Komm tanzen - Lucia Jay von Seldeneck - E-Book

Komm tanzen E-Book

Lucia Jay von Seldeneck

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Beschreibung

Ein See, eine Party, eine Nacht, die alles verändert: Wie weit können wir gehen, ehe alles aus dem Ruder läuft? Es ist einer dieser allerersten warmen Abende: Die Luft ist schwer vom Fliederduft und von der Wiese hinter der Villa hört man die Musik, wie sie in den Himmel steigt, immer weiter, bis weit über den nachtschwarzen Wannsee. Alle sind da, wieder vereint, alte Freunde, gemeinsame Geschichten, hundert Mal erzählt. Aber was machen wir, wenn uns ganz plötzlich der Boden unter den Füßen weggerissen wird? Einfach so, von einem Moment auf den anderen? Wir kämpfen. Natürlich kämpfen wir. Und was machen wir, wenn uns bewusst wird, dass unser Glaubenssatz, unsere Lebenslosung, nämlich dass alles immer weitergeht, irgendwie, und dass alles gut wird, irgendwie, plötzlich gefährlich und atemstockend ins Wanken gerät? Jona sagt es laut, er sagt, es wird kein gutes Ende mehr geben. Jona ist elf Jahre alt. Alte Freund*innen, ein lauer Sommerabend und ein See voller Untiefen: Komm tanzen!, Lucia Jay von Seldenecks eindringlicher neuer Roman, nimmt uns mit auf eine Wannseeparty, auf eine Bootsfahrt mit ungewissem Ausgang. Zeigt uns, wo wir stehen. Es ist eine Momentaufnahme unter Freunden, mit Trotz und Träumen, vor allem aber ist es eine Aufforderung. Eine Aufforderung zum Tanz. Das gleichnamige Hörbuch erscheint als Digital-only bei GOYALiT.

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Seitenzahl: 140

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Lucia Jay von Seldeneck

Komm tanzen!

Roman

Das Buch

Es ist einer dieser ersten warmen Abende: Die Luft ist leicht vom Fliederduft und von der Wiese hinter der Villa hört man die Musik, wie sie sich aus den wummernden Bässen immer leichter macht, wie sie hoch in den Himmel steigt, und dann noch höher bis über den nachtschwarzen Wannsee. Dort ist die Nixe zu Hause.

Alle sind da, wieder vereint, alte Freunde, gemeinsame Geschichten, hundert Mal erzählt.

Aber was machen wir, wenn uns ganz plötzlich der Boden unter den Füßen weggerissen wird? Einfach so, von einem Moment auf den anderen? Wir kämpfen. Natürlich kämpfen wir.

Und was machen wir, wenn uns bewusst wird, dass unser Glaubenssatz, dass alles immer weitergeht, irgendwie, und dass am Ende alles gut wird, irgendwie, gefährlich und atemstockend ins Wanken gerät? Jona sagt es laut, er sagt, es wird kein gutes Ende mehr geben. Jona ist elf Jahre alt.

 

Komm tanzen! nimmt uns mit auf eine Wannseeparty, auf eine Bootsfahrt mit sehr ungewissem Ausgang. Zeigt uns, wo wir stehen. Eine Momentaufnahme unter Freunden, mit Trotz und Träumen, vor allem aber ist es eine Aufforderung. Eine Aufforderung zum Tanz.

 

Die Autorin

Lucia Jay von Seldeneck lebt und arbeitet als freie Autorin in Berlin-Kreuzberg.

Von Lucia Jay von Seldeneck sind fünf Berlin-Bücher in der Reihe »111 Orte« im Emons Verlag erschienen sowie drei Bücher mit Kurzgeschichten beim kunstanstifter Verlag.

Komm tanzen! ist nach Weltfrieden ihr zweiter Roman bei GOYA.

No hope is enough

I’ve stopped hoping, I’m learning to trust

Kae Tempest: Grace

0.

Der See ist schwarz und tief. So tief, dass da kein Boden istfür uns. Ein endloser, schwarzer Schlund – das ist ihr Reich.

 

Sie ist stark. Man sieht es ihr nicht an, aber unter ihren langen offenen Haaren, ihren vollen Brüsten und versteckt hinter ihren verführerischen Gesängen, da lauert ihre Kraft. Eine unerbittliche Kraft.

 

Und sie fordert ihren Tribut. Sie muss ihn einfordern. So will es das Gesetz, das seit Urzeiten besteht. Es besagt: Wer sich an den Schätzen der Nixe vergreift, den holt sie zu sich.

 

Wir sind machtlos, das Wasser ist zu kalt, zu schwarz, zu bodenlos. Doch dann, kurz bevor wir aufgeben, nichts mehr wollen und schon gar nichts mehr entgegenstellen wollen, da plötzlich erkennen wir, warum sie uns geholt hat.

Wir haben es in der Hand.

Nach der Nacht

Und als die Nacht vorbei war, ging es weiter, natürlich ging es weiter, irgendwie. Zuerst schien alles unwirklich, wie erstarrt, und wenn wir uns wiedertrafen, begegneten sich unsere Blicke, und wir suchten nach Worten, aber wir fanden sie nicht. Also blieb es unausgesprochen. Denn natürlich hatte die Schildhornsage recht, natürlich war nach der Nacht die Welt eine andere.

Und wenn ich jetzt wirklich eine Antwort darauf finden müsste, was nach der Nacht für mich anders wurde, dann würde sie vielleicht in etwa lauten:

Es ging eben nicht mehr einfach weiter, auch nicht irgendwie. Das war vorbei. Es war nicht Jonas Panik vor der Hitze oder seine Angst zu verdursten, die nicht mit der Realität zusammenpassten. Sondern es ging um genau diese Realität. Wir mussten lernen, sie zu begreifen. Denn sie war das Erbe. Und wir waren diejenigen, die es weitergaben.

Das war nicht sofort klar nach der Nacht. Zuerst war es vielmehr eine Art Schwebezustand, so wie wenn man die ersten Takte vom Lied hört, von dem alten, bekannten Lied, diese allerersten Töne, die einen schon in Alarm versetzen, jeden Einzelnen von uns, weil wir es alle spüren: Wir sind bereit und warten nur noch auf den Schub, der von irgendwo ganz tief innen kommt und den man nicht beeinflussen kann. Und dann ist die Bewegung auf einmal da, sie leitet uns, sie führt uns zusammen. Wir verschmelzen in Musik und Tanz, neue Formen entstehen, und auch eine Wucht entwickelt sich, eine gemeinsame Wucht, die wieder andere mitreißen kann.

Und daher war das, was nach der Nacht kommen musste, vor allem eine Aufforderung.

Eine Aufforderung zum Tanz.

I

18:30 Uhr

»Wie findest du es?« In Coras Glas schwimmt ein einziger großer Eiswürfel in einer hellgrünen Flüssigkeit.

Ich schaue meine große Schwester an und sage: »Ziemlich nah dran.« Aber es ist perfekt. Die langen Tische auf der Wiese, die bunten Blumengestecke und dahinter das Ufer mit dem Steg, der mitten hineinführt, hinein in den Wannsee.

 

Und überhaupt der Wannsee: Auf jeder Welle die tanzenden Lichtflecke, und dazu der Geruch, dieser ganz und gar eigene Wannsee-Geruch, eine Mischung aus Wasser, ein bisschen Schmodder und Benzin und dann noch dieses undefinierbare, algig-frische Etwas, das so in der Nase kitzelt, dass man gar nicht anders kann, als sich auf eine unbeschreibliche Weise befreit zu fühlen.

 

»Ich möchte auf der Stelle die ganze Welt umarmen«, seufzt Cora und prostet überschwänglich und mit ausladender Armbewegung dem ganzen großen Wannsee zu. Sie hat solche Gesten drauf. Aber sie fühlt auch wirklich, da bin ich sicher, in Momenten wie diesen eine tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit. Sie fühlt den Moment.

»Nein im Ernst«, sage ich und seufze übertrieben: »Es ist fulminant. Es würde sofort das Landlust-Coverbild des Jahres werden.«

Cora lacht. »Endlich am Ziel.«

Wir stehen nebeneinander und blicken über das Wasser. Ich drücke ihre Hand: »Du siehst toll aus. Alles sieht toll aus.«

Die große Schwester lächelt dankbar. Ich nehme ihr Glas und trinke es in einem Zug leer.

»Basilikum?«

Cora nickt. »Mit Wodka und Sekt. An der Bar nennen sie es russisch Koks. Oder war es flüssiges Koks?«

Ihre Augen funkeln verheißungsvoll und auch ein bisschen besorgt. Ich nehme sie in den Arm und spüre für einen Augenblick ihre Wärme. Sie strahlt auf mich ab. Unsere Körperlichkeit ist unsere Metaebene. Ich kann ihre Verfassung spüren. Umso mehr genieße ich es für einen Augenblick, ihr nah zu sein und sie dabei glücklich zu wissen.

»Und ich dachte, russisch Koks ist Kaffee und Zucker auf einer halben Scheibe Zitrone mit Wodka runtergespült.«

»Nee, das is’ doch ein Damengedeck! Das schaltet allerdings das Kurzzeitgedächtnis aus.« Cora schüttelt sich. »Hat mir mal ein Freund aus Wien erzählt. Für ziemlich genau eine Stunde.« Sie lacht. »Und das ist mir echt zu lang.« Sie streicht sich die Haarsträhne aus der Stirn, die eine, die ihr immer wieder ins Gesicht fällt, egal, ob sie die Haare offen trägt, als Zopf oder mit sämtlichen Haarspangen festgesteckt. Diese eine gewellte Strähne befreit sich wieder. Das war schon immer so.

 

»Kinnings, Schlachsahne!«, ich imitiere die dunkle und immer etwas zu laute Stimme unserer dickbusigen Köchin von früher. Sie hieß Frau Braten. Niemand hat je erfahren, ob das ihr richtiger Name war. Warum bin ich eigentlich nie auf die Idee gekommen, sie das zu fragen, fährt es mir durch den Kopf. Es war eben so.

 

Wir stehen wie immer auf unserer Position, dicht nebeneinander oben am Treppengeländer, wir umklammern die Stäbe und pressen die Köpfe hindurch, um mehr von der Eingangshalle sehen zu können. Wir haben schon unsere langen Nachthemden an und darüber wie immer die schweren Strickjacken, die so dick sind, dass man die Arme darin kaum beugen kann. Unsere Haare sind gekämmt und mit einer Haarspange ordentlich zur Seite festgesteckt. Und wenn Frau Braten dann diesen Satz sagt, der durch das ganze Haus dröhnt und auf den wir warten wie auf das Glöckchen vom Christkind, dann ist es das Zeichen für uns. Jetzt dürfen wir runterkommen. Denn dieser Satz bedeutet: Der Tisch ist fertig gedeckt, das Essen steht im Ofen, und die Sherrygläser sind auf dem Tablett angerichtet – alles ist genau so, wie es sein muss, wenn die Gäste hereinkommen.

 

Cora lacht. »Frau Braten würde bestimmt noch was finden, das noch nicht perfekt ist. Zum Beispiel die fehlenden Kinder am Treppengeländer.« Doch wie um dem Gedanken keine zu große Bedeutung zukommen zu lassen, lacht sie laut und stürmt los, um eine Gruppe Freundinnen zu begrüßen, die durch das Gartentor aufs Haus zukommen.

 

Dass ich vom Schreibtisch direkt hergekommen bin, ohne mich vorher umzuziehen, hat sie großzügig übersehen. Kein Kommentar zu Jeans, Turnschuhen und schwarzer Bluse.

 

»Hey«, sagt Claire und stellt sich neben mich: »Du brauchst so was alles nicht, Lotte.«

Sie knufft mich in die Seite. »Weil du, du hast una apariencia.« Claire guckt mich an und muss über meinen Gesichtsausdruck lachen. »Sí señor, du hast dein Lachen. Das ist es. Weil, wenn du lachst, dann lacht auch dein Gesicht. Ja wirklich! Und dann«, Claire macht eine ihrer dramatischen Pausen, »dann sie stäärben alle für dich!«

Wir müssen beide lachen.

Ich kenne Claire noch nicht sehr lange. Sie hat eine kleine Stupsnase mit dunklen Sommersprossen drauf. Und wenn Claire Komplimente verteilt, so wie gerade jetzt, dann guckt sie selbst so überrascht, als habe sie eben erst eine Entdeckung gemacht und könne sie selbst noch gar nicht glauben. Ihr Gesicht besteht dann zur einen Hälfte aus einem Lächeln und zur anderen Hälfte aus Stirnrunzeln, und man kann beim besten Willen nicht sagen, welche Hälfte gewinnt. Es bleibt beim Unentschieden. Oder nein, meistens steckt sie so jeden zum Lachen an.

 

Claire und ihr elfjähriger Sohn Jona wohnen seit Kurzem im selben Haus wie wir in Schöneberg, im Vorderhaus. Jona und unser Sohn Paul haben sich im Lockdown angefreundet. Claire hat kurze schwarze Locken und näht sich ihre Kleider selbst. Sie schneidert sich Sachen aus gebrauchten Kleidungsstücken, meistens enge Blusen und weite Hosen im Stil der 20er-Jahre. Und sie verkauft ihre Kleider im Internet und auf Märkten. Heute trägt sie einen Overall aus Ballonseiden-Trainingsanzügen. Und jeder, der uns auf der Wiese entgegenkommt, bleibt mit dem Blick an dieser türkisgrünen Erscheinung hängen.

 

Niemand weiß genau, woher Claire und Jona gekommen sind. Claire spricht Spanisch, aber sie hat einen französischen Namen und einen etwas französischen Akzent.

Sie sagt: »Jetzt, du verstehst: jetzt, ich bin hier.«

Und dann guckt sie derart überrascht, dass man selbst nicht auch noch überrascht sein kann. Der Lockdown kam, und Claire, die eigentlich nicht bleiben wollte, blieb. Und als ich heute im Hof von der Party am See erzählt habe, hat sie so sehnsüchtig und ungläubig geguckt, dass Peer und ich lachen mussten. Peer hat sich dann bereit erklärt, zu Hause bei Paul und Jona zu bleiben.

 

Alle sind aufgekratzt wie Kinder vor dem Eisladen. Und Cora hat keinen Anlass heraufbeschworen, sondern den Moment zum Anlass erkoren.

»Wieso Geburtstag?«, sagt sie zu den Gästen. »Der Sommer ist ja wohl immer noch der beste Grund, um zu feiern!«

 

Die Vorfreude auf diese Nacht ist mit beiden Händen zu greifen, so voll ist die Luft von ihr. Der Garten ist inzwischen kaum noch zu sehen vor lauter Menschen. Diese Nacht muss so viel wiedergutmachen, dass es ein Wunder ist, dass diese Anspannung überhaupt auszuhalten ist.

 

Aber feiern können wir. Das ist eine Gewissheit, die wir alle nur so versprühen. Sie flirrt durch die Abendluft und setzt sich auf jeden Grashalm und auf jede Fliederblüte. Das Feiern, die gemeinsame Zeit hält uns zusammen und gibt uns Sicherheit: Es geht weiter mit uns.

 

Das war schon immer so. Ja, dann sind wir in unserem Element: Tom zum Beispiel. Tom tanzt und tanzt und tanzt, und egal, ob die warme Morgensonne nach der Party schon zum Fenster reinknallt oder ob wir an Silvester die Sekunden runterzählen und vor lauter Übermut schon damit beginnen, noch bevor die Teller und Töpfe vom Tisch sind, so wie wir seit jeher, niemand weiß mehr genau, wann es anfing, unseren Turbojahreswechsel die ganze Nacht lang immer wieder zu jeder vollen Stunde feiern: Wir überspringen mit jeder Stunde die Jahre und setzen uns über Zeit und Raum hinweg. Und Tom tanzt. Und Cora schart die Männer um sich, und sie lacht, und alles wirkt so leicht und glücklich. Eine Fee, denke ich, darf aber nicht ins Schwärmen geraten. Denn ich, ich bin ja immer die, die trotzdem alles im Blick behalten muss. Es klingelt. Die Polizei. Alle rufen: »Lotte! Lotte, schnell, du musst das machen, Biiiiitte« – und schon sind sie wieder weg, sie tanzen und flirten und lassen mich das machen. Und ich schaffe es immer, irgendwie, ohne eigentlich zu wissen, wie das geht oder was auf dem Spiel steht.

»Lotte heiratet bestimmt mal einen Polizisten«, sagen sie. »Die Bullen stehn auf dich, Lotte, du musst sie nur anlächeln.« »Perfekte Voraussetzung für die Verbrecherkarriere«, sagt ein anderer. »Aber nicht doch«, sagt Cora, »Lotte ist viel zu schlau. Meine kleine Schwester rettet mal die Welt.«

 

Ich ziehe die Schuhe aus und gehe barfuß über die Wiese zur Bar. Es ist nach einem nicht enden wollenden Winter ganz plötzlich Sommer geworden. Noch ganz ungläubig fühle ich das Gras mit den Füßen, spüre die Erde darunter und registriere die wiederkehrende Verbundenheit. Und auch, wie sehr sie gefehlt hat. Die Bar besteht aus langen Brettern über aufgetürmten Getränkekästen. Die dicken weißen Tischdecken und die bauchigen Vasen mit je einer Armvoll Flieder darin lassen die einfache Konstruktion würdevoll und elegant aussehen. Wahren Stil kann man nicht kaufen, hat unsere Tante immer gesagt. Hinter der Bar lassen die Birken ihre hellgrünen Blättervorhänge hin und her wehen, sodass sich immer wieder dieses eine kleine Guckloch auftut, durch das man auf den See gucken kann. Das Blinzeln der letzten Sonnenflecken auf dem Wasser durch die Birkenzweige hindurch erschüttert mich. Ich fühle mich plötzlich aus dem Zusammenhang gerissen. Dieses Grün von überall- her blendet mich, ich kann es nicht aufnehmen, ich fühle mich ungelenk und vollkommen außerstande, mich auf diesen Abend einzulassen.

 

Was machen wir hier? Was versprechen wir uns von diesem Abend? Ich möchte mich davonschleichen und niemanden sehen, und schon gar nicht kann ich die Kraft für diese lange Nacht aufbringen, die vor mir liegt.

Doch dann ist der Moment auch schon wieder vorüber, so, als hätte ich nur kurz die Luft angehalten. Ich nehme mir ein Bier. Kleine Grasbüschel zeigen sich zwischen meinen Zehen, wenn ich sie in den Boden grabe. Ein Gänseblümchen quetscht sich mit hindurch. Ich pflücke es und stecke es in das Knopfloch meiner Bluse. Ein bisschen Stil muss sein.

 

Ein Caterer baut neben der Bar ein Buffet auf. Den Blick auf das Wasser kenne ich inzwischen gut. Wenn meine große Schwester anruft, dann fahre ich mit der S-Bahn die Strecke durch den Wald, bis es sich schließlich so anfühlt, als habe man die Stadt schon seit Stunden verlassen. Ich nehme mir die Bücher mit und lese sie in der Bahn. Ich habe das Bahnfahren so in meinen Arbeitsrhythmus integriert, dass es mich nicht weiter stört. Ich habe es verinnerlicht, für meine große Schwester da zu sein, wenn sie mich braucht.

 

Ich sitze im Kinderzimmer an ihrem Bett. Die Vorhänge sind zugezogen, es ist ganz dunkel. Cora hat 39,8 Grad Fieber. Mal wieder. Ich halte ihre Hand, sie glüht. Immer sind es 39,8 Grad Fieber, und kein Arzt kann sagen, was der ältesten Tochter fehlt. »Die Pubertät vielleicht«, mutmaßt ein zurate gezogener Onkel, »sie äußert sich manchmal auf skurrile Weise. Der Körper arbeitet eben. Es geht vorbei.«

Aber es ging nicht vorbei, sondern meldete sich immer wieder. 39,8 Grad.

 

»Wir sind wieder da-ha!«, schreit Bulle und rennt in einer weißen Unterhose an mir vorbei und rein ins Wasser. Bulle ist klein, kahlköpfig, aber überall sonst sehr behaart, und er trägt schon immer seine weißen »Schlüppi«, genau wie den, den er jetzt gerade allen präsentiert. Ich kenne niemanden, der Bulle nicht sofort lieben würde. Und er würde sich gleichermaßen sofort für jeden von uns aufopfern. Bulle hat eine Bar, die nicht größer ist als zwei, drei Bushaltestellen, ein riesengroßes Herz und immer einen guten Spruch. Er kommt aus Brandenburg an der Havel. »Ich bin hier der Quoten-Ossi und nebenbei für die Stimmung zuständig«, sagt Bulle, wenn er sich vorstellt.

 

Es sieht lustig aus und etwas unbeholfen, wie er ins Wasser stakst, zum einen weil das Wasser noch kalt ist und zum anderen weil das Wannseeufer voller piksender Wasserpflanzen ist, die man von außen nicht sehen kann, die einem die Lust am Badengehen allerdings schnell verderben können. Aber Bulle lässt sich nichts anmerken, und das wiederum setzt etwas frei, eine Bewegung, einen Tumult sogar. Die meisten lassen sich anstecken und rennen hinterher. Auch Cora lässt sich das nicht zweimal sagen. Sie rennt über den Steg und springt ins Wasser.

 

Es ist kalt. Ich schnappe nach Luft. Es ist kalt und nass und herrlich. Cora hat Claire und mich einfach mitgezogen, und ohne dass ich es richtig mitbekomme, bin ich im Wasser.