Kleiner Sohn - mein ganzer Stolz - Kathrin Singer - E-Book

Kleiner Sohn - mein ganzer Stolz E-Book

Kathrin Singer

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Kilometerlang erstreckte sich der Deich an der Nordseeküste. Auf dem grasbewachsenen Abhang tummelten sich Schafherden, die gemächlich das saftige Grün zupften. Die Schafe waren an Menschen gewöhnt, sie rannten nicht davon, wenn auf dem schmalen Weg neben der Uferbefestigung, ganz nah beim Wasser, Leute spazierengingen. Manchmal hoben einige von ihnen ihre Köpfe, unterbrachen ihre Futteraufnahme für kurze Zeit und sahen interessiert zu den Spaziergängern und Joggern hin. Auch vor den Hunden, die umherliefen, um in der neuen Umgebung ihre Zeichen zu setzen, hatten die Schafe keine Angst. Es war noch recht früh im Jahr und hier an der See wehte eine stets erfrischende Brise. In wenigen Wochen wurden die rundlichen Wollknäuel geschoren. Die Wellen der See schlugen leicht gegen die steinerne Befestigung. Es war Flut, das Wasser hatte seinen höchsten Stand erreicht. Am Ufer war die Wasserhöhe recht niedrig. Gefährlich wurde es erst, wenn man den ersten Priel erreichte. Die Nordsee war durchfurcht von Prielen – Wassergräben, die man bei Flut nicht sah. Noch war alles vom Wasser bedeckt, bald würde es sich langsam und ganz allmählich zurückziehen. Dann war Ebbe und das Watt lag frei. Melanie, Sophie und Sven fanden es toll, im Wasser zu spielen. Susanne Wolf, Melanies Mutter, machte sich Sorgen. »Glaubst du nicht, daß es zu kalt für die drei ist?« fragte sie ihren Begleiter. Wolfgang Staeger schaute sie von der Seite an. Aus seinem Blick sprachen Zärtlichkeit und gleichzeitig Resignation.

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Mami – 2026 –

Kleiner Sohn - mein ganzer Stolz

Das Leben hat plötzlich einen anderen Sinn

Kathrin Singer

Kilometerlang erstreckte sich der Deich an der Nordseeküste. Auf dem grasbewachsenen Abhang tummelten sich Schafherden, die gemächlich das saftige Grün zupften.

Die Schafe waren an Menschen gewöhnt, sie rannten nicht davon, wenn auf dem schmalen Weg neben der Uferbefestigung, ganz nah beim Wasser, Leute spazierengingen. Manchmal hoben einige von ihnen ihre Köpfe, unterbrachen ihre Futteraufnahme für kurze Zeit und sahen interessiert zu den Spaziergängern und Joggern hin. Auch vor den Hunden, die umherliefen, um in der neuen Umgebung ihre Zeichen zu setzen, hatten die Schafe keine Angst.

Es war noch recht früh im Jahr und hier an der See wehte eine stets erfrischende Brise. In wenigen Wochen wurden die rundlichen Wollknäuel geschoren.

Die Wellen der See schlugen leicht gegen die steinerne Befestigung. Es war Flut, das Wasser hatte seinen höchsten Stand erreicht. Am Ufer war die Wasserhöhe recht niedrig. Gefährlich wurde es erst, wenn man den ersten Priel erreichte. Die Nordsee war durchfurcht von Prielen – Wassergräben, die man bei Flut nicht sah. Noch war alles vom Wasser bedeckt, bald würde es sich langsam und ganz allmählich zurückziehen. Dann war Ebbe und das Watt lag frei.

Melanie, Sophie und Sven fanden es toll, im Wasser zu spielen.

Susanne Wolf, Melanies Mutter, machte sich Sorgen. »Glaubst du nicht, daß es zu kalt für die drei ist?« fragte sie ihren Begleiter.

Wolfgang Staeger schaute sie von der Seite an. Aus seinem Blick sprachen Zärtlichkeit und gleichzeitig Resignation. Als Susanne ihm ihr Gesicht zuwandte, wurde seine Miene schlagartig gleichmütig. »Du machst dir zuviel Sorgen, Susanne. Die Kinder sind durch ihre Friesennerze geschützt. Wind und Kälte härten sie ab.« Er schaute auf seine Armbanduhr und fuhr seufzend fort: »Außerdem wird es Zeit für den Rückweg. Ich habe in einer Stunde einen wichtigen Termin mit einem Klienten.«

Er machte eine kurze Pause. »Macht es dir etwas aus, wenn wir alle zusammen zu mir gehen? Ich verschwinde in der Kanzlei und du kümmerst dich um die drei Engelchen.« Beim letzten Wort wurde seine Stimme weich.

Die junge Frau antwortete nicht sofort. Ein Schatten flog über Wolfgang Steagers männlich geschnittenes Gesicht. »Susanne, entschuldige bitte meine Rücksichtslosigkeit.« Ein kurzes bitteres Lachen entrang sich ihm. »Wie kann ich so unverschämt sein und deine Zeit für mich und meine Kinder in Anspruch zu nehmen?«

Susanne blieb abrupt stehen. Er verhielt den Schritt, drehte sich um und schaute ihr in die Augen.

»Wolfgang, wie kannst du nur so etwas Dummes sagen?« fuhr sie ihn heftig an. »Du weißt doch, wie gern ich mit euch zusammen bin. Ich bin froh, daß Melanie Freunde hat, mit denen sie spielen kann. Ohne euch hätten wir uns sicher sehr verlassen gefühlt.« Sie senkte den Kopf und ihr Stimme wurde leiser. Einen Augenblick lang betrachtete sie die drei Kinder und ein Lächeln ließ ihre Augen leuchten.

Seine Miene entspannte sich, er griff nach Susannes rechter Hand und hielt ihre Finger zwischen den seinen. Sekundenlang standen sie regungslos und schauten sich an. Wolfgangs Herz schlug schneller. Er streichelte ihren Handrücken, die Finger. Als er den schmalen Reif aus Titan an ihrem Ringfinger spürte, zog er seine Hand so hastig zurück, als hätte er sich verbrannt.

»Kommt…, kommt dein Mann an diesem Wochenende?« Wolfgangs Stimme klang, selbst nach mehrmaligem Räuspern, immer noch rauh.

»Ich weiß es nicht, doch ich vermute, er wird keine Zeit haben«, erwiderte Susanne gleichmütig.

»Mami, Mami!« Obwohl Melanie atemlos zu ihnen rannte, hatte sie doch alles gehört, was die Erwachsenen sprachen. In ihrem Friesen-nerz, der gelben Wetterüberkleidung, die jeder an der See besaß, blieb sie bei ihnen stehen, das runde niedliche Gesicht gerötet von Sonne, Salz und Wasser. »Der Jahrmarkt kommt hierher. Mit Karussells, Pony und…«, sie mußte erst tief Luft holen, ehe sie weitersprechen konnte. »Können wir nicht alle dorthin gehen?«

»Au ja, das wäre toll!« Sven war ihr gefolgt. Er ging zu Susanne und schaute sie bittend an.

Seinem Vater entging nicht, wie sehr der Vierjährige sich nach einer mütterlichen Bezugsperson sehnte. Er hatte keine Erinnerung mehr an die leibliche Mutter. Vor drei Jahren, damals war Sven erst zwei, war Carola mit einer Freundin in die Tropen gefahren. Wenige Wochen nach der Rückkehr starb sie an einer seltenen Infektionskrankheit.

Carola war mitgefahren, um ihrer Freundin zur Seite zu stehen. Die frühere Schulkameradin fürchtete sich, allein zu fliegen.

Alle kamen gesund zurück. Nur Carola hatte sich infiziert und in langen einsamen Nächten konnte Wolfgang seinen Zorn auf die egoistische Freundin kaum zurückhalten. Er biß in sein Kopfkissen, um seine Verzweiflung, seine Verlassenheit, seine Einsamkeit, seine Hilflosigkeit nicht laut heraus zu schreien.

In einer Situation wie dieser, dachte Wolfgang immer an Carola. Susanne war stets da, wenn ihre Hilfe benötigt wurde. Doch er wollte sie nicht mit Carola vergleichen. Der rasende Schmerz nach ihrem so plötzlichen Tod war inzwischen gemildert. Bisher hatte er allerdings noch keine engere Beziehung zu einer anderen Frau gehabt. Sicher, er lebte nicht wie ein Einsiedlerkrebs. Gelegentliche Flirts lockerten das einsame Dasein etwas auf. Mit einer anderen Frau aber zusammenleben oder sie gar zu heiraten, war für ihn unvorstellbar, schien ihm sogar bis vor kurzem unmöglich. Er war überzeugt, keine Frau jemals wieder so innig lieben zu können wie Carola.

Diese feste Mauer der Überzeugung war wacklig geworden, als er Susanne kennenlernte. Beim ersten Treffen kam seine sonstige Sicherheit ins Schwinden.

Doch Susanne war verheiratet und Wolfgang nahm sich vor, seine Gefühle streng unter Kontrolle zu halten. Das war allerdings ungeheuer schwierig.

Manchmal, wenn Susanne ihn anschaute, dann glaubte er, mehr als nur Verständnis und Hilfsbereitschaft in ihrem Blick zu erkennen.

Er schüttelte den Kopf und murmelte etwas kaum Verständliches vor sich hin.

Susanne beobachtete ihn, sie öffnete die Lippen, sprach jedoch kein Wort.

»Sanne, bitte, Sanne, geh mit uns auf den Jahrmarkt«, drängelte Sven. »Ich hole mein ganzes Geld aus der Spardose. Und…«, seine Worte überstürzten sich beinahe. »Ich kaufe dir auch was ganz Schönes.« Seine sommersprossige Nase wurde kraus. »Aber sehr teuer darf es nicht sein. Ich will doch auch noch Karussell fahren.«

Sie lächelte liebevoll und drückte das kleine, quirlige Kerlchen an sich. Mit den Fingern strich sie durch seine ohnehin fast immer wirre Frisur.

»Wenn dein Papa einverstanden ist, dann gehen wir.«

»Oh, toll!« Sven sprang wie ein Gummiball auf und ab. Atemlos umschlang er mit seinen Ärmchen Susannes Hüften. Er legte den Kopf in den Nacken und strahlte sie aus leuchtenden Augen an. »Ich hab’ dich lieb, Sanne!« sprudelte er hervor. »Ganz furchtbar lieb. Kannst du nicht meine Mama sein?«

Aus Melanies großen blauen Augen, die denen der Mutter so sehr glichen, sprach Trotz und Abwehr. Doch die Erwachsenen achteten nicht auf die Kleine. Wolfgangs Miene verriet Unsicherheit. »Und wenn dein Mann doch kommt?«

»Hilmar kommt bestimmt nicht«, behauptete Melanie. »Der hat doch immer so viel zu tun«, fügte sie verdrossen hinzu. »Obwohl der Großvater…«

Susannes mahnender Blick brachte sie zum Schweigen. Mit zusammengepreßten Lippen stieß sie mit der Spitze ihrer gelben Gummistiefel Steine fort.

Sophie war ein paar Schritte zurückgeblieben. Nun lief sie, um die kleine Gruppe einzuholen. Ihr war eine Frage eingefallen, auf die sie unbedingt eine Antwort haben wollte.

»Warum sagt du Hilmar zu deinem Vater?«

»Weil er nicht mein Papa ist.« Melanie hielt den Kopf gesenkt, an jedem Stein, der herumlag, ließ sie ihren Unmut aus.

»Ist er lieb?« Svens naive Frage verwirrte vor allem die Erwachsenen. Susanne wich Wolfgangs Blick aus. Taktvoll wechselte er das Thema, einen forschenden Seitenblick konnte er jedoch nicht verhindern.

»Melanie war schon auf der Welt, da habe ich Hilmar geheiratet. Er ist zwar nicht ihr leiblicher Vater, aber wir drei sind eine Familie.« Sie streichelte über Svens Kopf. »Er ist sehr lieb!« setzte sie mit solchem Nachdruck hinzu, als müsse sie sich selber überzeugen.

Sie schaute die drei Kinder mit einem Lächeln an. »Sind jetzt alle Fragen beantwortet?«

Die Mädchen schwiegen, doch Sven hatte noch eine Unmenge Fragen.

Er verstummte erst, als der Vater seinem Ärger Ausdruck verlieh.

Seine kleine sommersprossige Nase war ganz stark gerunzelt, so angestrengt dachte er nach. Nach ein paar Minuten des Schweigens konnte er sich nicht mehr zurückhalten.

»Wenn Melanie keinen Vater hat, dann kann sie doch zu uns kommen. Und Susanne selbstverständlich auch.« Die Vorstellung ließ sein drolliges Lausbubenhgesicht aufleuchten.

Sein Vater mußte sich zusammenrreißen, Sven hatte seine Wünsche ausgesprochen. Doch sein Sohn war ein Kind, deshalb konnte man über die Worte lächeln. Bei ihm, dem Vater dagegen…

Ich darf nicht vergessen, daß sie verheiratet ist, sagte er sich, wie schon so oft. Er kniff die Augen gegen das plötzliche gleißende Sonnenlicht zu. Die Wolken hatten sich verzogen. Wie ein riesiger gelber Ball schien die Sonne in voller Pracht und ihre Strahlen ließen das Wasser des Meeres aufblitzen.

Wolfgang suchte nach einem unverfänglichen Thema. Susanne kam ihm zuvor. »Ich bin fast sicher, daß mein Mann am Sonntag nicht kommt«, erklärte sie mit betont gleichmütiger Miene.

»Aber nun sollten wir rasch zurückgehen«, mahnte die junge Frau. »Denk an deinen Klienten, Wolfgang.«

Er atmete tief durch. »Susanne, ich…«, er preßte die Schneidezähne auf die Unterlippe. Nach einem erneuten, tiefen Atemzug, stieß er zusammenhangslos hervor: »Du bist eine wunderbare Frau.«

In ihr von Wind und Sonne gebräuntes Gesicht stieg eine liebliche Röte. Sie schwieg, gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg. Jeder hing seinen Gedanken, Wünschen und Träumen nach, doch keiner stellte weitere Fragen. Das Schweigen hatte etwas Beklemmendes. Wie hätte Wolfgang Staeger auch ahnen können, das Susannes Gefühle den seinen so ähnlich waren…

*

Wolfgang Staeger mußte sich bei dem Gespräch mit seinem Mandanten um die notwendige Konzentration bemühen. Wie so oft dachte er an den Tag vor etwa zehn Wochen. Damals hatte einer seiner betuchten Klienten ihn gebeten, das Ferienhaus direkt am Deich für einige Monate zu vermieten.

Das Haus bot jeglichen Luxus, entsprechend hoch war der Mietpreis. Er hätte den vermutlich erfolglosen Auftrag gern abgelehnt, doch der Besitzer des Hauses hatte engen geschäftlichen Kontakt zu Staegers Rechtsanwaltspraxis.

Bereits zwei Tage nachdem Bild und Beschreibung des Hauses veröffentlich wurden, fanden sich die passenden Mieter. Der junge Anwalt glaubte zu träumen, doch das junge Ehepaar war sehr zufrieden über das Arrangement.

»Meine Frau und die Tochter wollen auf ärztlichen Rat einige Wochen an der See leben!« Hilmar Hermann Wolf reckte sich. Er war einige Zentimeter kleiner als der Anwalt. »Ich bitte Sie, sich auch um eine Haushaltshilfe zu kümmern.« Besitzergreifend legte er den Arm um Susannes Schultern. »Die Kosten spielen keine Rolle.«

Wolfgang bemerkte, daß die junge Frau leicht zusammenzuckte. Sie wich seinem Blick aus.

Ihn stieß die snobistische Art des Mannes ab. Zurechtweisende Worte lagen ihm auf der Zunge. Was dachte dieser kleine Gernegroß nur? Im letzten Augenblick hielt er die entscheidenen Worte zurück.

»Ich werde alles tun, um Ihrer Frau einen angenehmen Aufenthalt in unserer herrlichen Umgebung zu gewährleisten.«

Susanne löste sich aus dem Arm ihres Mannes. Sie lächelte leicht. »Sie sind sehr freundlich, Herr

Staeger.«

Dieses sanfte Lächeln weckte beinah eingeschlafene Empfindungen bei ihm und er hoffte, Frau Wolf häufiger zu sehen.

Selbstverständlich holte der Rechtsanwalt Informationen über die finanzielle Lage der künftigen Mieter ein.

Als die Auskünfte vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, stieß er unwillkürlich einen dünnen Pfiff aus. Susanne Wolf hatte sich in ein gemachtes Nest gesetzt. Günther Hermann Wolf, der Senior, gehörte zu den solventen, sicheren, mittelständischen Unternehmern.

Susanne und Tochter Melanie kamen und bezogen ihr neues Domizil. Im Mietvertrag war nicht festgelegt, wann das Wohnverhältnis endete.

Wolfgang Staeger hatte sich sehr für Susanne engagiert. Beiden war rasch klar, daß sie mehr als nur eine oberflächliche Bekanntschaft verband. Der junge Witwer, dessen Kinder begeistert von Susanne waren, erkannte bald, daß er eine tiefe Zuneigung zu ihr empfand. Er bemühte sich sachlich und nüchtern zu bleiben. Susanne war verheiratet.

Er zwang sich immer wieder, daran zu denken. Denn inzwischen konnte er sich nicht mehr selbst belügen.

Am Abend, wenn er im Bett lag und der Schlaf noch nicht kam, sah er Susannes liebreizendes Gesicht vor sich. Es machte ihn glücklich, mit Susanne zusammenzusein. Für kurze Zeit vergaß er hin und wieder, daß Susanne gebunden war! Dachte er daran, dann fiel in sein Glück ein schwerer Wermutstropfen.

Er wußte kaum etwas über sie. Sie sprach weder über ihre Kindheit noch über ihre Jugend und auch über ihre Ehe schwieg sie. Die aufgeweckte, fünfjährige Melanie hatte ihm erzählt, daß Mamis Mann nicht der leibliche Vater war.

Manchmal kam es Wolfgang vor, als ob Susanne etwas quälte. Sie bemühte sich, ihre Sorgen zu verbergen. Wie sehr wünschte er sich, ihr näher zu sein, ihr sein Mitgefühl und Verständnis zu zeigen.

Er stellte keine Fragen. Taktvoll respektierte er ihre Zurückhaltung.

Wolfgang Staeger wußte nur eines ganz sicher:

Er liebte Susanne!

*

Hilmar Hermann Wolf saß an seinem voluminösen Schreibtisch. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf die Platte und sah aus dem großen Panoramafenster. Sein Blick glitt über die kleinen Häuser mit den sorgfältigen gepflegten Gärten.

Unbewußt verzogen sich seine Mundwinkel. Es schien, als wolle er lächeln, doch die Miene verzog sich eher zu einer Grimasse.

Der Alte hat schon immer den richtigen Riecher für Geschäfte gehabt. Und auch heute noch, im Rentenalter, kann ihm niemand etwas vormachen, ging es Wolf junior durch den Kopf.

Er lehnte sich in seinem pompösen Schreibtischsessel zurück und verschränkte die Arme ineinander. Die Gedanken kreisten nur um ein Thema.

»Verdammt noch mal«, murmelte Hilmar vor sich hin. »Was ich vorhabe, ist doch nicht schlecht. Wenn Vater nur nicht so ein fürchterlicher Starrkopf wäre.«

Die Sonne, die während des Tages immer wieder hinter Wolkenbänken verschwunden war, ließ sich nun gar nicht mehr sehen. Allmählich senkte sich die Dämmerung herab.

Hilmar saß immer noch untätig in der gleiche Haltung und starrte grübelnd zum Fenster hinaus. Gleich würde die Firmensirene den Feierabend ankündigen.

Er stand auf, ging zum Schrank und holte den leichten Übergangsmantel heraus. Ärgerlich runzelte er die Stirn, als nach einem kurzen Klopfen, Ludwiga Lehmberg, die Sekretärin seines Vaters und offiziell auch die des Juniorchefs, sein Büro betrat.

Ihr Arbeitsplatz lag zwischen den Büros von Wolf Senior und Wolf Junior.

Hilmar setzte sich seit Jahren mit seinem Vater auseinander. Er wollte ein größeres Büro, eine eigene Sekretärin und mehr Entscheidungsfreiheit.

»Ihr Vater möchte gern das Angebot für Friedrichs und Söhne sehen.« Ludwiga Lehmberg hatte eine recht schrille Stimme, der Junior hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, wenn sie sprach. Außerdem war nicht nur ihr Name altmodisch und merkwürdig, die große Hornbrille machte das breite Gesicht noch häßlicher. Und dann brachte Ludwiga es auch noch fertig, ihre gesamte Gaderobe im Ausverkauf zu erstehen. Die Kleider hingen an ihr herunter wie Lumpen.

»Wir müssen uns für die Lehmberg schämen!« hatte er seinen Vater angefahren. »Sie läuft herum wie ein Aschenbrödel. Was sollen unsere Kunden denken!«