Kaya Silberflügel − Auf verzauberten Schwingen - Nelly Möhle - E-Book

Kaya Silberflügel − Auf verzauberten Schwingen E-Book

Nelly Möhle

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Beschreibung

- Eine geheimnisvolle Prophezeiung, magische Federn und eine Gruppe von Kindern, die sich unerschrocken für das Gute einsetzen – Nelly Möhles spannendes Federn-Fantasy-Abenteuer für Kinder ab 9 Jahren geht weiter!Seit Kaya weiß, dass sie das magische Erbe der Avanoste in sich trägt und sich jederzeit in einen Vogel verwandeln kann, hat sich ihr Leben total verändert. Denn mit dieser Fähigkeit kommt auch eine große Aufgabe auf sie zu: Nur wenn sich so viele Avanoste-Kinder, wie es Stämme gibt, zusammentun, können sie gemeinsam den machthungrigen Anführer Xaver Steinadler stürzen. So steht es in den Chroniken. Doch wie sollen Kaya und Milan diese Kinder ausfindig machen? Schließlich leben die Avanoste ganz im Verborgenen. Da erfährt Kaya von einem Gesangswettbewerb aller Schulen der Stadt. Kaya und Milan sind sich sicher: Dort werden sie die anderen Avanoste-Kinder mit ihren wunderschönen Singstimmen finden! Doch sie haben die Rechnung ohne Xaver Steinadler gemacht, denn der will Kaya unbedingt aufhalten …- Vier Kinder, ein uraltes Buch und eine große Aufgabe- Der 2. Band der magischen Vogelwandler-Serie- Von der Autorin der erfolgreichen Kinderbuchserie »Der Zaubergarten«- Mit aufwendigen Illustrationen von Alina Brost- Fortsetzung folgt!

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Seitenzahl: 347

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Nelly Möhle

Kaya Silberflügel

Auf verzauberten Schwingen

Band 2

 

 

Mit Bildern von Alina Brost

Über dieses Buch

 

 

Flieg mit Kaya Silberflügel ins nächste Abenteuer

Seit Kaya weiß, dass sie das magische Erbe der Avanoste in sich trägt und sich jederzeit in einen Vogel verwandeln kann, hat sich ihr Leben total verändert. Denn mit dieser Fähigkeit kommt auch eine große Aufgabe auf sie zu: Nur wenn sich so viele Avanoste-Kinder, wie es Stämme gibt, zusammentun, können sie gemeinsam den machthungrigen Anführer Xaver Steinadler stürzen. So steht es in den Chroniken. Doch wie sollen Kaya und Milan diese Kinder ausfindig machen? Schließlich leben die Avanoste ganz im Verborgenen. Da erfährt Kaya von einem Gesangswettbewerb aller Schulen der Stadt. Kaya und Milan sind sich sicher: Dort werden sie die anderen Avanoste-Kinder mit ihren wunderschönen Singstimmen finden! Doch sie haben die Rechnung ohne Xaver Steinadler gemacht, denn der will Kaya unbedingt aufhalten …

 

Eine geheimnisvolle Prophezeiung, magische Federn und eine Gruppe von Kindern, die sich unerschrocken für das Gute einsetzen.

Alle Bände der Reihe Kaya Silberflügel:

Band 1: Das Geheimnis der magischen Federn

Band 2: Auf verzauberten Schwingen

Band 3: Zwischen Himmel und Freundschaft (erscheint voraussichtlich im Herbst 2024)

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Nelly Möhle lebt mit ihrer Familie in Offenburg und schrieb sich mit ihrer ersten Kinderbuchreihe Der Zaubergarten in die Herzen ihrer Leser*innen. Als Kind hat sie im Garten ihrer Großeltern gerne Vögel beobachtet und sich vorgestellt, wie toll es wäre, fliegen zu können. Nicht mit dem Flugzeug, sondern einfach die Arme ausbreiten und losfliegen – oder eben die Flügel. Und dann von oben die Stadt anschauen, die Landschaft, über den Schwarzwald zu fliegen oder schnell in die Vogesen. Jetzt verleiht sie ihrer neuen Kinderbuchfigur Kaya genau diese magische Eigenschaft.

Inhalt

[Motto]

Prolog

Eine Dame gibt Gas

Eine Nummer zu groß

Ein Vogel als Tattoo

Nächtlicher Besuch

Auf Freunde ist Verlass

Die Zukunft in unserer Hand

Vögel in Not

Gut, aber nicht gut genug

Mit dem Herz einer Löwin

So viele Geheimnisse

Eine krasse Aktion

Bedrohter Lebensraum

Vermasselt

Wem gehören die Auen?

In fremde Fenster schauen

Mit Getöse und Gestrampel

Eine Kette ohne Medaillon

Mut tut gut

Uns vereint der weite Himmel

Menschen und Vögel

Ein Spiegel ohne Spiegelbild

Verflixt und verschwitzt

Ein Vogel aus Metall

Im Sturzflug

Zu früh gefreut

Der König der Nacht

Eine ungewöhnliche Versammlung

Ein neuer Plan

Nachtflug

Und der Sieger ist …

Einer gegen alle

Schnabel an Schnabel

Werbung

Stirn an Stirn, Schnabel an Schnabel – gemeinsam sind wir stark!

Prolog

Etwas rüttelte an meiner Schulter, erst sanft, dann immer heftiger. Nur langsam kam ich zu mir.

»Kaya, wach auf!«, hörte ich die Stimme meiner Mutter. »Wir starten gleich ins Höllental.«

Mit einem Ruck setzte ich mich in meinem Bett auf, plötzlich hellwach.

Es war Samstag, und heute wollte ein Trupp Avanoste, bestehend aus Mama, Aurelia, Celia, Milan und mir, zur Wächterin ins Höllental fahren. Allein bei dem Gedanken packte mich eine riesige Aufregung. Ich tastete nach dem ovalen Avanost-Medaillon unter dem dünnen Stoff meines gepunkteten Nachthemds. Seit ich von meinem Vogelwandler-Erbe wusste, war dieses Schmuckstück mein wichtigster Besitz. Niemals legte ich es ab, denn nur mit Hilfe des Medaillons konnte ich mich in einen Avanost verwandeln und fliegend durch die Luft gleiten.

»Heute erfahren wir von der mächtigen Wächterin, wie wir Avanoste ein unliebsames Oberhaupt entmachten können«, murmelte ich. »Und dann schubsen wir Xaver Steinadler von seinem Thron!«

Ich war mit einem Satz aus dem Bett. Ein wichtiger Tag stand an, und zwar für alle Vogelwandler aus Sonnberg.

Eine Dame gibt Gas

Etwa eine Stunde später hupte unten im Kastanienweg ein Auto, und als ich mich aus dem Fenster beugte und aus dem Dachgeschoss nach unten schaute, sah ich Celias roten Kleinwagen vor unserem Mietshaus stehen.

»Mama, es geht los!«, rief ich in Richtung Küche, wo meine Mutter gerade etwas Proviant in unsere kleine Kühltasche packte. Schließlich wussten wir nicht, wie lange unser Ausflug dauern würde, vielleicht den ganzen Tag. »Sie sind da!«

Kurz darauf hielt ich meiner schwerbeladenen Mutter die Eingangstür im Erdgeschoss auf. Meine Aufregung war inzwischen in einem Kribbeln zu spüren, das meinen ganzen Körper zu fluten schien, bis hinauf zu meinem weißblonden Pferdeschwanz.

Sobald wir auf dem Gehweg standen, sprang Milan mit einem Satz vom Rücksitz, ließ die Autotür sperrangelweit offen stehen und strahlte mich mit seinem schönsten Lächeln an. Die wirren Locken glänzten und kringelten sich um sein gebräuntes Gesicht bis fast auf die Schultern. Vor lauter Freude, meinen Avanost-Freund zu sehen, spürte ich eine wohlbekannte Hitze in mir aufsteigen, wahrscheinlich flutete gerade ein dunkles Rot mein sonst eher blasses Gesicht. Doch noch bevor ich mir weiter Gedanken um meine peinliche Gesichtsfarbe machen konnte, umarmte Milan mich einfach, und ich schnupperte seinen vertrauten Duft. Leider dauerte der Moment viel zu kurz, schon wandte er sich von mir ab und begrüßte Mama, die gerade die Kühltasche unter der kleinen Kofferraumklappe verstaute.

»Was für ein schöner Morgen«, sagte Aurelia aus dem heruntergelassenen Beifahrerfenster und lächelte mich an. »Der ideale Tag, um ins eher düstere Höllental zu fahren.«

Meine Avanost-Freundin, die mich in mein Vogelwandler-Erbe eingeführt hatte, hatte ihr schneeweißes Haar wie immer kunstvoll zu einem schneckenförmigen Dutt frisiert, und am Kragen ihrer smaragdgrünen Seidenbluse steckte eine winzige Vogelbrosche.

Ich musste grinsen, denn die beiden alten Damen auf den Vordersitzen sahen eher so aus, als ob sie zu einem Kaffeekränzchen aufbrechen wollten. Celia, die hinter dem Lenkrad saß, trug einen ihrer eleganten Kaftane, der locker ihre üppige Gestalt umhüllte.

Mama, Milan und ich wirkten in Jeans, Kapuzenpullis und Turnschuhen dagegen eher, als wären wir bereit, zu Fuß zu einem Trip in eins der unwegsamen Täler des Silva-Gebirges aufzubrechen. Wir drei quetschten uns nun auf den Rücksitz von Celias kleinem Auto. Es kam mir vor, als ob der Wagen sich ein Stück senkte.

Celia drehte sich zu uns um. Ihr rundes Gesicht war zur Hälfte von einer überdimensionalen Sonnenbrille bedeckt. Doch durch die rosa Brillengläser konnte ich das Strahlen ihrer Augen erkennen, als sie mit fröhlicher Stimme fragte: »Bereit für unseren Ausflug?«

»Bereit!«, riefen wir im Chor von der Rückbank und schnallten uns an, was angesichts der Enge etwas schwierig war.

»Los geht’s«, sagte Aurelia und setzte sich ebenfalls eine Sonnenbrille auf die Nase.

Mit quietschenden Reifen gab Celia Gas.

Wir fünf machten uns endlich auf den Weg zur Wächterin der Chroniken.

Ich saß in der Mitte, spürte sowohl Mamas als auch Milans Wärme durch meine Jeans.

Vom mittleren Platz aus spähte ich zwischen den beiden Damen durch die Frontscheibe. In der Stadt ging es noch etwas zäh voran, Autos, Fahrradfahrer und Ampeln bremsten uns immer wieder aus. Doch dann wurden die Häuser weniger, mehr und mehr Grün lag zwischen den einzelnen Gebäuden. Vor uns schlängelte sich die Landstraße. Das Höllental windet sich von der Stadt aus erst lieblich zwischen den ansteigenden Bergausläufern ins Tal. Doch anders als beim Nord- und Südbachtal, die gemeinsam mit dem Höllental zu unserer Stadt gehören, ändert sich im Höllental schlagartig die Landschaft, sobald man den großen Steinbruch passiert. Ab da ragen die felsigen Berghänge links und rechts der Landstraße immer steiler in die Höhe.

Milans Ellenbogen drückte in meine Rippen. »Weißt du noch, unser erstes Treffen als Avanoste?«, fragte er leise. »Hier im Steinbruch?«

Ich nickte. Niemals würde ich vergessen, wie ich hinter Milan her ins Höllental geflogen war, um ihn hoch oben auf den Felsenspitzen zur Rede zu stellen. Damals hatte ich ihn noch für einen fiesen Dieb gehalten, der im Auftrag des unrechtmäßigen Offenburger Avanost-Oberhauptes meiner Freundin Aurelia die magische Feder gestohlen hatte.

Celia riss mich aus meinen Gedanken. »Jetzt passieren wir die Höllenpforte«, sagte sie und senkte dabei ihre Stimme zu einem dunklen Gruselton. Doch dann kicherte sie und fuhr fort: »Früher dachten die Einwohner von Sonnberg wirklich, dass hier, direkt bei ihrer Stadt, das Tor zur Hölle sei.«

Tatsächlich wand sich die Straße unter einer Art Felsentor hindurch, so als ob sie sich durch den mächtigen Stein hindurchgefressen hätte. Direkt neben der Straße rauschte der Fluss Nagold in Richtung Sonnberg.

Mama schüttelte den Kopf. »Also, ich – ich wollte hier nicht wohnen, die Enge würde mir aufs Gemüt schlagen!«

»Ja«, antwortete Aurelia, »deshalb wohnt hier hinten auch nur noch die Wächterin. Ansonsten verschlägt es fast ausschließlich Feriengäste hierher. Das Ende des Höllentals erreicht man auch nur zu Fuß. Oder fliegend.« Sie lachte leise.

Ich starrte ins schattige, enge Tal vor uns und fragte mich, was diese geheimnisumwobene Wächterin für ein Mensch war. Ich stellte sie mir uralt vor, mit langen weißen Haaren, einem Buckel unter dem sackartigen braunen Kleid und eventuell einer Krähe auf der Schulter. In etwa wie die Hexe bei Hänsel und Gretel. Die hatte auch allein im Wald gelebt. Bei dem Gedanken an eine baldige Begegnung mit der Wächterin lief mir ein Schauder über den Rücken. Zum Glück war ich nicht allein, sonst würde meine Angst genau jetzt über mir zusammenschwappen. Ich kuschelte mich noch etwas mehr an Mama und Milan.

»Hoffentlich ist Lucia überhaupt zu Hause«, sagte Celia.

Aurelia schob die Sonnenbrille ins Haar und schaute ihre Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an. »Du wolltest sie doch anrufen und unser Kommen ankündigen?«, sagte sie.

Celia antwortete fröhlich: »Ich habe es ja versucht. Allerdings habe ich nur ihre Festnetznummer, und da konnte ich sie nicht erreichen. Einen Anrufbeantworter hat sie nicht. Aber wo soll Lucia schon sein? Am Wochenende ist sie immer rund um ihre Hütte unterwegs und sucht Heilkräuter. Wir können sie nicht verpassen.«

Aha, diese Wächterin war also eine Kräuterhexe. Wahrscheinlich hing ihre kleine Hütte voller getrockneter Pflanzen. Und auf dem offenen Feuer brodelte ein Kräutertee im Kupferkessel.

»Langsam!«, rief in dem Moment Aurelia. »Hier geht es links hinauf. Direkt hinter dem nasenförmigen Felsvorsprung musst du abbiegen.«

Celia trat kräftig auf die Bremse, unsere Köpfe ruckten im Gleichklang nach vorne. So gelang es ihr gerade noch, in die Schotterstraße einzubiegen, die hinter der Felsnase von der geteerten Landstraße abbog und zwischen den Bäumen verschwand.

Mama hielt sich die Hand vor den Mund und stöhnte leise. Sie hasst rasante Autofahrten. Doch nun war Celia gezwungen, sehr langsam zu fahren, denn die schmale Schotterpiste wand sich in Serpentinen den Berg hinauf. Auf der einen Seite des Weges fiel der Hang steil hinab, auf der anderen richtete er sich steil auf. Durch die geöffneten Fenster lauschte ich den knirschenden Steinen unter den Reifen und sog den harzigen Duft der Bäume ein.

Milan raunte mir ins Ohr: »Hoffentlich schafft das kleine Auto diese Steigung überhaupt.«

Mama beugte sich vor und grinste Milan an. »Das kann ich auch nur hoffen«, flüsterte sie ihm zwinkernd zu.

»Und ich hoffe, wir kommen nicht vom Weg ab und stürzen in die Tiefe!«, brummte ich leise und verstand Mamas Frohsinn nicht.

»Aaah!«, stießen Celia und Aurelia gleichzeitig schrill hervor und ließen uns auf der Rückbank zusammenzucken.

Ich sah gerade noch, wie ein riesiger Vogel mit ausgebreiteten Schwingen dicht vor der Frontscheibe wieder an Höhe gewann und dann mit kräftigen Flügelschlägen hinter den nächsten Baumwipfeln verschwand.

»War das etwa Zorro?«, fragte Aurelia.

Celia zuckte mit den Schultern. »Oder es war Lucia selbst.«

Milan meinte: »Das war doch kein Avanost, oder?«

Mama antwortete: »Nein, es war ein Uhu.«

Aurelia ergänzte: »Auch König der Nacht genannt.«

»Zorro?«, murmelte ich leise vor mich hin, denn allein der Name hörte sich für mich unheimlich an.

Bevor ich mir weiter Gedanken machen oder irgendjemand im Auto auf meine leise Frage eingehen konnte, lichtete sich plötzlich der dichte Wald, und der Schotterweg ging in eine halbrunde Lichtung über. Rechter Hand standen keine Bäume, so dass man einen weiten Blick über einige Berggipfel sowie ins Tal hinunter hatte. Am Hang, auf der linken Seite der kleinen Wiese, stand eine Art Blockhütte. Sie wirkte wie festgeklebt, wie ein Adlerhorst an einer Felswand. Und weil sie aus dicken Holzstämmen errichtet worden war, wirkte sie ziemlich stabil. Aus dem steinernen Schornstein stieg Rauch auf.

»Sie ist zu Hause«, bemerkte Celia. Allerdings zeigte sie nicht auf die sich kringelnde Rauchfahne, sondern auf ein knallrotes, nigelnagelneu wirkendes Geländemotorrad, das seitlich der Blockhütte stand.

»Häh?«, machte ich verwundert, denn irgendwie passte diese moderne Maschine überhaupt nicht hierher. Doch da die anderen sich gerade aus dem Auto schälten, beachtete niemand meinen Laut, vielleicht auch, weil ich mal wieder keinen ganzen Satz von mir gegeben hatte. Ich beeilte mich also lieber, aus dem Auto zu klettern. Mama half Celia hinter dem Lenkrad hervor und reichte ihr ihren Stock, während Milan und ich uns um Aurelia kümmerten, die ihren verletzten Fuß zuerst aus der Autotür schob und sich dann mit Hilfe der Krücken vom Sitz hievte.

»Puh!«, machte sie, als sie endlich aufrecht stand, und schaute sich leicht schwankend um. »Ich war so lange nicht mehr hier. Doch es hat sich nichts verändert. Außer vielleicht diesem Monstrum da.« Aurelia zeigte auf einen großen Antennenmast, der rechts neben der Hütte aufragte und an diesem Ort tatsächlich etwas außerirdisch wirkte.

»Echt krasses Teil«, meinte auch Milan. »Damit hat man sicher guten Empfang. Auch hier hinten im Tal.«

Mein Blick schweifte über die Blockhütte. Sie verschmolz fast mit der Umgebung, denn sie war regelrecht umschlossen von Büschen, Farnen und Kletterpflanzen, so dass die Konturen des Häuschens kaum zu sehen waren. Ich erwartete jeden Augenblick, dass sich die dunkle Holztür öffnen würde und die uralte Wächterin mitsamt Krähe auf der Schwelle erschiene, mit grimmigem Blick, weil wir sie gestört hatten. Doch erst einmal geschah nichts, allein die Stille des Waldes und vereinzelte Vogelstimmen begrüßten uns.

Und dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Mit kräftigen Flügelschlägen stieß ein großer Vogel krachend aus dem Geäst der umstehenden Tannen und landete auf dem Giebel der Blockhütte. Erst als er die Flügel anlegte, kurz sein Gefieder schüttelte und dann mit seinen runden Augen zu uns herunterstarrte, erkannte ich an den langen Federohren den Uhu.

Der zwinkerte mehrmals und drehte seinen Kopf dann in Richtung Wald.

»Guten Tag, Aurelia Vogelsinger«, ließ mich eine Stimme in dieselbe Richtung schauen.

Auch die anderen hatten ruckartig ihre Köpfe gewandt und starrten zwischen die dunklen Tannen.

Dort stand, im Schatten des Waldes, eine Gestalt. Ich kniff die Augen fest zusammen, um Details erkennen zu können.

Genau in dem Moment trat die Person noch zwei Schritte zwischen den Stämmen hervor und stand nun gut sichtbar am Rande der Lichtung.

Eine Nummer zu groß

Beim Anblick der Frau fiel mir die Kinnlade herunter. Sie sagte mit ruhiger Stimme: »Guten Tag, Celia Schwarzschwan. Hallo, Ava Silberflügel.«

Dann blieb ihr Blick an mir hängen. Mit wenigen Schritten glitt sie auf mich zu, bis sie eine Armlänge entfernt vor mir stand. Die frühe Sonne ließ ihre Augen beinahe gelb erscheinen, wie polierte Bernsteine glänzten sie. Ich schluckte laut unter diesem intensiven Blick.

Vor mir stand die Wächterin der Chroniken, das war glasklar. Doch was mich irritierte, war ihre Erscheinung. Diese Frau konnte kaum älter als meine Mutter sein. Sie trug einen Jeans-Overall und knallrote Turnschuhe. Und ihre langen, haselnussbraunen und welligen Haare fielen locker über die Schultern. Keine hutzelige Hexe stand vor mir, sondern eine moderne und ziemlich coole Frau.

»Kaya!«, sagte sie schlicht und einfach.

Ich konnte nur nicken.

»Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen«, fuhr sie fort. »Das habe ich mir sehr gewünscht. – Ich bin Lucia.«

Sie drehte sich zu den anderen um, begrüßte Milan und sagte dann: »Kommt rein!«

Mit großen Schritten ging sie voraus, erklomm mit einem Satz die drei Sandsteinstufen und stieß die schwere Holztür auf. Ich führte die kleine Karawane an, die der sportlichen Wächterin langsam folgte. In mir drinnen war es alles andere als ruhig, ich zitterte vor Aufregung. Und vor Neugier.

Hinter Lucia betrat ich die Hütte. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, vielleicht einen düsteren, muffigen und sehr kleinen Raum. Doch das Innere der Blockhütte war ein einziges großes Zimmer, hell und freundlich durch viele Fenster, einen honigfarbenen Dielenboden und gemütliche Stoffe und Farben.

»Nehmt Platz«, sagte Lucia. Sie zeigte auf eine Sitzecke direkt links von der Tür.

Milan und ich schoben uns auf die Eckbank, die mit bunten Kissen bestückt war und ein L um den wuchtigen Tisch bildete, der aus zwei Baumscheiben zu bestehen schien. Ich fuhr mit dem Finger über die Astlöcher und Furchen.

»Lucia baut ihre Möbel selbst«, sagte Mama, die mein Erstaunen bemerkt hatte. »Früher hat sie ihre Arbeiten auch verkauft.« Dabei stellte sie unsere Kühltasche auf dem Tisch ab und schob sich neben Milan auf die Bank. Die beiden alten Damen, die mühsam die drei flachen Stufen erklommen hatten, ließen sich ächzend auf die beiden Stühle auf der anderen Seite des Tisches fallen.

Ich schaute mich in der Hütte um. Erst in dem Moment bemerkte ich, dass hinter dem Sofa, das in der Mitte des Raumes platziert war, ein Bett stand. Ein Zimmer für alles. Ich fand es unglaublich gemütlich in der Hütte der Wächterin.

Lucia stellte Gläser und einen Glaskrug mit einer grünlichen Flüssigkeit auf den Tisch, während Mama ihre selbst gebackenen Muffins in der Mitte aufreihte.

Lucia lächelte und sagte: »Danke für das Gebäck. Ich könnte euch heute nichts Leckeres zum Essen anbieten. Aber nehmt euch von meiner Kräuterlimonade.«

Die Wächterin setzte sich neben mich auf den einzigen freien Platz auf der Eckbank.

Dann schaute sie uns wieder der Reihe nach an. Und schwieg.

Mama räusperte sich schließlich in die Stille hinein und sagte: »Wir kommen in der Hoffnung, dass die Chroniken der Avanoste wieder zu dir zurückgekehrt sind.«

Alle starrten Lucia an.

Diese holte tief Luft, bevor sie mit ruhiger Stimme antwortete: »Ich dachte mir schon, dass es das ist, was euch zu mir führt.« Kurz schloss sie die Augen. »Doch ihr seid zu spät!«

Ich glaube, wir fünf Besucher stöhnten alle gleichzeitig auf.

»Zu spät?«, rief Celia dann. »Was heißt das?«

Lucia antwortete: »Ich wusste immer, dass Xaver die Chroniken bei sich im Haus aufbewahrt hielt, doch ich hatte keine Möglichkeit, sie an mich zu bringen. Erst als ihr beiden sie aus Xavers Tresor geholt und auf Aurelias Dachboden versteckt hattet, konnten Zorro und ich die Chroniken endlich zurückholen und an einen Ort bringen, wo ich sie sicher wähnte.«

Die Wächterin starrte auf ein Astloch in der Tischplatte.

Mama fragte leise: »Aber sie waren dort nicht sicher?«

Lucia schüttelte sacht den Kopf. »Dabei haben Zorro und ich so gut aufgepasst«, sagte sie. »Wir waren vorsichtig, immer. Zorro hat die Umgebung ständig im Blick. Und die Eichelhäher schlagen sofort Alarm, wenn sich etwas im Wald oder rund um die Nagold-Quelle tut. Weder ein Mensch noch ein Avanost wurden in der Nähe des Verstecks gesichtet.«

Eichelhäher sind für die anderen Tiere die Alarmanlage des Waldes, sie kreischen schrill, sobald sich ein Feind nähert. Das wusste ich aus unserem Vogelbuch.

Ich fragte: »Ist dir hier in letzter Zeit ein großer Rabe aufgefallen? Sein Schnabel hat einen auffällig hellen Fleck …« Lucia schaute mich nachdenklich an. »Du meinst, ob Xavers Rabe Corbin mich ausspioniert hat? Ich weiß es nicht. Doch Xaver oder sein Gehilfe haben das Versteck ausfindig gemacht und die Chroniken wieder an sich genommen. Denn an der Stelle des alten Buches lag die weiß gefleckte Feder eines Steinadlers. Sie ist Xavers Symbol, schon immer. Ich soll wissen, dass er die Chroniken hat und ich ihm nicht gewachsen bin!«

»Also war Xaver Steinadler schneller als wir«, bemerkte Aurelia, und ihre Stimme klang müde. »Wir alle sind ihm tatsächlich nicht gewachsen.«

Eine beklemmende Stille setzte ein, jeder von uns hing seinen Gedanken nach. Düsteren Gedanken. Unsere einzige Chance hatten wir vertan, weil wir zu spät dran waren. Xaver Steinadler hatte die Chroniken wieder. Und wir wussten nicht, wo sie jetzt, in diesem Moment, steckten. Oder doch? Xaver Steinadler hatte in den letzten zehn Jahren den meisten Avanosten ihre wertvollen Avanost-Medaillons gestohlen. Nur mit diesem Schmuckstück konnte sich ein Avanost in die Vogelgestalt verwandeln. Wahrscheinlich lagerten alle wichtigen Avanost-Gegenstände im selben Versteck und waren für uns unauffindbar.

Ich spürte, wie sich Tränen hinter meinen Augenlidern sammelten und ein Kitzeln in meiner Nase einsetzte. Aber ich wollte jetzt nicht weinen, auf keinen Fall.

Die Wächterin brach das Schweigen, indem sie fragte: »Was wolltet ihr aus den Chroniken erfahren?«

Es platzte aus Milan heraus: »Kaya und ich wollen fliegen und als Avanoste unterwegs sein. Außerdem wollen wir alle Avanoste von Sonnberg kennenlernen, denn es gibt ja noch viel mehr Vogelwandler außer uns.«

Celia ergänzte: »Sprich: Wir wollten hier bei dir in Erfahrung bringen, wie wir Xaver Steinadler als Oberhaupt entmachten können. Er hat bei der Versammlung vor zehn Jahren unrechtmäßig das mächtige Avanost-Medaillon des Oberhauptes an sich gerissen. Wir wissen alle, wer das eigentliche Oberhaupt wäre: Artur Vogelsinger, Kayas Vater.«

Als ich den Namen meines Vaters hörte, krallten sich meine Hände in die Jeans. Denn ich hatte ihn nie kennengelernt.

Aurelia sagte: »Seit Arturs Verbannung haben wir keinen Kontakt zu ihm.« Immerhin wusste ich inzwischen, dass mein Vater noch lebte, nur eben nicht in Sonnberg. Und obwohl ich ihn nie getroffen hatte, vermisste ich ihn ganz tief in mir drin.

Wieder starrten alle gespannt die Frau im blauen Jeansoverall an. Die überlegte einen Augenblick und runzelte dann die Stirn.

Meine Hoffnung schwand.

»Es gibt wohl eine Möglichkeit, ein Oberhaupt zu entmachten«, sagte Lucia schließlich. »Soweit ich weiß, kam dies noch nie vor. Die Oberhäupter waren immer friedliebend und verträglich im Umgang, genau wie alle Avanoste.«

Ich warf ungeduldig ein: »Aber was muss man denn machen, um ein Oberhaupt zu entmachten? Es aus dem Amt zu stoßen? Vom Thron zu schubsen?«

Aurelia antwortete mir leise: »Das steht eben in den Chroniken.« Auch in ihren Augen schillerten nun Tränen. »Keiner kennt die vielen Seiten auswendig, noch nicht einmal die Wächterin.«

Ratlos schauten wir uns an. Plötzlich sprang Lucia neben mir auf, ging zum niedrigen Tisch vor dem grünen Sofa und schnappte sich einen Laptop.

»Ich habe das Amt der Wächterin ja erst vor knapp fünfzehn Jahren von meiner Mutter übernommen, nach ihrem plötzlichen Tod«, erzählte sie, während sie wieder neben mir auf der Eckbank Platz nahm. »Bereits fünf Jahre später, als Xaver das Amt des Oberhauptes an sich riss, wurden mir alle heiligen Gegenstände der Wächterin genommen.« Lucia klappte ihren Laptop auf und tippte kurz auf der Tastatur herum. Wir anderen beobachteten sie stumm, hingen an ihren Lippen. »Als ich die Chroniken der Avanoste nun wieder in den Händen hielt, beschloss ich, das alte Buch mit all seinen wichtigen Regeln und Ritualen zusätzlich zu sichern. Ich fing an, die Buchseiten abzufotografieren und zu digitalisieren.«

»O mein Gott!«, rief meine Mutter aus. »Heißt das, du hast die Chroniken auf deinem Laptop gespeichert?«

Lucia schüttelte den Kopf: »Ich habe begonnen, die Seiten abzufotografieren. Ich war noch lange nicht fertig, schließlich hat das Buch unzählige Seiten.«

Alle stöhnten auf. Ich zwirbelte im Höllentempo meinen Pferdeschwanz, so nervös war ich.

Auf dem Bildschirm des Laptops erschien das Foto einer gelblichen Buchseite, die über und über mit einer schnörkeligen Schrift beschrieben war.

Lucia sagte: »Ich kann euch nicht erklären, warum, aber ich habe mit dem Abfotografieren auf der letzten Seite des Buches begonnen. Irgendwie habe ich wohl geahnt, dass meine Zeit mit den Chroniken begrenzt sein könnte. Die wichtigsten Regelungen stehen im hinteren Drittel der Chroniken.« Sie machte eine kurze Pause und scrollte langsam die bereits fotografierten Seiten nach unten. Milan und Mama drängelten sich dicht an mich, um ebenfalls einen Blick auf den Bildschirm werfen zu können. Die beiden alten Damen auf ihren Stühlen beobachteten uns still. Die Anspannung im Raum ließ die Luft regelrecht vibrieren.

Lucia murmelte bei jeder neuen Seite ein paar Schlagwörter vor sich hin. Und plötzlich rief sie: »Hier!«

In meinen Ohren setzte ein Rauschen ein, die schnörkeligen Buchstaben verschwammen vor meinen Augen.

Lucia las langsam und bedächtig vor:

»Fünf Avanoste eines jeden Stammes bilden einen Kreis.

In deren Mitte das Magische sich eint,

die Perle des Wassers,

die Feder des Waldes,

der Stein der Berge,

das Band des Grases,

das Haar des Eises.

Der Kreis, er muss geschlossen sein,

von den Avanosten, jung und rein,

treu der Gemeinschaft ergeben,

sich in den Himmel erheben.«

Stille.

»Hä?«, entfuhr es mir mal wieder.

Lucia übersetzte für uns, was sie vorgelesen hatte: »Es braucht fünf junge Avanoste, die bereits in die Gemeinschaft aufgenommen wurden: treu der Gemeinschaft ergeben. Als jugendliche Avanoste nimmt man an einer Art Ritual teil. Erst dann ist man offiziell in die Gemeinschaft aufgenommen.«

Aurelia schaltete sich ein: »Es benötigt einen jungen Avanost eines jeden Stammes. Also fünf Avanoste.«

Celia ergänzte: »Und jeder junge Avanost benötigt selbstverständlich ein Avanost-Medaillon«

Milan und ich guckten uns an. »Wie sollen wir das erfüllen?«, fragte ich leise.

»Nun, vielleicht ist das gar nicht so schwierig, wie es im ersten Moment scheint«, sagte Lucia. »Du, Kaya, trägst zwei Stämme in dir, was ungewöhnlich ist. Du vereinst Wald- und Eis-Avanost. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Ich schluckte. Wann hatte mich die Wächterin als Avanost beobachtet? Doch ich wollte nicht nachfragen, nicht jetzt. »Braucht Kaya dann zwei Medaillons?«, hakte Milan nach. »Also von jedem Stamm eins? Oder reicht das Medaillon der Wald-Avanoste aus?«

»Jeder Avanost benötigt ein Medaillon, um in seine Kraft zu kommen«, antwortete Aurelia. »Kaya kann sich mit dem Wald-Medaillon verwandeln und fliegen. Sie erhält also die volle Kraft der Avanoste. Wieso sollte sie sich zwei Schmuckstücke umhängen müssen?«

Die Wächterin sagte: »Einen Fall wie Kaya habe ich noch nicht erlebt – also ich meine, dass zwei Stämme in einer Person vereint sind. Ich müsste in den Chroniken nachlesen, aber ich denke wie Aurelia, dass ein einziges wirksames Medaillon vollkommen ausreicht, da Kaya damit die Gestalt wechseln kann.«

Tja, und da die Chroniken nicht mehr bei der Wächterin waren, konnten wir schlecht nachschlagen.

Lucia schaute nun Milan an. »Und du bist ein Berg-Avanost«, sagte sie. »Zusammen deckt ihr drei von fünf Stämmen ab.«

Mama richtete sich auf, sie wirkte plötzlich etwas nervös. »Lucia«, sagte sie. »Kaya und Milan sind Kinder. Sie sind in diesem Alter doch noch nicht zum Aufnahmeritual zugelassen. Sie sind zu jung. Es ist zu gefährlich für sie!«

Die Wächterin antwortete bedächtig: »Diese jungen Avanoste hier haben bereits gezeigt, dass sie für ihr Alter sehr reif sind. Sie haben sich gegen Xaver aufgebäumt, ihm die Chroniken abgenommen. Das hat in den letzten knapp zehn Jahren keiner von uns erwachsenen Avanosten geschafft. Wer, wenn nicht diese beiden, wäre bereit für die offizielle Aufnahme in die Gemeinschaft?«

In mir drinnen wurde bei den Worten der Wächterin alles warm, wahrscheinlich glühte mein Kopf bereits wegen des wunderschönen Lobes. Auch wenn die Aufgabe in meinen Augen eine Nummer zu groß für mich war.

Milan sagte leise: »Einen Versuch wäre es doch wert, oder?«

Auch Aurelia und Celia saßen stumm auf ihren Stühlen. Mama knetete ihre Hände und starrte auf die Tischplatte.

Lucia schloss kurz die Augen, bevor sie sprach: »Es gibt nichts zu verlieren, nur zu gewinnen.«

Mama schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich habe meine Tochter zu verlieren!«, rief sie aus.

Bei ihren Worten schnappte ich kurz nach Luft, einfach vor Schreck. Doch dann legte ich meine Hand auf ihre und drückte sie fest. »Mama?«, fragte ich leise. »Warum habt ihr erwachsenen Avanoste euch nie gegen Xaver Steinadler gewehrt? Ich meine, er hat meinem Vater das Amt als Avanost-Oberhaupt gestohlen. Das war gegen das Avanost-Gesetz, so wie es in den Chroniken steht. Warum lasst ihr euch alles gefallen, schon seit über zehn Jahren?«

Aurelia und Celia seufzten gleichzeitig. Und statt Mama antwortete die Wächterin: »Wir haben uns gewehrt, zu Anfang, doch wir waren nicht stark genug.«

»Was habt ihr denn unternommen?«, hakte ich nach.

Mama antwortete etwas ausweichend: »Es gab eine Art Widerstandsgruppe. Doch sie ist gescheitert. Leider.« Ihr Blick verdunkelte sich etwas. Sie schob sich von der Eckbank und stand auf. »Ich muss mir die Sache durch den Kopf gehen lassen«, erklärte sie. »Vier Kinder gegen den skrupellosen Xaver Steinadler, wie soll das gehen? Wenn selbst wir erwachsenen Avanoste es damals nicht geschafft haben, Xaver zu entmachten?«

Sie marschierte vor der Küchenzeile auf und ab. Ich hätte ja zu gerne mehr über diese Widerstandsgruppe der erwachsenen Avanoste erfahren, doch ich merkte, dass ich keine weiteren Infos erhalten würde. Alle Frauen in diesem Raum wirkten angespannt. Also hielt ich den Mund und beobachtete still die Lage. Was würde als Nächstes geschehen?

Lucia ergriff als Erste wieder das Wort. »Ava, wir dürfen nicht lang fackeln«, sagte sie mit eindringlicher Stimme. »Xaver fühlt sich sicher, da er die Chroniken wieder in seinem Besitz hat. Er weiß nichts davon, dass wir wissen, wie wir ihn als Oberhaupt absetzen könnten. Wir lassen ihn in dem Glauben, verhalten uns unauffällig und bereiten still und heimlich alles für seine Entmachtung vor. Wir lassen die Kinder nicht allein.«

Mama blieb abrupt vor der kleinen, salbeigrün gestrichenen Küchenzeile neben dem Esstisch stehen. »Wie gesagt, ich muss alles sacken lassen«, antwortete sie etwas barsch. »Wenigstens eine Nacht darüber schlafen.«

»Du entscheidest«, sagte Lucia ruhig.

Mit wenigen Schritten war meine Mutter an der Hüttentür, riss sie auf und verschwand ins Freie.

Auch Aurelia erhob sich umständlich mit Hilfe ihrer Krücken. »Lucia, du musst Ava verstehen. Sie hat schon viel wegen Xavers Gemeinheiten durchgemacht. Sie hat Angst.«

Lucia antwortete: »Ich verstehe sie ja. Aber, Aurelia, denk an unsere wunderschönen Treffen unten am Fluss, mit allen Avanosten. Kaya, Milan und die anderen Avanost-Kinder haben den Zusammenhalt unserer Gemeinschaft nie erlebt. Sollten wir diese klitzekleine Chance, Xaver zu entmachten und unsere Freiheit zurückzubekommen, dann nicht auch ergreifen? Vor allem für die Kinder? Die nächste Generation?«

Milan drückte unter dem Tisch meine Hand. Und er schaute mit seinen dunkelbraunen Augen ganz tief in meine rein. Dann schob er mich von der Eckbank, und wir folgten den anderen, die gerade die Hütte verließen. Irgendwie war ich sauer auf Mama. Sie hatte unserem Beisammensein mit ihren Zweifeln ein Ende gesetzt. Dabei hatte ich gerade einen Blick in die Chroniken werfen können. Oder besser gesagt in eine Kopie der für uns so wichtigen Seite. Was hatte da noch gestanden? Wir hätten in unserer Runde noch so viel besprechen können, ich hätte endlich mehr über die Regeln und Rituale der Avanoste erfahren. Ich wollte noch eine Weile an diesem Ort bleiben. Und Zeit mit der Wächterin verbringen.

Aber Pustekuchen, der Moment war zerstört. Seufzend schob ich mich aus der Tür und blinzelte ins grelle Licht. Die Sonne stand inzwischen direkt über uns und leuchtete das Tal und die umliegenden Gipfel aus. Wunderschön sah das aus.

Meine Mutter stand am Rand des kleinen Grasplatzes und schaute in die Tiefe. Lucia trat zu ihr und fragte: »Ava, sollen wir mit den Kindern rüber zur Quelle laufen? Ich würde ihnen gerne die Kraft des Quellwassers schenken. Zur Auffrischung ihrer Avanost-Kraft.«

Mama schwieg.

Also fuhr die Wächterin fort: »Von dort sieht man auch den Versammlungsort unten am Fluss.«

Mama drehte sich zu uns um, fixierte mich mit ihrem eisblauen Blick.

»Ich möchte unbedingt den Versammlungsort der Avanoste sehen«, sagte ich schnell. Auf keinen Fall wollte ich schon ins Auto steigen und zurück nach Sonnberg fahren.

Endlich nickte Mama. »Gut, das machen wir«, sagte sie. »Jeder Avanost sollte diesen Ort kennen. Er ist einmalig, da er völlig geschützt in der ersten Flusswindung der Nagold liegt. Und nur von der Quelle aus hat man einen freien Blick auf unseren einst so schönen Versammlungsort.«

Celia ließ sich ächzend auf eine rustikale Holzbank an der Hüttenwand plumpsen. »Ich warte hier.«

Aurelia nahm sofort neben ihrer Freundin Platz.

Und so kam es, dass Mama, Lucia, Milan und ich uns auf den Weg zur Nagold-Quelle machten. Ich hatte noch eine Chance, mehr über meinen Ursprung und die Welt der Avanoste zu erfahren. Und die wollte ich unbedingt nutzen.

Ein Vogel als Tattoo

Der Weg zur Quelle war ein schmaler und steiniger Pfad, der sich auf der Höhe von Lucias Hütte entlang des steilen Berghangs schlängelte. Tief unter uns lag der Fluss Nagold, wobei das Gewässer hier eher einem breiten Bach gleichkam. Lucia schritt mit großen Schritten voran, dicht gefolgt von Mama. Dann kam Milan, und ich bildete das Schlusslicht, denn man konnte unmöglich nebeneinander gehen, nur hintereinander. So konnte ich der Wächterin keine einzige Frage stellen. Also kreisten meine Gedanken um das, was ich aus den Chroniken erfahren hatte.

»Wie soll uns bitte die Entmachtung von Xaver Steinadler gelingen?«, murmelte ich leise, während ich auf den steinigen Pfad starrte, um nicht zu stolpern und in den Abgrund zu stürzen.

Milan drehte sich um und schaute mich ernst an. »Die Frage geht mir auch die ganze Zeit durch den Kopf«, raunte er. »Wie sollen wir die restlichen Avanost-Kinder finden? Das ist eine Mammutaufgabe!«

Ich seufzte nur, es war aussichtslos. Milan folgte bereits wieder den beiden Frauen, und ich heftete mich an seine Fersen.

Es dauerte nicht lange, da hatten wir den hintersten Zipfel des Höllentals erreicht. Der Pfad endete quasi an einer zerklüfteten Felswand. Vor uns, in der Tiefe, breitete sich das Höllental aus. Und ganz vorne, wo sich das Tal weitete, lag Sonnberg, eingerahmt vom Glitzern der drei Flüsse, die in den Rhein und seine Auen fließen.

»Krass!«, sagte Milan.

Mit ausgestrecktem Finger zeigte Lucia direkt unter uns und meinte: »Seht ihr den steinigen Platz dort unten? Die befestigte Ausbuchtung am Rande des Flusses? Das ist der Versammlungsort der Avanoste. Rechts daneben, verborgen durch Hecken, ist der Eingang zur Höhle. Dort hinein sind wir immer geflüchtet, wenn ein Gewitter aufgezogen ist. Außerdem lagern dort die Biertische und -bänke. Und die vielen bunten Lampions, die wir am Abend entzündeten.«

Den Höhleneingang konnte ich von hier oben nicht entdecken, aber ich sah den schmalen Lauf der Nagold. Sie wand sich in einer eleganten Schleife um einen länglichen, steinigen Platz, der leicht erhöht lag. Direkt dahinter verengte sich das Tal wieder, in Richtung des Höllentors, durch das wir am Morgen mit dem Auto gefahren waren.

Zum ersten Mal seit unserem Aufbruch bei der Hütte öffnete Mama ihren Mund: »Wenn ich mir vorstelle, wie unser Platz dort unten an Versammlungstagen und Festen mit Leben gefüllt war. Jeder brachte etwas zu essen mit, es reichte immer für ein riesiges Buffet. Wenn der offizielle Teil vorbei war, haben wir bis zum Morgengrauen getanzt. Und alle sangen zum Abschluss das Lied der Avanoste.«

Meine Mutter und die Wächterin lächelten sich an. »Oh ja«, sagte Lucia. »Das war immer der krönende Abschluss. Alle sangen aus voller Kehle. Die Stimmung war so feierlich! Allein bei dem Gedanken daran bekomme ich Gänsehaut.«

»Was für ein Lied ist das?«, fragte ich nach.

»Das Lied der Avanoste ist unsere Hymne«, erklärte Lucia. »Alle Vogelwandler kennen den Text in- und auswendig. Wenn wir es unten vor der Höhle sangen, prallten unsere Stimmen an den Felswänden der Schlucht ab und hörten sich noch prächtiger an.«

Ich bemerkte: »Wir Avanoste haben ja sowieso schon schöne und kräftige Stimmen.«

Lucia nickte und schloss für einen kurzen Moment die Augen, so als ob sie das Lied der Avanoste in sich drin hörte.

Ich wollte die beiden Frauen fragen, ob sie uns das Lied nicht vorsingen könnten, hier und jetzt. Doch Mama wechselte bereits das Thema. »Heute ist unser Treffpunkt verwaist und zugewuchert«, sagte sie.

Lucia antwortete: »Ich habe eine Zeitlang versucht, die Büsche und Baumsprösslinge zurückzuschneiden, um unseren heiligen Platz für ein mögliches Treffen in Ordnung zu halten. Aber irgendwann habe ich aufgegeben. Einerseits, weil ich allein gar nicht gegen die Natur ankomme, andererseits, weil mir klarwurde, dass hier kein Treffen der Gemeinschaft mehr stattfinden wird, solange Xaver Steinadler an der Macht ist und dies verhindert.«

Ich fand ja, dass der Ort da unten düster wirkte und nicht gerade einladend.

»Gibt es denn einen Weg oder eine Straße zum Versammlungsort?«, fragte Milan.

Lucia antwortete: »Es gibt einen schmalen Pfad. Doch wenn es stark regnet oder im Frühling, wenn der Schnee schmilzt, ist er oft überschwemmt. Dann kann man unseren Platz nur fliegend erreichen.«

Sie drehte sich um und kraxelte wie eine Bergziege ein paar Meter am Steilhang in die Höhe.

»Folgt mir«, rief sie. »Aber haltet euch gut fest.«

Ich klammerte mich mit den Händen an den Grasbüscheln fest, die hin und wieder zwischen den Steinen wuchsen, und schob mich so immer weiter nach oben, bis ich neben Lucia, Mama und Milan auf einer schmalen Felsplatte stand. Ich war von der Kletterei ganz schön aus der Puste.

Lucia zeigte auf einen Steinkreis, der ein ovales Wasserbecken einfasste, nicht größer als ein Miniteich. Das Wasser war glasklar. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass aus der Felsformation oberhalb Wasser quoll, sich im Becken sammelte und dann über den flachen Fels, auf dem wir standen, abfloss und in Richtung Tal verschwand.

»Die Nagold-Quelle«, sagte Lucia mit feierlicher Stimme.

»Steckt hierin die Kraft der Avanoste?«, musste ich fragen und hielt meinen Zeigefinger ins kühle Nass. »In diesem Wasser?«

»Es ist kraftvoll und heilig für uns Vogelwandler!« Die Wächterin krempelte sorgfältig die langen Ärmel des Overalls bis zu den Ellenbogen auf. Ich starrte wie hypnotisiert auf das Tattoo auf ihrem Unterarm. Ein wirklich großer Uhu, der fast die gesamte Innenseite einnahm, schien mich mit seinen Augen zu fixieren. Ich konnte nicht anders, ich streckte meinen Zeigefinger aus und fuhr sacht über das Brustgefieder des tätowierten Vogels.

Die Wächterin lächelte mich an.

»Ist das Zorro?«, fragte ich.

»Mein Freund und Vertrauter. Unser Herz schlägt im gleichen Takt«, sagte sie ruhig. Und gerade als ihre Worte verklungen waren, ertönte über uns ein Rauschen. Ein dunkler Schatten glitt über uns hinweg, und Zorro landete auf dem Felsenkamm über der Quelle.

Die Wächterin schenkte dem Vogel ein Lächeln. Dann löste sie einen flachen Stein aus der felsigen Wand. Ich konnte ein dunkles Loch erkennen. Lucia zog ein prallgefülltes Stoffbündel hervor, öffnete es behutsam und entnahm einen Stein, den sie in das kleine Wasserbecken gleiten ließ. Trotz der sich schließenden Wasseroberfläche funkelte er im Sonnenschein in hellem Grün. Es folgten rasch hintereinander noch vier weitere Steine, der eine war tiefblau, der nächste hellgelb, dann kam ein bunt gesprenkelter, und der letzte leuchtete schneeweiß.

Ich hörte Mama neben mir laut schlucken.

»Hier werden die heiligen Gegenstände der Avanoste geweiht, in diesem reinen Wasser der Nagold-Quelle«, fing Lucia an zu erzählen. »Jeder dieser Steine steht für einen Avanost-Stamm.«

»Der weiße Stein gehört bestimmt zu den Eis-Avanosten, oder?«, fragte ich neugierig.

Die Wächterin nickte. »Gib mir bitte dein Medaillon.« Sie streckte die Hand aus.

Ich zögerte höchstens eine Sekunde. Einfach weil ich wusste, dass ich mein Avanost-Medaillon niemals aus der Hand geben durfte. Doch ich war hier bei der heiligen Wächterin, was sollte schon passieren?

Lucia schien mein kurzes Zögern bemerkt zu haben, denn sie sagte lächelnd: »Keine Angst! Ich werde die Kraft deines Avanost-Medaillons auffrischen und stärken. Indem ich die heiligen Steine deiner Stämme und dein Schmuckstück zusammen im heiligen Wasser unserer Avanost-Quelle eintauche.«

Ich fragte, während ich meine Kette über den Kopf zog: »Was genau gibt dem Avanost-Schmuckstück denn seine Kraft?«

Lucia antwortete: »Der geweihte Edelstein im Innern.« Sie nahm mir das Schmuckstück aus der Hand, fischte drei der fünf Steine wieder aus dem kleinen Wasserbecken und legte sie auf dem steinernen Rand ab. Dann ließ sie langsam und bedächtig mein Avanost-Schmuckstück ins Wasser gleiten, bis es neben dem weißen und dem bunten Stein liegen blieb. Dabei murmelte Lucia leise vor sich hin.

Mama, Milan und ich ließen die Wächterin nicht aus den Augen, standen still und machten keinen Mucks. Endlich holte sie alle drei Gegenstände wieder heraus, trocknete sie sorgfältig mit dem Stoff des braunen Bündels ab und forderte dann Milans Medaillon ein.

Dieses versenkte sie nun mit dem blauen Stein im kühlen Nass. Das beschwörende Murmeln setzte ein.

Ich zog mir meine Avanost-Kette über den Kopf und steckte das Medaillon unter meinen Pulli. Das Silber war eiskalt vom Quellwasser, doch auf meiner Haut spürte ich nichts als Wärme, und diese breitete sich rasch aus und flutete meinen Körper.

Als auch Milans Medaillon wieder sicher und trocken an seinem Hals hing, sagte Lucia: »Ich gebe euch alle Kraft unserer Quelle und unserer Gemeinschaft. Ihr werdet sie brauchen.«

Ein wohlbekannter Schauder breitete sich von meinem Rücken bis über den gesamten Körper aus, so besonders war die Stimmung.

Prompt sagte Lucia: »Ihr dürft niemandem von diesem Ort erzählen.«

»Klar!«, sagten Milan und ich im Chor.

»Ist hier auch der eigentliche Aufbewahrungsort der Chroniken?«, fragte Milan.

Lucia lächelte und guckte Milan an. »Nur die Wächterin kennt den heiligen Platz der Chroniken, und so soll es auch bleiben.« Ihr Blick verdüsterte sich augenblicklich. »Ich hoffe, der Aufbewahrungsort bleibt nun nicht für immer leer.«

Mama drehte sich mit einem Ruck um. »Da ich kein Medaillon mehr besitze, das man erneut weihen könnte, sollten wir jetzt den Rückweg antreten«, sagte sie. »Wir müssen nach Hause fahren.«

Sie wartete keine Reaktion von uns ab, sondern rutschte und schlitterte die paar Meter hinunter zum Pfad fast auf dem Po. Dann trat sie mit schnellen Schritten den Rückweg an.

»Ich glaube, Mama geht es nicht so gut«, bemerkte ich, mehr zu mir selbst.

Lucia packte die wertvollen Kristalle zusammen und steckte sie zurück in das Felsversteck, bevor sie antwortete: »Verständlicherweise. Hier oben an der Quelle wird einem erst so richtig bewusst, was wir als Avanoste verloren haben. Die Gemeinschaft der Vogelwandler, unseren Versammlungsort und unsere regelmäßigen Treffen. All das gehört der Vergangenheit an.«

Ich musste die Chance nutzen und die Wächterin nach meinem Vater fragen, jetzt, da meine Mutter nicht in der Nähe war. Mama wollte ja nicht über ihn reden, ständig lenkte sie ab, wenn ich das Thema ansprach. Doch ich musste mehr über meinen Vater erfahren, einen Wald-Avanost, der seit meiner Geburt aus Sonnberg verschwunden war und den ich nie kennengelernt hatte.