Unseren Papi geben wir nicht her - Kathrin Singer - E-Book

Unseren Papi geben wir nicht her E-Book

Kathrin Singer

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Hans-Werner Johannsen blickte gebannt auf die schlanken Finger mit den sorgsam manikürten Nägeln. Die Kundin hatte ihre Hände leicht auf das Glas der Schmuckvitrine gelegt. »Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?« Seine Stimme hatte einen beeindruckenden, sonoren Tonfall, der den Kunden Vertrauen einflößte, ohne im geringsten servil zu wirken. Er schaute der Dame ins Gesicht, behielt jedoch gleichzeitig ihre Finger im Blick. Bereits in seiner Ausbildung als Goldschmied hatte er gelernt, die Hände der Kunden stets zu betrachten. Das geschah vollkommen unauffällig. Ebenso war Hans-Werner eingeprägt worden, dem möglichen Käufer niemals den Rücken zuzuwenden. Heute geschah es zum erstenmal, daß der Besitzer des renommierten Juweliergeschäfts diese Regeln zu offensichtlich vergaß. Er starrte die vor ihm stehende Frau an. Sie hielt seinem Blick stand. Ein leichtes Lächeln glitt über ihr apartes Gesicht mit den großen grünen Augen, die je nach Lichteinfall wie ein Chamäleon die Farbe wechseln konnten. Sie beugte sich etwas vor und stand jetzt mit dem Oberkörper mehr im dezenten künstlichen Licht. Ihre Pupillen weiteten sich, und die Farbe der Iris wechselte von einem leuchtenden Grün zu der moosigen Farbe eines Waldboden zwischen auseinanderstehenden Laubbäumen. Nicht nur die Augen waren faszinierend. Die vollen Lippen, über die sie mit der Zungenspitze manchmal ganz rasch hinüberglitt, verhießen etwas Verlockendes. Hoch angesetzte Wangenknochen ließen einen slawischen Einschlag vermuten. Die gesamte Erscheinung dieser ungewöhnlichen Frau brachte viele Männer aus der Fassung. Hans-Werner Johannsen schien ähnliche Gefühle zu hegen. Bewundernd schaute er ihr in die Augen, ihr Lächeln zeigte, wie sehr sie seine Bewunderung genoß.

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Mami – 1982 –

Unseren Papi geben wir nicht her

Ein Familienglück drohte zu zerbrechen

Kathrin Singer

Hans-Werner Johannsen blickte gebannt auf die schlanken Finger mit den sorgsam manikürten Nägeln. Die Kundin hatte ihre Hände leicht auf das Glas der Schmuckvitrine gelegt.

»Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?« Seine Stimme hatte einen beeindruckenden, sonoren Tonfall, der den Kunden Vertrauen einflößte, ohne im geringsten servil zu wirken.

Er schaute der Dame ins Gesicht, behielt jedoch gleichzeitig ihre Finger im Blick. Bereits in seiner Ausbildung als Goldschmied hatte er gelernt, die Hände der Kunden stets zu betrachten. Das geschah vollkommen unauffällig. Ebenso war Hans-Werner eingeprägt worden, dem möglichen Käufer niemals den Rücken zuzuwenden.

Heute geschah es zum erstenmal, daß der Besitzer des renommierten Juweliergeschäfts diese Regeln zu offensichtlich vergaß. Er starrte die vor ihm stehende Frau an.

Sie hielt seinem Blick stand. Ein leichtes Lächeln glitt über ihr apartes Gesicht mit den großen grünen Augen, die je nach Lichteinfall wie ein Chamäleon die Farbe wechseln konnten. Sie beugte sich etwas vor und stand jetzt mit dem Oberkörper mehr im dezenten künstlichen Licht. Ihre Pupillen weiteten sich, und die Farbe der Iris wechselte von einem leuchtenden Grün zu der moosigen Farbe eines Waldboden zwischen auseinanderstehenden Laubbäumen. Nicht nur die Augen waren faszinierend. Die vollen Lippen, über die sie mit der Zungenspitze manchmal ganz rasch hinüberglitt, verhießen etwas Verlockendes.

Hoch angesetzte Wangenknochen ließen einen slawischen Einschlag vermuten. Die gesamte Erscheinung dieser ungewöhnlichen Frau brachte viele Männer aus der Fassung. Hans-Werner Johannsen schien ähnliche Gefühle zu hegen. Bewundernd schaute er ihr in die Augen, ihr Lächeln zeigte, wie sehr sie seine Bewunderung genoß. Nur ein lebenserfahrener Frauenkenner bemerkte außer ihrem Liebreiz auch einen lauernden Ausdruck in ihren wunderschönen Augen.

Das Team des seit Generationen im Besitz der Familie Johannsen befindlichen Juweliergeschäftes war hervorragend aufeinander eingespielt. Michael Wagner, die Vertretung des Chefs, hatte aus den Augenwinkeln bemerkt, daß etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Er verabschiedete seinen Kunden, der sich noch zu keinem Kauf entschließen konnte, rasch, aber zugleich mit bemerkenswerter Höflichkeit.

»Herr Johannsen.«

Hans-Werners Kopf fuhr hoch, er schien aus seinen Träumereien aufzuwachen. Gerade das hatte sein Substitut erreichen wollen. Die Kundin schaute zu Michael Wagner hin. Seine Miene blieb unbewegt, Wagner war ein nüchterner Mann und ließ sich durch die Schönheit einer Frau nicht beeindrucken.

Hans-Werner Johannsen fand seine Selbstbeherrschung wieder. Er straffte die Schulter und setzte ein verbindliches, für die Kunden bestimmtes Lächeln auf.

Der triumphierende Ausdruck in den Augen der schönen Frau erlosch. Nur Michael Wagner bemerkte es. Er runzelte leicht die Stirn.

»Beinahe hätte ich vergessen, daß Sie mich ja gar nicht kennen«, ihr Lächeln war außerordentlich selbstbewußt. »Ich bin Sonja Brinkmann.« Das Lächeln verstärkte sich, ihr Gesicht zeigte dann Enttäuschung, weil offenbar keiner ihren Namen kannte.

»Ich bin gerade von München nach Hamburg gezogen«, erzählte sie zwanglos weiter. »Ein Tapetenwechsel war aus emotionalen Gründen unbedingt erforderlich.« Die Worte sollten offenbar rätselhaft klingen, doch die Aussage war im Grunde ganz klar.

Sonja Brinkmann seufzte. »Mein Vater, der beste Mann auf dieser Welt«, ein sanftes wehmütiges Lächeln spielte um ihre vollen Lippen. Wieder glitt ihre Zungenspitze über die warme rote Farbe des Lippenstiftes. Dieses ganz kurze, von vielen sicher nicht wahrgenommene Intermezzo hatte etwas ungemein Aufreizendes an sich.

»Mein Vater«, fuhr sie fort, »hat den Wunsch, mich etwas zu trösten. Leider findet er wieder einmal nicht die Zeit, sich um die Bedürfnisse seines einzigen Mädchens zu kümmern.« Der kindliche Ton wirkte unecht und paßte überhaupt nicht zu ihr. Unmerklich verzog Wagner die Lippen.

»Deshalb mußte ich allein zu Ihnen kommen«, fuhr sie fort.

»Wir werden für Sie tun, was in unseren Kräften steht, gnädige Frau«, sagte Johannsen galant. »Nennen Sie uns nur Ihre Bedürfnisse.« Mit dem rechten Arm machte er eine ausladende Bewegung, um auf das breite Angebot an dem verlockenden, durch Spezialglas geschützten, Geschmeide hinzuweisen.

»Sie sind wirklich sehr nett, Herr Johannsen«, Sonja schnurrte wie ein Kätzchen, daß gerade an der Sahne geleckt hatte.

»Aber das ist doch selbstverständlich«, er hob seinen rechten Arm, und einen Augenblick lang schien es, als wolle er seine Hand auf ihre Finger legen. Ihre Augen verengten sich leicht, sie schob ihre schmalen, schöngeformten Hände noch einige Zentimeter vor. Johannsen bog seinen Arm abrupt zurück, sein geübter Blick war über die Ringe gegangen, die sie trug.

Das war kein Talmi! Die Verarbeitung des edlen Materials war ihm fremd, aber er mußte von Meisterhand gemacht worden sein.

Frau Brinkmann schien seine Gedanken zu erraten. Ein leicht ironisches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Einige der Ringe hat mein Vater mir in den Staaten gekauft«, erklärte sie beiläufig.

Brinkmann! Brinkmann aus München! Der Juwelier überlegte angestrengt, ob ihm der Name irgendwie bekannt vorkam. Vielleicht hatte er ihm schon im Wirtschaftsteil einer überregionalen Zeitung gelesen. Unbewußt fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Kundin verwirrte ihn zusehends. Hans-Werner verstand sich selber nicht. Es war, als hätte diese Sonja ihn verhext.

Er war doch ein glücklich verheirateter Mann mit zwei gesunden fröhlichen Kindern. Die Stunden, die er mit seiner Familie verbrachte, waren die schönsten und wichtigsten für ihn.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß das Geschäft bald geschlossen wurde. Ein Gedanke schoß wie ein Blitz durch seinen Kopf.

Er räusperte sich nachdrücklich und zog nervös am Knoten seiner Krawatte. »Frau Brinkmann, ich zeige Ihnen gern unsere gesamte Kollektion. Heute ist es allerdings schon recht spät.«

Sein Lächeln sollte aufmunternd wirken, doch es geriet ihm nur kläglich. Wie lange war es her, daß er um eine Frau geworben oder mit ihr geflirtet hatte?

Sie beugte sich noch näher zu ihm heran. Er konnte den warmen Atem auf seiner Wange spüren, und die Knie wurden ihm weich.

»Ja, Herr Johannsen, was wollten Sie noch sagen?« half Sonja Brinkmann ihm aus der Verlegenheit.

»Ich möchte Sie zum Essen einladen!« Endlich waren die entscheidenden Worte heraus. Nun sah er auch nicht mehr aus wie ein Pennäler bei seiner ersten Flamme.

»Tja«, sie zögerte und es

schien, als überlege sie einen Moment lang angestrengt.

Hans-Werner staunte über die Vielfalt ihres Mienenspiels. Er war fast sicher, ihre Gedanken lesen zu können. Ihr Gesicht verzog sich zu einem fröhlichen Lächeln. »Selbstverständlich bin ich gern noch ein paar Stunden mit Ihnen zusammen, Herr Johannsen.« Ihre Stimme nahm ein dunkles Timbre an. »Ich bin sicher, wir haben etliche gemeinsame Interessen.«

»Wie wunderbar, Frau Brinkmann. Ich...«

Mit ihrem Kleinmädchenlächeln fiel sie ihm ins Wort. Einige Kunden waren in das Geschäft gekommen. »Wir sollten vielleicht lieber später...«

Er verstand augenblicklich, was sie meinte. Und war überrascht, neben ihrer Schönheit auch noch Klugheit zu entdecken.

Er winkte ein junges Mädchen heran. »Yvonne, bitte führen Sie Frau Brinkmann in das Nebenzimmer.« Er wandte sich an seine Kundin. »Möchten Sie etwas trinken? Eine Tasse Kaffee vielleicht oder ein Gläschen Champagner?«

Sonja schüttelte nur den Kopf, ungeduldig wandte sie sich um, die Anwesenheit der anderen Kunden schien sie zu stören.

Johannsen entging ihre plötzliche Nervosität nicht. »Ich werde mich beeilen.«

Yvonne führte sie in einen kleinen mit zartgrünem Samt ausgeschlagenen Raum. Sie sah die neugierigen Blicke dieser Sonja Brinkmann und hätte ihr am liebsten eine Tasse heißen Kaffee ins Gesicht geschüttet. Yvonne war im zweiten Ausbildungsjahr, sie himmelte ihren Chef an. Und daß diese Angeberziege nicht unbedingt etwas Gutes im Schilde führte, erkannte sie trotz ihrer Jugend mit weiblicher Intuition.

Hans-Werner war in sein Büro geeilt. Mit einem Knopfdruck auf den Telefonhörer hatte er die direkte Verbindung zu seiner Wohnung.

Unruhig trommelte er mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn, als sich sein kleiner Sohn Jens meldete.

»Papa!« krähte er. »Kommst du gleich nach Hause? Juliane und ich haben etwas für dich gebastelt. Freust du dich?«

»Sicher freue ich mich, mein Schatz«, unwillkürlich glitt ein zärtliches Lächeln über das Gesicht. Jens war ein richtiger Pfiffikus. Und auf die siebenjährige Juliane konnte er stolz sein. Er liebte seine Kinder über alles, und unvermittelt rann ihm ein Kälteschauer den Rücken herunter. Die Hand mit dem Telefonhörer zitterte. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang wollte er den Plan für heute abend umwerfen.

»Hol bitte die Mama ans Telefon, Jens«, seine Stimme war ungewollt streng.

»Mama ist nicht da. Aber sie kommt in zehn Minuten wieder«, berichtete der Fünfjährige eifrig.

Sein Vater preßte die Lippen zusammen. »Sag der Mama, daß ich heute abend später komme. Wirst du das auch nicht vergessen?« fügte er eindringlich hinzu.

»Ganz bestimmt nicht, Papa«, versicherte Jens mit kindlicher Wichtigkeit.

»Du ist ein gescheiter Junge, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich.«

»Aber was wird denn aus unserer Überraschung?« rief der Kleine aufgeregt. Sein Vater hörte die Worte nicht mehr, er hatte das Gespräch bereits unterbrochen.

*

»Oma, gehst du am Samstagnachmittag mit uns in den Zirkus?« Bittend schaute Juliane ihre Großmutter an. Mit beiden Armen umschlag sie die Taille der älteren Dame. »Jens und ich möchten soooo gern die Tiere sehen. Und den Clown. Berni aus meiner Klasse war mit seinem großen Bruder dort. Er sagte, es ist ganz toll.«

Marianne Johannsen fuhr ihrer Enkelin liebevoll mit der Hand über das glänzende Haar. »Ich kann leider nicht mit euch gehen...«, begann sie.

Die Siebenjährige unterbrach ihre Oma mit einem heftigen Aufstampfen des Fußes. »Ihr unternehmt überhaupt nichts mehr mit uns!« beschwerte sie sich trotzig. »Immer heißt es, wir haben keine Zeit. Warum haben Mama und Papa sich denn Kinder angeschafft, wenn sie nicht mit ihnen spielen wollen?«

Die Großmutter schmunzelte unmerklich. Diese Begründung, Eltern zu werden, war ihr neu.

Der Humor verging ihr allerdings rasch. Julianes Beschwerde kam nicht zu unrecht. Hans-Werner und Beatrix hatten sich stets intensiv um ihre beiden Kinder gekümmert.

Sicher, Mariannes Sohn hatte viel im Geschäft zu tun. Trotzdem hatte er bis vor wenigen Wochen das Frühstück, die Abende und selbstverständlich die Wochenenden mit seiner Familie verbracht.

Seit einiger Zeit hatte sich die Gewohnheit geändert. Hans-Werner war nur noch selten zu Hause. Er schob geschäftliche Probleme vor. Seine Aussagen waren vage und im Grunde nicht nachzuvollziehen. Bisher hatte seine Mutter nicht mit ihm gesprochen. Er war ein erwachsener Mann, und sie hatte kein Recht, sich in seine Familiengewohnheiten einzumischen.

Mit seiner Frau Beatrix schien er eine harmonische Ehe zu führen. Marianne war ihrer Schwiegertochter sehr zugetan. Sie wohnten im selben Haus. Die ältere Frau Johannsen hatte eine abgeschlossene schöne Wohnung mit einem großen sonnigen Balkon im oberen Teil des sehr großen Hauses. Ihr Reich war für die anderen tabu. Auch die Kinder durften nicht einfach hereinstürmen.

Beatrix war Lehrerin, sie liebte ihren Beruf. Dankbar nahm sie das Angebot ihrer Schwiegermutter an, sich während ihrer Abwesenheit um die Kinder zu kümmern.

Von Anfang an setzte Marianne Johannsen allerdings Grenzen. Sie wollte ihren eigenen Freiraum. Hans-Werner war über die Aktivitäten seiner Mutter sehr erfreut. Wie viele ältere Frauen saßen nur zu Hause und klagten über ihre Wehwehchen. Marianne dagegen war recht unternehmungslustig. Sie fuhr häufig während des Wochenendes fort, ging regelmäßig am Abend aus und ließ sich niemals von ihrem Sommerurlaub im Süden oder von den Skitouren im Winter abhalten.

Manchmal hatten Beatrix und Hans-Werner sich gefragt, ob die Mutter vielleicht irgendwann noch einmal einen Partner finden würde. Sie war seit über zehn Jahren Witwe. Ihre Vitalität und das gepflegte Aussehen ließen viele ältere Herren durchaus Interesse zeigen. Die Wünsche der Dreiundsechzigjährigen gingen jedoch offensichtlich nicht in dieser Richtung. Ihr Sohn war froh darüber. Die Vorstellung, seine Mutter mit einem fremden Mann zusammen zu sehen, verursachte ihm ein merkwürdiges Gefühl. Ja, wenn der Vater noch gelebt hätte...!

Aber Marianne war es nun einmal nicht vergönnt, gemeinsam mit ihrem Mann alt zu werden.

»Mutter ist viel zu alt für eine Beziehung zu einem Mann«, sagte Hans-Werner einmal zu seiner Frau.

Beatrix sah ihn zweifelnd an. »Bist du sicher, daß sie nichts vermißt?«

»Bestimmt nicht!« Er war entrüstet. »In dem Alter!«

Sie sagte nichts dazu, doch ihren eigenartigen Blick würde er nicht vergessen. Einen Augenblick lang kam ihm in den Sinn, daß sein Denken vielleicht egoistisch war. Nein, sagte er sich schließlich. Mutter stammt aus einer Generation, die viel prüder war, als wir es heute sind. Sie könnte niemals mit einem fremden Mann glücklich werden. Auch wenn Beatrix meint, sie könne etwas vermissen.

Da war sie sicherlich im Unrecht, Mutter hatte die Wechseljahre bereits seit langem hinter sich und dachte bestimmt nicht mehr an Sexualität. Schaltete sie nicht auch immer den Fernseher aus, wenn ein recht eindeutiger Film kam? Allerdings hatte er das nur unten in seiner Wohnung erlebt, wenn Marianne auf die Kinder aufpaßte, weil der Babysitter keine Zeit hatte und die Eltern ausgehen wollten.

Viele Gedanken gingen der Großmutter durch den Kopf, während sie Julianes hübsches Kindergesicht betrachtete. Die großen braunen Augen kontrastierten wunderbar zu ihrem blonden Haar. Jetzt zeichnete sich auf der Miene des Kindes deutlich die Enttäuschung ab.

Juliane ließ die Großmutter los, ging zum Fenster, stützte die Ellenbogen auf die Fensterbogen und schaute hinaus.