Kinder der Bounty - Werner Dr. Lippmann - E-Book

Kinder der Bounty E-Book

Werner Dr. Lippmann

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Beschreibung

1904 besucht eine Schulklasse die südenglische Hafenstadt Littletown, um das neue Museumsschiff Bounty zu besichtigen. Auf zauberhafte Weise erfahren sie, dass Codo, ein Killerkomet, sich in 99 Tagen auf die Erde stürzen und sie vernichten will. Nur der Blaue Kristall besitzt die magische Kraft, ihn aufzuhalten. Er befindet sich auf einer Südseeinsel. Kurzerhand kapern die Kinder die Bounty und segeln in die Südsee, um den Kristall zu suchen. Bis sie ihn finden, erleben sie spannende und aufregende Abenteuer. Auf der Rückreise verlieren sie Zeit durch eine Flaute, müssen mit Kannibalen um Trinkwasser kämpfen und eine Meuterei überstehen. Aber noch ist die Erde nicht gerettet. Ein tödlicher Sturm bei Kap Hoorn muss auch noch überlebt werden.

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Werner Lippmann

Kinder der Bounty

  Ein Kinderabenteuerroman 

frei nach Motiven des gleichnamigen Musicals von Heinz Oskar Preibsch und Werner Lippmann

Illustration: Heinz Oskar Preibsch

Inhalt

Vorgeschichte

Littletown

Im Internat

Das Hafenfest

Codo

Die Entführung

Segeltraining

Auf großer Fahrt

Nakarangar

Der Höhlensee

Flaute

Meuterei

Auf der Kannibaleninsel

Rückfahrt

Orkan

Heimkehr

Hallo meine jungen Freunde!

Dem Vorwort meiner Geschichte sollte ich nicht mehr all zu viel Zeit einräumen, denn ich bin alt.

Sehr alt.

Mein Name ist Alfred Ferdinant.          

Meine Freunde nennen mich Freddy.

Manchmal bin ich müde, matt, krank und zuweilen denke ich darüber nach, welches Abenteuer wohl jenseits des Lebens auf mich lauert. Aber noch ist es nicht soweit!

Mein Herz schlägt und mein Gehirn funktioniert wie eine gut geölte Dampfmaschine. Meine einst starken Muskeln verrichten ihre Arbeit noch ganz leidlich. Etwas langsamer, als ich es mir wünsche, aber sie geben sich viel Mühe, mich weiter durchs Leben zu begleiten.

Jeden Tag zur Tea Time sitze ich im Lehnstuhl am Fenster und schaue hinunter zum Hafen von Littletown. Dort liegt, neben vielen anderen Schiffen, dieBounty. Das wohl berühmteste Schiff Englands

Es ist nicht die originale, sondern ein exakter Nachbau der echten Bounty. Seetüchtig und von einer Qualität, wie man sie heute nicht mehr findet. Vor vielen Jahrzehnten wurde das Schiff gebaut, weil man in Littletown ein Museum errichten wollte, um die Geschichte der Bounty lebendig zu halten. Eine Geschichte, die jedes Kind in England kennt.

Was damals passierte, ist schnell erzählt. Die Bountystach vor über zweihundert Jahren in See, um in der Südsee eine Ladung Brotfruchtsetzlinge von Tahiti auf die Antillen zu bringen. Das Kommando über die Bounty hatte Captain William Bligh. Er galt zwar als guter Kapitän, aber  hatte damals schon den Ruf, ein äußerst brutaler Mann zu sein, der seine Schiffe unerbittlich und mit harter Hand führte. Er wusste genau, dass die Strapazen einer Seereise nur mit eiserner Disziplin und unbedingtem Gehorsam zu bewältigen waren. Hitze, Stürme, die schwere Arbeit der Seemänner, die Enge des kleinen Schiffs konnten schnell zu schlechter Stimmung führen, zu Missmut und auch gewaltsamen Auseinandersetzungen bis hin zu Meuterei. Bligh bestrafte jeden Ungehorsam, jeden kleinsten Fehler, jede Disziplinlosigkeit mit Auspeitschungen und Demütigung. Als die Bounty in eine Flaute geriet, zwang der Captain die Mannschaft, den ganzen Tag an Deck zu tanzen, um sie, wie er es nannte, bei Laune zu halten. Kurz, Seefahrt war damals kein Zuckerschlecken. Und auf der Bounty erst recht nicht. Je länger die Reise dauerte, desto härter wurden die Strafen, die Bligh verhängte.

Aber da war ja Tahiti. Vier Wochen lang belud man die Bounty mit den Setzlingen der Brotfruchtbäume. Vier Wochen lebten die Matrosen wie im Paradies. Sie freundeten sich mit den schönen Südseefrauen an, aßen und tranken wohlschmeckende Dinge, die sie vorher nicht kannten. Genossen Tag für Tag das süße Leben und die Freiheit der Insel. Und vergaßen fast, dass sie wieder zurück nach England mussten. Zurück auf die Bounty. Es gab einen tränenreichen Abschied. Dann hatte sie das Meer wieder und die  Peitsche des William Bligh. Schon nach einigen Tagen hatten die meisten der Matrosen endgültig genug von ihrem Captain. Sie stürmten die Waffenkammer des Schiffs und übernahmen das Kommando. Setzten Captain Bligh mit den wenigen, ihm treu Gebliebenen kurzerhand in ein Ruderboot und segelten zurück nach Tahiti. Luden dort einige Frauen und Kinder ein, mit ihnen zu kommen. Da auf Meuterei die Todesstrafe stand, galt es, sich gut zu verstecken. Sie segelten, bis sie die damals unbewohnte Insel Pitcairn fanden. Dort wurde die Bounty abgebrannt, um unentdeckt zu bleiben. Man heiratete, bekam Kinder und noch heute leben Nachfahren der damaligen Meuterer auf der kleinen Insel.

Captain Bligh musste mit seinen Begleitern 3600 Seemeilen rudern, ehe das erste Mal Land in Sicht kam. Ein Jahr nach der Meuterei erreichte er England, wurde als Held gefeiert und für seine seemännische Leistung sogar befördert. Über sein brutales Regime redete niemand. Die Geschichte der Meuterei auf der Bounty aber ist bis heute in Englands Gedächtnis gespeichert.

Täglich kommen Heerscharen von Touristen, Schulklassen und Kinder nach Littletown, um das Schiff mit eigenen Augen zu sehen. Und so manch einer ist wohl unter ihnen, der einmal über das Schiff läuft und dann meint, die Bounty zu kennen.

Aber nur ich kenne dieses herrliche, dreimastige Segelschiff dort unten im Hafen wirklich. Ich weiß mehr darüber als jeder andere. Ich höre das typische Knarren des Holzes, wenn ich sehe, wie sich das Schiff sanft im Wind wiegt. Jede einzelne Planke ist mir vertraut.

Wenn die Besucher wüssten, dass ich vor vielen, vielen Jahren nicht nur bei der Einweihung dabei war, sondern es auch entführt habe. Zwölf Jahre war ich damals. Und bin mit meinen Klassenkameraden um den halben Erdball gesegelt. Und, glaubt es, oder glaubt es nicht - wir haben mit dieser Reise die Welt gerettet.

Vorgeschichte

Alles begann im Jahr 1904 an einem heißen Augusttag. Unsere Klasse war frühmorgens vom Internat in Sussex aufgebrochen,  zum Bahnhof gefahren und hatte den Zug Richtung meiner Heimatstadt Littletown bestiegen.

Es ging durch grüne und sanfte, hügelige Landschaften, vorbei an kleinen Dörfchen mit kleinen Bahnhöfen, vorbei an Feldern und Weiden mit Kühen, Schafen, Pferden und manchmal auch Gänsen. Der gleichmäßige, ratternde Rhythmus der Waggons, nur gelegentlich unterbrochen vom Pfeifsignal der schnaufenden Lokomotive, hätte durchaus zu Schläfrigkeit führen können. Schließlich hatten wir vor Aufregung in der Nacht davor kaum ein Auge zu getan. Doch die Aufregung hielt an und wir waren hellwach. Unsere Klassenkameraden alberten und tobten aufgedreht durchs Abteil. Mein Freund Willy und ich hatten uns abseits gesetzt. Still und gespannt schauten wir aus dem Fenster. Unsere Blicke registrierten jedes Bahnhofsschild, in der Hoffnung, bald die ersten, uns bekannten Ortsnamen zu entdecken.                                                                                   

„Na, Alfred Ferdinant und Willy Jenkins, schlafen wir etwa?“, fragte unsere Klassenkameradin Linda, indem sie den näselnden Ton unserer Klassenlehrerin nachäffte.                                                             

„Bevor ich schlafe, fällt Weihnachten auf Ostern“, antwortete ich. Blöde Gans. Wenn die wüsste, wie gespannt und voller Freude wir waren. Bald würden wir die ersten Häuser unserer Stadt sehen. Der Bahnhof wäre der schönste der Welt, besseres Wetter gäbe es nirgendwo und selbst der Gestank der Pferdeäpfel unter den wartenden Kutschen würde großartig sein.

Wir hätten das vermaledeite Internat hinter uns gelassen und wären wieder zu Hause.

Es war keinen Monat her, dass Miss Cool eines Morgens wie immer das Klassenzimmer betrat. Sie hatte, auch wie immer, ihren Mantel über den alten, abgewetzten Stuhl und den kleinen grünen Hut auf den Haken an der Wand gehängt. Aber es war irgendwie nicht wie immer. Ihr Gesicht war ernster als sonst, es verriet einen gewissen Stolz. Als wir uns nach der Begrüßung gesetzt hatten, hielt sie einen großen Briefumschlag mit einem Wappen und einem Siegel hoch.

„Wir haben Post, Herrschaften.“

Sie trug den Umschlag durch die Klasse, damit auch jeder sah, dass Wappen und Siegel die des britischen Königshauses waren.

„Ich halte hier eine Einladung Ihrer Majestät zur Einweihung und Besichtigung  des Museumsschiffes Bounty in den Händen.“

Wir schauten uns fragend an. Ihre Stimme zitterte leicht und wir befürchteten schon, dass sie vor lauter Rührung heulen würde. Das kannten wir von unserer sonst so beherrschten und strengen Lehrerin nicht.

„Es geht um eine Klassenfahrtfahrt nach Littletown, im Südosten unseres Landes gelegen. Dort hat man die Bounty nachgebaut und wird sie in drei Wochen feierlich einweihen.“

Der Rest ihrer Ansprache ging im Rauschen meiner Ohren unter. Es war mein Blut, das mir zu Kopfe stieg. Jeder Herzschlag  pochte auf meine Trommelfelle. Ich schaute zu Willy hinüber. Der glotzte mich aus großen Augen entgeistert an. Littletown!!!

Die nächsten drei Wochen waren Willy und ich die besten und bravsten Schüler der Welt.

Littletown

Wir wuchsen in Littletown auf und der Hafen war der Mittelpunkt des kleinen Städtchens. Es roch nach Meer, Teer und Fisch. Manchmal duftete es auch nach Tabak, Kaffee und unbekannten Gewürzen. Wenn die Kräne die Ladung aus den Bäuchen der Überseeschiffe bissen und die Pferde fuhrwerke und Eisenbahnwaggons mit all den Handelswaren beluden.

Wir sahen die Schiffe einlaufen und wir sahen sie auslaufen.

Mit weißen Tüchern winkten Frauen ihren Männern zu, bevor der Dampfer oder das Segelschiff die lange Reise antrat. Die Männer standen an der Reling. Sie wirkten oft, als würde ihnen der Abschied von ihren Frauen und Kindern kaum etwas ausmachen. Abschied und langes Fortbleiben gehörten zum Alltag der Seeleute. Es war ihr Beruf.

Der Hafen war unser Hafen.

Willy und ich trieben uns so oft es ging dort herum und schauten dem emsigen Treiben zu. Was für eine wundervolle Welt. Es war völlig klar, dass wir irgendwann ebenfalls die Meere befahren würden.

Besonders angetan hatten es uns die bärtigen Seemänner mit ihren derben, zupackenden Händen. Wenn sie mit leicht schwankendem Schritt von Bord kamen, ihre Seesäcke über den Schultern, vom Kautabak braunen Speichel ausspuckten und meist nach Schnaps rochen, ging etwas Übermütiges von ihnen aus. Sie waren laut und albern. Versammelten sich in kleinen Gruppen am Kai und berieten, wo sie ihre Ankunft in der Heimat gebührend feiern sollten. Meist zogen sie laut singend und unternehmungslustig in die nächste Hafenkneipe. Dann waren die Pubs und Tavernen zum Bersten voll. Als hätten es die Matrosen eilig, ihre schwer verdiente Heuer in Rum und Bier umzusetzen.

Zuvor aber galt es, ein Problem zu lösen. Die Wirte lehnten es ab, die schweren Leinensäcke, in denen sich die Habseligkeiten der Seeleute befanden, in ihren Kneipen zu lagern. Sie brauchten einfach zu viel Platz und standen immer im Wege. Also zogen die Männer erst einmal zum nächsten Seemansheim, um ihr Gepäck loszuwerden. Kamen sie zurück, waren die besten Plätze in den Gaststuben besetzt. Das machte sie sehr verdrossen und führte zu manch handfester Rauferei.

Als es wieder einmal besonders hoch her ging, hatte Willy eine Idee. Warum nicht eine Transportfirma gründen? Wenn wir für den Transport der Seesäcke sorgen würden, kämen die Seeleute schneller an die begehrten Kneipenplätze. Geld konnten wir brauchen, denn Willy und ich waren eigentlich immer pleite.

Mit Feuereifer begannen wir, die Idee umzusetzen. Das erste und entscheidende Problem war: Wir besaßen keinen Transportkarren. Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Auch da wusste Willy Rat. Sein Vater war der Hafenmeister von Littletown. Herr über ein Gelände an den Kais, auf dem es alles gab, was fürs Beladen und Entladen benötigt wurde. Remisen mit unzähligen Transportkarren, Stallungen für die Pferde, Kräne, Lagerhallen und Werkstätten für anfallende Reparaturen. Willy meinte, da würden wir „finden“, was wir brauchten.

Wir trafen uns nachts. Willy hatte den Schlüssel für das Gelände von seinem Vater „geborgt.“

Es regnete Strippen. Dicke, schwere Tropfen prasselte nur so auf uns herab. Willy öffnete das große Tor zur Hafenanlage. Wir schlichen uns an der hell erleuchteten Bude vorbei, in der die zwei Nachtwächter bei Rum und Würfelspiel saßen. Von ihnen ging keine Gefahr aus. Sie würden sich hüten, bei diesem Wetter ihre warme und trockene Hütte grundlos zu verlassen.

Irgendwann erreichten wir die Pferdeställe. Gleich daneben lag der Fuhrpark. Unter einem endlos langen Vordach standen Kutschen, Transportwagen für Pferdegespanne und eine Unzahl von Karren. Willy zog eine Plane von einer der etwas kleineren Handkarren.

„Die vielleicht?“, fragte er leise.

„Sieht ziemlich groß aus. Wenn die beladen ist, kriegen wir sie keine zehn Meter bewegt!“, gab ich zu bedenken.

„Nicht unser Problem, wir vermieten sie ja nur.“

„Ja, aber bis dahin müssen wir sie erst mal bewegen.“

Kaum hatten wir dieses Monstrum auf der Rampe, war der Wagen nicht mehr zu halten. Willy sprang beiseite und rief: „Lass los, Freddy!“

Jetzt fuhr die Karre tatsächlich von selbst. Unaufhaltsam rasselte das Ding die Rampe hinab, wurde auch auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes immer schneller und rammte am Ende mehrere Ölfässer.

War unser Unternehmen gescheitert? Jeden Moment würden die Nachtwächter herbeieilen!

Wir versteckten uns zwischen irgendwelchen Kistenstapeln und lauschten. Mein Herz raste. Ich hörte Willy stoßweise atmen.

Hundegebell, Schritte, vielleicht fünfzig Meter von uns entfernt. Zwischen das Gebell rief ein älterer Mann:

„Jemand da?!.... Hallo, ist da jemand?! Platz, Rufus!“

Eine zweite Stimme war zu hören. „Was ist, James, ich warte! Oder soll ich ohne dich weiterspielen?“

„Hier stimmt was nicht!“

„Verdammt noch mal, James, wer will bei diesem Dreckswetter schon einen verdammten Gaul mit einer Kutsche klauen. Entweder wir würfeln jetzt weiter oder wir geben Großalarm!“

Der ältere Wächter rief: „Rufus! Hier her ... braver Hund!“

Hätte der Nachtwächter seine Lampe auch nur drei Meter weiter in die Dunkelheit getragen, wäre er der Entdecker eines Diebstahls geworden. Das tat er nicht. Im Gegenteil. Er  machte sich mit seinem Hund wieder auf den Rückweg. Wir hörten eine Eisentür ins Schloss fallen und warteten noch ein paar Minuten. Alles blieb ruhig.

Puuh, das war gerade noch einmal gut gegangen.

Nun zog Willy vorn an der Deichsel, ich schob von hinten an der Ladeklappe. Die eisenbeschlagenen Räder der Karre rasselten übers Pflaster und machten einen Höllenlärm. Aber wir waren ziemlich sicher, dass der prasselnde Regen das Geräusch dämpfte und wir unentdeckt vom Gelände kommen würden.

Durch Seitengassen gelangten wir auf den verwilderten Hinterhof eines unbewohnten Hauses. Wir deckten die Plane über unsere Karre und tarnten sie mit Brettern, Laub und Schrott. Erschöpft verabredeten wir uns für den nächsten Morgen.

Zwei Tage arbeiteten wir hart. Bestrichen den Karren mit heißem Teer, bewarfen ihn mit Sand, Lehm und Stroh. Er musste alt aussehen, niemand durfte ihn wieder erkennen. Stolz betrachteten wir unser Werk und waren sicher: Diesen Karren würde niemand mit einem aus dem Hafen in Verbindung bringen. Jetzt musste sich nur noch zeigen, ob unser Plan auch aufging.

Er ging auf. Kaum machte ein Schiff am Kai fest, waren wir zur Stelle und boten den Karren für einige Pence an. Dankbar beluden die Matrosen das Gefährt mit ihren Seesäcken und Sonstigem und zogen ihn eilig zu zweit oder zu dritt davon. Der Rest sicherte die Plätze in der Taverne. Beim Seemannsheim nahmen wir den Wagen wieder in Empfang. Hielten uns dabei so gut es ging unauffällig im Hintergrund. Schließlich kannte man uns in der kleinen Stadt.

Nach zwei Wochen ging die Sache beinahe schief.

Wir zogen den Karren nach einer letzten Fuhre zurück zum Versteck, als uns Margaret auf der Straße begegnete. Sie war nicht nur eine Schülerin aus unserer Parallelklasse, sondern auch die Tochter des Schuldirektors und galt als die größte Petze. Wir murmelten etwas von blöden Hilfsarbeiten für Willys Vater und sie bedauerte uns sogar ein wenig. Wir waren aber nicht sicher, ob sie uns die Geschichte abnahm.

Ansonsten lief alles wie am Schnürchen. Die Pence und Shillings klimperten in unseren Taschen. So viel Geld hielten wir noch nie in den Händen. Da Willy und ich ausgemachte Fußballfans waren und jede freie Minute, wenn wir uns gerade nicht im Hafen herumtrieben, auf dem Fußballplatz verbrachten, erfüllte ich mir meinen Lebenstraum. Ich kaufte einen Fußball. Einen richtigen Fußball, handgenäht und aus echtem Leder. Er war mein ganzer Stolz und ich hütete ihn wie meinen  Augapfel. Ich nahm ihn sogar mit ins Bett, denn er roch so gut nach Lederfett. Bald besaßen Willy und ich Lederfußballschuhe, so, wie sie nur unsere geliebten Spieler vom FC Liverpool trugen.

Mit dem Geld ging natürlich ein anderes Problem einher: Niemand durfte bemerken, dass wir plötzlich „reich“ waren. Mit dem Fußball gab es keine Schwierigkeiten. Mein Vater interessierte sich nicht für Fußball, sondern nur für Kricket und Golf.

Die Schuhe allerdings versteckten wir beim Karren. Unseren Müttern hätten wir sie nicht verheimlichen können. Den neidischen Fußballkumpel verkauften wir das Ganze als Spende eines reichen Onkels.

Aber es kam, wie es kommen musste.

Eines Tages bemerkten wir zu spät, dass drei Matrosen betrunkener waren, als es ihnen gut tat. Sie zogen, hin und her schwankend, mit der sehr voll gepackten Karre in Richtung Seemannsheim. Wir folgten ihnen, immer hoffend, dass die Sache gut ginge. Ging sie aber nicht. An der  Kreuzung Edison/Dover Street verpassten sie die Kurve, kamen rechts ab und rammten ein parkendes Pferdefuhrwerk. Es krachte mächtig und das Pferd bockte noch viel mächtiger. Wir sahen, wie Gurkenfässer von der Ladefläche auf die Bordsteinkante droschen und in tausend Teile zersplitterten. Die Gurken zappelten wie junge Heringe über das Pflaster und verschwanden im nächsten Gulli. Der Kutscher verfluchte die Matrosen. Die Matrosen den Kutscher. Ein Wort gab das andere. Fäuste flogen.

Die Kreuzung war im Nu mit neugierigen Menschen verstopft. Mehrere Constabler verschafften sich mit Trillerpfeifen und ihren Schlagstöcken Autorität und Gehör. Einer der Leichtmatrosen riss sich mit blutiger Nase aus dem Griff des Kutschers.

„Die verdammte Karre war schadhaft!“, schrie er wütend.

„Wir haben sie angemietet! Von zwei verdammten Jungen. Sollen die für den Schaden aufkommen!!!“

Schon beim ersten Satz, den der Matrose im wilden Zorn aus sich heraus schleuderte, verschwanden wir in der Menge, wühlten uns durch die Schaulustigen und rannten Richtung Hafen. Und als ob die Sache nicht schon schwierig genug war, kam uns Margret auf ihrem Fahrrad entgegen. Wollte wissen, warum wir es so eilig hätten und was denn da an der Kreuzung los sei. Wir waren viel zu hektisch, um darauf zu reagieren und rannten weiter. Drei Minuten später saßen wir auf der Treppe am Hafen und schnappten nach Luft.

Wie man es auch drehte und wendete. Es war eine Katastrophe. Der Karren weg, unsere Einnahmequelle weg. Und wenn Margret nur ein wenig nachdenken würde, käme sie dahinter, wer die zwei Jungen waren, die den Matrosen den Karren vermietet hatten.

Am nächsten Tag saßen wir in die Schule, als wäre nichts gewesen. Schuldirektor Shellsmith-Wellington, schon seiner Größe wegen eine Respekt einflößende Gestalt, betrat den Klassenraum, während wir eine Mathematikarbeit schrieben. Er flüsterte kurz mit Mr. Taylor, zeigte dann auf uns und ordnete mit seiner dröhnenden Stimme an: „Alfred Ferdinant und William Jenkins ins Konferenzzimmer!“ Ohne die Tür hinter sich zu schließen, verließ er den Raum. Wir schlichen ihm nach und ahnten, was kommen würde. Wie gern hätten wir die Mathearbeit weiter geschrieben.

Je näher wir der gefürchteten, schweren, rotbraunen Tür, hinter der schon so manch grobe Verfehlung verhandelt wurde, kamen, um so banger wurde uns.  Als sie sich öffnete, fiel uns das Herz in die Hose.

Meine Eltern saßen bekümmert an einem endlos langen Tisch, ihnen gegenüber die Eltern Willys. Unsere Mütter hatten verweinte Augen und hielten Taschentücher in den Händen. Die Väter schienen erstarrt und trugen versteinerte Gesichter. Am Kopfende der langen Tafel saßen Direktor Shellsmith-Wellington, der Protokollführer, einige Lehrer und ein schwarz gekleideter Polizeioffizier mit einem Aktenorder vor sich. Er wurde von unserem Direktor gebeten, die Anhörung zu eröffnen. Der Mann in der Uniform räusperte sich und griff zu den vor ihm liegenden Papieren:

„Dank der schnellen Ermittlungen des Constablers Wilkins und unter lobenswerter Hilfe der Margaret Shellsmith-Wellington ist zweifelsfrei festgestellt, dass  die Söhne der Familien Jenkins und Ferdinant vom Hafengelände ein Transportfahrzeug der Marke „Walker Transporter“ entwendeten und dies in der Folge für illegale geschäftliche Unternehmungen nutzten. Während einer dieser Unternehmungen kam es zu einem Unfall mit hohem Sachschaden und zwei Leichtverletzten.“

Er machte eine Pause, sah in die Runde und schließlich zu uns. Wir saßen bedröppelt da und schienen um einige Zentimeter geschrumpft zu sein. Wäre ich eine Maus gewesen, ich hätte mich im nächsten Loch verkrochen.

Der Offizier setzte seinen Vortrag fort, aber ich hörte nur noch einzelne Wortfetzen.

„...einträgliche Geschäfte ….kriminell ….Schadenersatz.…… Anzeige …. Strafandrohung…  Gerichtsfeste Beweise!“

Die Welt brach über uns zusammen.

Es gab keine Ausreden. Wir gaben alles zu.

Danach herrschte Schweigen.

Willys Vater unterbrach schließlich die Stille. Er hatte sich bis dahin mühevoll zurück gehalten, jetzt brach es aus ihm heraus:

„Das kann alles nicht wahr sein! Was habt ihr euch dabei  gedacht?“ Er bemühte sich, seine Stimme im Zaum zu halten, aber es gelang ihm nicht.

„Ich! Arnold Jenkins, angesehener Hafenmeister von Littletown, habe einen Sohn, der inmeiner Hafenanlage stiehlt! Wie kann das sein?! Willy, du hast Schande über die gesamte Familie gebracht! Du bist eine einzige Enttäuschung!!!“

Wieder herrschte Ruhe.

Dann meldete sich mein Vater zu Wort. Auch er äußerte seine Enttäuschung. Allerdings brüllte er nicht, sondern sprach ruhig und leise und das war schlimmer.

Nach einer weiteren Pause begann Direktor Shellsmith-Wellinton.

Je länger er redete, desto klarer wurde, dass wir kaum eine Chance hatten. Sein Urteil war schnell gefällt. Er warf uns von der Schule. Aus die Maus. Daran war nicht zu rütteln.

So enttäuscht und wütend unsere Eltern auch waren, sie versuchten, wenigstens das Schlimmste, die Strafanzeige und damit den Gang vor  ein Gericht zu verhindern. 

„Ich möchte hier einen Vorschlag unterbreiten, der die Zukunft unserer Kinder betrifft“, wendete sich mein Vater an alle. „Strenge Bestrafung halte ich für nötig und angemessen. In Anbetracht des Alters dieser Kinder könnte es aber sinnvoller sein, sie auf ein Internat zu schicken, das besonderen Wert auf Disziplin, Ordnung und Anstand legt. Dort könnten sie zu nützlichen, guten Bürgern erzogen werden. Ich denke, Mr. Jenkins stimmt mir da zu.“ Willys Vater nickte.

„Gut, ich werde ihren Vorschlag aufnehmen und dem Staatsanwalt der Krone unterbreiten“, antwortete der Polizeioffizier und schloss mit strenger Miene, aber zufrieden seinen Aktenordner. Damit war die Sitzung geschlossen.

Zu Hause angekommen, nahm mich mein Vater vor der Tür noch einmal zur Seite.

„Weißt du, die Idee war gut, wirklich gut. Aber warum habt ihr nicht Willys Vater gefragt? Der hätte doch sicher irgendeine alte, reparaturbedürftige Karre für euch gehabt. Und mir wäre garantiert auch etwas eingefallen.“

Ich hatte keine Antwort darauf.

„Kannst du dir eigentlich vorstellen, dass Eltern dazu da sind, ihren Kindern zu helfen, wenn die etwas wollen?“

Ich wusste immer noch nichts darauf zu sagen.

„Ihr wart einfach nur dämlich. Kreuzdämlich!“

Damit ließ er mich stehen und ging ins Haus.

Eine Woche nach unserem Rauswurf klärten sich die Dinge.

Unsere Eltern hatten das Widmore College of     St.George“ gefunden, ein Internat in der Grafschaft Sussex gefunden. Dort war man bereit, uns aufzunehmen. Der Staatsanwalt gab seine Zustimmung und besiegelte damit unseren Wechsel in ein anderes Leben.

Am 6. Dezember begann die Reise. Ein bitter kalter Tag. Die Lokomotive kam stampfend und mit Ohren betäubendem Quietschen zum Stehen. Schmutziger Dampf tauchte den Bahnhof in milchgelbes Licht. Unser Gepäck war schnell verstaut und der Abschied von unseren Eltern kurz und schmerzvoll. Dann der Pfiff einer Trillerpfeife und unser Zug setzte sich quälend langsam in Bewegung. Die Fenster des Abteils waren mit Eisblumen besetzt und ließen sich nicht öffnen. Willy und ich versuchten, sie mit unseren Mantelärmeln frei zu wischen, um noch einmal hinaus zu winken. Aber auch das gelang nicht. Der letzte Blick auf die Heimatstadt blieb uns verwehrt. Das Stampfen der Lokomotivkolben wurde schneller und schneller und wir ließen Littletown hinter uns.

Die Dämmerung brach herein, als wir nach vier Stunden Sussex erreichten. Eigentlich war es gar nicht so weit, aber die Züge fuhren damals noch nicht so schnell wie heute. Außerdem hielt dieser Zug in jedem Nest und blieb dort ewig stehen.

Wir wurden von Mister McBostock, dem Pedell, also dem Hausmeister des Internats, vor dem Bahnhof erwartet. Ein unangenehmer Kerl, leicht schielend, mit starrem Blick. Wortlos zeigte er auf einen Zweispänner. Die Pferde dampften in der Kälte und aus ihren Nüstern traten weiße Wolken. Auf dem Kutschbock saß ein ziemlich räudiger Hund, der uns garstig anknurrte, als wir näher kamen. Während der Fahrt wurde kein Wort verloren. Wir fuhren über holprige Dorfstraßen und lange Alleen, gesäumt von einer mit leichtem Schnee bedeckten trüben Winterlandschaft.

Als wir ankamen, herrschte Dunkelheit. McBostock hielt, da ein umgestürzter Baum den Weg versperrte. Er nahm seine Laterne vom Bock und ging voran. Immer noch ohne ein Wort. Wir folgten, ebenfalls schweigend.                                               

Ab und zu riss die schnell ziehende, schwere Wolkendecke auf und der abnehmende Mond tauchte die Landschaft in fahles Licht.

Das große, wuchtige Gebäude des Internats stand, nein, es thronte auf einem Hügel. Zwei Fenster hoch oben leuchteten, und mir schien, als sah uns dieser Klotz entgegen.

Schemenhaft zeichneten sich Türmchen und Erker ab. Es war eines dieser alten, Burgen ähnlichen Schlösser, von denen hunderte und vermutlich sehr viel schönere in England stehen. Dieses wirkte  grau und abweisend.

Das Internat

Eine kleine Holztür rechts neben dem Portal wurde knarrend geöffnet, der Pedell leuchtete hinein und wies mit der Laterne den Weg. Der Lichtkegel schälte eine ewig lange Treppe aus der Finsternis und wir schleppten unsere Sachen hinauf. Oben eine weitere Tür. Der Pedell klopfte, öffnete die Tür, schob uns hinein und verschwand.

Es war das Zimmer des House Masters, also dem für den Wohnbereich des Internats zuständigen Erziehers. Mr. Twinkle, ein großer dünner Mann, saß hinter seinem Schreibtisch und musterte uns von Kopf bis Fuß durch eine Brille, deren Gläser so dick wie Flaschenböden waren. Dann hatte er wohl genug gesehen und nickte, als hätten wir seine Musterung bestanden.

„Alfred Ferdinant, William Jenkins?“

Wir nickten ebenfalls.

„Nun. Gut. Willkommen auf Sankt Georg.“

Er schrieb Namen und Ankunftszeit in ein Buch, klappte es zu, nahm eine Laterne von der Wand und bedeutete uns, ihm zu folgen.

Es ging einen Gang entlang, einmal links, einmal rechts bis hin zu einer großen, doppelten Holztür. Bevor er sie öffnete, legte er den Zeigefinger auf den Mund. Wir nickten bestätigend.

Ich war davon ausgegangen, mir mit Willy ein Zimmer teilen zu können. Von meinen Eltern wusste ich, dass es ein für unsere Verhältnisse teures Internat war. Man konnte das also erwarten. Um so größer war die Überraschung, als Mr. Twinkle die Tür öffnete und das Licht anschaltete. Es war kein Zimmer, sondern ein Schlafsaal mit fünfundzwanzig Betten. Einige der Schüler wurden wach und schauten uns schlaftrunken an.

„Ihr schlaft weiter“, herrschte Twinkle sie an. Sie zogen die Decke über den Kopf oder rollten sich auf die andere Seite. Wir bekamen zwei nebeneinander stehende Betten zugewiesen. Dazwischen gab es schmale Schränke. Wir stellten das Gepäck ab und setzten uns auf die Betten. Willy öffnete seinen Rucksack. Mr. Twinkle schüttelte energisch den Kopf.

„Ausgepackt wird morgen. Jetzt ist Nachtruhe.“

Damit verließ er uns. Löschte das Licht und wir saßen im Dunkeln.

„Das kann ja heiter werden.“ flüsterte Willy. „Das glaub ich auch.“ flüsterte ich zurück. Offensichtlich nicht leise genug. Vom anderen Ende des Raumes rief jemand durch den Raum.

„Ruhe da vorn!!!“

Schöne Begrüßung, dachte ich. Aber immerhin standen unsere Betten nebeneinander. Ans Beziehen war nicht zu denken, also legten wir uns in Unterwäsche hin und zogen die Decken, so wie sie waren, bis ans Kinn. „Schlaf gut.“ hörte ich Willy noch sagen. Dann übermannte mich die Müdigkeit.

Viel zu früh riss uns Mr. Twinkles Trillerpfeife um sechs Uhr aus dem Schlaf.

„Aufstehen!!!“, brüllte er. „ Heraus zum Frühsport!!!“

Um uns herum sprangen alle aus den Betten, zogen dunkelrote Trainingsanzüge mit einem Wappen auf der Brust an, schüttelten die Decken auf und verließen den Saal. Als der letzte verschwand, hatten Willy und ich es gerade so geschafft, uns aufzusetzen. Mr. Twinkle schüttelte missbilligend den Kopf..

„Bin ich nicht zu verstehen, meine Herren? Eine Minute noch!“

„Wir haben keine Trainingsanzüge.“ fiel Willy ein.

Der Mann überlegte einen Augenblick.

„Dann heute ohne.“, antwortete er. „Dreißig Sekunden.“

 Was immer das heißen sollte. Wir hatten beide die gleiche Idee,  stürzten in unsere Fußballklamotten und rannten nach draußen. Es war arschkalt. Mr. Frobisher, ein Kugelkopf mit militärisch kurzgeschnittenen Bürstenhaarschnitt, trug ebenfalls einen dunkelroten Trainingsanzug. Er war klein und gedrungen, machte aber einen athletischen Eindruck. Der Sportlehrer zählte die halb wachen und zitternden Gestalten vor sich durch.

„Die beiden da“, er zeigte auf uns. „Wie seht ihr denn aus?“

„Sind neu“, antwortete ich knapp. Ich hatte bereits gelernt, dass man hier keine langen Sätze mochte.

„Gut. Ausnahme! Zweierreihe bilden! Mir nach!“

Wir trabten hinterher. Nach vielleicht fünfhundert Metern  begann Frobisher, wie bei einem Frage-Antwort-Spiel, dumme, zusammenhanglose Sätze im Rhythmus unsere Schritte zu brüllen.

„Mann für Mann renn´wir voran!!!“

Alle außer uns antworteten.

„Mann für Mann renn´wir voran!!!“

Willy und ich grinsten. Sehr seltsam.

„Widmore College Heja hey!!!“

„Widmore College Heja hey!!!“

Wir brüllten mit. Wenn uns einer der Kumpel aus Littletown so hätte sehen können. Nicht auszudenken.

Ich weiß bis heute nicht, ob sich Frobisher die Sprüche beim Laufen ausdachte oder über einen Fundus verfügte, aus dem er sich bediente. Manchmal jedenfalls passte der Wortrhythmus nicht zum Laufrhythmus und man musste aufpassen, nicht ins Stolpern zu geraten.

„Niemand bleibt hier zurück“

„Niemand bleibt hier zurück“

Nach zwanzig Minuten erreichten wir das Internat wieder. Wir machten Liegestütze, danach einige Dehn- und Streckübungen.  Das alles war nicht besonders anstrengend. Aber niemand fror mehr. Und wach waren jetzt auch alle.

Mit einem gebellten „Abtreten! Waschen!“ wurden wir entlassen.

Vor dem Gemeinschaftswaschraum wartete Mr. Twinkle.

„Noch zwölf Minuten!“ Was nichts weiter hieß, als dass wir in zwölf Minuten umgekleidet im Speisesaal zu sein hatten. Entsprechend groß war die Drängelei an den Waschbecken. Es gab nur zwanzig. Wir hatten von alle dem keine Ahnung und so blieb es an diesem Morgen für Willy und mich bei einer Katzenwäsche. Wir hetzten als letzte zurück zum Schlafsaal. Wer ohne  triftigen Grund zu spät zum Frühstück erschien, ging leer aus. Aber wir kamen gar  nicht so weit.

Im Flur zum Schlafsaal stand eine Frau, auf die wir in unserer Eile nicht achteten. Wir rannten an ihr vorüber und sie rief uns mit dunkler, etwas kehliger Stimme nach.

„Alfred Ferdinant! William Jenkins!

Augenblicklich standen wir.

„Ich bin Miss Gwendolyn Cool.“

Sie  besaß ein schmales Gesicht und hatte ein Pferdegebiss. Ihre grauen Haare waren hinter dem Kopf fest zusammen gebunden. Die dunkelbraunen Augen wirkten durch die Brille außerordentlich streng.

„Und?“ rutschte es mir heraus.

„Ach je“, seufzte sie, „ihr habt ja noch gar keine Ahnung. Wenn ihr angesprochen werden, habt ihr die Antwort mit „Yes Sir“ zu beginnen und mit „Yes“ zu beenden.“

Wir nickten, aber Miss Cool war damit nicht zufrieden. Sie sah uns einige Sekunden auffordernd an, dann kapierten wir, was sie wollte.

„Yes Sir, Miss Cool, yes.“

„Genau so. Ihr werdet das lernen. Bei mir lernen. Ich bin eure Klassenlehrerin. Ihr geht jetzt zum Frühstück, danach in die Kleiderkammer. Wenn ihr fertig seid, erwarte ich euch in der Klasse. Seitenflügel, zweite Etage, drittes Zimmer rechts. Alles verstanden?“

Wir nickten wieder nur. Miss Cool legte den Kopf, erneut seufzend, zur Seite. Wartete.

„Yes Sir, Miss Cool, yes.“

Sie lächelte plötzlich. Ihr Wangen bekamen kleine Grübchen und sie wirkte nur halb so streng. Willy und ich standen immer noch wie die Zinnsoldaten vor ihr.

„Na los doch. Hurtig. “ Sie winkte uns mit den Händen Richtung Schlafsaal. Nicht ohne an die Regel zu denken, machten wir uns davon.

„Yes Sir, Miss Cool, yes.“

Wir schafften es natürlich nicht. Mr. Twinkle stand vor der Tür des Speisesaals und sah auf seine Uhr.

„Vier Minuten zu spät.“

„Miss Cool hat uns oben….“

„Ich weiß. Ab morgen gibt´s  kein Pardon mehr.“

„Yes Sir, Mr. Twinkle, yes.“

Er trat zur Seite und ließ uns passieren.

Der Speisesaal war riesig. Große Kronleuchter hingen von der Decke und beleuchteten endlos lange Tischreihen, an denen  tatsächlich die etwa dreihundertfünfzig Internatsschüler gleichzeitig Platz fanden. Rechter Hand stand ein langes Buffet, an dem man seinen Teller beladen konnte. Das Frühstücksangebot war reichlich. Nur hatten wir nicht mehr viel davon. Das Buffet war schon schwer geplündert worden, bevor wir ankamen. Ein Grund mehr, das nächste Mal pünktlich zu sein. Willy und ich nahmen uns von dem, was noch da war. Ich hatte es auf ein letztes Stück Käse abgesehen, als mich ein älterer, großer Kerl mit einem heftigen Schulterstoß und den Worten „Eh, hau mal ab“, zur Seite stieß. Dann schnappte er sich unbekümmert das Stück. Er war eine Kopf größer, hatte ein schmales Gesicht, leicht vorstehenden Zähnen und eine blonde Locke die ihm auf die hohe Stirn wippte. Ich war so verdattert, dass mir fast der Teller aus der Hand gefallen wäre. Normalerweise hätte ich mir das nicht gefallen lassen. Aber irgendwie war ich noch der Neue, der sich vorsichtig tastend durch eine ihm unbekannte Umgebung bewegte. Ich nahm mir von den Wurstresten und ging zum Tisch, an dem Willy bereits saß. Er hatte das Ganze beobachtet.

„Warum hast du dem keine reingesemmelt?“, fragte er.

„Bevor du dich mit jemanden anlegst, solltest du ihn besser kennen.“

„Aha, Risikoabwägung: Größe, Alter, Gewicht“, sagte Willy und biss in seine Stulle. Ich war noch dabei, meine zu schmieren, als Mr. Twinkle durch den Saal rief.

„Zwei Minuten, Herrschaften!“

Nach diesen zwei Minuten waren die Tische sauber abgewischt, das Geschirr auf die am Ende des Buffets stehenden Wagen gestapelt und der Saal leer. Nur Mr. Twinkle stand noch in der Tür und sah zu, wie wir unsere Stullen in den Mund stopften.

„Drei Minuten geb’ ich euch.“

Wir nickten, schluckten schwer, versuchten zu trinken. Ich musste husten. An Kauen war nicht zu denken. Wir schlangen  alles in uns hinein. Willy wischte den Tisch ab, ich brachte das Geschirr weg. Zehn Sekunden vor Ablauf der Frist liefen wir mit dicken Backen an Mr. Twinkle vorbei.

„Kleiderkammer im Keller. Rechts an der Haupttreppe vorbei, die zweite kleine Tür, Mrs. Fanthorpe.“

Wir blieben stehen und sahen Twinkle entgeistert an. Woher wusste er, das Miss Cool uns nicht gesagt hatte, wo die Kleiderkammer ist? Und dass wir auf dem Weg dahin waren?

Als wüsste er genau, was wir gerade dachten, folgte die Erklärung.

„Ich bin der House Master.“

Wir versuchten, uns an die Regeln zu halten und zu antworten. Es ging nicht. Willy zeigte entschuldigend mit den Zeigefingern auf seinen bis zum Rand gefüllten Mund. Twinkle winkte ab und ging zurück in den Speisesaal.