an, gut zu laufen. Und selbst ihre Händler ließen ihr, da sie merkten, dass der Handel mit ihr lohnend war, immer mehr Proben zukommen und machten bessere Preise.

Das Sortiment beinhaltete inzwischen die duftende Landkarte der ganzen Welt.

Die Gerüche der Gewürze waren ebenso vielfältig wie ihre Farben und Formen.

Einiges kam in Säcken, anderes in Schachteln oder Dosen. Der richtig wertvolle Safran kam sogar in edlen, kleinen Schatullen, die aussahen, als würde sich wertvoller Schmuck in ihnen befinden.

Kalila fand aber, dass es angemessen war. Denn sein Preis war dem von edlem Schmuck ebenbürtig. Und außerdem waren diese kunstvollen, kleinen Kästchen eine passende Gesellschaft für ihre geliebten Magazine, oben im Regal.

Kalila konnte aber nicht nur alle Gewürze beschreiben, oder ihren Geruch und die Herkunft erklären.

Ihre Liebe bezog sich schon lange auch auf deren Verwendung.

Sie war eine leidenschaftliche Köchin. Kochen war für sie eine kreative Erfüllung, ein Fels in der Brandung des Alltags.

Und je älter ihre Schwestern wurden, desto mehr würdigten sie auch ihre Künste auf diesem Gebiet.

Während Rabia immer noch mit Spaghetti und einer einfachen Tomatensoße zu begeistern war, legten die beiden anderen schon sehr viel strengere Maßstäbe an und sparten nicht mit Kritik.

So nutzte Kalila ihre Zutaten schließlich nicht nur dem Rezept, oder ihrer eigenen Laune entsprechend, sondern suchte sie auch für unterschiedliche Anlässe extra aus.

Dasselbe Gericht von ihr schmeckte bei einer Hochzeit anders als bei einer Beerdigung.

Selbst für kleinere Krankheiten fand sie in ihrem Sortiment immer das passende, lindernde Gewürz.

Und so wäre Kalilas Leben noch hundert Jahre ruhig dahingeflossen, ganz so, wie es der Fluss hinter ihrem Haus tat, hätte da nicht eines Morgens, ein Toter hinter den Säcken mit den Granatäpfeln gelegen.

Kapitel 2

– Der Tote –

Der Becher mit dem süßen Tee zersprang auf dem Fußboden in viele kleine Einzelteile. Er erzeugte bei seinem Aufprall auf dem Boden einen kurzen, scharfen Knall. Das dampfende, wässrige Getränk mischte sich mit einer anderen, intensiv roten Flüssigkeit, die in einem kleinen Rinnsal unter dem Jutesack mit den Granatäpfeln hervorgekrochen war und auf den staubigen Steinplatten eine kleine, glänzende Pfütze gebildet hatte.

Kalila wunderte sich über die deutliche Färbung auf den Fliesen vor ihren Zehen sowie erst recht, über die vielen kleinen Spritzer, die sich in der gleichen Farbe bis hoch auf ihre Knöchel verteilt hatten.

Schon einen winzigen Augenblick später wurde ihr klar, dass es nicht der klebrige, austretende Saft von überreifen Früchten sein konnte, der sich langsam vor ihren Füßen ausbreitete.

Es war ein überaus besonderes Rot. So unverwechselbar und auffällig, wie es nur das Blut eines Menschen war!

Als Kalila fast ohne zu atmen dastand und bewegungslos auf den toten Körper eines Mannes starrte, meinte sie ganz sicher zu sein, dass sie zwischen all den duftenden Gewürzen den unverkennbaren metallischen Geruch von frischem Blut erkannte.

Nicht, dass sie vorher schon jemals die Möglichkeit gehabt hätte, das Aroma dieses sehr besonderen Stoffes kennenzulernen, aber Kalilas Fantasie reichte leicht aus, um ihrer geschulten Nase mitzuteilen, dass Blut in einer solchen Menge genau so riechen würde.

Und selbst wenn es eine Tatsache gewesen wäre, dass sie in all den Jahren auch nur eine einzige Sache gelernt hatte, dann würde es ganz sicher die gewesen sein, dass sie sich immer bedingungslos auf ihre gute Nase verlassen konnte.

Und selbst wenn sie, getrieben durch eine wilde Panik, genau in diesem Augenblick, laut um Hilfe schreiend, aus dem Laden gelaufen wäre, hätte ihr unbeirrbares Geruchsorgan die Witterung längst aufgenommen und abgespeichert.

Allerdings, so schien es ihr, war eine zutreffende Schlussfolgerung in diesem Fall nicht besonders anspruchsvoll. Lag doch der tote Mann gut sichtbar, aber in einer ungewöhnlichen, verdrehten Haltung direkt vor ihren Augen hinter dem Sack mit den Granatäpfeln.

Welche Zweifel konnte es da noch geben?

Selbst ohne fundierte medizinische Kenntnisse war für Kalila die Gewissheit, dass der Mann vor ihr mausetot war, eine unumstößliche Tatsache.

Ihr unwiderstehlicher Drang, Hilfe zu rufen, ja laut nach ihr zu schreien, um so dem grauenhaften Anblick zu entkommen und die Nachbarn, besser die ganze Welt zu mobilisieren, wurde nur durch ihre aufkommende, immer größer werdende Neugierde unterdrückt.

Zu ihrem eigenen Erstaunen beugte sie sich weit nach vorn, um in das bleiche Gesicht des Mannes vor ihren Füßen zu schauen.

Es war, wie sie erkannte, das unbewegliche, starre Antlitz eines Fremden, den Kalila noch nie zuvor in ihrem Laden gesehen hatte.

Auch zu den Bewohnern ihrer kleinen Stadt, das erkannte sie sofort, gehörte er auf keinen Fall. Man kannte sich, aber den hier kannte sie nicht.

Er lag eigenartig verkrümmt auf seiner rechten Seite und bildete mit seinem Körper, »Wie passend!«, dachte sie, die Form eines Fragezeichens.

Das wirre Haupthaar war mit schon geronnenem, dunklem Blut verklebt. Der Mann trug einen kurz geschnittenen Vollbart, und sein Kopf lag, wie sie erstaunt feststellte, anscheinend trotz allem, entspannt seitlich in einer Blutlache. Seine geschlossenen Augen ließen ihn auf dem harten Boden fast so friedlich wie einen Schlafenden aussehen.

Aber er schlief definitiv nicht. Und wenn, dann wäre es ein sehr langer Schlaf, ohne die geringste Chance auf ein Erwachen gewesen.

Kalila wagte es, sich langsam noch ein Stückchen weiter vorzubeugen. Dabei hielt sie sich, mit erstaunlich ruhiger Hand, an einem Regal mit großen Muskatnüssen aus Sri Lanka fest.

»Nur nichts anfassen«, dachte sie immer wieder, als wäre es ein Mantra, das sie ständig aufsagte. »Nur nichts anfassen!«

Sie selbst schaute nicht regelmäßig Fernsehen. Aber wenn sie mit den Schwestern zusammensaß und sie sich für einen gemeinsamen Film entscheiden mussten, dann doch meist genau für solche Art von Krimis, in denen es um Mord oder andere Verbrechen ging. Oder aber sie schauten hingebungsvoll einen herzergreifenden Liebesfilm. Jedoch meist nur dann, wenn Rabia wach war, neben ihnen saß und tausend Fragen zu Jungs, der Sehnsucht und der Liebe stellen konnte.

An diesem so ungewöhnlichen Morgen jedoch war es Kalila, die sich so fühlte, als wäre sie die Schauspielerin in einem Krimi.

Nur zu gerne hätte sie, so cool wie einst Harry Callahan, die Worte »Make my day!«, zwischen ihren zusammengekniffenen Zähnen hindurchgepresst und dabei den noch rauchenden 45er zurück in das Holster geschoben.

Aber aus all diesen Filmen wusste sie gut genug, wie sie sich korrekt zu verhalten hatte.

»Bitte fassen Sie nichts an!«, waren immer die ersten, unmissverständlichen Worte der Polizei, wenn sie auftauchten, um einen Tatort zu sichern. Und immer erschien danach ein unscheinbarer Kommissar, dem anfangs keiner etwas zutraute, der sich dann aber im Laufe der Ermittlungen als begnadeter Spürhund erwies.

»Oh mein Gott«, schoss es ihr durch den Kopf, »mein Laden ist ein Tatort!«

Und obwohl alles so offensichtlich klar zu sein schien, war sie dennoch nicht in der Lage, das, was sie sah, zu durchdenken und logische Schlüsse daraus zu ziehen.

Hätte morgens jemand mit einem gebrochenen Bein vor ihrer Tür gelegen, würde sie wahrscheinlich schon lange das ganze Dorf zusammengerufen haben. Aber ein Toter? Das war abstrakter und für sie eine ganz neue, bizarre Dimension des Entsetzens. Es war so abwegig, so unbeschreiblich schockierend, dass sie nicht einmal die Zeit hatte, wirklich schockiert zu sein.

Selbst wenn sie es nicht wollte und es im Grunde auch ziemlich abscheulich fand, musste sie einfach unablässig auf den Toten vor ihren Füßen blicken.

So wie es für sie aussah, stammte das Blut aus einer Wunde, die sich im oberen Bereich seiner Brust befand. Jedenfalls entdeckte sie dort den feuchtesten und größten roten Fleck.

Fast zynisch erschien ihr in diesem Zusammenhang das 'Grateful Dead' T-Shirt, das er trug und unter dessen hübschen Schriftzug mehrere dekorative Einschusslöcher aufgedruckt waren.

Eins von den so kunstvoll gestalteten Löchern war aber nicht aufgedruckt.

Kalila kannte sich mit solchen Dingen natürlich nicht wirklich aus.

Sie konnte, wenn sie wollte, fünfzig, ja sogar hundert verschiedene Gewürze mit verschlossenen Augen erriechen und deren Einsatzmöglichkeiten noch zusätzlich präzise beschreiben. Ein kurzer Blick von ihr genügte und sie wusste, ob Chilis aus Mexiko oder aus Indien stammten.

Woran allerdings dieser Mann gestorben war, vermochte sie beim besten Willen nur zu erahnen.

In jenem kurzen Augenblick, während sie vorgebeugt über der Leiche stand, schwappte in kleinen Wellen, die Realität zurück in ihren Kopf.

Diese Realität ließ sie zuerst ihren Kopf anheben, dann die Hände vor dem Mund zusammenschlagen, bis sie sich schließlich langsam umdrehte.

»Anila …«, krächzte sie kaum hörbar in die Richtung des Schlafzimmers.

Keine Reaktion.

»Anila!«, versuchte sie es ein zweites Mal, etwas intensiver.

Nach diesem erneuten Versuch tauchte ihre Schwester nur einen Augenblick später im Türrahmen auf. Sie war schon für die Arbeit in der Bank angezogen und stand in einem eleganten grauen Kostüm und schwarzen Pumps ein paar Meter entfernt vor ihr.

»Ich habe keine Zeit mehr, ich muss los, was ist denn?«

Kalila stand reglos, mit großen Augen vor ihren Gewürzen. Langsam, so als zöge jemand über ihr an einem Band, hob sie den rechten Arm und deutete unmissverständlich auf den Jutesack neben sich.

»Was ist denn los?«, wurde Anila jetzt energischer und sah, wie ihre ältere Schwester immer noch die linke Hand vor den Mund hielt und mit der anderen auf etwas auf dem Boden vor sich deutete. »Haben wir wieder Ratten? Stell dich nicht so an, es ist doch nicht die Erste, die du siehst!«

Sie machte ein paar Schritte auf sie zu und folgte, indem sie sich etwas nach vorn lehnte, mit ihrem Blick Kalilas ausgestrecktem, leicht schwingendem Finger.

Schon im nächsten Augenblick richtete sie sich wieder kerzengerade auf, schob ihre Brille etwas nach oben und schaute mit weit aufgerissenen, aber verständnislosen Augen auf ihre Schwester.

»Mein Gott, was hast du getan?«

Die Worte erreichten zwar Kalilas Ohren, prallten aber dort, noch bevor sie in ihr Gehirn gelangten, ab und schwebten unbenutzt zurück in den Raum. ­

Zu unfassbar erschien ihr die Frage ihrer Schwester.

Erneut hörte sie die gleichen Worte Anilas, nur wurden sie jetzt noch zusätzlich durch das Rütteln an ihrer Schulter verstärkt.

»Kalila, was hast du getan?«

Sie schaute ihrer Schwester direkt in die immer noch weit geöffneten Augen. Es fühlte sich für sie an, als stiege sie von einem entfernten Punkt außerhalb des Universums zurück in ihren Körper.

»Bist du verrückt!«, war die knappe Bemerkung, die sie als Antwort und Frage zugleich herausbrachte.

»Ob ich verrückt bin?«, Anila machte einen Schritt auf den Toten zu, wirbelte ihre Arme demonstrativ durch die Luft und zeigte dann, mit beiden Händen, auf den leblosen Mann am Boden. »Du fragst mich ernsthaft, ob ich verrückt bin?«

Kalila ging mit einem energischen Schritt auf sie zu.

»Sei nicht so laut!«, forderte sie energisch, »die anderen müssen es doch nicht mitbekommen!«

»Ach, du findest, dass das momentan unser größtes Problem ist?«

»Ja.«

»Kalila …«, der Rest des Satzes endete damit, dass ihre leicht zitternde Hand wieder auf den Toten zeigte. »Kalila, ich glaube, ich muss kotzen!«

»Untersteh dich, mir hier zwischen meine Gewürze zu kotzen!«

Anila schaute ihre Schwester mit einem Blick an, der sowohl ihre Überraschung als auch zugleich die ganze Empörung ausdrückte, die sie empfand.

»Dass hier ein Toter liegt, findest du wohl nicht ganz so fürchterlich!«

»Natürlich ist es schlimm. Aber ich weiß doch auch nicht, wie er da hingekommen ist«, zischte die älteste Schwester bemüht leise zurück.

Es entstand eine kurze Pause, und die Blicke der beiden Frauen trafen sich.

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass ich nicht weiß, wie der Tote da hingekommen ist. Er lag heute Morgen einfach plötzlich da.«

»Und wie ist er in den Laden gekommen?«

Kalila zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht! Durch die Tür wohl …«

»Durch die Tür?«

»Wie sonst?«

Anila verdrehte leicht ihre Augen und setzte das Rütteln an der Schulter fort.

»Kennst du ihn?«

»Nein.«

»Noch nie gesehen?«

»Nein, wirklich – ich schwöre!«

Anila packte ihre Schwester jetzt an den Armen und drückte sie auf einen Stuhl.

Kalila war dankbar, sitzen zu dürfen, und bemerkte erst jetzt, dass ihre Knie im Rhythmus ihres Herzschlags zitterten.

Sie krallte sich so stark mit den Händen an die Tischplatte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Anila stellte sich dicht neben ihre Schwester und legte die Arme sanft um ihren Kopf.

»Wir sitzen ganz schön in der Tinte«, sagte sie nachdenklich und streichelte über Kalilas Haare.

»Aber wir haben doch nichts getan.«

»Das nicht, aber du kannst dir ja wohl denken, wie das Ganze wirkt, wenn hier ein Toter im Laden liegt.«

»Nicht besonders gut, fürchte ich.«

»Das, meine Liebe, ist wohl die Untertreibung des Jahres.«

Die beiden Frauen schauten wieder auf die Leiche.

Anila rückte mit zwei Fingern ihre Brille zurecht. Es war ganz so, als versuchte sie durch diese Bewegung etwas zu korrigieren, was sie nicht sehen wollte.

Das Blut unter dem Jutesack bildete an den Seiten schon dunkle Ränder und fing langsam an, zu gerinnen. Es widerlegte auf entsetzlich schauerliche Weise ihre Hoffnung auf einen Wahrnehmungsfehler.

Anila nahm einen Stuhl und setzte sich zu ihrer Schwester an den Tisch.

»Wir müssen jetzt sehr gut überlegen, was zu tun ist«, stellte sie in ihrem so typischen, sachlichen Tonfall fest.

Kalilas Blick dagegen schwirrte noch immer nach einem Halt suchend planlos zwischen den Regalen umher.

»Ich muss Paprika bestellen«, bemerkte sie tonlos.

Ihre Schwester schaute sie fassungslos an.

»Was …?«

»Ich habe nicht mehr viel, ich sollte …«

Anila sprang von ihrem Stuhl auf, wobei ihr die Brille fast von der Nase gerutscht wäre.

»Drehst du jetzt völlig durch? – Da liegt ein Toter vor uns auf dem Fußboden, wir stehen knöcheltief in Blut, und du machst dir Gedanken über Paprika!«

»Na, knöcheltief …«

»Kalila!«

»Entschuldige! Komm, setz dich bitte wieder hin«, sagte sie fast flehend und nahm dabei die Hand ihrer Schwester.

Die beiden setzten sich schweigend gegenüber.

Es verging eine ganze Weile, bis Kalila plötzlich ihren Kopf hob und ihre Schwester anschaute.

»Hast du wirklich gedacht, ich hätte ihn abgemurkst?«, fragte sie in die Stille.

Die Frage hatte für beide Frauen erstaunlicherweise etwas Erleichterndes.

»Ich weiß nicht …«, antwortete Anila, lächelte ihre Schwester an und schlug ihr dabei spielerisch auf die Hand. »Aber wer weiß …?«

»Ist ja super, meine eigene Schwester traut mir einen Mord zu.«

Das kleine Wort ‚Mord‘, das in diesem Zusammenhang so viel bedeutete, ließ beide erneut in die Richtung schauen, in der die Leiche lag.

»Er sah gar nicht mal schlecht aus«, stellte Kalila nach einer Weile tonlos fest.

Anila drehte ihren Kopf und schaute sie fassungslos an.

»Du kannst ihn ja nach einem Date fragen.«

»Aber es stimmt doch«, beharrte Kalila.

»Wir müssen auf jeden Fall die Polizei informieren«, brachte Anila sie wieder zurück in die Realität.

»Ja, das müssen wir wohl.«

Sie schreckten zusammen, als hätte man sie gerade bei etwas Verbotenem erwischt, als plötzlich hinter ihnen ein Geräusch zu hören war.

Ruckartig drehten sich ihre Köpfe herum.

Im Türrahmen stand Shumaila, die drittälteste Schwester, mit einem Becher Tee in der einen und einer qualmenden Zigarette in der anderen Hand. Sie hatte noch ein Nachthemd an, das an ihr bis zu den Knöcheln herabhing. Die Haare waren voller bunter Lockenwickler und rahmten wild und ungekämmt ihren Kopf ein.

Die zwei Schwestern am Tisch waren vor Schreck nicht in der Lage, einen Ton herauszubringen.

Shumaila nahm einen Schluck Tee, zog an ihrer Zigarette und setzte sich zu ihnen.

Ihr Blick wechselte von einer zur anderen, während sie erneut an ihrer Zigarette zog und den Rauch genussvoll über den Tisch blies.

»Ist was?«

Ihr Blick pendelte weiter ruhelos zwischen den beiden älteren Schwestern.

Anila war es, die als Erste ihre Sprache wiederfand.

»Wieso läufst du hier noch so herum, musst du nicht zur Arbeit?«

»Nein«, kam es knapp von Shumaila zwischen zwei Schlückchen Tee zurück.

»Wieso nicht?«

»Ich habe heute frei. Aber warum sitzt du hier noch, auch frei?«

Anila blickte wie ein ertapptes Schulkind auf ihre große Schwester.

»Oh verdammt, die Arbeit …«, sagte sie zu sich selbst und drehte sich schnell zurück zu Shumaila. »Ich fange heute später an.«

Kalila durchfuhr ein beunruhigender Gedanke, der sie sorgenvoll auf die Tür zu den hinteren Räumen blicken ließ.

»Wo ist Rabia?«

»In der Küche.«

»Was macht sie da?«

»Sie versucht gerade den Weltrekord im Cornflakes essen zu brechen.«

Shumaila lächelte die beiden an, trank ihren Becher in einem Zug leer und stellte ihn vor sich auf den Tisch.

»Aber sie soll doch nicht immer … – Ach, was soll’s, ist jetzt auch egal!«

Es war wie ein unerwarteter elektrischer Stromschlag, der die beiden älteren Schwestern traf, als Shumaila plötzlich mit ihrer freien Hand auf den Boden vor dem Sack mit den Granatäpfeln deutete. Nur sehr langsam, die Köpfe vorsichtig drehend, folgten die beiden anderen mit ihren Blicken der unheilvoll, ausgestreckten Hand.

»Das solltest du mal wegmachen, Kali, sonst rutscht auf dem Saft noch jemand aus und dann hast du die fetteste Schadensersatzklage am Hals, die du dir nur vorstellen kannst. Im Hotel hatten wir mal einen Fall …« Sie unterbrach ihren Satz abrupt und schaute fragend auf ihre Schwestern.

Unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen, blickte Anila Hilfe suchend auf Kalila. Die erwiderte den Blick erstaunlich ruhig und nickte dann kaum wahrnehmbar.

»Was ist denn heute Morgen los mit euch?«, hörten sie Shumaila weiterreden. »Also bei uns im Hotel …«

Kalila ergriff ihre Hand und zog sie etwas dichter an sich heran, woraufhin Shumaila abermals ihren Wortschwall unterbrach.

»Schätzchen, wir müssen dir etwas sehr Wichtiges zeigen.«

Der Grad der Aufmerksamkeit von Shumaila war immer deutlich an ihrem gehobenen Kinn zu erkennen. Und ihre Aufmerksamkeit steigerte sich jetzt gerade umso mehr, da Kalila ihr gegenüber das Wort ‚Schätzchen‘ benutzt hatte. Es war, für sie in diesem Zusammenhang – und zusätzlich noch bestätigt durch die ergriffene Hand, so etwas wie ein Alarmsignal.

»Ich wusste doch, dass etwas los ist …«, bemerkte sie und schaute erwartungsvoll Anila an.

»Du musst aber versprechen, nicht loszuschreien.«

»Losschreien?«

»Versprich es!«

Sie erhob, wie zu einem heiligen Schwur, ihre Hand und lächelte die beiden an.

»Ich schwöre«, sagte sie feierlich. »Und nun erzählt schon!«

»Eigentlich müssen wir gar nichts erzählen …«

»Weil …?«

»Weil«, ergänzte Anila ihren Satz, »wir dir nur etwas zeigen müssen.«

»Dann zeigt es doch endlich. Macht es nicht so spannend!«

»Denk an dein Versprechen«, ermahnte Kalila sie noch einmal eindringlich.

Die beiden Frauen erhoben sich fast synchron und stellten sich seitlich vor den Sack mit den Granatäpfeln.

Mit einer winkenden Bewegung forderten sie die wartende Schwester auf, zu ihnen zu kommen.

Shumaila erhob sich von ihrem Stuhl und ging langsam, aber sehr gespannt auf ihre Schwestern zu.

»Ihr macht es aber wirklich spannend!«

Beide Frauen ergriffen sie an der Schulter, zogen sie dichter zu sich heran und lenkten dann ihren Blick auf eine Stelle hinter dem Jutesack.

»Ground Zero!«, kommentierte Kalila.

Shumaila senkte bereitwillig ihren Kopf und schaute nach unten. Es brauchte nur einen Blick und einen Moment und sie wich, als hätte eine unsichtbare Kraft sie zurückgestoßen, einen kleinen Schritt nach hinten und richtete sich wieder auf.

Sie machte einen tiefen Atemzug, um das, was sie sah, mit etwas mehr Sauerstoff vielleicht besser zu begreifen.

Es war ein so unerwarteter Anblick, dass sie immer wieder abwechselnd von der Leiche auf dem Boden hin zu ihren Schwestern schaute.

»Heilige Scheiße …!«, war alles, was sie im ersten Augenblick an Worten herausbekam, bevor sie wieder etwas dichter an den Sack heranging. »Ist es wirklich das, was ich zu sehen glaube?«

»Ich fürchte ja«, bestätigte Kalila kleinlaut.

»Ist ja abgefahren!«

Anila griff leicht an ihren Arm.

»Eigentlich hatte ich, offen gesagt, mit einem Ohnmachtsanfall von dir gerechnet.«

»Wieso?«, fragte Shumaila fasziniert zurück und beugte sich noch etwas weiter vor.

»Na ja, eine Leiche …«

»Und er ist wirklich tot?«

Sie richteten sich alle drei wieder auf.

»Wie sieht es denn für dich aus?«

Shumailas Blick wanderte forschend von einer Schwester zur anderen. Ihre Augen verengten sich und sie formte ihre Lippen dabei wie zu einem Kuss. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie nur dann, wenn sie angestrengt über etwas nachdachte, die Antwort aber noch nicht gefunden hatte.

»Wer von euch beiden war es?»

Bei den knapp gehaltenen Worten weiteten sich ihre Augen erwartungsvoll.

Ihre Schwestern schauten erst sich und dann wieder sie an.

»Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Shumi!«

»Oder habt ihr ihn zusammen umgelegt?« Ihr Blick richtete sich erneut auf den Toten. »Ist das krass!!«

Ihre älteren Schwestern machten spontan einen Schritt zurück.

»Nun komm mal wieder auf den Teppich! Hier hat niemand jemanden umgebracht!«

»Eigentlich schon«, mischte sich jetzt Kalila wieder in das Gespräch ein. »Aber es war keiner von uns, so viel ist sicher.«

Keine der älteren Schwestern hatte sich bisher auch nur annähernd getraut, sich so dicht zu dem Toten herunterzubeugen.

Shumaila betrachtete eingehend und sorgfältig sein Gesicht.

»Wer ist es, kennt ihr ihn?«

»Wir wissen weder, wer er ist, noch wissen wir, wie er hierherkam.«

»Krass!«, bemerkte Shumaila erneut, als sie sich wieder aufrichtete. »Und nun?«

»Polizei natürlich«, bemerkte Anila trocken.

Kalila machte wie schon so häufig den Versuch, die Situation zu ordnen.

Sie ist es in der Vergangenheit immer gewesen, die bestrebt war, alles so zu organisieren, dass es ihr möglich war, den Überblick zu behalten. Wahrscheinlich war das der Preis, den sie nach dem Tod der Mutter als Älteste hat zahlen müssen, um die jüngeren Schwestern zu beschützen.

»Shumi«, begann sie, «du kümmerst dich um Rabia. Ich will nicht, dass sie hier plötzlich reinkommt!«

»Geht klar, mein Führer!«

Shumaila lächelte sie an und stellte sich aufrecht, mit der gestreckten Hand an der Schläfe, in gespielter militärischer Haltung vor den Tisch.

»Schön, dass du noch Witze machen kannst«, bemerkte Kalila. »Dann bringst du sie zur Schule und sorgst dafür, dass sie auch wirklich aus dem Haus ist. Du Anila, gehst wie immer ganz normal zur Arbeit …«

»Aber ich kann dich hier doch nicht allein lassen, – mit dem da.«

Bei ihren letzten Worten drehte sie ihren Kopf und bewegte das Kinn in Richtung Leiche.

»Ich schaff’ das schon«, versuchte Kalila sie zu beruhigen. »Außerdem werde ich bestimmt nicht lange allein sein, da ich gleich, wenn ihr weg seid, die Polizei anrufe.«

Die drei Frauen schauten sich entschlossen an.

Kalila griff nach einem Schild und drückte es Anila in die Hand.

»Hier, häng das auf, wenn du hinausgehst. – Der Laden bleibt heute geschlossen.«

»Okay!«

»Und du kümmerst dich jetzt um Rabia.«

Kalila nahm Shumaila bei der Schulter und drehte sie in Richtung Tür.

»Ja, aber vorher hole ich noch mein Handy, um schnell ein Foto zu machen. – Das ist einfach zu krass!««

Die anderen beiden Frauen schauten sie entgeistert an.

»Was?«

»Du wirst ganz bestimmt kein Foto machen!«

»Aber warum denn nicht«, protestierte Shumaila.

»Weil wir hier nicht im Urlaub sind, verdammt!«

»Nur ein einziges.«

»Nein!«

»Als Erinnerung.«

»Wenn das hier vorbei ist, dann wollen wir uns nie mehr daran erinnern!«

»Aber …«

»Kein Wort mehr. – Keine Fotos! – Los jetzt!«

»Ist schon gut.«

»Auf geht’s Mädels!«

»Ich komme aber sofort wieder zurück, wenn ich Rabia in der Schule abgeliefert habe!«

»Ja, mach das.«

Es dauerte nicht lange und Kalila war allein in ihrem Laden. Allein mit einer unbekannten Leiche.

Sie setzte sich an den Tisch, von wo aus sie den toten Mann gut im Blick hatte.

»Sicher ist sicher«, dachte sie.

Aus dem Fenster konnte sie sehen, wie Shumaila mit der kleinen Rabia an der Hand die Straße hinunterging.

Nachdem beide aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, nahm sie fast behutsam ihr Telefon in die Hand, dachte kurz nach und wählte, nachdem sie abschließend, um sich selbst Mut zu machen, noch einmal tief Luft geholt hatte, die Nummer der Polizeistation.

Sie hörte es mehrfach klingeln und spürte jedes Mal, ihren eigenen Herzschlag bis hinauf in den Hals.

»Guten Morgen«, sagte jemand am anderen Ende der Leitung.

»Guten Morgen«, erwiderte Kalila mit bemüht fester Stimme. »Ich möchte einen Mord melden.«

Kapitel 3

– Die Polizei –

Es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, bis zwei dunkle Limousinen mit quietschenden Reifen vor Kalilas Gewürzladen hielten. Die große, weiße Schrift und das bunte Wappen auf den Seiten der Autos machten ihren Auftrag eindeutig.

Für einen solchen Einsatz war es notwendig, die Polizei aus der nächsten Kreisstadt zu rufen, denn Yashar war so klein und unbedeutend, dass es dort nicht einmal eine Polizeistation gab.

Der schon vor Jahren mehrheitlich gefasste Beschluss der Kreisverwaltung besagte, das Geld dafür lieber sinnvoller, etwa für die Schule und den Sportplatz, zu verwenden.

Was sollte, so wurde argumentiert, in einem so kleinen Dorf denn schon Bemerkenswertes passieren? Und bis zu jenem Morgen hatte diese Vermutung auch ihre Berechtigung. Größere Vorfälle gab es nicht, und die kleinen regelten die Dorfbewohner schon seit ewigen Zeiten unter sich. Streitigkeiten, die nicht geklärt werden konnten, besprach man mit dem Ältesten, fügte sich seinem Spruch und dankte für ein weises Urteil.

Danach ging jeder, unter derselben Sonne, wieder seiner Wege.

Vielleicht war dieses Verfahren nicht das beste der Welt, denn die Bewohner wussten, dass der Älteste nicht immer auch der Klügste sein musste. Ein Zustand, den die Natur durch ein seliges Ableben, meist in kurzer Zeit selbst regulierte. Aber am wichtigsten war der Umstand, dass dieses Vorgehen von allen im Dorf respektiert wurde.

Der heutige Polizeieinsatz, so wusste Kalila, als sie die Autos vor ihrer Tür sah, würde in der Nachbarschaft nicht unbemerkt bleiben und zu erheblichen, weit ausschweifenden Spekulationen führen.

Die Fantasie der Menschen, die hier wohnten, war reichhaltig und rankte sich gerne, wie wilder Efeu, in unvorhersehbare Richtungen.

Nur ein Toter, so würden die Nachbarn richtig vermuten, war in der Lage, einen derart kraftvollen Einsatz auszulösen.

Vier Männer in dunkelblauen Uniformen, die ganz offensichtlich darauf bedacht waren, sich zu beeilen, sprangen aus den Fahrzeugen und kamen mit schnellen Schritten sowie erkennbar ernsten Mienen auf den Eingang des Ladens zu.

An ihren Ärmeln, das konnte Kalila sogar durch die staubigen Scheiben erkennen, leuchteten viele nebeneinanderliegende, goldene Streifen. Und je nachdem, welche Position eine der betreffenden Personen in der Hierarchie einnahm, waren es ein, zwei oder, wie bei dem Vorderen der Männer, sogar drei Streifen.

Für einen Toten, so schloss Kalila aus ihrer Beobachtung, waren drei Streifen für den ranghöchsten Polizisten offensichtlich angemessen.

Sie klopften an die Ladentür, was unter den gegebenen Umständen zwar höflich, aber, in Anbetracht der Dringlichkeit ihres Erscheinens, doch eher unangebracht erschien.

»Allerdings«, so dachte Kalila, »gab es wirklich keinen Grund zur Eile, denn der Tote würde sicher nicht weglaufen.«

Sie schob den Becher mit dem Kaffee, den sie sich in der Küche zuvor noch zubereitet hatte, bedauernd beiseite und erhob sich langsam, ohne große Eile.

Ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gewohnheit, hatte ihr ein unbestimmtes Gefühl gesagt, dass jetzt der richtige Anlass für einen starken Kaffee gekommen war. Tee, so schien es ihr zumindest, würde durch diese ruhelose Situation nicht angemessen gewürdigt werden.

Die kleine, hellbraune Kardamomkapsel, die sie noch in ihren Becher geworfen hatte, drehte erwartungsvoll duftend auf der dunklen Oberfläche kleine Kreise.

Als Kalila die Klinke der Tür langsam herunterdrückte, um sie zu öffnen, war ihre Hand erstaunlich ruhig und verzögerte die Bewegung nur für den kurzen Augenblick des Luftholens.

In diesem winzigen Moment des Innehaltens stellte sie sich die Frage, ob der Türgriff, den sie umfasste, schon jemals so kühl gewesen war, wie er ihr jetzt erschien oder ob vielleicht ihre Hand heute nur ganz besonders warm war.

»Schön, dass Sie so schnell kommen konnten«, hörte sie sich sagen. »Bitte, treten Sie doch ein!«

Kalilas geöffnete Hand beschrieb einen weiten Bogen und gab den Weg für die Polizisten in den Laden frei. Sie war bemüht, ihre jetzt doch leicht zitternden Finger vor den Blicken der eintretenden Männer, so gut es eben ging, zu verbergen.

»Wer weiß denn schon«, so dachte sie, »welche dummen Rückschlüsse sonst daraus gezogen werden?«

Die vier Uniformierten drängten nach ihrer Aufforderung in den Raum. Der Vordere, mit den drei goldenen Streifen am Ärmel seiner Jacke, blieb stehen und wandte sich ihr zu.

Es schien, als wäre es die Aufgabe seines gehobenen Ranges, als Erster das Wort an sie zu richten und so seine Führungsposition noch einmal für alle deutlich zu demonstrieren.

»Madame, Ihr Anruf …«

»Oh ja«, unterbrach ihn Kalila und deutete mit einem seitlichen Blick auf die großen, grauen Jutesäcke mit den reifen Granatäpfeln.

In einer einzigen, wie eingeübt wirkenden, simultanen Bewegung, drehten sich die Köpfe aller in die von ihr angedeutete Richtung.

Da es noch früh am Tag war, tauchten die morgendlichen Sonnenstrahlen Kalilas Laden in ein mildes, gelbliches Licht. Der feine, bunte Staub des gemahlenen Gewürzpulvers schwirrte in den sichtbaren Strahlen durch die Luft und ließ sie die Sonne sogar riechen.

Zwei der Polizisten machten, kaum dass sie den Raum betreten hatten, einen Schritt auf den Tatort zu, wenn es denn einer war.

»Vorsicht, rutschen Sie nicht aus!«

Einer von ihnen hob den Kopf und blickte fragend zurück.

»Was?«

Kalila deutete erklärend auf den Boden vor ihm.

»Auf dem Blut …«

Der Vorgesetzte übernahm erneut die Aufgabe, für seine Kollegen zu sprechen.

»Madame, wir haben Erfahrung mit solchen Dingen. Vielleicht sollten wir uns erst einmal setzen und Sie erzählen mir dann genau, was passiert ist.«

Wie um seine Worte zu unterstützen, versuchte er es mit einem schwachen, gewinnenden Lächeln. Sein Vorhaben gelang ihm leider nur sehr unvollkommen und wirkte in dieser Situation eher unbeholfen.

»Wahrscheinlich«, überlegte Kalila, »ist eine gewisse Reserviertheit sogar beabsichtigt.«

Denn es hätte sich an diesem frühen Punkt der Ermittlungen ja noch herausstellen können, dass vielleicht doch sie es gewesen war, die den armen Teufel, nach einem mörderischen Streit und in blinder Rage, kurzerhand ins Jenseits befördert hatte. Und welcher Polizist wollte schon früh zu freundlich zu einer Mörderin sein? Das würde wohl nur einen erhofften vierten Streifen und die damit verbundene Gehaltsaufbesserung in weitere Ferne rücken.

Kalila deutete mit einer zurückhaltenden Handbewegung auf den Tisch mit seinen vier Stühlen, der in der Mitte des Raumes stand.

»Natürlich, bitte nehmen Sie doch Platz.«

Der Polizist bemerkte ihre Geste und deutete nun seinerseits auf einen Stuhl.

»Bitte, nach Ihnen, Madame«, bat er betont höflich und mit einem akkuraten Lächeln, das ihm, wenn nötig, Optionen in alle Richtungen der Ermittlung freihielt.

Kalila setzte sich.

»Darf ich Ihnen auch einen Kaffee anbieten?« wollte sie wissen, deutete dabei auf ihren Becher und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Oh nein, vielen Dank! Bitte setzen Sie sich doch wieder.«

Die beiden Polizisten, die jetzt mit Kalila am Tisch saßen, ließen ihre Blicke auffällig forschend durch den Laden wandern. Es schien ihr so, als würden sie versuchen, eine Witterung aufzunehmen. Vielleicht hofften sie, auf diese Weise eine kleine Spur zu finden, bei der es sich lohnen würde, ihr zu folgen. Mit hocherhobenen Nasen wendeten sie ihre Köpfe in alle Richtungen und sogen die Luft, die von den Aromen des Inhalts hunderter, kleiner Töpfchen, Tiegel und Säckchen geschwängert war, hörbar ein.

Letztlich blieb ihr Blick wieder an Kalilas Gesicht haften.

Sie sprachen kein Wort, während die beiden etwas abseits agierenden Kollegen offensichtlich schon damit begannen, den vorgefundenen Toten genauer zu begutachten.

Kalila bemerkte, dass sie in ihren makellosen Uniformen ebenso ratlos über dem leblosen Mann standen, wie zuvor schon sie selbst mit ihren Schwestern.

Feiner, roter Staub hatte schon damit begonnen, den dunklen Stoff ihrer Jacken zu erobern.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, hatte Kalila das Gefühl, etwas sagen zu müssen und schaute dabei wieder auf die Polizisten am Tisch.

»Eins nach dem anderen«, wurde sie durch die Worte des offensichtlichen Chefs und seiner leicht erhobenen Hand gebremst.

Merkwürdigerweise fiel ihr auf, wie klein seine Hand doch war und wie groß ihr hingegen der Ring erschien, den er an seinem Finger trug.

»Oh, bitte entschuldigen Sie.«

»Kein Problem Madame, ich kann Ihre Aufregung sehr gut verstehen. – Sie haben den Toten gefunden?«

Bei dem Wort 'Madame' hoben sich seine Brauen und Kalila meinte zu spüren, dass seine Augen sie noch ein wenig schärfer fixierten.

Sie wünschte, sie könnte die Schärfe seines Blicks ebenso in Scoville messen, wie sie es von ihren Chilis gewohnt war.

»Ja, heute Morgen«, antwortete sie verhalten.

Es war offensichtlich, dass der ihr gegenübersitzende Polizist mit gespitzten Lippen auf eine Ergänzung ihres Satzes wartete.

»Ich kam aus dem Schlafraum …« Kalila zeigte bei ihren Worten auf die Tür in der Ecke des Raumes und beschrieb mit der Hand eine schwungvolle Kurve, die genau dort endete, wo die beiden anderen Polizisten sich immer noch über die Leiche beugten. »Ich wollte die Tür des Ladens öffnen, als …«, ihr Arm setzte die Bewegung fort und deutete jetzt auf die Eingangstür. »Auf dem Weg dorthin sah ich dann aber …« Sie zuckte, ohne den Satz zu beenden, erklärend mit der Schulter. »Schreiben Sie denn nichts auf?«

Das schwache Lächeln des Polizisten erzeugte kleine, kaum wahrnehmbare Fältchen in seinen Augenwinkeln.

»Nein, noch nicht. Es handelt sich nur um eine sogenannte Vorvernehmung, um mir ein erstes Bild von den Geschehnissen zu verschaffen. Für die offizielle Vernehmung wird später noch der zuständige Inspektor vorbeikommen, dem dieser Fall vom Chief zugeteilt worden ist«, erklärte er.

»Ein Inspektor?« wiederholte Kalila.

»Oh ja, Madame. – Bei einem Mordfall …«

»Mord?«

Ohne es zu wollen, hatte sich Kalila bei dem Wort angespannt. Es machte ihr immer noch Angst. Sie war sich aber im Klaren darüber, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit einem Einschussloch in der Brust eines natürlichen Todes gestorben war, eher bei null lag.

»Solange wir es nicht besser wissen, behandeln wir Vorgänge mit einem Toten immer so, als wäre es ein Mord. Reine Routine, Madame. Machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken«, versuchte der Polizist sie zu beruhigen und richtete seinen Blick auf die hintere Tür. »Sie schlafen in dem Raum dort?«

»Ja, aber wie schon gesagt, ich wollte nur zur Eingangstür gehen …«

»Allein?«

»Bitte?«

So, als müsse er die Rechtmäßigkeit seiner Frage unterstreichen, ließ der Polizist seine Hand über den dekorierten Ärmel der Uniform streichen und beugte sich dabei etwas nach vorn.

»Ich meine, schlafen Sie dort allein?«

Seine Augen wirkten jetzt starr und er schaute ihr bei seiner Frage direkt ins Gesicht. Es war, als würde er mit seinem geschulten Blick nur auf eine verdächtige Regung ihrerseits warten.

»Äh nein, meine Schwester …, ich meine, meine Schwester schläft auch dort.«

»Aber Sie waren es, die den Toten als Erste entdeckt hat, ist das richtig?«

»Ja, das ist richtig. Anila kam später dazu, als ich sie rief. Um ihr, – sie verstehen, zu zeigen, was ich gefunden hatte.«

»Ah ja, Anila«, wiederholte er leise. »Und Ihre Schwester Anila schläft in dem Raum dort mit Ihnen zusammen?«

»Das ist richtig.«

»Sie ist, wenn ich korrekt informiert bin, die zweitälteste von vier Schwestern?«

»Ja«, bestätigte Kalila seine Frage mit einem kurzen Kopfnicken und fragte sich im selben Augenblick, woher er diese Informationen bekommen hatte.

Die Polizeistation lag nicht in ihrem Dorf, dafür war es viel zu klein. Woher kannte er also all diese Fakten über ihre Familie?

»Und die beiden anderen?«

»Die haben seitlich neben der Küche jede ihr eigenes Zimmer.«

Der Kollege mit den zwei Streifen am Arm, der bisher nur schweigend den Worten seines Vorgesetzten gefolgt war, mischte sich nun ebenfalls in die Unterhaltung ein.

»Wer außer Ihnen weiß noch von dem Toten?«

Kalila schaute ihn an.

Sein scharf geschnittener Bart fiel ihr sofort auf. Es sah aus, als hätte jemand mit einem Kajalstift zwei dünne Linien auf seiner Oberlippe gezogen.

»Eigentlich sind es, glaube ich, nur vier Leute, die davon wissen«, antwortete sie leise.

»Also Sie und Ihre drei Schwestern, wie ich annehme?«

»Nein, nur zwei von ihnen wissen davon. Rabia, die kleinste, hat Gott sei Dank von all dem hier nichts mitbekommen. Sie ist erst zehn Jahre alt«, fügte sie erklärend hinzu.

»Verstehe«, betonte er sachlich und es schien, als liefe eine kleine Welle der Erkenntnis durch sein Bärtchen. »Und wer ist dann bitte die vierte Person? Sie sagten doch, vier Leute wüssten davon. Bitte, verschweigen Sie uns nichts! Auch bei einer Voruntersuchung sind Sie verpflichtet, die Wahrheit zu sagen!« belehrte er sie auffällig streng, richtete seinen Oberkörper auf und drückte die Schultern nach hinten. Ganz offensichtlich war er der Meinung, so seiner Frage noch etwas mehr Autorität zu verleihen.

Kalila schaute direkt in seine eifrigen Augen.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch der Mörder davon weiß«, bemerkte sie süffisant. »Das wären dann ja wohl Vier oder irre ich mich?«

Sie hob ihre Nase leicht an, blickte wieder zu dem Polizisten mit den vielen hübschen Streifen und bemerkte sein schwaches Grinsen, als er ihren Blick erwiderte.

»Ich denke, dass wir davon ausgehen sollten. Ich fasse zusammen, Sie als erste, dann Anila, dann Shumaila …, richtig?«

Kalila bemerkte, nicht ohne eine gewisse Verwunderung, dass er sogar alle Namen ihrer Schwestern kannte.

»Richtig«, bemerkte sie zögerlich.

Er schaute wieder zu der Zimmertür, die nach hinten in den Schlafraum führte.

»Wo sind Ihre Schwestern jetzt?«

»Er weiß also doch nicht alles«, registrierte sie dankbar. »Oder war es nur eine wohlüberlegte Verhörtaktik?«

»Anila musste zur Arbeit, und Shumaila bringt gerade Rabia in die Schule. Ich wollte, dass sie hier weg ist, bevor …«, fügte Kalila hinzu und deutete, ohne den Satz zu beenden, mit einer erklärenden Geste auf die Männer in ihrem Laden.

Der Polizist nickte verstehend.

»Darf ich fragen, wo genau Ihre Schwestern arbeiten, Madame?«

»Anila arbeitet in der Bank, Shumaila im Hotel 'Palais d'Hiver'«, informierte sie knapp.

Er nickte anerkennend und ließ seinen Blick erneut über die vollen Regale streifen.

»Ihnen gehört dieser Laden?«

»Nein.«

»Ihren Eltern?«

»Die sind schon seit Jahren tot.«

Der Polizist schaute sie verwirrt an.

»Er gehört eigentlich uns allen«, erklärte Kalila, die seinen fragenden Blick bemerkt hatte. »Ich führe ihn nur, seitdem meine Mutter gestorben ist.«

»Ich verstehe. Wir werden auch noch die Aussagen Ihrer Schwestern benötigen«, wechselte er übergangslos das Thema.

»Selbstverständlich.«

»Könnten Sie veranlassen, dass sie bei uns vorbeikommen, um ein offizielles Protokoll aufzunehmen?«

»Sicher.«

»Es wäre natürlich gut, wenn Sie selbst bei dieser Gelegenheit auch noch einmal mitkommen würden. Dann hätten wir alles komplett, – die Bürokratie, Sie verstehen«, fügte er entschuldigend hinzu.

»Oh ja sicher, wir werden alle gemeinsam zu Ihnen auf die Polizeistation kommen.«

Langsam, so als suche er noch nach den passenden Worten, drehte sich sein Kopf hin zu den beiden Kollegen, die immer noch mit der Leiche beschäftigt waren.

»Sie sagten am Telefon«, wobei er suchend in seinem Notizblock blätterte, »dass Sie den Mann nicht kennen, ist das richtig?«

»Noch nie gesehen«, ergänzte Kalila zustimmend.

»Kein unzufriedener Kunde?«

Diesmal war das Lächeln über seinen eigenen Witz zwar echt, aber auch etwas frecher.

»Doch natürlich, jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein«, reagierte Kalila schmunzelnd auf seine Äußerung. »Stellen Sie sich vor, ihm war der Pfeffer nicht scharf genug! Da blieb mir leider keine andere Wahl. – Sie verstehen?«

Kalila erwiderte sein Grinsen und wunderte sich im selben Augenblick darüber, dass es für solche Bemerkungen, in einer Situation wie dieser, überhaupt einen Platz gab.

Er bewegte leicht den Kopf zur Seite und sein Blick richtete sich, vorbei an Kalilas Schulter, auf die Eingangstür hinter ihr.

»Wie ich sehe, kommen gerade noch ein paar Kollegen zur Unterstützung.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hörte Kalila auch schon, wie sich die Ladentür öffnete. Dieses Mal jedoch, ohne dass jemand vorher höflich geklopft hatte.

Sie drehte sich um.