Kein Grund zum Sterben - Diana Ramsay - E-Book

Kein Grund zum Sterben E-Book

Diana Ramsay

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Beschreibung

Pauline Rourke wird am hellichten Tag in einem New Yorker Warenhaus ermordet aufgefunden. Lieutenant Meredith steht vor einem Rätsel, denn es gibt weder Spur noch Motiv. Wem mag dieses Mauerblümchen im Weg gestanden haben? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Diana Ramsay

Kein Grund zum Sterben

Roman

Aus dem Amerikanischen von Margret Schulz-Wenzel

FISCHER Digital

Inhalt

12

1

Die Sonne brannte auf das Pflaster der Fifth Avenue, und die mit viel zu dicken Mänteln, Jacken und Pullovern beladenen Passanten bewegten sich müde und lustlos, mit Ausnahme einer schlanken Frau mit blassem Gesicht und braunem, graugesträhntem Haar, die mit einer weißen Seidenbluse, einem beigen Rock und Korksandalen verhältnismäßig leicht gekleidet war. Sie gehörte sonst nicht zu den Frauen, die die Aufmerksamkeit Vorübergehender erregten, aber heute galten ihr neidvolle Blicke. Jedesmal wenn sie einen davon auffing, zuckte es leicht um ihren schmalen Mund, als wolle sie lächeln.

An einer Ampel blieb sie stehen und wartete, bis der Autostrom abriß, der sie von dem im viktorianischen Stil erbauten Kaufhaus Longfields trennte. Der Mann neben ihr, rotgesichtig und schwitzend in seinem grauen Flanellanzug, warf ihr einen neidischen Seitenblick zu. Diesmal mußte sie sich auf die Lippen beißen, um ihre Heiterkeit zu unterdrücken. Wenn Blicke töten könnten! Na ja, er fühlte sich eben unbehaglich, wie alle sich unbehaglich fühlten. Dem Kalender nach war es April, aber der Wettergott hatte sich offenbar im Monat geirrt.

Die Ampel zeigte Grün. Sie überquerte die Straße und eilte die Stufen zu dem säulengeschmückten Eingang von Longfields hinauf. Vor einer der Glastüren mit der Aufschrift »Rauchen verboten« und den beiden sandgefüllten Behältern rechts und links daneben, die den Kunden die Befolgung des Verbotes erleichtern sollten, mußte sie drei Frauen vorbeilassen, die gerade herauskamen. Die letzte ließ ihr fast die Drehtür ins Gesicht sausen. Sollte der Fall eintreten, daß jemand es wagte, in einer so geheiligten Institution wie Longfields für die Abschaffung solcher Türen zu plädieren, konnte er mit Sicherheit eine Menge Gründe dafür anführen. Sie jedenfalls war der Meinung, daß sie für Kinder nur ein Zeitvertreib und für Erwachsene nur ein Hindernis waren.

Drinnen war es ziemlich kühl und, wie zu erwarten, sehr voll. Mühsam kämpfte sie sich bis zur Lederwarenabteilung durch. Vor einer braunen Handtasche mit einer Schnalle aus Olivenholz blieb sie stehen. Ein italienisches Modell, der Preis unglaublich. Nun, sie gehörte eben zu jenen schönen Dingen, bei denen man nicht nach dem Preis fragte. Wie weich sie aussah! Sie streckte die Hand danach aus, zog sie aber wieder zurück. Nein, jetzt nicht. Wenn sie zurückkam und ihr dann noch Zeit dafür blieb. So einen Kauf mußte man sich erst überlegen.

Sie benutzte die Rolltreppe, was normalerweise nicht gerade der schnellste Weg bis zum fünften Stock war, aber an einem Tag wie heute würde sie eine Ewigkeit auf den Aufzug warten. Und sie konnte ihren Blick ja eisern auf die eigenen Füße richten, damit sie sich nicht durch die vielen schönen Dinge, an denen sie vorbeikam, von ihrem Ziel ablenken ließ. In der Haushaltswarenabteilung im dritten Stock gönnte sie sich heute keinen einzigen Blick auf die Töpfe und Pfannen, ihr Ziel war die Stoffabteilung und der bedruckte Batist, der dort auf sie wartete – wenn sie ihn noch hatten. Während der Weiterfahrt betrachtete sie zur Abwechslung die Füße auf der Stufe über ihr. Links ein Paar Stiefel unter ausgestellten Jeans gehörten vermutlich einer Studentin oder Schülerin. Rechts ein Paar teure Schuhe aus glänzendem braunen Leder, die dazugehörigen Beine hübsch, wenn auch eine Spur zu dünn. Und wie sah es hinter ihr aus? Sie warf einen diskreten Blick nach hinten unten und wäre fast ganz herumgefahren. Schnürschuhe, ein Paar braune Schnürschuhe mit weißen Kappen, einem sehr schmutzigen Weiß. Du lieber Gott, wer trug denn heutzutage noch solche Schuhe? Wann waren sie überhaupt Mode gewesen, außer für Kinder vielleicht? Diese da gehörten jedenfalls keinem Kind. Sie hatten riesige Ausmaße und wurden von dicken Fußballen beinahe gesprengt. Daraus ragten entsetzlich geschwollene Beine auf, in medizinische Stützstrümpfe gezwängt, wie pralle Würste, die bei der leichtesten Berührung zu platzen drohten. Wahrscheinlich hatte sie Wasser, das arme Wesen.

Die nächste Abteilung war ungefährlich. Teppiche. Nicht gerade ein Artikel, für den Longfields bekannt war oder es zu sein verdiente. Sie verließ die Rolltreppe und ging zwischen den Teppichen und Stapeln von Läufern hindurch, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Die Stoffabteilung lag dahinter. An den Tischen vorbei mit Spitzen und Seidenstoffen kam sie schließlich zu den Baumwollstoffen. Voile, Organdy, Batist. Sie blickte sich zwischen den Batistballen um. Wo steckte nur das gesuchte Muster? Hier auf dem Tisch, wo sie ihn das vorige Mal gesehen hatte, jedenfalls nicht. Auch unter den Ballen, im Regal dahinter entdeckte sie ihn nirgends. Da keine Verkäuferin in der Nähe war, schlüpfte sie selbst hinter den Ladentisch, um die Stoffe im Regal aus der Nähe betrachten zu können.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« In der Stimme, die hinter ihr ertönte, lag deutliche Mißbilligung über eine Kundin, die sich hier Sonderrechte anzumaßen schien.

»Sie können.« Die gereizte Antwort mißfiel ihr selbst. Die Verkäuferin war schließlich im Recht, nicht sie. Mit einem besänftigenden Lächeln kehrte sie auf die richtige Seite des Ladentisches zurück. »Ich suche einen Batist, den ich vor einigen Wochen hier gesehen habe. Blaue Blumen auf weißem Grund.«

»War es dieser hier vielleicht?« Die Verkäuferin nahm einen Ballen vom obersten Regal und legte ihn vor sie hin.

»Nein, die Blumen waren viel kleiner, und es war ein dunkleres Blau.«

»Ach, ich weiß jetzt, welchen Stoff Sie meinen, aber ich glaube, der ist verkauft. Ich sehe mal im Lager nach.«

»Vielen Dank.«

Als sie allein war, sah sie sich das verschmähte Muster genauer an. Nein, es paßte wirklich nicht. Die großen Blumen und die leuchtende Farbe würden das sanfte Dunkelblau des Kostüms einfach erschlagen. Zu dumm, daß sie den anderen damals nicht gleich mitgenommen hatte, aber zu dem Zeitpunkt hatte sie noch keine Bluse gebraucht. Das Kostüm war für Theater- und Konzertbesuche und für sonstige Gelegenheiten, bei denen man die Jacke nicht auszog. Daß sie am kommenden Wochenende etwas brauchte, in dem sie einerseits korrekt angezogen war, sich andererseits auch im Familienkreise wohl fühlte, kam ziemlich unerwartet. Eine Bluse würde das Problem am besten lösen. Falls sie bei Longfields nichts fand, mußte sie es morgen bei Lord & Taylor versuchen.

Und wenn sie etwas anderes als Batist nähme? Sie ließ den Blick suchend über die Stoffballen gleiten, ohne auf die Menschen in ihrer Umgebung zu achten. Doch plötzlich blieben ihre Augen unwillkürlich an einer Frau hängen, die nur wenige Meter von ihr entfernt stand. Eine dicke, unförmige Frau mit einem verwüsteten Gesicht und schmutzigrotem Haar, dessen graue Ansätze dringend nach einer neuen Färbung verlangten. Der schmuddelige beigefarbene Regenmantel stand offen und ließ ein blaues Baumwollkleid sehen, das ebenfalls ziemlich unappetitlich wirkte. Ein ungewöhnlicher Anblick für Longfields, besonders für die Stoffabteilung, deren Kundinnen hauptsächlich Hobbyschneiderinnen und Besitzerinnen kleiner Schneiderateliers waren.

Die Augen der beiden Frauen trafen sich, und die andere wich ihrem Blick so hastig aus, als hielte sie selber ihre Anwesenheit fast für ein Verbrechen. Dann drehte sie sich um und watschelte auf grotesk geschwollenen Beinen davon. Es waren dieselben Beine wie eben auf der Rolltreppe. Die Schuhe waren unverkennbar. Was, um Himmels willen, tat die Frau hier in der Stoffabteilung? Sie sah so aus, als wüßte sie nicht einmal, wozu man Nadel und Faden brauchte. Aber vielleicht hatte sie eine geschickte Schwester. Oder eine Tochter. Nein, sicher keine Tochter. Es war unmöglich, sie sich als Mutter vorzustellen. Aber sie war ungerecht. Die kranken Beine rechtfertigten zur Genüge, daß die Frau sich vernachlässigte. Wahrscheinlich war die Ursache ein krankes Herz oder die Leber oder die Nieren. Oder auch alles zusammen. Armes Wesen!

»Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat.« Die Verkäuferin kam zurück. »Der Stoff ist leider ausverkauft, und der Hersteller hat auch nichts mehr auf Lager. Darf es vielleicht ein anderer sein?«

Sie erklärte ihr, daß etwas anderes nicht in Frage komme, und bedankte sich.

Auch sonst schienen sie bei Longfields trotz des riesigen Angebotes nichts Passendes für sie zu haben, obwohl sie einen Augenblick lang mit einem blaugrundigen Seidenstoff mit malvenfarbenen und smaragdgrünen Karos liebäugelte. Sekundenlang sah sie sich in einer Bluse mit einer großen weichen Schleife am Hals, aber mit einem leisen Seufzer ließ sie von dieser Vorstellung ab. Das war nichts für sie. Fünfzehn Jahre früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Überreife alte Jungfern, wie sie, hielten sich besser an Blumenmuster oder, wenn sie ganz gewagt sein wollten, an Tupfen. Obwohl sie keineswegs ein Faible für Tupfen hatte, stellte sie mit Ernüchterung fest, daß sie über das Alter für Tupfen ebenfalls bald hinaus sein würde. Aber falls ihr morgiger Ausflug zu Lord & Taylor ebenso ergebnislos verlief, konnte sie immer noch zu Tupfen ihre Zuflucht nehmen.

Als sie wieder bei der Rolltreppe angekommen war, zögerte sie und ging dann durch die Abteilung mit Aussteuerartikeln. Wo sie schon einmal hier war, konnte sie eigentlich schnell die Toilette benutzen. Zweifellos würde es dort voll sein, aber in der Firma war es jetzt zur Mittagszeit genauso. Hier blieben ihr wenigstens die Gespräche mit den Telefonistinnen und Empfangsdamen erspart. Es war doch nicht so voll, wie sie geglaubt hatte. Vor jeder Kabinentür warteten nur zwei oder drei Damen. Sie stellte sich hinter zwei anderen an und hatte Glück, denn im selben Augenblick wurde die Kabine vor ihr frei, so daß nur noch eine Dame vor ihr war.

Plötzlich wurde sie von hinten angestoßen. Etwas stach sie in den Arm. Sie zog ihn hastig weg und fühlte dabei einen Widerstand in der Seide ihres Ärmels. Was zum Teufel …? Ihr Arm wurde über dem Ellenbogen mit festem Griff umfaßt, und wieder stach sie etwas. Es war schon mehr ein Stoß. Sie wandte den Kopf. Ihr Arm wurde losgelassen, und sie begann zu schwanken. Das schwarz-weiße Schachbrettmuster des Fußbodens sauste auf sie zu. Undeutlich nahm sie ein Paar formlose Schnürschuhe und geschwollene Beine wahr, die sich entfernten. Angestrengt versuchte sie, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, aber es war schwer, furchtbar schwer. Sie fühlte sich so benommen. Mein Gott, wie schwindlig sie sich fühlte. Der Arm brannte, aber sonst war ihr eisig kalt. Der Kopf dröhnte, und das Herz schlug wie rasend. Ohrenbetäubend. Luft – sie bekam keine Luft mehr. Und die ganze Zeit schwankte das Schachbrettmuster unter ihr wie wild. Was war das bloß? Ein Schrei drang an ihr Ohr, als sie stürzte. Ganz dünn und schwach und wie aus weiter Ferne.

 

»Daß man so plötzlich sterben kann! Ohne jede Warnung. In der einen Minute steht sie noch ganz ruhig im Waschraum und denkt an nichts Böses, und in der nächsten … Mein Gott, der bloße Gedanke daran macht einen verrückt. Aber so ist das mit dem Herzen. So was kann jedem von uns passieren, dir, mir, uns allen.«

»Du hast recht. Mir lief es auch eiskalt den Rücken hinunter, als ich es erfuhr.«

Die Unterhaltung wurde in gedämpftem Ton geführt. Die beiden Verkäuferinnen in der Aussteuerabteilung, von denen die eine Brautunterwäsche verkaufte, die andere für Bett- und Tischwäsche zuständig war, sahen beide jung und frisch genug aus, um für ihre Artikel zu werben. Sie blickten auf die Tür mit der Aufschrift »Damen«, vor der ein Polizist Wache hielt.

»Weißt du, was ich glaube?« fing die eine wieder an, aber das Nahen eines Kunden ließ sie verstummen. Es war ein junger Mann, der leicht verlegen wirkte.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die Verkäuferin für Bett- und Tischwäsche kam ihrer Kollegin zuvor.

»Ja, gern.« Der junge Mann wandte dem Regal mit Unterwäsche erleichtert den Rücken zu. »Mein Freund heiratet, da brauche ich ein Geschenk. Man hat mir geraten, hierher zu gehen, weil man mir hier sagen würde, was ich nehmen soll. Der Name der Braut ist Armstrong, Ellen Armstrong.«

»Armstrong? Ja, sie ist Kundin. Tut mir leid, da können wir nichts für Sie tun. Sie müssen in die Geschenkabteilung gehen.«

»Wieso denn? Ich will doch …«

»Miss Armstrong hat ihre Aussteuer komplett. Sie wollen ihr doch wohl nichts schenken, das sie gar nicht brauchen kann?«

»Ein Tischtuch kann man doch immer brauchen«, wandte der junge Mann ein. »Wissen Sie, ich habe nur meine Mittagspause. Geben Sie mir doch einfach …«

»Tut mir leid, aber wir können wirklich nichts für Sie tun. Sie müssen sich schon zu den Geschenkartikeln bemühen.« Der gebieterisch in die genannte Richtung weisende Finger und der strenge Gesichtsausdruck der Verkäuferin genügten, um jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Als der junge Mann davongeeilt war, senkte sie die erhobene Hand und ließ sie mit einem leichten Klatschen auf den Ladentisch fallen. »Manche Leute haben vielleicht Nerven!«

Aber ihre Kollegin erwiderte nichts. Ihre Augen hingen gebannt an der Tür mit der Aufschrift »Damen«, die soeben geöffnet wurde. Mit einem kleinen erschrockenen Seufzer holte sie Luft. »Da sind sie endlich.«

Aus der Tür kamen zwei Männer mit einer Bahre, auf der eine von Decken verhüllte Gestalt lag. Ihnen folgte ein finster blickender junger Arzt, der nervös an seinem Stethoskop fingerte, das er um den Hals gehängt trug. Der Polizist schloß sich ihnen an. Der Zug marschierte auf den Lift zu und war bald aus ihrem Blickfeld verschwunden. Die Verkäuferin stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich dachte schon, die kämen nie mehr heraus.«

»Sie haben eigentlich ziemlich schnell gemacht«, erwiderte ihre Kollegin. »Wetten, daß jetzt alle Kundinnen im ganzen Kaufhaus plötzlich zur Toilette müssen?«

»Du bist schrecklich, Ruth. Hast du dir eigentlich den netten jungen Arzt genau angesehen? Er sah irgendwie beunruhigt aus. Ich glaube, er ist noch so jung, daß es ihn noch aufregt, wenn er einen Toten sieht.«

»Du und deine romantischen Vorstellungen! Wahrscheinlich zerbricht er sich den Kopf darüber, was seine Freundin wohl anstellt, während er zu einem dringenden Fall muß.«

»Ach, du bist wirklich widerlich, Ruth.«

 

Das Gesicht des jungen Arztes klärte sich auch während der Fahrt nach unten nicht auf. Während sie auf die Ambulanz zumarschierten, zerrten seine Hände immer nervöser an seinem Stethoskop. Dabei warf er dem Polizisten hilfesuchende Seitenblicke zu, als hoffe er, daß der ihm eine Frage stellen würde. Aber der Polizist, ein phlegmatischer Mann mittleren Alters, der auf einem Priem herumkaute, tat ihm den Gefallen nicht. Der Arzt sah zu, wie die Bahre samt den Trägern im Krankenwagen verschwand, stieg selber halb ein und drehte sich dann entschlossen zu dem Polizisten um.

»Hören Sie, ich will nicht den Schlaumeier spielen, aber …« Er zögerte.

Der Polizist schob seinen Priem in die andere Wange. »Nur heraus damit, mein Sohn.«

»Ich glaube, ich muß Ihnen etwas Wichtiges sagen. Nach den Schilderungen der Zeugen scheint es sich um einen Herzschlag zu handeln. Sie war kein junges Mädchen mehr, und ich habe schon jüngere Leute daran sterben gesehen. Aber irgend etwas stimmt nicht. Sie war nicht rauschgiftsüchtig, trotzdem habe ich an ihrem Arm einen Einstich gefunden, der von einer Injektionsspritze stammen könnte. Außerdem ist an ihrem Blusenärmel ein ausgerissener Faden. Mag sein, daß sie sich an einer Haarnadel oder sonstwo gerissen hat und das Ganze ist völlig bedeutungslos.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht habe ich auch nur zuviel Phantasie. Aber ich bin der Ansicht, daß jemand ihr etwas injiziert haben könnte, das den Herzstillstand verursacht hat. Ich weiß, daß sie in der Pathologie sehr sorgfältig untersucht wird und daß die Leute dort nicht so leicht etwas übersehen, aber es kann nichts schaden, wenn man sie vorher darauf aufmerksam macht. Geben Sie die Information also bitte weiter, ob nun was dran ist oder nicht.«

 

»Tot? Was heißt tot? Sie kann doch nicht tot sein.« Die barsche Stimme am Telefon klang so, als enthielte die Todesnachricht eine persönliche Beleidigung. »Als sie vor einer Weile wegging, war sie munter wie ein Fisch. Einen ganzen Haufen Briefe hat sie einfach liegengelassen. Die müssen alle heute noch raus und …« Ein kurzes Schweigen folgte. Offenbar dachte der Mann nach, denn als er weitersprach, klang seine Stimme etwas milder. »Sie sagen also, Miss Rourke sei tot. Sind Sie sicher, daß da kein Irrtum vorliegt?«

»Nein, ausgeschlossen, Mr. Lefebvre.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung war höflich und routiniert, aber der Sprecher, der an einem Schreibtisch in einem durch halbhohe Trennwände unterteilten Büro saß, schnitt seinem unsichtbaren Gesprächspartner eine Grimasse. »Nach den Papieren, die wir in ihrer Handtasche fanden, handelt es sich um Pauline Rourke, eine Angestellte Ihrer Firma, die …«

»Natürlich war sie eine Angestellte meiner Firma, sie war meine Sekretärin. Darum hat man Sie ja mit mir verbunden.« Wieder folgte ein kurzes Schweigen. »Wie ist es denn passiert? Ein Unfall, nehme ich an. Sie sagte mir, sie wollte in ihrer Mittagspause Einkäufe machen.«

»Das stimmt, sie war bei Longfields. Aber ein Unfall war es nicht. Das endgültige Untersuchungsergebnis liegt noch nicht vor, aber alles deutet auf plötzliches Herzversagen.«

»Herzversagen? Das ist doch lächerlich! Sie hatte nichts am Herzen. Erst vor wenigen Monaten hat sie sich gründlich untersuchen lassen. Der Arzt bestätigte ihr, daß sie völlig gesund sei.«

Der junge Mann schnitt wieder eine Grimasse. »Dazu kann ich mich leider nicht äußern«, sagte er. »Immerhin war sie nicht mehr jung. Manchmal …«

»Sie war vierundvierzig. Fast ein Vierteljahrhundert jünger als ich«, sagte er schroff.

»Nun, es tut mir leid, daß das passiert ist. Vielen Dank, daß Sie mir so prompt davon Mitteilung machen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich muß zusehen, daß ich jemanden finde, der die Briefe von Miss Rourkes Stenogrammblock tippt. Sie sind äußerst wichtig.« Der Hörer krachte in die Gabel.

Der junge Mann hängte auf und sah seinen Nachbarn zur Rechten an. »Du, Abe, ich hatte gerade einen ganz großen Wirtschaftsanwalt an der Leitung. Der scheint ganz durcheinander zu sein, weil seine Sekretärin ins Gras gebissen hat, ohne ihm seine Briefe fertigzutippen. Bedeutet ’ne Menge Ungelegenheiten für ihn. Manche Leute haben es schwer, was?« Abe schnalzte mitfühlend mit der Zunge.

 

»… Ich kann keine Anzeichen für eine akute Herzerkrankung bei ihr finden. Alles weist darauf hin, daß der Tod durch eine Injektion mit Dexamyl verursacht wurde, das zu den bekannteren Amphetaminen zählt. Eine Überdosis davon beschleunigt den Herzschlag so stark, daß das Herz es nicht aushält und zum Stillstand kommt, was Ihnen nicht ganz neu sein dürfte. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich das Zeug selber injiziert hat, ist gering. Dafür liegt der Einstich am Oberarm zu weit hinten. Etwas von der Droge wurde über ihre Bluse verspritzt, und auch rings um den Einstich finden sich Spuren davon. Da können wir uns wahrscheinlich die Prozedur mit den Organtests ersparen, und Sie brauchen nicht erst alle Resultate abzuwarten, während die Spur inzwischen kalt wird. Glück gehabt, was?« Die Stimme, die den Bericht am Telefon durchgab, klang alles andere als glücklich.

Der rothaarige Lieutenant Meredith von der Mordkommission blieb ähnlich unbeeindruckt von dem Wort »Glück«. Sein wachsames, knochiges Gesicht zeigte den gleichen melancholischen Ausdruck wie immer. »Hört sich ziemlich phantastisch an.«

»Phantastisch ist genau das richtige Wort. Nach Mord auf dem Marktplatz oder so was Ähnlichem. Und der Mörder hat sie nur deshalb dort umgebracht, weil er nicht als Vampir verkleidet durch ihr Fenster fliegen konnte.«

»Oder, weil er wollte, daß wir das von ihm denken.«

»Sie sind der Fachmann. Auf jeden Fall hat der Mörder vorher alles genau geplant. Vielleicht hat er absichtlich einen so belebten Ort gewählt, weil er meinte, es würde als Herzschlag durchgehen. Er ist vielleicht jemand, der den vielen kursierenden Gerüchten über die Unfähigkeit der Behörden Glauben schenkt und dabei nicht weiß, daß jedem Todesfall unter verdächtigen Begleitumständen automatisch eine Untersuchung folgt. Und wenn ein Injektionseinstich kein verdächtiger Umstand ist, dann … Zu übersehen war er jedenfalls nicht, denn der Betreffende hat die Spritze so ungeschickt gehandhabt, daß der Arzt, den die Geschäftsleitung rufen ließ, ihn sofort entdeckte. Die Sache fällt also mit Sicherheit in Ihr Ressort.«

»Danke.« Die Betonung, die in dem Wort lag, brachte fast die Leitung zum Singen.

»Oh, bitte sehr«, klang es ironisch zurück. »Nur für den Fall, daß Sie es nicht wissen sollten, was Sie aber zweifellos tun: Dexamyl ist in Fixerkreisen wohlbekannt. In geringen Dosen dreht es einen ganz schön auf. Es wurde sogar einige Male in der Presse erwähnt, wenn es auch nicht gerade Schlagzeilen gemacht hat. Es ist übrigens für jedermann zugänglich.«

Meredith enthielt sich jeden Kommentars. Er bedachte die Wand ihm gegenüber mit einem finsteren Blick.

Sein Gesprächspartner schien eine Nachricht entgegenzunehmen.

»Nun, wenigstens wissen wir mit Sicherheit, daß der Täter eine Frau ist.«

»Wirklich?« fragte Meredith mit einem unüberhörbaren Krächzen in der Stimme. »Ich dachte, es wäre vielleicht ein Transvestit. Oder ein Mann, der sich extra für diese Gelegenheit verkleidet hat. Oder vielleicht eins von den Wesen, bei denen man zweimal hinsehen muß.«

Kurzes Schweigen am anderen Ende, dann sagte die Stimme sanft: »Ich schicke Ihnen den Bericht sofort zu.«

Der Bericht über die Untersuchung der Leiche von Pauline Rourke enthielt außer der vermutlichen Todesursache die Angaben, daß es sich bei der Toten um eine Frau weißer Rasse von Anfang bis Mitte Vierzig handelte, die einen Meter sechzig groß und hundertzwölf Pfund schwer war, mit grauen Augen und dunkelbraunem Haar, das zu etwa fünfunddreißig Prozent ergraut war. Daß sie weder Mißbildungen noch Narben aufwies noch an einer organischen Krankheit litt. Daß sie nicht rauschgiftsüchtig war. Daß sie sich am Beginn des Klimakteriums befand, keine Jungfrau war und kein Kind geboren hatte.

Als Meredith den Bericht las, kam Sergeant Drake, der das Büro mit ihm teilte, herein. Er hatte eine lange Gerichtsverhandlung hinter sich, bei der er als Zeuge anwesend sein mußte, oder, wie er es ausdrückte: »Ich habe fünf Stunden auf meinem Hintern gesessen und gewartet, daß sie mich für fünf Minuten in den Zeugenstand ließen.«

»Dann müßten Sie jetzt eigentlich vor Tatendrang bersten«, sagte Meredith. »Um so besser, wir haben nämlich eine tolle Sache am Hals.«

Drakes breites dunkles Gesicht, das den Ausdruck unerschütterlicher Gelassenheit trug, verfinsterte sich. »Doch nicht etwa die Geschichte, von der sie unten alle sprechen? Daß ein paar von unseren lieben Musterschülern sich mal wieder eine Schlacht mit Fahrradketten geliefert und sich dabei zu Tode geprügelt haben?«

 

Mit zwei hoffnungsvollen Sprößlingen neigte Drake dazu, heftig auf Fälle zu reagieren, bei denen Jugendliche beteiligt waren.

»Nein, das macht Rosen. Bei unserem Fall geht es nicht um Kinder. Es geht um ein Superhirn, das in öffentlichen Toiletten herumläuft und anderen Leuten tödliche Dosen Aufputschmittel spritzt.«

Drake lachte schallend.

»Was, zum Teufel, ist so komisch dabei?«

»Nun, Sie müssen zugeben, daß es ziemlich lächerlich klingt. Wie in einem Horrorfilm. Ich sehe Bela Lugosi vor mir, wie er mit knirschenden Zähnen und der Spritze in seiner Tasche in seinem Wagen herumkutschiert.«

»Sie haben zu viele Abende mit Ihren Kindern vor dem Fernsehapparat verbracht. Bela Lugosi paßt übrigens nicht, es sei denn, er hat eine Perücke getragen.« Meredith stieß einen Seufzer aus. »Vermutlich verbirgt sich hinter dem schmückenden Beiwerk nur das übliche Motiv: entweder Geldgier oder Leidenschaft. Vielleicht hat sie die Katze ihrer Nachbarin vergiftet, und die Nachbarin hegte deswegen einen Groll gegen sie. Wetten, daß wir keine fünf Minuten brauchen werden, bis wir mit der Nase darauf stoßen? Dann können wir es dem Staatsanwalt überlassen, sich den Kopf über die Einzelheiten zu zerbrechen.«

Aber bei der Vernehmung von Mrs. John Strazzera, der Mutter der Toten, die man zwecks Erledigung der Formalitäten hergebeten hatte, kam keineswegs ein mögliches Motiv ans Licht. Nachdem sie sich von dem Weinkrampf, in den sie beim Anblick der Leiche ausgebrochen war, wieder erholt hatte, hatte man sie auf den harten Holzstuhl gegenüber von Merediths Schreibtisch gesetzt, den man mit Hilfe eines von einem rheumakranken Kollegen entliehenen Kissens eigens ein wenig bequemer gemacht hatte. Mrs. Strazzera hatte die gleiche Figur wie ihre Tochter, feinknochig und ohne jede Spur von überflüssigem Fett, was aber bei ihr viel weicher und weiblicher wirkte. Sie war auf eine merkwürdig altmodische Weise hübsch, mit einem herzförmigen Gesicht, blassem, aber jugendlichen, leicht mit Puder bestäubten Teint und flaumig weichen bläulichweißen Löckchen. Dazu kam ein Ausdruck schüchterner Hilflosigkeit, der eher auf Furchtsamkeit als auf ein Talent zum Versteckspielen schließen ließ. Ihre Reaktion am Telefon war völlige Ungläubigkeit gewesen, und auch jetzt noch, nachdem die Nachricht sich bestätigt hatte, lag Ungläubigkeit in ihren großen blauen Augen.

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« Mrs. Strazzera spielte nervös mit ihren kleinen schmalen Händen. »Ich habe die ganze Zeit gedacht, Sie hätten sich geirrt und es wäre gar nicht Pauline. Sie hätte vielleicht ihre Handtasche mit der einer anderen Frau vertauscht und … Sie müssen mich für ziemlich einfältig halten.« Das letztere äußerte sie in resigniertem Ton, so als sei sie es gewöhnt, daß man sie für einfältig hielt.

»Aber ganz und gar nicht, Mrs. Strazzera«, sagte Meredith.

»Uns ist klar, daß es ein großer Schock für Sie gewesen sein muß, und der Verstand versucht sich gegen einen Schock zu wehren, indem er sich dagegen sperrt.«

»Genauso ist es. Sie haben das sehr gut ausgedrückt, ich danke Ihnen.« Der Ton ihrer Stimme und das schwache Lächeln verrieten ihm, daß Versuche, sie zu verstehen, normalerweise ziemlich selten waren. »Es fällt mir schwer, es zu begreifen. Man denkt immer noch an sie als die Kinder, egal, wie alt sie sind. Obwohl beim besten Willen nichts Kindliches an Pauline war. Es kam mir sogar manchmal vor, als sei sie die Mutter und ich … Sie war so viel tüchtiger als ich, in jeder Beziehung.« Sie hörte einen Augenblick auf, an ihren Fingern zu zupfen, und machte eine kleine ratlose Bewegung mit der Hand. »Es kommt mir so unwahrscheinlich vor, ich muß die ganze Zeit daran denken … Sie sagten, es wäre das Herz gewesen. Aber sie hatte gar nichts am Herzen, soviel ich weiß, und sie war doch auch gar nicht alt genug für einen Herzinfarkt.«

»Einen Herzinfarkt kann man in jedem Alter bekommen«, erwiderte Meredith. »Aber ich habe nicht von einem Herzinfarkt, sondern von Herzversagen gesprochen, was im Grunde nichts Konkretes bedeutet. Und daher wird das, was jetzt kommt, fürchte ich, ein neuer Schock für Sie sein: Jemand hat ihr eine Spritze mit einer Droge gegeben, die das Herz zum Stillstand brachte. Sie ist ermordet worden.«

»Ermordet? Pauline?« Die blauen Augen weiteten sich entsetzt. Doch dann schüttelte Mrs. Strazzera langsam, aber entschieden den Kopf. »Das ist unmöglich, absolut unmöglich. Niemand auf der ganzen Welt hätte einen Grund dafür gehabt, Pauline zu ermorden. Ich bin ihre Mutter. Ich muß es schließlich wissen. Das muß in Irrtum sein.«

Meredith versicherte ihr, daß es kein Irrtum sei. Er berichtete ihr geduldig die näheren Umstände von Paulines Tod und las ihr Einzelheiten aus dem medizinischen Gutachten vor, aber alles vergebens. So nachgiebig und unsicher Mrs. Strazzera auch sonst zu sein schien, sie hielt überraschend hartnäckig an ihrer Überzeugung fest. Niemand hatte einen Grund gehabt, Pauline zu töten, und damit basta. Und nichts veranlaßte Meredith zu der Annahme, daß das übliche Motiv für eine Weigerung, an einen Mord zu glauben, dabei im Spiel war: die Angst davor, daß Familienangelegenheiten ans Licht gezerrt und schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit gewaschen werden könnten. Ganz im Gegenteil: »Ich habe genügend Kriminalromane gelesen, um zu wissen, daß die Polizei bei einem Mord als erstes nach einem Motiv dafür Ausschau hält. Nun, was mich betrifft, so können Sie es unbesorgt tun. Ich habe nichts zu verbergen. Ich bin gern bereit, Ihnen jede Frage zu beantworten und auch sonst alles zu tun, um Ihnen zu helfen. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, daß nichts dabei herauskommen wird. Pauline war so – so harmlos. Sie hat sich nie in die Angelegenheiten anderer Leute eingemischt. Sie kümmerte sich so ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten, daß …« Sie zerrte immer hastiger an ihren Fingern, »… daß sie es selbst dann nicht tat, wenn man gar nichts dagegen gehabt hätte, nur um zu fühlen, daß sie sich ein wenig um einen sorgte. Sie gehörte einfach nicht zu der Sorte Menschen, die anderen auf die Zehen tritt oder ihnen im Wege steht oder so was Ähnliches. Und natürlich hatte auch niemand einen Vorteil von ihrem Tod. Sie verdiente zwar ganz gut, aber es war eben doch nur ein Gehalt, und ich glaube nicht, daß sie viele Ersparnisse hatte. Wenn ich daran denke, daß jemand sie auf so schreckliche Weise ermordet hat …« Mrs. Strazzera brach ab. Ihre Augen glänzten plötzlich. »Mir ist gerade etwas eingefallen, Lieutenant Meredith. Könnte es nicht sein, daß sie an Stelle von jemand anderem ermordet wurde? Ich meine, wenn die Toilette so überfüllt war, ist es doch möglich, daß der Täter die falsche Person erwischte.«

Meredith räumte ein, daß das möglich sei. »Möglich, aber unwahrscheinlich. Natürlich werden wir auch das in Erwägung ziehen, aber nicht in erster Linie. Das verstehen Sie doch, Mrs. Strazzera?«

»Selbstverständlich, völlig. Ich bin sicher, daß Sie das besser beurteilen können als ich, und ich denke nicht im Traum daran, Ihnen da hineinzureden. Es ist nur, weil Pauline so gar nicht …«

Wieder brach Mrs. Strazzera ab, diesmal, weil es an die Tür klopfte. Als ein Mann in einer schwarzen Motorradmontur eintrat, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus, als würde ihr eine schwere Last von den Schultern genommen. »Ach, da ist ja Johnnie! Ich bin sicher, er wird Ihnen genau dasselbe sagen wie ich.«

John Strazzera zeigte die Haltung eines Mannes, der stolz auf seine Figur ist, und auch heute noch ließ seine große muskulöse Gestalt erkennen, daß er einmal Grund dazu gehabt hatte. Inzwischen hatte er jedoch begonnen, Fett anzusetzen, und zwar ausschließlich am Bauch. Unter seiner Jacke zeichnete sich eine unschöne Wölbung ab. Das Beste an ihm waren seine dichten schwarzen Haare, um die ihn so mancher hätte beneiden können. Es war klar zu erkennen, daß er einige Jahre jünger war als seine Frau, obwohl man schwer schätzen konnte, wie viele, denn in den mittleren Jahren beginnt sich der Altersunterschied allmählich zu verwischen.

Strazzera bestätigte ihnen die Schilderung, die seine Frau vom Charakter seiner Stieftochter gegeben hatte. Auch er war der Ansicht, daß niemand etwas gegen Pauline gehabt haben könne. Aber er wirkte dabei nicht annähernd so überzeugend wie seine Frau. Für einen geschulten Beobachter war klar erkennbar, daß er sich eine Spur unbehaglich dabei fühlte. Wußte er etwas, das zu der Ansicht seiner Frau im Widerspruch stand? Oder fühlte er sich irgendwie schuldig? Oder war es ganz einfach das Unbehagen, das die meisten Leute bei einer Aussage vor der Polizei erfüllt?

Mit ihrem Mann als Stütze schien es Mrs. Strazzera jetzt leichter zu fallen, mit dem Schock fertig zu werden. »Sie verlieren nur Ihre Zeit, wenn Sie versuchen, ein Motiv für den Mord zu finden«, sagte sie beinahe aggressiv. »Oh, ich will damit nicht etwa behaupten, daß Pauline keine Fehler hatte. Sie war keineswegs perfekt. Sie war zum Beispiel nicht gerade eine warmherzige Person. Schon als kleines Mädchen begann sie, sich von mir zurückzuziehen und von ihrem Bruder auch. Ich könnte mir schon vorstellen, daß jemand über sie verärgert war, weil er keinen Kontakt zu ihr fand. Aber bringt man deshalb jemanden um? Nein, Sie werden nie einen Grund finden, der Pauline zu einem Mordopfer macht.«