Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland -  - E-Book

Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland E-Book

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Beschreibung

Dieser Sammelband versteht sich als Kompendium zu Fragen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Er gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Diskussions- und Entwicklungsstand und beleuchtet Handlungsperspektiven der Mitwirkung junger Menschen in Deutschland. Die hier zusammengefassten Ergebnisse der Jugendpartizipationsstudie der Bertelsmann Stiftung belegen: Um die Kinder- und Jugendbeteiligung ist es hierzulande noch nicht gut bestellt. Wie kann diese Situation verbessert werden? Die Autorinnen und Autoren sind sich einig, dass es eines vernetzten Vorgehens von Akteuren und Institutionen in den Städten und Gemeinden bedarf. Sie zeigen auf, welche Handlungsansätze in Kindertagesstätten, Schulen, Vereinen und Kommunen bestehen, um junge Menschen für die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens zu gewinnen. Die Beiträge machen deutlich, dass durch die verstärkte Beteiligung der jungen Generation beide Seiten gewinnen: jeder einzelne Mensch und die Gesellschaft.

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© 2010 E-Book-Ausgabe (EPUB)
© 2007 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Alle Rechte vorbehalten
Verantwortlich: Sigrid Meinhold-Henschel
Redaktion: F. Klaus Koopmann
Lektorat: Heike Herrberg
Herstellung: Sabine Reimann
Umschlagabbildung: © Veit Mette, Bielefeld
ISBN : 978-3-86793-204-2
www.bertelsmann-stiftung.de/verlag
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Vorwort
Räume eröffnen im demokratischen Gemeinwesen
Literatur
Kinder- und Jugendpartizipation im wissenschaftlichen Diskurs
Partizipation: mehr als nur »Teilhabe«
Gesellschaftliche Bedeutung von Partizipation
Vielfalt der Definitionen
Theorie und Forschungsstand
Für eine Theorie der Partizipation
Literatur
Zum Nutzen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
Zum Einstieg
Systematische Begründungen
Funktionale Begründungen
Alle gewinnen
Literatur
Die Beteiligung junger Menschen in Familie, Schule und am Wohnort
Ziel und Design der Untersuchung
Mitbestimmung in der Familie
Mitwirkung in der Schule
Mitwirkung am Wohnort
Fazit: Familie - Schule - Wohnort
Rahmenbedingungen der Beteiligung
Kinderrechte - normativer Rahmen für die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen
Kinderrechte als Grundlage für die Beteiligung
Rechtsformen der Beteiligung
Lebensbereiche der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
Literatur
Demokratische Prozesse im »Volk der Schülerinnen und Schüler«
Schulische Partizipation jenseits von Gremien und Gesetzen
Beteiligungsspielräume in einer »konstitutionellen Monarchie«
Mit Courage auf neuen Wegen
Heraus aus der Sackgasse
Literatur
Rechtlicher Rahmen für die Mitwirkung in der Kommune
Bereiche für rechtliche Beteiligungsregelungen
Literatur
Handlungsansätze für die Praxis
Stärkung der kommunalen Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
»Jugendlichenmodell« - »Kommunenmodell«
Ablauf und Methodik der Analyse
Zentrale Einflussfaktoren der Mitwirkung am Wohnort
Handlungsempfehlungen
Bürgerschaftliche Partizipation lernen - eine Herausforderung für die Schule
Partizipationskompetenz und -bereitschaft als Bildungsziele
Bürgerschaftliche Partizipation angesichts neuer Herausforderungen
Schülerpartizipation: Bereiche - Formen - Ausmaß
Schulleben
Bürgerschaftliche Mitwirkung in der Schule erfahren und lernen
Kernpunkte des Partizipationslernens
Öffentliches Lernfeld: Kommune
Zu neuen Ufern
Literatur
Beteiligungskompetenz stärken durch Qualifikation
Erfahrungen vor Ort und in der Schule
Die Ausbildung von Prozessmoderatoren
Die Qualifikation von Jugendlichen
Fazit
Literatur
Beteiligung von Jugendlichen zwischen Interessen, Erwartungen und Lebensalltag
Beteiligung, Zielgruppen und soziale Ungleichheit
Das Internet als Raum für Beteiligung
Die Partizipationsspirale und Handlungsansätze des Projekts »mitWirkung!«
Zielgruppenadäquate Zugänge ermöglichen - einige Ansätze
Literatur
Vereine als bürgerschaftliche Lernorte
Zwei Beispiele
Wichtiger Faktor in der Partizipationsspirale
Der partizipative Charme begrenzter Interessen: Vereinsmitgliedschaft
Zur Selektivität der Mitgliedschaft: Wen erreichen Vereine?
Wie kann die Beteiligungswirkung von Vereinen gestärkt werden?
Literatur
Qualitätsanforderungen an Beteiligungsvorhaben
Hohes Engagementpotenzial bei Jugendlichen
Gütekriterien für erfolgreiche Partizipation
Motive Jugendlicher für Engagement
Anforderungen an eine kommunale Gesamtstrategie
Die Zukunft von Beteiligungsprojekten
Literatur
Netzwerke für Beteiligung organisieren und steuern
Erfordernisse und Bedeutung von Netzwerken
Eine demokratietheoretische Einordnung: Netzwerke als Gemeinschaften
Kooperationen als Netzwerke
Kennzeichen von Beteiligungsnetzwerken
Probleme und Chancen: Herausforderungen
Ausrichtungen von Netzwerken
Strategische Beteiligungsnetzwerke als Lernprozesse
Erfolgskriterien aus der Praxis
Literatur
Die Kinderstube der Demokratie: Kindertageseinrichtungen
Zwischen Bildungsförderung und demokratischer Bildung
Zentrale Aspekte von Beteiligung in Kindertageseinrichtungen
Handlungsansätze für mehr Partizipation in Kindertageseinrichtungen
Partizipation: Grundlage für die Qualität von Kindertageseinrichtungen
Literatur
Die Autorinnen und Autoren
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort
Die Arbeit der Bertelsmann Stiftung ist von der Überzeugung geprägt, dass gesellschaftliches Engagement eine wesentliche Basis für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens ist. Die Übernahme einer aktiven Bürgerrolle bedeutet, dass Menschen sich an der Lösung gesellschaftlicher Fragen beteiligen, damit entsprechende politische Entscheidungsprozesse beeinflussen und für ihr Engagement Verantwortung tragen.
Schon in der antiken Polis war das Recht der Mitsprache verbunden mit der Pflicht, öffentliche Aufgaben und auch Ämter zu übernehmen. Gerade angesichts der zahlreichen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht, ist eine Rückbesinnung auf diese Kernelemente der Demokratie wichtiger denn je. Vor diesem Hintergrund sind Entscheidungsträger auf allen politischen Ebenen aufgerufen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die für gesellschaftliches Engagement förderlich sind.
Im Zusammenhang der nachhaltigen Verankerung einer neuen Beteiligungskultur verdienen Kinder und Jugendliche besondere Aufmerksamkeit. Deshalb hat die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2004 die Initiative »mitWirkung!« gestartet. Gemeinsam mit unseren Partnern, dem Deutschen Kinderhilfswerk, der Unicef, der »Gemeinschaftsaktion Schleswig-Holstein - Land für Kinder« und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund möchten wir Kinder und Jugendliche dafür gewinnen, sich informiert und aktiv in die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens einzubringen.
Städte und Gemeinden sind die Orte, wo sich junge Menschen schon früh engagieren können. Eine zentrale Frage zum Start des Projektes richtete sich deshalb darauf, wie ihnen Zugangswege eröffnet, wie sie für eine Mitwirkung gewonnen und qualifiziert werden können. Durch eine breit angelegte Studie zur Jugendpartizipation wissen wir nun, welche Faktoren darüber entscheiden, ob und in welchem Ausmaß Heranwachsende bereit sind, sich zu engagieren.
Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse dieser Studie vor, ordnet die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in normative und aktuelle gesellschaftliche sowie politische Zusammenhänge ein und zeigt gleichzeitig Wege auf, wie Städte und Gemeinden in der Kooperation mit kommunalen Partnern, besonders den Schulen, junge Menschen für die Übernahme einer aktiven Rolle in der Gemeinde motivieren können.
Unser besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die aus unterschiedlichen Fachrichtungen das Thema der Kinder- und Jugendpartizipation in den Blick nehmen. Gerade diese Interdisziplinarität eröffnet neue Perspektiven: Erfolg versprechende Handlungsoptionen werden vorgestellt, und gleichzeitig wird auch für die Grenzen bestehender Möglichkeiten sensibilisiert.
Wir verbinden mit dieser Publikation die Hoffnung, der aktuellen Diskusssion über den Stellenwert der jungen Generation für die Entwicklung der Bürgergesellschaft weitere Impulse zu geben. Für die Bertelsmann Stiftung ist dieser Bereich mehr denn je von großer Bedeutung. Dies belegt auch die Vergabe des Carl Bertelsmann-Preises 2007 zum Thema »Vorbilder bilden - Gesellschaftliches Engagement als Bildungsziel«.
Dr. Johannes Meier Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung
Sigrid Meinhold-Henschel Projektleiterin der Initiative »mitWirkung!«
Räume eröffnen im demokratischen Gemeinwesen
Sigrid Meinhold-Henschel
Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen hat in den vergangenen zwanzig Jahren in Deutschland wie in zahlreichen anderen Staaten eine deutliche Aufwertung erfahren. Entscheidend dazu beigetragen hat die UN-Kinderrechtskonvention, 1989 international verabschiedet und im Jahr 1992 von Deutschland ratifiziert. Sie setzt neben der Schaffung gesicherter Lebensgrundlagen (»provision«) und dem Schutz vor Gewalt (»protection«) Beteiligungsrechte (»participation«) als dritten Schwerpunkt.
Diese normative Verankerung der Rechtsposition von Kindern und Jugendlichen hat erhebliche Wirkung in vielen der Konventionsstaaten entfaltet. Vor allem die Verankerung des Partizipationsrechts hat Reformprozesse unterstützt. Auch wenn Deutschland nicht wie viele andere Nationen den Weg gegangen ist, Kinderrechten Verfassungsrang zu geben, hat sich die Rechtsstellung des Kindes im Privatrecht wie auch im öffentlichen Recht verbessert. Beispielhaft sei hier auf die Kindschaftsrechtsreform 1997 und die Aufnahme von Beteiligungsrechten in vielen Gemeindeordnungen hingewiesen.
Die Wirkung der UN-Kinderrechtskonvention lässt sich dabei weniger positivistisch aus der Wirkungsmacht rechtlicher Normen erklären, zumal umstritten ist, ob sich aus ihr subjektive Rechte des Kindes ableiten lassen; ihre Kraft wurde vielmehr durch gesellschaftliche Veränderungsprozesse vorbereitet, die bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichen und das Verhältnis zwischen Erwachsenen und jungen Menschen in rechtlicher und sozialer Hinsicht neu und gleichberechtigter justiert haben.
Gesellschaftliche Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren lassen es weiterhin geraten sein, den Teilhaberechten von Kindern und Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Denn junge Menschen wachsen mehr denn je in einer Zeit auf, die durch rasante Veränderungsprozesse in allen Lebensbereichen gekennzeichnet ist. Dadurch verändern sich auch die Bedingungen von Kindheit und Jugend. Globalisierung und Technisierung führen zu wachsenden Anforderungen an Bildung und berufliche Qualifizierung. Das breite Spektrum beruflicher Optionen bietet eine Fülle von Chancen, steigert gleichzeitig aber auch den Druck, in Schule, Ausbildung und Universität Spitzenleistungen zu erzielen.
Die private Sphäre ist ebenfalls durch vielfältige Lebensformen gekennzeichnet. Die traditionelle Eltern-Kind-Familie herrscht zwar noch vor, aber immer mehr junge Menschen leben in anderen Familienkonstellationen. Viele Kinder erfahren die Instabilität familiärer Strukturen und müssen die Diskontinuität von Beziehungen und - aufgrund der zunehmenden Mobilisierung - von Lebensorten verarbeiten.
Zu den prägenden Faktoren unserer Gesellschaft gehört ferner die demographische Entwicklung mit einer gleichzeitigen Abnahme, Alterung und Internationalisierung der Bevölkerung. Entleerung von Landschaften, Bevölkerungsballung in prosperierenden Regionen und vor allem auch Abschottung sozialer und kultureller Milieus sind vielfach beschriebene Konsequenzen.
Jeder der skizzierten Bereiche wirft fundamentale Fragen zu den Lebenschancen der Einzelnen sowie dem sozialen Zusammenhalt und der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft auf. Fest steht: Die Entwicklung zur Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) lässt sich nicht aufhalten; sie bietet viele neue Möglichkeiten, aber wenig Gewissheiten. Nicht nur Politik und Gesellschaft sind gefordert, tragfähige Lösungen zu entwickeln. Auch jeder und jede Einzelne muss sich den Herausforderungen stellen. Kinder und Jugendliche sollten deshalb früh lernen, selbstbestimmt ihren eigenen Weg in einer komplexer werdenden Welt zu gehen und dabei gleichzeitig Kompetenzen für die Ausfüllung einer aktiven demokratischen Bürgerrolle aufzubauen, die Kontinuität und Weiterentwicklung unserer gesellschaftlichen Ordnung ermöglichen.
Entwicklungsbedarf hinsichtlich gesellschaftlicher Teilhabe besteht hierzulande in mehrfacher Hinsicht:
• Die Pisa-Studie weist nach, dass ein Viertel der Schülerinnen und Schüler nicht oder nur knapp das unterste Leistungsniveau erreicht (Pisa-Konsortium 2002). In keinem anderen Industrieland ist der Schulerfolg von der sozialen Herkunft so abhängig wie bei uns. Deutschland fokussiert sich dennoch weiterhin auf traditionelle, wissensbasierte Lernformen. Eine Verzahnung von reflexiver und handlungsorientierter Aneignung von Kompetenzen ist immer noch die Ausnahme. Formelle Lernprozesse mit vom Lehrer formulierten Ergebniszielen werden überschätzt, der informell erfolgende Kompetenzaufbau unterschätzt. Zu wenig wird wahrgenommen, dass Lernende stets die Rolle von Ko-Produzenten haben und dass Bildung am besten in einem selbstgesteuerten Prozess gelingt.
• Die Ausdehnung der Schul- und Ausbildungszeit in den letzten fünfzig Jahren führt dazu, dass die Erfahrungswelt Jugendlicher teils bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt hinein durch schulisch dominierte Lebensformen bestimmt ist. Durch die unveränderte Dominanz einer traditionellen Belehrungskultur wird jungen Menschen die Erfahrung konkreter Nützlichkeit vielfach vorenthalten (von Hentig 2006). Sie erleben sich in Schule und auch Freizeit vor allem als Konsumenten, in denen sie die Angebote anderer rezipieren (Krettenauer 2006: 97) -, und sie werden von Erwachsenen auch so wahrgenommen. In der deutschen Leistungs- und Arbeitsgesellschaft führt dies dazu, dass die Erfahrungswelt zahlreicher Jugendlicher durch fehlende Anerkennung und Wertschätzung geprägt ist (Burdewick 2003).
• Viele junge Menschen distanzieren sich von der etablierten Politik. Nur 39 Prozent, so das Ergebnis der 15. Shell-Studie, bezeichnen sich als politisch interessiert (Schneekloth 2006: 114). Im Vergleich zu anderen Industrieländern zeigen die deutschen Jugendlichen eine geringere politische Beteiligungs- und Mitbestimmungsbereitschaft (Oesterreich 2001: 21), gleichzeitig wünschen sie sich mehr Orientierung in Fragen der Gesellschaftsentwicklung (Bertelsmann Stiftung 2005: 28)
• Der Freiwilligensurvey zeigt gleichzeitig auf, dass junge Menschen hochaktiv sind: Mehr als jeder dritte Jugendliche (36 Prozent) im Alter zwischen 14 und 24 Jahren engagiert sich freiwillig. Belegt wird aber auch eine soziale Selektion: Engagementquoten von Jugendlichen mit höherem Bildungsstatus sind doppelt so hoch wie die derjenigen mit niedriger Bildung (BMFSFJ 2005: 226). Diese schichtspezifischen Unterschiede nehmen in der Tendenz weiter zu. Außerdem ist bei Jugendlichen ein hohes unausgeschöpftes Engagementpotenzial zu konstatieren: Die Jugendpartizipationsstudie der Bertelsmann Stiftung weist nach, dass 78 Prozent der Jugendlichen bereit wären, sich stärker zu engagieren, wenn die Angebote attraktiver wären.
Welchen Beitrag können nun Partizipationserfahrungen im öffentlichen Raum leisten, um die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen zu stärken?
Um es vorwegzunehmen: Partizipation im Sinne einer quantitativen Ausweitung von Angeboten unter sonst konstanten Bedingungen ist kein geeignetes Mittel, um Bildungsmisere und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse zu mildern oder gar aufzuheben; dazu bedarf es weitergehender politischer Strukturentscheidungen. Dagegen kann Partizipation, verankert als durchgängiges Qualitätsprinzip im pädagogischen und (kommunal-)politischen Alltag dazu beitragen, dass Bildungschancen gerade für die Jugendlichen ausgebaut werden, die durch traditionelle Lernsettings nicht hinreichend gefördert werden.
Partizipation kann jungen Menschen Räume eröffnen, in denen sie sich als wertgeschätzte Mitgestalter dieser Gesellschaft erfahren. In bedeutungsvollen, weil realen Situationen erfahren und lernen sie, dass öffentliche und damit politische Fragen in einem diskursiven Prozess geklärt, ausgehandelt und entschieden werden. Ihnen wird klar, dass dieser Prozess von konstruktiver Konfliktlösung lebt. Für den eigenen Standpunkt einzutreten und gleichzeitig demokratisch getroffene Entscheidungen zu akzeptieren, die nicht der eigenen Präferenz entsprechen, wird als Kern demokratischen Handelns nicht nur kognitiv erfasst, sondern praktisch erfahren. Damit können demokratische Wertorientierungen wachsen und entsprechende Handlungsmuster entwickelt werden. So können authentische und attraktive Partizipationsangebote der offensichtlich vorhandenen Bereitschaft junger Menschen zum Engagement gerecht werden und aktivierend wirken.
Projekte und Angebote zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erleben derzeit einen Boom: Viele Kommunen definieren »Kinderfreundlichkeit« und damit verbundene bessere Teilhabechancen für junge Menschen als ein zentrales Zukunftsthema. Beteiligungsangebote und -verfahren leiden jedoch oft unter mangelnder Nachhaltigkeit, unprofessioneller Durchführung und sind häufig nicht oder nur wenig mit anderen Projekten im kommunalen und schulischen Raum vernetzt. Starke, ohnehin beteiligungsaffine Zielgruppen werden durch Angebote, die der Lebenswelt Erwachsener entlehnt sind und auf verbale Argumentationsstärke setzen, strukturell bevorzugt. Die pädagogischen Fachkräfte in kommunalen Jugendeinrichtungen und Schulen sind eher selten ausreichend qualifiziert, um komplexe Verfahren und Planungsprozesse zielgruppengerecht zu moderieren.
Solche Problembefunde standen am Anfang der Initiative »mitWirkung!«. Deshalb hat die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2004 gemeinsam mit ihren Partnern Unicef und dem Deutschen Kinderhilfswerk sowie mit Unterstützung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes und der Gemeinschaftsaktion »Schleswig-Holstein - Land für Kinder« dieses Projekt gestartet. Die Initiative hat zum Ziel, dass sich junge Menschen aktiv und informiert in die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens einbringen. Junge Menschen sollen dazu motiviert werden, für die Lösung gesellschaftlicher Fragen größere Verantwortung zu übernehmen; ihnen werden dafür gleichzeitig erweiterte Einflussmöglichkeiten gegeben. Die Initiative »mitWirkung!« richtet sich damit an dem Leitbild der Bürgergesellschaft aus, wie es von der Enquete-Kommission »Zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« entwickelt wurde (Enquete-Kommission 2002).
Als grundlegende Voraussetzung für eine strategische Stärkung und nachhaltige Verankerung der Kinder- und Jugendpartizipation auf kommunaler Ebene wurde eine umfassende Analyse der Partizipationssituation von jungen Menschen angesehen. Denn das vorhandene empirische Wissen reichte nicht aus, um validierte Aussagen über Zugangswege von Kindern und Jugendlichen zum Engagement, ihren bevorzugten Beteiligungsformen und die Nutzung der bestehenden Angebote zu machen. Insbesondere die Frage, wie Kommunen gezielt die Beteiligung stärken und ihre Angebote besser an den Nutzern ausrichten können, war unbeantwortet. In der ersten Projektsequenz fand deshalb die bislang national wie international umfassendste Studie zur Jugendpartizipation statt.
In zwei Wellen wurden rund 17.000 Schülerinnen und Schüler im Alter von zwölf bis 18 Jahren befragt sowie deren Lehrkräfte und Schulleitungen. Die Studie fand in 51 Kommunen statt, vertreten waren Groß-, Mittel- und Kleinstädte aus allen Teilen Deutschlands; die empirischen Analysen des vorliegenden Bandes beziehen sich auf die Ergebnisse der ersten Welle mit 42 Kommunen und 14.378 Befragten. Die Städte und Gemeinden wurden darin unterstützt, ihr Angebot im Bereich der Jugendbeteiligung zu untersuchen. Gleichzeitig startete eine Recherche nach guten Praxisbeispielen (www.toolbox-bildung.de). Mit Unterstützung des wissenschaftlichen Beirats wurden Qualitätskriterien der Beteiligung erarbeitet, die mittlerweile in den Modellkommunen Essen und Saalfeld (Thüringen) sowie in Flensburg, Elmshorn und Kropp erprobt werden.
Welche Bedingungen fördern bzw. beschränken die Bereitschaft junger Menschen zur Mitwirkung? Was sind Erfolg versprechende Handlungsansätze zur Stärkung der Kinder- und Jugendpartizipation? Und: Mit welchen Argumenten kann die Akzeptanz der stärkeren Einbindung von Jugendlichen gesteigert werden? Diese Fragen standen im Vordergrund der bisherigen Arbeit.
Der vorliegende Sammelband stellt die Ergebnisse der Initiative »mitWirkung!« vor und versteht sich als ein Kompendium zu Fragen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Seine besondere Qualität ergibt sich aus der Verzahnung normativer, empirischer und handlungsorientierter Diskurse sowie aus der Validierung theoretischer Konzepte durch die Arbeit in den Modellkommunen.
Nach einer wissenschaftlichen Annäherung an den Begriff Partizipation durch Reinhard Fatke stellen Thomas Olk und Roland Roth vor, mit welchen systematischen und funktionalen Argumenten für die Beteiligung junger Menschen im politischen und wissenschaftlichen Diskurs geworben wird: Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eine verstärkte Beteiligung junger Menschen eine Win-win-Situation für Individuum und Gesellschaft schafft. Reinhard Fatke und Helmut Schneider präsentieren anschließend die Ergebnisse der Jugendpartizipationsstudie der Bertelsmann Stiftung und belegen: Um die tatsächliche Kinder- und Jugendbeteiligung ist es in Deutschland noch nicht gut bestellt. Eine Ursache dafür könnten rechtliche Rahmenbedingungen sein. Ingo Richter beleuchtet den Zusammenhang zwischen der Beteiligung junger Menschen und dem Elternrecht. Michael Freitag geht am Beispiel Schleswig-Holsteins auf schulische Partizipationsmöglichkeiten ein, und Gundel Berger skizziert kommunalrechtliche Grundlagen.
In einem abschließenden Kapitel werden Handlungsansätze für die Optimierung der Beteiligung junger Menschen vorgestellt. Ausgangspunkt ist der von Reinhard Fatke und Helmut Schneider geführte empirische Nachweis, dass vor allem fünf Faktoren über die Beteiligungsbereitschaft junger Menschen in Städten und Gemeinden entscheiden:
• die Intensität der Beteiligungserfahrungen in der Schule
• das Zutrauen, für ein Mittun qualifiziert zu sein
• die hinreichende Information über bestehende Angebote
• eine mögliche Mitgliedschaft in einem Verein
• die Zufriedenheit mit bisherigen Beteiligungsprozessen
Die Beiträge von Klaus Koopmann, Waldemar Stange und Stephan Schack, Nadia Kutscher, Thomas Olk und Roland Roth sowie Sigrid Meinhold-Henschel gehen unter handlungsorientierten Aspekten der Frage nach, welche Chancen bestehen, diese Wirkfaktoren in schulischen und kommunalen Zusammenhängen positiv zu beeinflussen.
Alle Autorinnen und Autoren stimmen darin überein, dass es eines vernetzten Vorgehens in den Städten und Kommunen bedarf. Klaus Koopmann macht sich für das Erfahren und Erlernen bürgerschaftlicher Kompetenz im Zusammenspiel von Schule und Kommune stark und fordert die Entwicklung eines integrativen Partizipationsfeldes. Stephan Schack greift die Frage auf, wie ein lokales Netzwerk effektiv strukturiert werden kann. Raingard Knauer tritt für eine Ausdehnung des kommunalen Beteiligungsnetzwerkes auf Kindertagesstätten und Grundschulen ein, denn Beteiligung - so ihr Plädoyer - muss früh beginnen.
Die Mitwirkung junger Menschen bietet erhebliche Chancen für sich wechselseitig verstärkende Entwicklungsprozesse von Individuum und Gesellschaft: Sie bietet Bildungschancen für die Einzelnen, kann sozial integrierend wirken und unterstützt die Demokratieentwicklung. Die Beiträge in diesem Band zeigen auch auf, dass eine solche Entwicklung an Voraussetzungen gebunden ist.
Qualitätsfragen richten sich darauf, wie Jugendlichen aus sozial benachteiligenden Verhältnissen verstärkt Zugangswege eröffnet werden können. Darüber hinaus ist zu fragen, ob Verantwortliche in Verwaltung, Schulen und Politik die Partizipation von Jugendlichen nicht nur als pädagogischen Ansatz zur Einübung demokratischer Werte sehen, sondern auch als ernst gemeinten Aushandlungsprozess entscheidungsrelevanter politischer Fragen begreifen. Denn nur dann, dies belegen einschlägige Studien, wird die demokratische Identitätsbildung unterstützt (Biedermann 2006). Die Beiträge fragen vor diesem Hintergrund auch, welche Beteiligungsstrukturen in Bildungseinrichtungen, in Vereinen und Verbänden sowie im kommunalen Raum erforderlich sind, um alltagsdemokratische Erfahrungen zu ermöglichen.
Diese Textsammlung bietet einen interessanten Überblick über Entwicklungsstand und Handlungsansätze der Beteiligung, Mitwirkung, Partizipation - diese Begriffe verwenden wir hier synonym - junger Menschen in Deutschland. Es freut uns, wenn der vorgelegte Band die Arbeit von Praxis und Wissenschaft in diesem Feld unterstützt.

Literatur

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven. Gütersloh 2005.
Biedermann, Horst. Junge Menschen an der Schwelle politischer Mündigkeit. Partizipation: Patentrezept politischer Identitätsfindung? Internationale Hochschulschriften 458. Münster 2006.
BMFSFJ - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.). Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement. München 2005.
Burdewick, Ingrid. Jugend - Politik - Anerkennung. Eine qualitative empirische Studie zur politischen Partizipation 11- bis 18-Jähriger. Opladen 2003.
Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« des Deutschen Bundestages. Bericht - Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft (4). Opladen 2002.
Gross, Peter. Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt am Main 1994.
Hentig, Hartmut von. Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein. Die Entschulung der Mittelstufe und ein einjähriger Dienst für die Gemeinschaft. Ein pädagogisches Manifest im Jahre 2005. München und Wien 2006.
Krettenauer, Tobias. »Informelles Lernen und freiwilliges Engagement im Jugendalter aus psychologischer Sicht«. Informelles Lernen im Jugendalter. Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. Hrsg. Thomas Rauschenbach, Wiebken Düx und Erich Sass. Weinheim und München 2006. 93-120.
Oesterreich, Detlef. »Die politische Handlungsbereitschaft von deutschen Jugendlichen im internationalen Vergleich«. Aus Politik und Zeitgeschichte 2 2001. 13-22.
Pisa-Konsortium (Hrsg.). PISA 2000 - Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen 2002.
Schneekloth, Ulrich. »Politik und Gesellschaft: Einstellungen, Engagement, Bewältigungsprobleme«. Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Hrsg. Shell Deutschland Holding. 15. Shell Jugendstudie. Frankfurt am Main 2006. 103-144.
Kinder- und Jugendpartizipation im wissenschaftlichen Diskurs
Reinhard Fatke
Was ist Partizipation? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat die Partizipation von Kindern und Jugendlichen? Hier geht es um das aktive und nachhaltige Mitwirken und Mitbestimmen junger Menschen an Planungen und Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen, sowie an deren Verwirklichung. Erkenntnisse aus der Forschung thematisieren strukturelle, individuelle und gesellschaftliche Voraussetzungen von Partizipation und ihre Wirkungen.

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