Komm zurück, Vati! - Anna Sonngarten - E-Book

Komm zurück, Vati! E-Book

Anna Sonngarten

1,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Rainer Sievert packte seinen Koffer, während er über das externe Mikro mit seiner Schwiegermutter telefonierte. Er war spät dran und musste jetzt alles auf einmal regeln. Julian war in seinem Zimmer und packte seinen kleinen Koffer, den er immer mitnahm, wenn er bei seiner Oma ›geparkt‹ wurde. Der Begriff war liebevoller gemeint, als er klang. Nach dem Unfalltod seiner Frau Sandra hatte sich der Kontakt zu seiner Schwiegermutter intensiviert, und inzwischen waren sie ein gutes Team. Annegret Schneider hatte die Fürsorge, die sie ihrem geliebten Enkel entgegenbringen konnte, geholfen, über den schweren Verlust ihrer Tochter hinwegzukommen. Rainer Sievert hingegen brauchte seine Schwiegermutter, da er als Anlageningenieur beruflich oft im Ausland zu tun hatte. »Wohin geht es dieses Mal?«, fragte sie interessiert, obwohl sie seinen Einsatzort dann oft wieder vergaß. Rainer war weltweit unterwegs, um technische Anlagen, Maschinen und Kraftwerke zu warten, die unter Mithilfe deutscher Ingenieurskunst gebaut worden waren. »Arizona, Hoover-Damm. Das Wasserkraftwerk«, antwortete er und warf ein paar Hemden in den Koffer. »Wie lange wirst du weg sein?« »Höchstens eine Woche; wenn alles glatt läuft, bin ich sogar schon eher zurück«. »Das wäre schön für Julian. Er ist zwar gerne bei seiner Oma, aber zu Hause ist es dann doch am besten. Da hat er seine Freunde und sein gewohntes Zuhause«, sagte Annegret Schneider, und Rainer Sievert dachte, dass seine Schwiegermutter eine bemerkenswerte Frau war. Sie liebte Julian, wusste aber, dass ein Achtjähriger gleichaltrige Freunde brauchte, mit denen er Jungensachen machen konnte.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 68 –

Komm zurück, Vati!

… denn Julian hat so viel Aufregendes zu berichten

Anna Sonngarten

Rainer Sievert packte seinen Koffer, während er über das externe Mikro mit seiner Schwiegermutter telefonierte. Er war spät dran und musste jetzt alles auf einmal regeln. Julian war in seinem Zimmer und packte seinen kleinen Koffer, den er immer mitnahm, wenn er bei seiner Oma ›geparkt‹ wurde. Der Begriff war liebevoller gemeint, als er klang. Nach dem Unfalltod seiner Frau Sandra hatte sich der Kontakt zu seiner Schwiegermutter intensiviert, und inzwischen waren sie ein gutes Team. Annegret Schneider hatte die Fürsorge, die sie ihrem geliebten Enkel entgegenbringen konnte, geholfen, über den schweren Verlust ihrer Tochter hinwegzukommen. Rainer Sievert hingegen brauchte seine Schwiegermutter, da er als Anlageningenieur beruflich oft im Ausland zu tun hatte.

»Wohin geht es dieses Mal?«, fragte sie interessiert, obwohl sie seinen Einsatzort dann oft wieder vergaß. Rainer war weltweit unterwegs, um technische Anlagen, Maschinen und Kraftwerke zu warten, die unter Mithilfe deutscher Ingenieurskunst gebaut worden waren.

»Arizona, Hoover-Damm. Das Wasserkraftwerk«, antwortete er und warf ein paar Hemden in den Koffer.

»Wie lange wirst du weg sein?«

»Höchstens eine Woche; wenn alles glatt läuft, bin ich sogar schon eher zurück«.

»Das wäre schön für Julian. Er ist zwar gerne bei seiner Oma, aber zu Hause ist es dann doch am besten. Da hat er seine Freunde und sein gewohntes Zuhause«, sagte Annegret Schneider, und Rainer Sievert dachte, dass seine Schwiegermutter eine bemerkenswerte Frau war. Sie liebte Julian, wusste aber, dass ein Achtjähriger gleichaltrige Freunde brauchte, mit denen er Jungensachen machen konnte. Das sah sie ganz realistisch.

»Okay, Annegret, ich muss dann mal weitermachen. Wir sehen uns in etwa zwei Stunden, wenn ich nicht wieder hinter einem Traktor herfahren muss«, sagte er lachend. Seine Schwiegermutter wohnte in Maibach. Normalerweise brauchte er für die 20 Kilometer von Igelshofen nach Maibach eine Viertelstunde, aber in der ländlichen Gegend konnten landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge schon mal den Schnitt verderben.

»Bist du fertig mit Packen, Julian?« Rainer steckte seinen Kopf ins Kinderzimmer. Julian saß auf dem Boden und war mit Lego beschäftigt. Der Koffer stand halb gepackt daneben. Der Junge schaute auf.

»Oh, ja klar. Ich mache jetzt weiter.« Sein Hydraulikbagger nahm nun ›kurz‹ seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Rainer verstand das und packte für seinen Sohn weiter.

»Wie sieht es mit den Schulsachen aus? Ist alles drin im Schulranzen, oder fehlt noch etwas?«

»Alles drin«, behauptete Julian und sah den Vater mit seinen blauen Augen treuherzig an.

Rainer warf noch einmal einen Blick hinein und entdeckte eine Brotdose mit halb gegessenem, eingetrocknetem Frühstücksbrot, die er herausfischte und den Inhalt entsorgte. Er versuchte bei allem, was noch bedacht und erledigt werden musste, ruhig und entspannt zu bleiben, und merkte manchmal selbst, dass er nur eine Rolle spielte. In Wahrheit war er oft gestresst.

Er dachte an seine Freundin Evelyn. Sie waren jetzt seit einem Jahr zusammen. Wenn er aus Arizona zurückkäme, würde er ihr endlich einen Antrag machen, nahm er sich vor. Sie würde ihm eine Stütze sein. Evelyn war Geschäftsfrau. Sie war die Erbin von Kosmetik-Krohn, ein Unternehmen, das sie jetzt leitete. Sie war eine tolle Frau. Groß und schlank, lange schwarze Haare, perfektes Styling. Mit Julian verstand sie sich leider noch nicht so gut. Das würde sich ändern, wenn sie zusammenlebten. Da war er sich sicher.

Als Rainer mit Julian endlich im Auto saß, atmete er tief durch. Sie waren gut in der Zeit. Sein Flug ging in drei Stunden.

*

Annegret Schneider hatte in ihrer Wohnung ein Kinderzimmer für Julian eingerichtet. Es war das alte Kinderzimmer von Sandra. Es tröstete sie, dass nun Julian dieses Zimmer zumindest zeitweise bewohnte. Manchmal erwischte sie sich bei dem Gedanken, dass Rainers Beruf auch Vorteile hatte. Einige ihrer Freundinnen sahen ihre Enkel sehr selten. Doch dann schüttelte sie diesen Gedanken wieder ab, denn was hätte sie dafür gegeben, wenn Julian eine Mutter gehabt hätte – und wenn diese Mutter Sandra gewesen wäre. Tatsache war aber, dass Sandra starb, als Julian zwei Jahre alt war. Julian war Trost und Erinnerung zugleich, denn das liebenswerte Kind ähnelte seiner Mutter mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen, die so treuherzig in die Welt schauten. Aber er hatte auch charakterliche Gemeinsamkeiten mit seinem dunkelhaarigen Vater. Das Interesse für Technik war sehr ausgeprägt. Oma Annegret hatte sich in diese Materie eingearbeitet und wusste inzwischen viel über Technikspielzeug.

Rainer hielt sich nur kurz bei Annegret Schneider auf, denn der Ablauf war Routine. Es musste nicht viel erklärt werden. Die Situation war allen vertraut. Die nächste Woche war Julians zu Hause in Maibach. Manches war sogar von Maibach aus einfacher, denn er ging in die dritte Klasse in Bachenau, das näher an Maibach als an Igelshofen lag. Wenn er bei Oma Annegret war, brachte sie ihn zum Bus, und er fuhr allein zur Schule, wie ein großer Junge. Das gefiel ihm.

Als sein Papa jedoch die Tür von Oma Annegrets Wohnung hinter sich zugezogen hatte, fühlte Julian etwas im Magen, als wäre da ein Stein drin. Das war mal mehr, mal weniger stark. Heute war es stärker. Er sah seine Oma an, die ihm aufmunternd zulächelte. »So, mein Lieber. Was wollen wir machen? Erst Abendessen, oder noch mal raus an die frische Luft?«

»Lieber raus«, entschied Julian, denn mit dem Stein im Magen hatte er keinen Hunger. Das mit der frischen Luft war so ein Erwachsenending. Die wollten immer an die frische Luft. Julian wollte zum Spielplatz im Stadtpark von Maibach. Da gab es eine super Rutsche.

»Gut, ich zieh schnell meinen Mantel über und los geht‹s«, sagte Annegret. Auf dem Spielplatz angekommen, stellten sie fest, dass heute viele Kinder da waren, die Julian teilweise aus der Schule kannte. Das war gut. Das brachte Julian schnell auf andere Gedanken, denn Annegret hatte durchaus bemerkt, dass der sensible Junge sich beim Abschied nicht wohlgefühlt hatte. Sie wollte mit Rainer noch mal über die Situation sprechen, wenn er zurück war. Vielleicht konnte er seine weltweiten Einsätze reduzieren und mehr im Inland eingesetzt werden oder als Manager für die Koordination zuständig sein, als immer selbst nach Dubai oder sonst wohin zu fliegen.

Sie hatte sich auf eine Bank gesetzt, sah Julian beim Spielen zu und ließ ihre Gedanken schweifen. Seit einiger Zeit hatte Rainer auch eine neue Frau an seiner Seite. Sie hatte den Namen vergessen. Ihr war klar, dass Rainer nicht immer allein bleiben würde. Er war Ende dreißig. Noch ein junger Mann. Doch sie hatte auch Sorge, dass eine neue Frau alles verändern würde. Oder war ihr die Frau, deren Namen sie sich nicht merken konnte, einfach nur unsympathisch? Julian winkte ihr lachend zu. Sie liebte ihn sehr.

*

Ein neuer Morgen in Sophienlust. Das Herrenhaus erwachte. Der Park erstrahlte im frühen Morgenlicht und ließ den Raureif auf dem Rasen glitzern. Die Luft war noch kalt, sodass man den Atem der schnaubenden Pferde sah. Mitte Mai schickten die Eisheiligen noch einmal Wintergrüße.

Dominik von Wellentin-Schoenecker, der Besitzer des Kinderheims Sophienlust, war im Stall und packte mit an. Angelina Dommin, die wegen ihrer vielen Sommersprossen von allen ›Pünktchen‹ genannt wurde, strich sich das rotblonde krause Haar aus der Stirn. Trotz der Kühle des Morgens war ihr warm, denn Stallarbeit war anstrengend.

»Bist du mit Füttern fertig, Pünktchen?«, rief Nick, wie er von allen genannt wurde, durch die Stallgasse.

»Nur noch Amigo«, rief sie zurück. Das Islandpferd war Pünktchens Liebling. Für ihn nahm sie sich immer ein bisschen mehr Zeit.

»Gut, dann gehen wir zusammen zum Frühstück«, schlug Nick vor.

»Machen wir«, rief sie munter zurück. Pünktchens Magen knurrte schon, aber es war für Pferdenarren selbstverständlich, dass ihre Tiere zuerst drankamen.

Im Esszimmer von Sophienlust duftete es schon. Die Köchin Magda hatte wie immer neben den üblichen Frühstückssachen etwas Besonderes gemacht. Fast jeden Tag gab es eine kleine Überraschung. Heute waren es Pancakes mit Heidelbeeren und Ahornsirup. Die liebten alle. Kim und Heidi und die Schwestern Viktoria und Angelika Langenbach saßen schon am Tisch. Fabian, Martin und Simon kamen gleichzeitig mit Pünktchen und Nick herein. Die Kinderschwester Regine Nielsen und die Heimleiterin Else Rennert, die von den Kindern ›Tante Ma‹ genannt wurde, tranken nur noch einen zweiten Kaffee, denn sie waren schon länger auf und hatten bereits gefrühstückt. Zuletzt kam Denise von Schoenecker. Sie lebte mit ihrem zweiten Mann Alexander, dem elfjährigen Sohn Henrik und Nick auf Gut Schoeneich. Das Gut lag in geringer Entfernung. Da Nick in den letzten Jahren immer mehr Verantwortung für Sophienlust von seiner Mutter übertragen bekommen hatte und mit seiner Volljährigkeit auch offiziell der Besitzer geworden war, blieb er inzwischen oft über Nacht in Sophienlust. Dort hatte er ein gemütliches Dachzimmer.

Nach dem Frühstück besprachen Denise und Nick im Büro das Tagesgeschäft. In Sophienlust gab es immer etwas zu tun, was außerhalb der üblichen Routine lag, und die war schon umfangreich genug. Magda wollte heute mit dem kleinen Transporter den Wocheneinkauf erledigen und brauchte Unterstützung, die Gärtnerei wollte das Frühjahrsprogramm besprechen, weil es Frostschäden gab und einige Pflanzen ausgetauscht werden sollten. Else Rennert war aufgefallen, dass Renovierungsarbeiten im Spielzimmer notwendig waren. Das alles hatte Denise aufgezählt und schaute ihren Sohn erwartungsvoll an.

»Gibt es noch etwas auf deiner Seite?«, fragte sie.

»Ja, es gibt eine Anfrage wegen der Schulpraktika. Das Gymnasium hat angefragt, wie viele Schülerpraktikumsstellen wir für das zehnte Schuljahr anbieten können.«

»Und, was hast du geantwortet?«

»Ich könnte eine Praktikumsstelle als Pferdewirt beziehungsweise Pferdewirtin anbieten, und vielleicht bei Magda in der Küche?«

»Hm, da müssen wir Magda fragen.«

»Was wollen Sie mich fragen?« Magda stand plötzlich in der Tür zum Büro. Sie hatte schon den Mantel an und wollte los. Zur Erinnerung wedelte sie mit dem Einkaufsplan.

»Ich komme gleich, Magda. Wir haben gerade überlegt, ob Sie eine Schülerpraktikantin oder -praktikanten in Ihrer Küche unterbringen könnten?«, fragte Denise. Sie befürchtete, dass Magda lieber allein in ihrer Küche herumwuselte.

»Wann denn genau? Wir wollten doch einen Tag der offenen Tür anbieten. Das wird sehr viel Arbeit, auch in der Planung. Aber von mir aus gerne«, antwortete die resolute, aber warmherzige Köchin.

»Ja, das stimmt, Magda. Da können wir jede Hilfe gebrauchen«, sagte Nick und scrollte auf seinem Smartphone herum. »Ja, hier habe ich das Datum. Das Praktikum endet genau Ende Mai. Das würde doch passen.«

»Wir werden beim Tag der offenen Tür alle mithelfen müssen, und vielleicht brauchen wir auch noch zusätzliche Hilfe«, meinte Denise. »Ich schau mal in die Liste unserer Unterstützer und Gönner, ob jemand Lust und Zeit hat, mitzuhelfen.«

Der Aufenthalt in Sophienlust war zum größten Teil kostenlos, denn mit der Not von Kindern sollte kein Geld verdient werden. Das war die Verfügung von Sophie von Wellentin gewesen, der Urgroßmutter von Nick. Sie hatte das schlossähnliche Anwesen an Nick vererbt, mit der Auflage, daraus ein Kinderheim zu gestalten. Sophienlust gab in Not geratenen Kindern eine neue Heimat. Manche Kinder blieben vorübergehend, andere dauerhaft.

Nachdem der Zeitplan für den heutigen Tag feststand, gingen alle ihren Verpflichtungen nach. Die Kinder waren mit dem roten Bus und Harald, dem neuen Fahrer, zur Schule unterwegs. Nick rief im Gymnasium an und gab der Rektorin die möglichen Praktikumsplätze bekannt. Das Gespräch mit dem Gärtner überließ er lieber seiner klugen und schönen Mutter Denise. Es war ihm immer unangenehm, wenn der Gärtner von Pflanzen sprach, die er nicht kannte. Für ihn war wichtig, diejenigen Pflanzen zu kennen, die Kindern und Pferden gefährlich werden konnten, wenn sie damit in Kontakt kamen. Damit war sein Interesse an Botanik erschöpft. Mit noch nicht mal zwanzig Jahren musste er nicht alles wissen.

*

Annegret Schneider hatte ihren Enkel Julian zum Bus begleitet und wollte auf dem Rückweg einkaufen gehen. Julian hatte sich Spaghetti mit Tomatensoße gewünscht, und diesen Wunsch erfüllte ihm seine Oma gern.

Als sie den kleinen Supermarkt in ihrer Nähe betrat, fühlte sie es zum ersten Mal. Etwas war heute anders. Aber mit zweiundsiebzig fühlte man sich nicht jeden Tag gut, und so ignorierte sie den merkwürdigen Zustand. Als sie aber an der Theke Aufschnitt bestellen wollte, bekam sie außer einem unverständlichen, verwaschenen Gebrabbel kein Wort heraus.

Die junge Verkäuferin, die Annegret bedienen wollte, war auf Zack. Da sie sie kannte, fiel ihr auf, dass Annegrets linker Mundwinkel herabhing. Sie rief sofort nach weiteren Kolleginnen. Man setzte die alte Dame auf einen Hocker. Ihr linker Arm hing schlaff herab. Das linke Bein kippte zur Seite weg, und sie wäre auch vom Hocker gerutscht, hätte man sie nicht festgehalten.

»Wir brauchen einen Notarzt. Ich kenne das. Das ist ein Schlaganfall. Mein Opa hatte das auch«, rief die junge Verkäuferin aufgeregt. Zum Glück waren nicht viele Kunden im Geschäft, sodass sich alle Angestellten kümmern konnten.

In weniger als zehn Minuten waren die Sanitäter vor Ort, und bereits nach zwanzig Minuten wurde Annegret Schneider in der Notaufnahme versorgt. Der Verdacht auf einen Schlaganfall löste eine Kette von Untersuchungen aus. Zunächst musste durch eine Computertomografie geklärt werden, ob eine Hirnblutung oder eine Minderdurchblutung des Gehirns vorlag. Es war eine Durchblutungsstörung. Mit Kontrastmittel konnte man die Stelle des Verschlusses genau lokalisieren. Ein Blutgerinnsel verstopfte ein Hirngefäß. Jetzt hatte man zwei Methoden zur Wahl: Das Blutgerinnsel mechanisch zu entfernen, oder das Blutgerinnsel durch Medikamente aufzulösen. Für die mechanische Entfernung war die Klinik in Maibach nicht spezialisiert genug. Eine medikamentöse Auflösung hatte womöglich nicht denselben Erfolg und dauerte länger. Die Patientin war erst zweiundsiebzig. Die Ärzte und Ärztinnen hatten ein Zeitfenster von weniger als sechs Stunden. Man entschied sich für eine Verlegung mit dem Hubschrauber in die Klinik nach Stuttgart.

Von diesen Überlegungen bekam Julians Oma kaum etwas mit, und wenn doch, hätte sie sich nicht äußern können. Als die Kinder der Klasse 3a, zu der auch Julian gehörte, plötzlich das Geräusch von Rotorblättern eines Hubschraubers hörten, der die Schule überflog, ahnte das Kind nicht, dass sich sein Leben dramatisch verändern würde.

*

Julian war allein mit dem Bus zurückgefahren. Normalerweise holte ihn seine Oma dann an der Bushaltestelle ab. Heute war sie nicht gekommen. Julian dachte, dass sie sich bestimmt verspätet hätte, und ging los. Den Weg kannte er ja. Als Oma ihm aber nicht öffnete, wurde er unruhig. Er klingelte bestimmt zehnmal und hoffte immer, dass Oma plötzlich um die Ecke bog. Dann kam Frau Benrath, eine betagte Nachbarin, die auch im Haus wohnte. Sie kannte Julian und bot ihm an, zu ihr hereinzukommen.

»Ich habe einen Reserveschlüssel von deiner Oma. Wir schauen gleich mal, was passiert ist«, schlug sie vor. Aber nach einer kurzen Inspektion war klar, dass die Wohnung leer war.

Frau Benrath wollte den Jungen nicht ohne Aufsicht in der Wohnung warten lassen. »Du kannst bei mir warten, Julian. Deine Oma kommt bestimmt bald«, munterte sie den Jungen auf. Frau Benrath bot Julian sogar etwas zu essen an, aber da Oma ja Spaghetti kochen wollte, trank er nur ein Glas Wasser.

»Frau Benrath, ich verstehe das nicht. Es ist noch nie vorgekommen, dass Oma nicht da war, wenn ich aus der Schule komme. Ob da nicht doch etwas passiert ist?« Diese Frage stellte Julian, als nach einer halben Stunde immer noch keine Oma kam. Frau Benrath fand das auch merkwürdig, doch zunächst zögerte sie noch, das zu tun, was ihr spontan einfiel. Nach einer weiteren Viertelstunde griff sie endlich zum Telefon. Sie überlegte, wo zuerst. Bei der Polizei oder im Krankenhaus. Sie entschied sich für Letzteres.

»Klink Maibach, was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, Benrath mein Name. Könnte es vielleicht sein, dass heute eine Frau Schneider bei Ihnen eingeliefert wurde?« Frau Benrath kam sich albern vor. Eigentlich konnte das doch nicht sein.

»Schneider, sagten Sie?«, fragte die Dame an der Rezeption nach.

»Ja, Annegret Schneider.«

»Sind Sie eine Angehörige von Frau Schneider?«, fragte die Dame.

»Nein, ich bin nur die Nachbarin. Aber es ist so, dass der Enkel von Frau Schneider bei ihr wohnt. Der Junge ist acht und sitzt jetzt bei mir, weil seine Oma nicht da ist. Sein Vater arbeitet zurzeit im Ausland«, erklärte Frau Benrath.

»Moment, ich verbinde Sie mit der Notaufnahme.« Es entstand eine Pause. Offenbar war die Dame an der Rezeption mit der Tragweite dieser Information überfordert.

»Dr. Gerlach, Notaufnahme«, hörte Frau Benrath in diesem Moment eine männliche Stimme. »Ich bin schon informiert. Es geht um den Fall Schneider. Wir mussten Frau Schneider in eine Spezialklinik verlegen. Sie hat einen Apoplex, also einen Schlaganfall. Geben Sie mir bitte Ihre Adresse. Ich möchte jemanden vorbeischicken, der sich um den Jungen kümmert«, sagte Dr. Gerlach.

»Was? Wen wollen Sie denn vorbeischicken? Das ist ja furchtbar!« Die Stimme von Frau Benrath klang so entsetzt, dass Julian sofort anfing zu weinen. Das hörte der Arzt sogar durch das Telefon.