Killer Mond - P. J. Mulder - E-Book

Killer Mond E-Book

P. J. Mulder

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Beschreibung

Killer Mond - Ein Wolf Unger Thriller Der in der Kunstszene bekannte und gut vernetzte Frankfurter Galerist Bernard Schwartz hat fünf Millionen Euro von seinem Firmenkonto geräumt, einen Flug nach Los Angeles gebucht und ist seitdem verschwunden. Seine Schwester Sarah, Kunsthistorikerin und undurchsichtige Schönheit, beauftragt Unger mit der Suche. Je mehr Unger in der Vergangenheit gräbt, desto mehr Ungereimtheiten und Halbwahrheiten entdeckt er. Auf seiner Suche nach dem verschollenen Bruder stößt er auf einen ungeheuerlichen Kunstskandal. Seine Suche führt ihn von Los Angeles in die Geisterstadt Kelso in der kalifornischen Wüste, weiter nach Nassau auf den Bahamas und schließlich zum finalen Show-Down nach Palm Springs, dem Domizil der Reichen und Schönen. Er legt sich mit korrupten Bullen, Mietkillern, der Kunstmafia und einem kunstgeilen Drogenbaron an, riskiert für seine Klientin Ruf und Leben und schrammt ein paar Mal haarscharf an Katastrophen vorbei.

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Für Susanne und Nina.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

1

PARIS, FRANKREICH.

„Es gibt keine größere Einsamkeit als die eines Samurai, außer vielleicht die eines Tigers im Dschungel.“ Fiktives Zitat aus den Büchern des Bushido von Regisseur Jean Pierre Melville in „Der eiskalte Engel (Le Samouraï).“

Morgens um drei Uhr klingelt das Telefon. Wolf Unger tastet im Dunkel nach dem Smartphone und meldet sich verschlafen. Niemand antwortet. Aber: Atemgeräusche. Dann: Klick. Abrupt Stille. Aufgelegt. Er schaltet die Leselampe über dem Nachttisch ein und blickt auf seine Armbanduhr. Denkt: Verdammt! Wer zum Geier ruft mich mitten in der Nacht an?

Eine Sekunde tickt.

Seine inneren Alarmanlagen schrillen.

Kontrollanruf!

Jäh ist er hellwach.

Jemand checkt, ob er sich im Zimmer befindet. Nicht gut. Mit einem Satz ist er aus dem Bett. Zwei Minuten später ist er angekleidet. Nach drei, vier weiteren Minuten hat er seine restliche Kleidung sowie Wasch- und Rasierutensilien in den Beutel gepackt und in der Reisetasche verstaut. Er schlüpft in einen lodenfarbenen, leichten Kaschmirmantel. In der einen Hand die Reisetasche, in der anderen einen schwarzen, röhrenartigen Gegenstand. Den gummierten Griff seines Teleskopschlagstocks. Ein Blick durchs Zimmer. Die Lampe verbreitet genügend Licht. Außer zerwühlten Bettlaken kein Hinweis mehr auf seine Anwesenheit.

Raus hier!

Durch die Flügeltür huscht er auf den schmalen Balkon. Lässt sie einen spaltbreit offen, stellt die Tasche ab. Hofft, dass der Reinigungsservice den Balkonboden von Taubenscheiße gesäubert hat. Mit einer geübten Schleuderbewegung seiner rechten Schulter fährt er den Schlagstock auf die doppelte Länge aus.

Am Nachthimmel zieht eine Front dunkler Wolken auf. Der Luftdruck sinkt. Es riecht nach Regen. Schräg gegenüber erkennt er tief unter sich die Polizisten der Garde Républicaine. Die Nachtwache vor dem Élysée-Palast, dem Amtssitz des Staatspräsidenten der Französischen Republik.

Dann konzentriert er sich auf das diffus beleuchtete Schlafzimmer der achtzig Quadratmeter großen Hotelsuite. Nach der Eingangstür folgt ein kleiner Vorraum für Gepäck und Garderobe. Von dort kommt man in eine Lounge mit Louis dem soundsovielten Möbel. Im Raum verteilt Skulpturen, an den Wänden Gemälde französischer Meister. Eine weitere Flügeltür, deckenhoch und weiß lackiert, führt ins Schlafzimmer mit dem riesigen King Size-Bett. Das luxuriöse Bad schließt sich an.

Da er kurzfristig reserviert hatte, musste er eine der letzten freien Suiten buchen. Ein Standard-Doppelzimmer hätte es auch getan. Aber die Stadt ist über Ostern voller Touristen, die den Frühling in Paris – nach einem unausrottbaren Klischee die Stadt der Liebe – erleben wollen. Und Unger hatte keine Lust, in einem anderen Hotel als dem Le Bristol zu wohnen, das er von früheren Besuchen kennt und schätzt. Außerdem mag er die Rue du Faubourg Saint-Honoré, eine der ältesten Straßen von Paris, in der sich das Hotel befindet. Boutiquen aller bedeutenden Luxusmarken und edlen Modehäuser der Haute Couture von internationalem Rang sind hier vertreten: Gucci, Dolce & Gabbana, Cartier, Karl Lagerfeld und Chanel, Lanvin, Hermès, Pierre Balmain sowie Yves Saint Laurent und Salvatore Ferragamo.

Ein paar Häuser vom Hotel entfernt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hatte ihm seine Exfrau Aimée – damals, in glücklichen Tagen – bei der Pariser Filiale von F.P. Journe, dem legendären Schweizer Uhrmacher, den OctaLune Chronometer gekauft. Ein Geschenk, das sie bei der Scheidung vergessen hatte zurückzufordern. Im nur wenige Minuten entfernten Bistro Chez Joséphine, wo traditionelle französische Küche auf hohem Niveau serviert wird, hatte er sich in seinen Tagen als Staranwalt in Frankfurt am Main mit Aimée unter die Gäste gemischt und am Leben betrunken. Auch den Abend zuvor, nach dem Konzert, hatte er dort verbracht, in Erinnerungen geschwelgt und die Eindrücke des Abends zu verdauen versucht.

Die Aprilnacht ist kalt. Die Kälte beginnt von seinen Füßen die Beine hoch zu kriechen. Er tritt von einem Bein aufs andere, was zwar nichts bringt, ihn aber in Bewegung hält. Der Lichtschein der Lampe fällt aus dem Schlafzimmer bis zum Rand des Teppichbodens in der Lounge. Man wird ihn im Bett vermuten. Also wird er jeden ungebetenen Besucher spätestens beim Betreten des Schlafzimmers entdecken. Ungers Hände sind in den warmen Manteltaschen vergraben. Der Schlagstock liegt griffbereit auf der Reisetasche. Seine Hände dürfen nicht klamm werden. Freies Krümmen der Finger und direkter Kontakt am Griff des Schlagstockes sind überlebenswichtig. Er unterdrückt den Impuls, sich eine Zigarette anzuzünden. Nach weiteren fünf Minuten gibt er auf.

Falscher Alarm.

Er schiebt die Rute in den Griff zurück, schnappt seine Reisetasche und verlässt die Suite. Nach einem schnellen Blick nach links und rechts, überquert er den Flur. Mit wenigen Schritten ist er am Fahrstuhl und drückt den Lobby-Knopf.

Natürlich kann der Anruf Zufall gewesen sein. Jemand hat sich verwählt. Das kommt vor. Aber Unger glaubt nicht an solche Zufälle. Nicht in seinem Job. Seine Paranoia hat ihn schon öfter vor Gefahren bewahrt. Auf der Fahrt nach unten checkt er mit seinem Smartphone die Flüge von Paris nach Frankfurt. Eigentlich wollte er bis Sonntag bleiben. Jetzt aber fühlt er sich im Hotel nicht mehr sicher. Der nächtliche Anruf hat sein Wochenende vermasselt.

Um diese Zeit ist die Lobby verlassen. Leere Sessel und leere Sofas im warmen Licht der Lüster, die von der Decke baumeln. Keine Schlangen ungeduldiger Hotelgäste vor dem Counter des Concierge. Niemand checkt ein oder aus. Keine Pagen hasten mit Gepäck durch die Halle. Kein Ort der Welt ist trostloser, als eine Hotellobby in den frühen Morgenstunden.

Unger fällt Elvis Presleys Heartbreak Hotel ein. Dazu das berühmte Foto von Alfred Wertheimer, das Elvis neunzehnhundertsechsundfünfzig, am Anfang seiner Karriere im Mantel, Kragen hochgeschlagen, nachts vor dem Warwick Hotel in New York City zeigt. Einsam und verloren.

Genauso fühlt sich Unger.

Vereinzelt tröpfeln Nachtschwärmer in die Halle und verschwinden in einem der Fahrstühle. An der Rezeption bestellt er seine Rechnung und bittet um eine der schwarzen S-Klasse-Limousinen mit Chauffeur, die den Gästen des Hotels vierundzwanzig Stunden zur Verfügung stehen. Als Fahrtziel gibt er den Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle an. Während seine Rechnung ausgedruckt wird, ruft er bei der Lufthansa an und bucht den sechs Uhr dreißig Flug nach Frankfurt. Ihm bleibt genügend Zeit.

Die hübsche Rezeptionistin reicht ihm einen Briefumschlag. „Wurde für Sie abgegeben, Monsieur Unger“, sagt sie. „Sollte nicht auf Ihr Zimmer geliefert, sondern bei der Abreise ausgehändigt werden.“

Er wedelt mit dem Brief. „Wer hat den abgegeben?“

Sie zuckt mit Schultern. „Hat die Tagesschicht in Empfang genommen.“

Ein nächtlicher Anruf.

Ein anonymer Brief.

Scheiße, denkt Unger, niemand weiß, dass ich mich in Paris aufhalte.

Er lässt sich in einen bequemen Sessel fallen und öffnet das Kuvert. Auf schwerem Büttenpapier des Hotels, geschrieben mit grüner Tinte, liest er: „Hat dir mein Konzert gefallen?“ Darunter die Initialen HH.

Unger sinkt noch tiefer in den Sessel.

Helen Hartman.

Sein Kopf schwirrt.

Er schüttelt sich, versucht Klarheit zu erlangen.

Der Anruf, durchzuckt es ihn, das war Helen. Dann wird ihm klar: Helen wohnt im selben Hotel. Sie muss ihn am Nachmittag beim Einchecken in der Lobby entdeckt haben.

Ihretwegen ist er in Paris.

Nachdem ihre neue CD Love for Sale die Top-Position des Billboard Jazz Albums Chart in den USA erklommen hatte und mit dem Grammy Award für Best Jazz Vocal Album ausgezeichnet wurde, war der Funke über den Atlantik gesprungen. Love for Sale kletterte auch an die Spitzen der europäischen Charts.

Helens Europa-Tournee gleicht einem Triumph. Ausverkaufte Konzerte in europäischen Hauptstädten. Auch in Berlin. Aber Unger, der für die Hauptstadt Deutschlands nicht viel übrig hat, wollte sie im Le Zénith in Paris auf der Bühne sehen.

Paris, seine Sehnsuchtsstadt.

Wo er in den ersten Semesterferien Ende der Achtziger Jahre im Gassenlabyrinth am Montparnasse eine Woche lang in einer Absteige gehaust und das Geld auf den Kopf gehauen hatte, das er sich als Praktikant in einer renommierten Frankfurter Anwaltssozietät mühsam zusammengespart hatte. Auf der Suche nach einer längst vergangenen Zeit, streifte er durch Bistros und Cafés wie Le Dôme, La Closerie des Lilas, La Rotonde, Le Select und La Coupole. Wo frühere Größen wie D. H. Lawrence, James Joyce, Ernest Hemingway, William Faulkner oder die famose Dorothy Parker die Nächte mit trinken und diskutieren verbrachten und Künstler wie Amedeo Modigliani, Pablo Picasso oder Henri Matisse ihre Saufgelage oft mit einem Gemälde bezahlten. Viele Cafés und Kneipen hatten Kunstwerke an den Wänden, nach denen sich Galeristen oder Einkäufer und Direktoren der wichtigsten Museen die Finger lecken.

Unger stand nächtelang an Tresen verrauchter Kaschemmen und Bistros, schüttete Pastis in sich rein und versuchte in der Rolle des intellektuell angehauchten Jurastudenten seine Gesprächspartner mit seinem Wissen über Albert Camus und Jean-Paul Sartre zu beeindrucken.

Es war eine Zeit dunkler Leidenschaften. Alles drehte sich um Blow Jobs, Analsex, Börsengeilheit und Hollywoodfilme. Camus oder Sartre schien niemand zu kennen. Oder man interessierte sich nicht mehr für die alten Knacker. Nach einer wilden Woche blieb Unger die wichtige Erkenntnis, dass das, was er bisher für Sex gehalten hatte, nur ein schwacher Abklatsch gegen das war, was er mit einer zehn Jahre älteren, sehr attraktiven Redakteurin des Le Nouvel Économiste erlebte, die ihn im Bett emanzipierte.

Frankreichs wichtigste Konzerthalle, Le Zénith im Parc de la Villette, war am Abend zuvor restlos ausverkauft gewesen. Unger hatte noch einen Platz in der Mitte der sechsten Reihe ergattert. Weit genug von der Bühne entfernt, um in der Menge unterzutauchen. Nah genug, um Helens Performance fast hautnah zu erleben. Und selbst wenn sie ihn erkannt hätte – na und? Er hatte nicht vorgehabt, nach dem Konzert Kontakt zu ihr aufzunehmen oder sie in der Garderobe zu überraschen. Ganz abgesehen davon, dass ihn die Security daran gehindert hätte. Und Helen würde nach dem Auftritt, falls sie ihn im Publikum bemerkt haben sollte, nicht von der Bühne steigen, sich zu ihm durchdrängeln und um den Hals fallen.

Nach Helens umjubelter Vorstellung – als letzten Song hatte sie passend zur Jahreszeit und als Hommage an die Stadt April in Paris gewählt, einen Song des Great American Songbook – war er durch den nächtlichen Park auf die Avenue Jean Jaurès gebummelt, hatte ein Taxi gestoppt und sich ins Bistro Chez Joséphine in der Nähe seines Hotels bringen lassen, wo er noch zwei, drei Absacker getrunken hatte.

„Monsieur Unger, ihr Fahrer ist bereit“, unterbricht die Rezeptionistin seine Gedanken.

Unger windet sich aus dem Sessel hoch. „Helen Hartman wohnt im Hotel?“

Sie mustert ihn abschätzend. Ein wichtiger Gast. Offensichtlich ein guter Bekannter oder Freund von Madame Hartman. Bereit zur Abfahrt. Vielleicht will er sich von ihr verabschieden.

Dann nickt sie. „Oui, Monsieur.“

Unger ruft an. Hofft, dass ihre Handynummer noch aktuell ist.

Sie meldet sich sofort. So, als hätte sie seinen Anruf erwartet.

„Hallo Wolf“, haucht sie.

Diese Stimme.

Unger erschauert. Denkt: Sie muss meine Nummer noch immer gespeichert haben. Mein Name erscheint auf ihrem Display. Im Hintergrund hört er leise Musik und Stimmengewirr. „After-Show-Party?“

„Ja, wir feiern noch ein bisschen. Hab dich gestern in der Lobby gesehen. Du hast dich nicht verändert.“ Und nach einer kurzen Pause: „Warum kommst du nicht hoch?“ Schnell fügt sie hinzu: „Panoramic Suite. Du weißt schon, die Suite, die Woody Allen in seinem Film Midnight in Paris als Set verwendet hat.“

„Nein, weiß ich nicht.“ Er hält kurz inne. Dann: „Du bist eine Sadistin. Du hast mich zum Narren gehalten.“

„Hab ich dich erschreckt?“ Sie lacht leise. „Bestimmt bist du aus dem Bett gestürzt und hast dich panisch auf einen überraschenden Besuch vorbereitet ...“

„Leb wohl“, unterbricht er und beendet das Gespräch.

„Maxim“, sagt der Fahrer und streckt ihm die Hand hin. „Ich bin bereit, wenn sie bereit sind.“

„Allez hop!“, sagt Unger.

Maxim schnappt sich Ungers Reisetasche, der sich von der enttäuschten Rezeptionistin verabschiedet, die sich ein wie auch immer geartetes Abenteuer des geheimnisvollen Gastes und der berühmten Sängerin erhoffte.

Im Fond der Limousine überwältigen ihn die Erinnerungen an Helen. Der sex- und jazzgeschwängerte Trip durch Südamerika. Seine Flucht aus Buenos Aires. Ihre Entführung durch Corazón Beatrisa Sabatini, Koks-Queen und eine der mächtigsten und reichsten Frauen Kolumbiens. Helens Befreiung. Der Tod Sabatinis und ihrer verdammten Nichte. Nach der sicheren Rückkehr hatte er Helen nach ein paar Tagen in New York wieder verlassen. Es war vorbei. Er hatte die bereits wieder aufkeimende Affäre, die schon viel zu lange gedauert hatte, abrupt beendet.

„Du wirst mir wehtun“, hatte Helen irgendwann einmal gesagt.

Es gibt keine Regeln, wie man Affären beendet.

So ist das Leben.

Seit damals hatte er sie nicht wiedergesehen. Aber sie ist immer noch in seinem Blut. Ihr Duft in seiner Nase, ihr Geschmack auf seinen Lippen, ihre Stimme in seinen Ohren, ihr Gesicht und der exquisite Körper in seinen Kopf gebrannt. Er sieht sie auf der Bühne vor sich: Eine Figur, die man so in keinem Fitness-Studio der Welt bekommt. Diese Körperbeherrschung, die sie sich auf ihrem Weg nach oben in unzähligen Clubs quer durch Nordamerika antrainiert hat. Kastanienbraunes Haar, das ihr rötlich schimmernd über die nackten Schultern fällt, elfenbeinfarbene Nachtclubhaut, das Kleine Schwarze – elegant und zugleich sexy – wie auf den nackten Körper gemalt, Gazellenbeine wie ein Topmodel, ellenbogenlange, schwarze Opernhandschuhe wie Rita Hayworth im Film Noir-Klassiker Gilda.

Als er von Gus Schilling, Helens Manager, die E-Mail mit ihrem Tourneeplan erhielt, hatte er sofort den Sitzplatz im Le Zénith gebucht. Der Preis war ihm egal gewesen.

Jetzt ist er innerlich aufgewühlt. Seine Leidenschaft für Helen ist ungebrochen. Aber es gibt kein Happy End. Kein wie auch immer geartetes Zusammenleben. Zu keiner Zeit und auf keinem Fleck dieses Planeten. Wann immer er die Möglichkeit dazu hat, wird er eines ihrer Konzerte besuchen. Egal wo. Mehr wird nicht sein. Jedenfalls versucht er, sich das einzureden. Er kann ein Seufzen nicht unterdrücken. Du wirst alt und sentimental, denkt er selbstironisch.

„Kann ich rauchen?“, fragt er Maxime und blickt durch hin und her huschenden Scheibenwischer auf das grautriste Häusermeer.

„Nur zu. Öffnen Sie die Scheibe einen Spalt.“

„Danke.“

Unger zündet sich eine Zigarette an und inhaliert. Den Rauch bläst er nach draußen. Geruch nach nassem Asphalt und Abgasen dringt ins Innere der Limo. Maxime steuert den Wagen auf den Boulevard Périphérique, der ringförmig um Paris gebauten Stadtautobahn Richtung Norden. Die ersten Pendler biegen von den Zubringern auf die Autobahn. An jeder Einmündung werden die Autos zahlreicher. Der Verkehr verlangsamt sich.

Stop-and-go.

Maxime geht runter vom Gas. Nieselregen lässt Scheinwerfer und Rücklichter der anderen Autos surreal wirken. Wie farbige Wischer. Die Lichter spiegeln sich auf dem nassen Asphalt. Motoradpulks drängeln sich rücksichtslos durch die Reihen der Blechkolonne. Irgendwo hinter ihnen versucht ein Polizeiwagen sich Platz zu verschaffen. Keine Chance. Da helfen weder Yelp-Sirenen noch blitzende LED-Dachbalken. Plötzlich, wie von Geisterhand, läuft der Verkehr wieder flüssig. Maxim beschleunigt.

Am Horizont hinter Roissy-en-France bilden sich die ersten hellgrauen und blassgelben Streifen am Himmel. Noch ist keine Sonne zu sehen. Aber Wind pustet die Wolken vom Himmel. Der Regen stoppt. Die Streifen färben sich rosa. Eine Stunde später hält Maxime vor dem Abflugssatellit Nummer sechs, direkt am Eingang zum Lufthansa Check-in. Unger blickt auf die Uhr. Zeit genug für ein Frühstück in der Lounge. Er hat das Gefühl, Paris und Helen Hartman in einem Akt der Selbstreinigung fluchtartig zu verlassen.

2

FRANKFURT AM MAIN, DEUTSCHLAND.

„In der Justiz ist es so ähnlich wie im Journalismus. Manchmal sind die wichtigen Fragen diejenigen, die man nicht stellt.“

Justin Timberlake als Joshua Pollack in „Edison.“

„Mein Name ist Sarah Schwartz“, sagt die Stimme, dunkel und angenehm. „Ich bin eine gute Bekannte von Professor Klaus Schumann, von dem ich Ihre Handynummer bekommen habe und ...“

„Schon gut“, unterbricht Unger. „Was wollen Sie?“

Die Frau scheint verwirrt. Er hört sie nach Luft schnappen. Dann ringt sie sich durch, nicht aufzulegen und weiter zu sprechen. „Ich brauche Hilfe.“ Und: „Dringend.“

Unger wartet. Sagt nichts.

„Können wir uns bitte treffen?“

„Wann und wo?“ Unger hört sie aufatmen.

„Operncafé? In einer Stunde?“

„Ich werde da sein“, sagt er. „Wie erkenne ich Sie?“

„Ich sende Ihnen ein Foto mit WhatsApp.“

„Okay.“ Er legt auf.

Sofort klingelt sein Handy.

„Ja?“ Unger klingt genervt.

„Ich bin’s“, sagt Klaus Schumann. „Hallo Wolf. Geht’s dir gut?“

Muss ja ziemlich dringend sein, denkt Unger, sie hat bereits angerufen, noch bevor er mich vorbereiten konnte.

Klaus Schumann. Der Mord an Lisa, Schumanns Tochter. Sein erster Fall in der Rolle als Privatermittler. In Los Robles, einem verfickten Kaff im südlichsten Zipfel von Texas, wo der Rio Grande die natürliche Grenze zu Mexiko bildet, hatte er den Fall geklärt und Lisas Tod gerächt. Die Mörder wurden eliminiert. Einer nach dem anderen. Seit damals zählt Schumann zu seinen Freunden, von denen er nicht allzu viele hat.

„Sie hat bereits angerufen“, sagt Unger. „Wir treffen uns nachher in der Innenstadt.“

„Äh, ja. Ich wollte Sarah eigentlich anmelden. Sie kam mir zuvor.“

„Berichte“, sagt Unger.

„Sarah ist Kunsthistorikerin. Ihr gehört, gemeinsam mit ihrem Mann, eine Galerie im Westend. Vor etwa zwei Monaten hat Bernard Schwartz das Geschäftskonto leergeräumt und ein Ticket nach Los Angeles gekauft. Seitdem ist er verschwunden. Details wirst du von ihr erfahren.“ Er hält kurz inne. „Hör zu, Wolf. Sarah ist eine gute Bekannte ...“

„Ich werde mir anhören, was sie zu sagen hat.“

„Das ist es, worum ich dich bitte.“

Sie smalltalken noch eine Zeit lang und versichern sich gegenseitig, sich bald mal wieder treffen zu müssen. Dann verabschiedet sich Schumann.

Unger checkt das Foto auf seinem Handy.

Sarah Schwartz ist Mitte Dreißig. Keine klassische Schönheit, aber gutaussehend. Gut genug, um als attraktiv zu gelten. Ein interessantes Gesicht. Soviel kann man auf dem Foto erkennen. Unger ist auf das Original gespannt.

Er blickt auf die Uhr. Dann ruft er sein Faktotum an. „Willie? Kannst du mich in die Stadt fahren? Stell den Wagen im Opernparkhaus ab, trink irgendwo einen Kaffee und warte auf meinen Anruf. Okay?“

„Okay“, sagt Willie.

Willie Schmitter, um die Sechzig, Glatze und Schnauzer, ein Kraftpaket mit dem Aussehen eines Boxers. Als Mittelgewichtler hatte er tatsächlich eine Zeit lang ziemlich erfolgreich im Ring gestanden. Von allen seelischen und körperlichen Blessuren erholt, wechselte er das Metier. War einmal das, was man früher einen schweren Jungen nannte. Ein Geldschrankknacker von altem Schrot und Korn. Er arbeitete nur am Wochenende, immer auf dem platten Land und immer allein. Auf dem Land lässt sich das dicke Geld abgreifen. Dort sind die Alarmanlagen nicht so perfekt und die Betonwände nicht so dick. Während die Zahl der Banküberfälle durch bessere Sicherheitsvorkehrungen zurückging, hatte Willies Schränkerhandwerk abseits der großen Städte Hochkonjunktur.

Handwerkliche Kunstfertigkeit und Technologieverständnis bewies er mit einem Diamantkernbohrgerät vom Typ Milwaukee 4114. Ein Spezialwerkzeug, verwendet im Hoch- und Tiefbau, bei Sprengarbeiten und bei den Kumpels im Pütt. Seine Maschine, gut einen Zentner schwer, brachte es auf eintausendzweihundert Umdrehungen in der Minute. Genau so lange, um sich acht Zentimeter tief in gewöhnlichen und armierten Beton zu fressen, wie er im Tresorbau verwendet wird. Die Bohrkrone aus einer Legierung von Wolfram und Kobalt, schneidet sauber dicke Zylinder in den Tresorbeton. Ein Dutzend Löcher, präzise und kreisförmig nebeneinandergesetzt, schaffen einen Durchbruch für einen erwachsenen Menschen in Willies Größe. Das Ganze dauert, wenn die Bohrkrone hält, schon ein paar Stunden. Deshalb die Wochenenden.

Willie malochte richtig hart.

Die Polizei musste sich eingestehen, dass außer Computerkriminellen auch der gemeine Bankeinbrecher immer noch existiert und sein Unwesen treibt. Schließlich wurde Willie von einer extra gebildeten Sonderkommission erwischt. Den Rest seiner Beute aus insgesamt sieben Tresoren, die er blöderweise in seiner Garage gebunkert hatte, wurde gefunden. Und plötzlich war Willie so arm wie eine Kirchenmaus.

Unger, der über den Fall in einer juristischen Fachzeitschrift gelesen hatte, war schlicht beeindruckt. Er bot Willie ein Pro-bono-Mandat an und lieferte vor Gericht eine Verteidigung erster Klasse. Es gelang ihm, sehr zum Verdruss des Staatsanwalts, seinen Mandanten vor einer viel höheren Strafe zu bewahren. Schon als Willie in den Knast einfuhr, hatte er ihm den Job als Hausmeister oder besser gesagt – den eines Faktotums angeboten. Nach Verbüßung der Strafe hatte Unger inzwischen zwar seine Anwaltszulassung verloren, aber Willie hat seitdem einen ordentlich bezahlten Job, ist sozialversichert, zahlt seine Steuern und hat sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Er wohnt unten, im ehemaligen Bürotrakt, den Unger in ein Apartment verwandeln, komplett renovieren, mit einem neuen Bad, schicken Möbeln und auf den Fensterseiten mit asymmetrischem Panzerglas ausstatten ließ. Mit Argusaugen wacht Willie über Ungers Eigentum, den ehemaligen Getreidespeicher im Osthafen, in dem sich sein Loft verbirgt. Außerdem kümmert er sich wie ein Butler um Ungers Wohlbefinden, organisiert Wäsche-, Reinigungs- und Cateringservice, sorgt für einen gefüllten Kühlschrank, ist Schutzengel, Bodyguard und Chauffeur. Für seinen Boss würde er sich häuten lassen.

Unger zieht seinen Mantel über und rumpelt mit dem Lastenaufzug nach unten in die Halle. Seinen bulligen Dodge Ram 3500, das viertürige Modell mit fünf Sitzen, die Luxus-Variante mit zweifarbiger Karosserie und Lederausstattung, hatte er schließlich verkauft. Nicht weil das Fahrzeug politisch unkorrekt gewesen wäre – ein Anachronismus, selten genutzt, aber er hatte dieses Ungetüm geliebt – sondern weil damit in der Stadt kaum noch ein Parkplatz zu finden war. Also stieg er auf einen eleganten Bentley Continental GT in British Racing Green um. Ein Wagen, von dem Willie gesagt hatte, er würde besser zu Unger passen.

Das fand Unger auch.

Zwanzig Minuten später stoppt Willie den Wagen an der Einfahrt zum Parkhaus. Unger steigt aus und schlendert die kurze Strecke zum Opernplatz, wo bereits Tische und Stühle im Freien aufgestellt sind und mutige Gäste ihre Gesichter in die milde Frühlingssonne halten. Er erkennt sie sofort, obwohl Augen und ein Teil des Gesichts hinter einer Clubmaster-Sonnenbrille von Ray Ban versteckt sind. Der rote Dufflecoat ist über die Knie gerutscht, die langen Beine sind übereinandergeschlagen. Sie demonstriert wie cool sie ist. Geil.

„Ich bin Wolf Unger“, begrüßt er sie und reicht ihr die Hand, die sie unsicher ergreift.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Unger, dass Sie das Treffen so schnell ermöglichen konnten“, sagt sie steif.

Um das Eis zu brechen, sagt er: „Nennen Sie mich Wolf oder Unger. Niemand sagt Herr Unger zu mir.“

Sie nimmt die Brille ab und blickt zu ihm hoch.

Anfang vierzig, ungefähr eins neunzig groß, circa fünfundneunzig Kilo schwer, schätzt sie. Athletische Figur, kurz geschnittenes Haar, die Schläfen ergraut, markante, maskuline Gesichtszüge, die Lachfältchen scheinen aus besseren Tagen zu stammen. Ein gut aussehender Typ in einem lodenfarbenen Kaschmirmantel, unter dem hellgraue Flanellhosenbeine hervorschauen. An den Füßen trägt er Oxford-Schnürer aus braunem Wildleder. Spontan respektiert sie diesen Mann.

„Nennen Sie mich bitte Sarah.“

Unger setzt sich und winkt die Bedienung zu sich. Er bestellt einen Espresso.

„Lassen Sie mich gleich zu Beginn klarstellen: Sie schildern was Sache ist und was Sie von mir erwarten. Danach entscheide ich, ob ich für Sie tätig werde.“

„Einverstanden“, erwidert sie. „Ich hatte Zeit genug, mich gedanklich vorzubereiten.“

Sie sammelt sich, während sie von Unger gecheckt wird. Mitte, vielleicht auch Ende Dreißig. Attraktiv, sinnliche Rundungen an den richtigen Stellen, honigblonde, sportliche Kurzhaarfrisur, die sie irgendwie intellektuell aussehen lässt. Scheint gut in Form zu sein. Kein Hungerhaken. Kein Typ, der sich an neuen Diäten und Ernährungsmodellen orientiert – low Carb, high Carb, vegetarisch, vegan, ohne Abendbrot, Frühstück auslassen, drei Mahlzeiten, keine Mahlzeit. Nicht jung, nicht faltenfrei. Heller, makelloser Teint. Ovales Gesicht und schmale, etwas zu lange, aber edle Nase. Volle Lippen, Augen in strahlendem Goldbraun, weiter Augenabstand, lange Wimpern und hohe Wangenknochen. Ihn faszinieren ihre Blondheit, der lange Hals, das edle Profil, die glatte Haut. Eine Aura lässiger Kultiviertheit umgibt sie.

„Ich will ganz offen sein“, beginnt sie und reicht ein Foto über den Tisch. „Bernard Schwartz ist nicht mein Mann, sondern mein Bruder.“

Fängt ja gut an, sagt sich Unger.

„Um vor über zehn Jahren einen lästigen Verehrer loszuwerden, heute würde man ihn Stalker nennen, ein Ex-Kunde, hat sich Bernard als mein Ehemann ausgegeben.“ Lächeln. „Das hat wirklich funktioniert.“ Und: „Irgendwann sind wir einfach dabeigeblieben. Vielleicht weil alle geglaubt haben, wir wären Mann und Frau. Vielleicht weil es uns lästig war oder wir zu feige waren, neue Freunde, Bekannte oder Kunden aufzuklären.“ Sie sucht seinen Blick. „Wenn man lange genug mit einer Lüge lebt, hält man die Lüge für die Wahrheit.“ Sie hält kurz inne. „Wir kamen damals aus Hamburg und waren neu in der Stadt.“

Ungers Kaffee wird serviert. Er verrührt ein Tütchen braunen Zucker. Trinkt den kleinen Schwarzen in drei Schlückchen.

Dann blickt er auf das Foto.

Bernard Schwartz im Smoking. Das Foto zeigt ihn bis knapp unter die Knie. Eine der Aufnahmen, die man im Frankfurt Journal in einem Artikel über irgendwelche Kultur-Events findet. Er lächelt charmant in die Kamera, an seiner Seite eine dunkelhaarige Frau im Abendkleid. Ein interessanter Mann. Schlanke, trainierte Gestalt. Kein Bauch. Keine auffallende Ähnlichkeit mit seiner Schwester. Bei intensiver Betrachtung fällt die gleiche Augen- und Haarfarbe auf. Unger schätzt seine Größe auf mindestens eins achtzig.

Ein Womanizer, findet er. Einer dieser Typen, die attraktiv auf Frauen und Männer wirken. Könnte tatsächlich als Sarahs Ehemann oder Geliebter durchgehen.

Ein Lächeln zuckt um ihre Mundwinkel. Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagt sie: „Nein, wir haben kein inzestuöses Verhältnis. Ich bevorzuge andere Männer, mein Bruder andere Frauen.“

Unger lächelt zurück.

„Bernard hat sich auf dem Sekundärmarkt einen respektablen Ruf erworben ...“

„Sekundärmarkt?“

„An- und Verkauf von auf dem Markt befindlichen Kunstwerken. Wir investieren nicht in unbekannte Künstler, wir bringen niemand groß raus und wir haben auch kein Interesse an der Durchsetzung neuer Kunstrichtungen.“

„Verstehe. Kein Risiko.“

Sie nickt. „Auf den Power-Listen der Fachmagazine wird mein Bruder seit Jahren als große Nummer geführt. Ich kümmere mich nicht um die Galerie. Ich bin Kunsthistorikerin, außerdem vereidigte Kunstsachverständige. Mein Bruder ist der Galerist. Er muss kalkulieren, ankaufen, verkaufen, spekulieren und Sammler lange und geduldig begleiten, während ich die Echtheit der Kunstwerke prüfe, zertifiziere und für die Einordnung in kunsthistorische Zusammenhänge sorge.“

Sie schüttelt eine Zigarette aus der Packung auf dem Tisch. Unger lässt sein Zippo klacken und reicht ihr Feuer. Sie inhaliert und stößt den Rauch aus. „Mein Job hat nichts mit intellektuellem Glamour und der Sexiness unternehmerischer Risikobereitschaft, schnellem Geld und Jetset-Leben zu tun. Nach dem Studium habe ich mein Handwerk in Hamburger Museen gelernt und Kontakte geknüpft, die mir heute zugutekommen. In meinem Verständnis ist eine Galerie der Ort, an dem das, was Kunst genannt wird, auch wirkliche Kunst ist.“

„Sie enttarnen Fälschungen ...“

„... und decke Schwindel auf. Anders gesagt, ich erkenne Nachahmungen oder Kopien von Werken anderer Künstler oder Neuschöpfungen in der Art und Technik bekannter Künstler, die in betrügerischer Absicht hergestellt und in den Markt geschleust werden ...“

„Elmyr de Hory“, wirft Unger ein.

Sie nickt. „Ein Fälscher, der es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat. Spezialisiert auf Matisse, Modigliani, Renoir und Picasso. Wussten sie, dass er weltweit mehrere tausend Fälschungen verkauft hat? Es heißt, der Vielproduzierer Picasso hätte seine eigenen Werke nicht mehr von den Nachahmungen Elmyr de Horys unterscheiden können.“ Und: „Ein Millionengeschäft. Laut internationaler Ermittler wird alles gefälscht, was am Markt hohe Preise erzielt. Alte Meister ebenso wie die Klassiker der Moderne. Rund sechzig Prozent der am Markt zirkulierenden Kunst gelten als gefälscht oder falsch zugeschrieben.“

Unger hatte sich sofort nach Schumanns Anruf schlau gemacht. Der internationale Kunstmarkt ist ein Milliardenmarkt. Laut Wikipedia hat er ein Volumen von rund dreiundvierzig Milliarden Euro. Er fragte sich, ob die Werke der American Scene, die in seinem Loft an den Wänden hängen, alle echt sind oder ob sich auch Fälschungen darunter befinden. Es ist ihm egal.

„Meine Eltern waren sehr vermögend“, sagt sie. „Ihre Kunstsammlung bildet die Basis der Galerie.“

„Ihr Bruder“, erinnert er.

„Äh, ja. An einem Montagmorgen vor zwei Monaten, am dritten Februar, erschien Bernard nicht in der Galerie. Er befand sich auch nicht in seiner Wohnung – wir leben in getrennten Apartments im Westend. Heute weiß ich, dass er sich damals bereits in Los Angeles aufhielt.“ Sie drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus. „Sie müssen wissen, dass wir ab und zu davon fantasiert haben, in Südkalifornien zu leben. Nichts Konkretes, nur eine verträumte Spinnerei.“ Sie lächelt. „Dreihundertfünfzig Sonnentage im Jahr, reiche, kunstverrückte Menschen und so weiter – Sie kennen die Klischees.“

Unger nickt. „It Never Rains in Southern California“, zitiert er den Albert Hammond-Song und fügt hinzu: „Das könnte der Grund für seine Reise gewesen sein.“

„Ohne mich zu informieren? Hinter meinem Rücken? Unmöglich. Das ist absurd.“

Unger lässt das mal so stehen, denkt sich aber seinen Teil.

Sarah fährt fort: „Ich überspringe jetzt die unsägliche Zeitspanne der Ermittlungen und Verdächtigungen gegen mich. Ohne Hilfe von Klaus Schumann, hätte ich das kaum durchgestanden.“

Unger kennt sich aus. Er weiß, wie’s läuft. Zuerst wird im familiären Umfeld ermittelt. Inkompetente Ermittler, falsche Verdächtigungen, falsche Spuren, echte werden, wenn überhaupt, zu spät erkannt oder erst dann, wenn sie bereits erkaltet sind. Stress und Frust. Hoffen auf Kommissar Zufall. Dazu kommen mangelnde oder nicht geregelte Zuständigkeiten und Kompetenzgerangel als Folge der komplizierten und äußerst schwierigen Kooperation mit amerikanischen Polizeibehörden.

„Folgendes wurde ermittelt: Bernard hat die Hälfte der Summe auf dem Geschäftskonto – um für interessante Kunstwerke flüssig zu sein, viele Verkäufer bevorzugen aus vielerlei Gründen Bargeld, haben wir immer eine größere Summe geparkt ...“

Unger unterbricht. „Wie groß?“

Sie überlegt, was sie antworten soll. Dann: „Zwischen acht und zehn Millionen Euro.“

Unger pfeift leise durch die Zähne. „Wie viel hat er abgehoben?“

Sie starrt ihn an. „Exakt fünf Millionen in bar. Der Bankmanager wurde angewiesen, die Summe in Fünfhunderterscheinen bereitzustellen. Das entspricht einem Gewicht von circa elf Kilo, bequem in einem Reisekoffer zu verstauen und zu transportieren.“

„Ihr Bruder wollte den Weg des Geldes verschleiern. Er kann die Summe bei einer anderen Bank – in Frankfurt wimmelt es von Geldinstituten – eingezahlt und auf ein Konto überall auf der Welt transferiert haben. Mal abgesehen davon, dass uns diese Bank unbekannt ist und nichts gegen ihn vorliegt, mit seinem eigenen Geld kann er machen, was er will.“

Mit einem Nicken stimmt sie zu. Dann berichtet sie flüssig und konzentriert, ohne von Unger noch einmal unterbrochen zu werden.

Bernard Schwartz flog mit Delta Airlines an einem Sonntag um sechs Uhr dreißig nach Los Angeles, wo die Maschine pünktlich um sieben Uhr vierzig Ortszeit gelandet war. Detectives des LAPD haben ermittelt, dass er sich vom Flughafen mit einem Taxi zum Hotel Bel Air bringen ließ, eincheckte, seine Wertsachen im Hotelsafe deponierte und um die Mittagszeit mit einem anderen Taxi nach Downtown Los Angeles fuhr, in den Business District der Metropole. Der Fahrer gab an, Bernard am Museum of Contemporary Art in der South Grand Avenue abgesetzt zu haben.

Seitdem ist er verschwunden.

In Downtown L.A. hatte er Zugang zu den Metrolink-Vorortzügen, die in der Union Station halten oder zu Fernzügen der Amtrak. Oder zu Stadt- und U-Bahnen der Metro, die an verschiedenen Punkten in der Innenstadt Stationen haben. Darüber hinaus ist der Business District über eine Vielzahl von Stadtautobahnen mit den anderen Teilen der Metropole und mit dem Rest des Landes verbunden. Er hätte überall hin verschwinden können.

Ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

Man wisse nicht, ob er überhaupt im Museum gewesen sei. Sein Name sei den Museumsverantwortlichen nicht bekannt, er hätte mit niemand einen Termin gehabt, hatten die Ermittler mitgeteilt. Die Polizei würde eh glauben, dass er sich mit dem Geld aus dem Staub gemacht hätte. Vielleicht würde eine dunkle Affäre mit einer geheimnisvollen Unbekannten dahinterstecken, hätte einer der Cops geäußert. Ja, das wäre möglich. Sie hätten keinen permanenten privaten Kontakt, jeder würde sein eigenes Leben leben und Urlaube getrennt verbracht werden. Ab und zu wären sie gemeinsam bei Sammlerbörsen, Kunstmessen, Auktionen oder Vernissagen aufgetreten. Aber sie glaube nicht, dass ihr Bruder eine solche Affäre vor ihr hätte verbergen wollen oder können. Der Safe im Bel Air sei nur mit richterlichem Beschluss zu öffnen. Er sei versiegelt, der Inhalt unberührt, endet sie und zuckt hilflos die Schultern. Sie sucht seinen Blick. „Über Sie und Ihre – äh – Aktivitäten wurde ich in groben Zügen von Klaus Schumann unterrichtet. Er sagt, Sie waren früher als Anwalt tätig, haben Ihre Zulassung verloren und arbeiten seitdem als Privatermittler. Dass Ihre Arbeit ein weites Feld an diversen Tätigkeitsbereichen umfasst. Er ist nicht konkret geworden.“ Dann blickt sie ihn mit intensiven Augen an. „Klaus sagt, Sie sind der Beste. Wenn mir jemand helfen kann, dann Sie.“

Unger wittert ein Abenteuer. Nach seinem letzten Fall war er wieder in seinen alten Trott verfallen. Nächtliche Streifzüge durch Frankfurts Bars und Kaschemmen. Trinken mit Zufallsbekanntschaften und Kreaturen der Nacht. Essen in Frankfurter Gourmettempeln mit Frauen, die er in irgendeiner Bar aufgerissen hatte. Und die nichts gegen einen One-Night-Stand hatten. Wird Zeit, deine Lethargie abzuschütteln, sagt er sich, du brauchst einen Kick – Nervenkitzel, Vergnügen, Spaß, Risiko, Action – alles, was deinem Leben wieder Sinn gibt.

„Du bist ein Adrenalinjunkie“, hatte Helen einmal spöttisch gesagt, „süchtig nach Stress und Gefahr. Du brauchst das inszenierte Drama ...“ – sie hatte einen Moment gezögert und dann frustriert hinzugefügt – „... und was Frauen betrifft, den leidenschaftlichen Fehltritt, den konsequenten Reinfall.“

Unger gehört zu den Menschen, die sich in Extremsituationen immer wieder neu beweisen müssen. Der Stress gefährlicher Aktivitäten ist Teil seines Lebensgefühls und seiner Identität. Trotzdem: Er sucht diesen Effekt nicht, um sich lebendig zu fühlen, er ist nicht süchtig. Was Frauen betrifft, hatte Helen wahrscheinlich recht, musste er sich damals eingestehen. Aber: Menschen können sich ändern. Das ist ihre große Stärke und begründet vielleicht die hohe Überlebensfähigkeit auf dem Planeten Erde. Unger kann seinem Leben jederzeit eine neue Richtung geben. Er hat es schon einmal getan. Damals, als er nicht nur seine Anwaltszulassung, sondern sein gesamtes bisheriges Leben verloren hatte und bis zum Hals in Scheiße steckte. Jetzt gibt es allerdings keinen Grund für Veränderungen. Wenn alles glattläuft, hat man wenig Anlass, etwas zu verändern. Warum auch?

„Wenn der Rechtsstaat am Ende ist, komm ich ins Spiel“, sagt er zu Sarah. „Ich verhelfe meinen Mandanten zu ihrem Recht. Ich sorge für Gerechtigkeit und Vergeltung.“ Und: „Ich glaube nicht an Rechtssysteme, sondern an Gerechtigkeit. Wahre Gerechtigkeit ist etwas sehr Persönliches. Und die muss man sich manchmal mit eigenen Händen holen.“

Sie nickt. „Werden Sie mir helfen?“

„Was erwarten Sie von mir?“

„Ich bitte Sie, mit mir nach Los Angeles zu fliegen. Helfen Sie mir, die Sache aufzuklären. Finden Sie meinen Bruder.“ Sie stockt kurz, ihr Blick verschleiert sich. „Tot oder lebendig.“

Pause.

Sie kramt in ihrer Tasche und schiebt einen A4-Umschlag über den Tisch. „Eine notariell beglaubigte Vollmacht zum Öffnen des Safes in Englisch für einen Richterbeschluss in den USA.“ Und: „Schumann sagt, Sie werden im Voraus bezahlt. Nennen Sie mir eine Summe.“

Er nennt eine Zahl.

Sie zuckt noch nicht einmal mit der Wimper.

Er schiebt ihr sein Smartphone zu. „Egal wie die Sache ausgeht, ob ich Erfolg habe oder nicht, Sie überweisen die genannte Summe auf mein Konto.“

Auf dem Display erkennt sie die Koordinaten. „Okay“, sagt sie, tippt auf das Tastenfeld ihres Handys und nimmt die Überweisung vor. Sie blickt auf. „Erledigt.“

Unger nickt.

Wieder sucht sie seinen Blick. „Waren Sie schon einmal nicht erfolgreich?“

„Nein“, sagt er kalt.

Sie gibt sich einen Ruck. „Sollte Bernard einem Gewaltverbrechen ...“ Sie unterbricht sich selbst. „Ach, Scheiße!“ Dann bringt sie’s auf den Punkt. „Sollte man ihn ermordet haben, bitte ich Sie, den Fall aufzuklären und den oder die Täter zu finden. In diesem Fall wird Ihr Honorar verdoppelt.“

Unger nickt wieder. Sagt nichts.

Wusste ich’s doch, denkt er, da steckt mehr dahinter, als sie jetzt zuzugeben bereit ist.

„Wann fliegen wir?“

„Morgen“, erwidert Unger.

3

LOS ANGELES, KALIFORNIEN, USA.

„Oh, ich habe nicht gewusst, dass Sie Kunstsammler sind. Ich dachte, Sie sammeln nur Leichen.“ Cary Grant als Roger O. Thornhill in „Der unsichtbare Dritte.“

In der Ankunftshalle des Los Angeles International Airports werden sie bereits von Peter Leland erwartet, Ex-Special Agent des FBI – der vom Aussehen an den deutsch-irischen Schauspieler Michael Fassbender erinnert, wäre Fassbender zehn Zentimeter größer und hätte er breitere Schultern – jetzt Chef der Los Angeles Filiale der Global Investigations Agency. Hinter Peters angenehmen Äußeren verbirgt sich der knochenharte Ex-Field Agent, als der er jahrelang im Einsatz war. Unger hatte ihn angerufen und darum gebeten, sich bei dem leitenden Detective des LAPD, Abteilung Special Investigation Section, über den Fall zu informieren und mit der gemailten Vollmacht den Richterbeschluss zu besorgen. Peter, der Unger einen ganzen Sack voll Gefälligkeiten schuldet, hatte sofort seine Unterstützung zugesagt.

Unterwegs in seinem wuchtigen, schwarzen Cadillac Escalade SUV, ausgestattet mit allerlei Hightech-Schnickschnack, berichtet er von Joe Leland, seinem Vater, der die Leitung der New Yorker Agency endlich auch offiziell an Peters Schwester Natalie abgegeben hat, aber immer noch als so genannter Berater im Hintergrund die Fäden zieht.

Damit hätte er die mafiösen Strukturen seines Unternehmens entlarvt, hatte Unger damals ironisch zu seinem Mentor gesagt. Als Consigliere würde er als Stabsstelle des Oberhauptes der Familie fungieren, auch wenn er in der Regel keine direkte Kommandogewalt mehr ausüben würde.

Fick dich, war Joe Lelands Antwort.

Obwohl Leland seine Kundenliste wie ein Staatsgeheimnis hütet, hat Unger Kenntnis davon, dass die Global Investigations Agency in Los Angeles ihre Aufträge hauptsächlich von der Film- und Musikindustrie bekommt. Überwachungs- und Sicherheitssektor, Personenschutz, Aufklärung sexueller Erpressung und Nötigung der Film- und Rockstars sowie Produktpiraterie gehören zu ihren Spezialgebieten.

Zu den New Yorker Kunden zählen Kreditkartenunternehmen, das Finanzministerium der Vereinigten Staaten, diplomatische Vertretungen, das NYPD und Dienste, die so geheim sind, dass nur der Sicherheitsausschuss des US-Senats Kenntnis von ihrer Existenz hat.

Leland beschäftigt erstklassige Ermittler. Viele davon Ex-Kollegen oder Ex-Militärs. Profis für Computersicherheit, Computer-Forensiker und Hacker, Überwachungs- und Waffenspezialisten sowie eine Armee von freien Bodyguards. Außerdem hat seine Firma Zugriff auf alle möglichen offiziellen und inoffiziellen Datenbanken.

Legal und illegal.

Peter fährt über den Sunset Boulevard und biegt in die Stone Canyon Road. Schließlich parkt er vor dem legendären Bel-Air Hotel. Das Gepäck wird über eine kleine Steinbrücke gekarrt, die sich über einen Teich mit weißen Schwänen spannt. Das Hotel, ein pinkfarbenes Gebäude im spanischen Kolonialstil mit roten Ziegeldächern und Glockenturm, befindet sich inmitten einer tropischen Oase am Ende eines Canyons. Überwucherte Pflasterwege führen durch einen üppigen Dschungel aus Pflanzen, Blüten und Bäumen. Darunter eine zweihundertjährige kalifornische Eiche, Redwoodbäume, Baumfarne, Platanen, Ahornbäume sowie Bougainvillea und wilde Reben. Um Sträucher und Bäume mit Pfirsichen, Zitronen, Orangen und Aprikosen schwirren Kolibris. Überall sind rieselnde Steinbrunnen versteckt und der ovale Swimmingpool gleicht Tarzans im Dschungeldickicht verborgenem Privatteich. Die holzvertäfelte Bar ist ein Trinkerparadies mit Club-Atmosphäre und von der Restaurant-Terrasse schaut man durch große Steinbögen auf die botanischen Gärten.

Das Hotel ist ein Refugium, das die Seele durch seinen sanften Charme beruhigt. Unger fühlt sich, als würde er nach dem langen Flug in eine Welt von Frieden und Gelassenheit eintauchen.

Die Suiten, Unger hat zwei nebeneinanderliegende gebucht, gleichen privaten Unterkünften auf dem Anwesen eines sehr reichen Freundes. Terrakottaböden, spanische Möbel, Bäder aus Alicante-Marmor und luxuriöse, italienische Bettwäsche. Jede Suite mit offenem Kamin, Terrasse und Gartenblick. Der Gepäckboy stellt Ungers schwarzen Titan-Koffer ab. Zeigt diverse Licht- und sonstige Schalter und erklärt die Funktion von TV, Stereoanlage, Air Condition, iPhone Dockingstation und der schicken, italienischen Espressomaschine. Er kassiert sein Trinkgeld und schwirrt ab.

Peter, der Single ist, lebt ganz in der Nähe des Hotels. Sein Bungalow, versteckt hinter akkurat geschnittenen Hecken, schmiegt sich in der üppigen Chaparral-Vegetation an die hügeligen Ausläufer der Santa Monica Mountains.

Zehn Minuten später treffen sie sich mit dem Hotelmanager vor dem Saferaum, der an den Schließfächerbereich einer Bank erinnert. Unger und Peter warten diskret vor der Tür, während Sarah die Schatulle ausräumt und den Inhalt in ihrer riesigen Hermès-Umhängetasche verstaut.

Als sie wiederauftaucht, zeigt Unger auf die Tasche. „Warum reden wir nicht bei einem späten Frühstück über alles?“

Sarah zeigt einen nachdenklichen Gesichtsausdruck.

Sie nickt.

Auch Peter stimmt zu.

Beim weiblichen Maître d' am Eingang zum Terrassenrestaurant verlangt Unger drei Plätze und weist auf einen Tisch am Rand, direkt vor duftenden Büschen, die sich in der angenehm kühlen Brise wiegen, die vom Pazifik herüberweht.

Er entscheidet sich für Huevos Rancheros – Maistortillas und Spiegeleier, schwarze Bohnen, Ranchero Salsa, Guacamole, Avocado, Speck sowie Cotija Käse. Sarah nimmt frische Früchte und Grapefruit Granita und Peter bestellt Eggs Benedict – pochierte Eier auf Röstbrot, gebackener Schinken und Béchamelsauce.

Dann berichtet Peter über sein Gespräch mit Lieutenant Alfonso Rios vom LAPD, der die Ermittlung führte. Nicht besonders engagiert, wie er bemerkt. Wen kümmert schon ein Deutscher, der in L.A. verschwindet. Hier werden täglich hunderte von Menschen als vermisst gemeldet. Die meisten tauchen nie wieder oder als Leichen auf. „Das Gespräch brachte keine neuen Erkenntnisse“, endet er.

Unger blickt fragend zu Sarah.

Aus ihrer Handtasche packt sie die Sachen aus dem Schließfach auf den Tisch. In gepflegtem Britischen Englisch sagt sie: „Reisepass fehlt, aber hier sind Flugticket und Schlüsselbund, eine Quittung, vermutlich aus Versehen im Safe gelandet – und das hier.“ Sie reicht Unger einen dicken, prall gefüllten gelben Manilaumschlag. Darin erkennt er drei Bündel Euroscheine. Hunderter, Zweihunderter und Fünfhunderter. Jedes Bündel mit einem Gummiband umwickelt. Er hält den Umschlag auf dem Schoß. Verdeckt von der Tischkante blättert er die Scheine durch.

„Fünfzigtausend, grob geschätzt“, sagt er und will ihr den Umschlag zurückgeben, verharrt und zieht seine Hand zurück. Er klappt noch einmal die Lasche hoch. Auf der Innenseite steht mit rotem Filzstift, auf dem gelben Untergrund kaum erkennbar, das Wort Kelso.

„Kelso.“ Unger blickt in die Runde. „Was zum Geier bedeutet Kelso?“ Und zu Sarah: „Ist das die Handschrift Ihres Bruders?“

„Ja, scheint so.“ Sie zuckt ratlos die Schultern. „Kelso? Bei mir klingelt‘s nicht. Hab ich noch nie gehört.“

Peter googelt das Wort mit seinem Smartphone. Er sagt: „Einer der wenigen wirklichen Vorzüge dieser Dinger, man drückt ein paar Knöpfe und fischt Fotos und Informationen aus dem Netz.“ Und: „Kelso ist ein Ortsname in Schottland, Neuseeland und Südafrika. Außerdem in elf US-Bundesstaaten, darunter eine Geisterstadt in Kalifornien.“

Unger: „Wo liegt die Geisterstadt?“

„Etwa zweihundert Meilen von hier, im Mojawe National Preserve, einem Nationalpark in der Wüste.“

„Die Quittung“, sagt Unger und klaubt den Zettel vom Tisch. „Adventure Outdoor & Travel Outfitters“, liest er. „Bernard hat Wanderjacke und Socken, Trekkingstiefel, Taschenlampe mit Ersatzbatterien, etliche Kleinigkeiten, darunter Kompass und Wanderkarte sowie einen leichten Rucksack gekauft.“ Er hebt den Kopf. „Sieht aus, als wollte er eine Wanderung machen.“

„Vielleicht im Nationalpark?“, fragt Peter, tippt eine Kurzwahltaste und hält sein Handy ans Ohr. Er spricht mit der Agency. Dann wendet er sich an Sarah. „Haben Sie ein Foto ihres Bruders auf Ihrem Handy gespeichert?“

Sie nickt.

„Ich sende euch eine WhatsApp mit meinen Koordinaten. Ihr schickt mir eure. Und Sie, Sarah, hängen Bernards Foto an, das ich meinen Leuten schicke, die dem Outdoor-Shop einen Besuch abstatten werden.“ Zu Unger: „Wie ist die Adresse?“

Unger schiebt ihm die Quittung zu. Er schüttelt den Kopf. „Die Geschichte wird immer rätselhafter.“ Und zu Sarah: „Sie sollten zusätzlich Peter und seinen Verein engagieren. Wir brauchen Unterstützung und Hilfe vor Ort.“

Sarah nickt. „Mister Leland ...“

„Nennen Sie mich Peter“, wirft er ein.

„... ich möchte Sie und Ihre Agency engagieren ...“

„Einverstanden“, erwidert Peter sofort.

Sie blickt zu Unger. „Das hatten Sie doch von Anfang an geplant“, stellt Sarah fest. „Oder?“

„Stimmt“, sagt Unger. Er blickt auf seine Armbanduhr. „Bevor mich jetzt massive Jetlag-Depressionen übermannen, leg ich mich aufs Ohr.“

Er steht auf und wendet sich zum Gehen, als er Peter sagen hört: „Ich habe einen Tisch im Grill on the Alley in Beverly Hills reserviert, einem deiner bevorzugten Restaurants.“ Und zu Sarah: „Wolf ist bekennender Carnivore. Mögen Sie Steak?“

„Sechs Uhr an der Hotelbar“, sagt Unger über die Schulter, wartet keine Antwort ab und trollt sich.

4

Als Unger, der beim Rasieren die Zeit vertrödelt hat, in der Bar auftaucht, halten Sarah und Peter bereits Drinks in den Händen. Um sie herum tummelt sich die übliche Horde aus Starlets und Mietmuschis, Banker, Anwälte, Media und Marketing, Produzenten, Regisseure und Autoren sowie Hollywood-Studio-Executives beiderlei Geschlechts. Aus der aufgetakelten, von Bulimie geplagten Tussen-Show, die sich vor dem Tresen drängelt, einem Potpourri aus Geschmacklosigkeiten, den neusten Trends in Sachen bescheuerter Mode, Schönheitschirurgie und falschen Titten, sticht Sarah angenehm hervor. In einem körperbetonten tintenblauen Kostümblazer, als würde er auf der nackten Haut getragen – Unger kann keine BH-Konturen erkennen – Hose in der gleichen Farbe und schwarzen High Heels, wirkt sie noch größer und verdammt sexy. Peter trägt die Uniform der Angelenos: Polohemd – seines ist grün – darüber einen blauen Leinenblazer, Khakihosen und braune Penny Loafer. Unger steckt in einem lässig zerknitterten olivgrünen Leinenanzug, darunter ein weißes Button-Down-Hemd von Brooks Brothers, die Füße sockenlos in sandfarbenen Sattelschuhen mit roten Gummisohlen.

Er bestellt einen Manhattan-Cocktail mit Rye Whiskey und drei Maraschino-Kirschen, prostet den beiden zu und nippt an seinem Drink.

„Mir geht der Fall des verstorbenen Cornelius Gurlitt nicht aus dem Kopf“, sagt er dann und klärt Peter über die unsägliche Story der über tausendfünfhundert gefundenen und als verschollen gegoltenen Kunstwerke auf. Das Erbe, das Gurlitts Vater, der mit den Nationalsozialisten kollaborierte, aber auch zahlreichen Künstlern aus Notlagen half, wenn auch mit einer gehörigen Portion Eigennützigkeit, seinem Sohn hinterlassen hatte. „Die Behörden sind von einer vernünftigen Lösung immer noch Lichtjahre entfernt.“

„Du glaubst ...“ setzt Peter an.

Unger lässt ihn nicht ausreden. „Könnte es sein, dass Bernard über seine Kontakte, sein fein gesponnenes Netzwerk in der internationalen Kunstszene, auf einen Schatz wertvoller Gemälde von bedeutenden Künstlern gestoßen ist? Wenn ja, wollte er diesen Schatz erwerben? Waren dafür die fünf Millionen Euro gedacht? Oder war die Summe nur eine Anzahlung? Warum hat er fünfzigtausend Euro im Hotelschließfach aufbewahrt?“ Er blickt zu Sarah. „Warum hat er mit Ihnen, seiner Vertrauten und Partnerin, nicht darüber gesprochen? Weil es sich um illegale Kunstwerke handelt? Vielleicht um Raubkunst?“

Sarah starrt ihn an. Sagt nichts.

„Und was hat diese verdammte Geisterstadt Kelso damit zu tun?“ Zu Peter gewandt: „Es ist kein Geheimnis, dass sich deine Landsleute gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ganze Waggons voller Kunstschätze angeeignet haben. Oft bemühte man sich allerdings nicht besonders, sichergestellte Nazibeute den ursprünglichen Besitzern zurückzugeben.“

Peter: „Du glaubst doch nicht die Legenden über GIs, die zu Hause einen Max Beckmann, Paul Klee oder Piet Mondrian an der Wand hängen haben, vielleicht ohne wirklich zu wissen, um was für Schätze es sich handelt?“

Unger zuckt mit den Schultern.

„Vielleicht keine einfachen GIs“, sagt Sarah, „aber höhere Offiziere mit entsprechender Bildung im Umfeld des damaligen Office of Military Government for Germany – der amerikanischen Militärregierung – oder Mitglieder der Sonderkommission MFAA – Monuments, Fine Arts, and Archives Section, die für nationalsozialistische Raubkunst zuständig waren. Ist das so abwegig?“ Sie nippt an ihrem Glas und gibt sich dann selbst die Antwort. „Nein. Vielleicht wurden damals Gemälde in der Hoffnung entwendet, irgendwo ließe sich dafür am riesigen grauen Markt schon ein Käufer finden. Bis die illegalen Besitzer feststellen mussten, dass die meisten Werke unverkäuflich sind. Sie werden vergessen, die Besitzer sterben, Erben kennen den Wert nicht und irgendwann landen wertvolle Bilder vielleicht sogar auf dem Müll. Oder die Täter lassen sich viel Zeit, bevor sie gestohlene Kunstwerke irgendwann wieder zurückgeben oder verkaufen – bis zur Verjährung der Tat.“

Peter schaut auf seine Armbanduhr. „Wir müssen los. Lasst uns beim Essen weiterreden.“

Kurze Zeit später biegt er vom Wilshire Boulevard in den Dayton Way, stoppt vor dem Restaurant und übergibt die Autoschlüssel einem Latino vom Parking Service. Lärm brandet ihnen entgegen. Der Laden ist gerammelt voll. Unter gerahmten Fotos der Hollywoodgrößen – Stars, Agenten, Studiobosse – nehmen sie an einem runden Tisch an der Wand Platz. Mahagoni und Leder, Stars and Stripes-Banner, Cattle- und Americana-Devotionalien, Power und Testosteron. Kein Schnickschnack. Kein Schickimicki. Als wäre man in der Zeit zurückgereist.