Unglück in den Bergen - Anna Sonngarten - E-Book

Unglück in den Bergen E-Book

Anna Sonngarten

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Noël!«, rief Frau Keller entsetzt und riss den Elfjährigen grob am Arm und damit weg von seinem Opfer, auf das Noël mit seinem Lineal einschlug. Noël entwand sich dem Griff der Lehrerin und trat gegen den erstbesten Ranzen, der ihm in die Quere kam. Der Inhalt entleerte sich und ein Mädchen schrie erbost auf. Ein anderes eilte zur Hilfe, doch da hatte Noël schon einem weiteren Ranzen einen Tritt verpasst. Sein Kopf glühte und er atmete schwer. Einige Jungen grölten, andere kicherten oder schauten erwartungsvoll, was Frau Keller als Nächstes einfiel, um Noël zu bändigen. Sie versuchte, ihn wieder am Arm zu packen, doch der Junge wich aus und lief zur Tür. »Bleib stehen, Noël!«, rief die Lehrerin. Ihre Worte zeigten keine Wirkung und die Lehrerin wusste nicht weiter, denn sie konnte nicht an zwei Orten zugleich sein: Dem Wüterich hinterherlaufen und die Klasse beaufsichtigen. Zum Glück war eine Referendarin auf dem Flur. »Noël soll beim Rektor warten. Bringen Sie ihn bitte ins Büro!«, rief sie der jungen Kollegin zu. Die Referendarin Annette Harms stellte sich Noël in den Weg. Noël blieb aber nur stehen, weil er keine Luft bekam. »Mein Spray … Kai hat mein Spray«, brachte er mühsam hervor. Für einen Moment war die Referendarin irritiert.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 82 –

Unglück in den Bergen

Unveröffentlichter Roman

Anna Sonngarten

»Noël!«, rief Frau Keller entsetzt und riss den Elfjährigen grob am Arm und damit weg von seinem Opfer, auf das Noël mit seinem Lineal einschlug. Noël entwand sich dem Griff der Lehrerin und trat gegen den erstbesten Ranzen, der ihm in die Quere kam. Der Inhalt entleerte sich und ein Mädchen schrie erbost auf. Ein anderes eilte zur Hilfe, doch da hatte Noël schon einem weiteren Ranzen einen Tritt verpasst. Sein Kopf glühte und er atmete schwer. Einige Jungen grölten, andere kicherten oder schauten erwartungsvoll, was Frau Keller als Nächstes einfiel, um Noël zu bändigen. Sie versuchte, ihn wieder am Arm zu packen, doch der Junge wich aus und lief zur Tür.

»Bleib stehen, Noël!«, rief die Lehrerin. Ihre Worte zeigten keine Wirkung und die Lehrerin wusste nicht weiter, denn sie konnte nicht an zwei Orten zugleich sein: Dem Wüterich hinterherlaufen und die Klasse beaufsichtigen. Zum Glück war eine Referendarin auf dem Flur.

»Noël soll beim Rektor warten. Bringen Sie ihn bitte ins Büro!«, rief sie der jungen Kollegin zu. Die Referendarin Annette Harms stellte sich Noël in den Weg. Noël blieb aber nur stehen, weil er keine Luft bekam.

»Mein Spray … Kai hat mein Spray«, brachte er mühsam hervor. Für einen Moment war die Referendarin irritiert. Doch etwas in dem flackernden Blick des Jungen beunruhigte sie.

»Welches Spray?«

»Asthma, Notfallspray«. Noël stützte sich auf einem Tisch ab. Diese atemerleichternde Haltung hatte er in der Kur gelernt. Die Referendarin zögerte nicht lange und spurtete in die Klasse zurück. Sie kannte Kai, und als sie sich vor ihm aufbaute, reichte der Junge ihr grinsend das Spray.

»Was ist das?«, fragte Frau Keller genervt.

»Das Notfallspray für Noël«, war die kurze Antwort und wenige Sekunden später inhalierte Noël das für ihn lebenswichtige Medikament, das seine verkrampften Bronchien weitete, damit er wieder ausatmen konnte. Langsam beruhigte sich seine Atmung. Annette Harms beobachtete den schmalen Jungen. Als sie den Eindruck hatte, dass er wieder einigermaßen beisammen war, führte sie ihren Auftrag aus. Eine halbe Stunde später saßen Noëls Mutter, Henrike Steinfeld, die stellvertretende Rektorin und Frau Keller im Büro des Schulleiters. Noël war nicht anwesend. Er saß bei der Sekretärin im Vorzimmer. Es war das dritte Mal in diesem Schuljahr, dass man Henrike in die Schule zitiert hatte.

Die junge zierliche Frau spürte eine Atmosphäre der Ungeduld und Gereiztheit, die sich hinter der professionellen Ansprache der Rektorin verbarg. Henrike unterdrückte einen Seufzer, während die Rektorin die »Vergehen«, die man Noël anlastete, zusammentrug. Frau Keller, die Klassenlehrerin schaute säuerlich.

»Wir erleben nicht selten, dass Jungen von alleinerziehenden Müttern auffällig werden. Vielleicht fehlt Noël ein männliches Vorbild. Noël kann sich nicht einfügen. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit anderen Jungen in der Klasse«, fasste sie die Lage zusammen. Henrike Steinfelds Meinung nach war das eine verkürzte Sichtweise auf die Ereignisse. Sie suchte den Blickkontakt zur Klassenlehrerin.

»Ich verstehe, dass Sie nicht jedem Konflikt ursächlich auf den Grund gehen können, aber Frau Harms sagte mir soeben, dass Kai Henning meinem Sohn sein Notfallspray weggenommen hat. Beim letzten Mal hatten zwei Jungen Noël als »Schlappi« bezeichnet, weil er am Sportunterricht nicht teilgenommen hatte. Vor einer Woche haben wieder andere ihn »Dampflok« genannt und seine keuchende Atmung nachgemacht. Muss ein Elfjähriger, der unter Asthma leidet, so etwas stillschweigend akzeptieren? Sind Sie als Schule nicht dafür verantwortlich, dass Kinder mit einem Handicap nicht ausgegrenzt werden?« Henrike hatte ruhig angefangen, doch ihr Ton war plötzlich schärfer geworden. Dass Noël der Vater fehlte, konnte sie schließlich nicht ändern. Sie hatte sich ihr Leben als alleinerziehende Mutter nicht ausgesucht.

»Noël muss lernen, sich Hilfe zu holen, anstatt mit einem Lineal auf ein anderes Kind einzuschlagen …«, erklärte Frau Keller in einem betont nachsichtigen Tonfall.

»Habe ich das richtig verstanden, Frau Keller? Ein Junge nimmt meinem Sohn ein lebenswichtiges Medikament weg, nur um ihn zu ärgern, und Sie finden es schlimmer, dass Noël mit einem Plastiklineal schlägt? Ich würde doch vorschlagen, dass Sie die Eltern von Kai einmal einbestellen.« Henrike Steinfeld war aufgestanden. Sie war eine zierliche Frau, doch die unterdrückte Wut brach sich nun Bahn und ließ sie größer erscheinen, als sie war. Ihre grünen Augen blitzten und ihre Lippen zitterten.

»Und falls sie noch einen Tipp für mich haben, wie ich an einen Mann komme, nur raus damit. Vielleicht haben Sie damit ja auch Erfahrung«, sagte sie mit beißender Ironie und verließ das Büro. Die beiden Pädagoginnen blieben verdattert zurück.

*

Das Alpenpanorama zeigte sich im kühlen blauen Morgenlicht. Henrike Steinfeld stand auf dem kleinen Balkon einer gemütlichen Frühstückspension, die zu einer Alm gehörte, trank eine Tasse Tee und atmete tief durch. Dann stellte sie die Tasse zur Seite und begann mit einigen Yogaübungen, die für sie als Yogalehrerin zur Morgenroutine gehörten. Der Balkon bot gerade so viel Platz, um den Sonnengruß durchzuführen: Vorbeuge, Brett, kleine Kobra, herabschauender Hund, Bergposition. Und wieder von vorn. Ihre Fähigkeit, ganz bei sich zu sein und sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, hatte Henni, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, schon in verschiedenen Situationen geholfen, nicht die Nerven zu verlieren. Im letzten Gespräch mit der Rektorin und der Klassenlehrerin war ihr das nicht gelungen. Da hatte es mehr gebraucht als eine Atemübung, um Henni wieder zu beruhigen. Sie war sofort nach der Unterredung zu Dr. Anja Frey gefahren. Die Kinderärztin betreute Noël schon viele Jahre und war auch für Henrike eine Ansprechpartnerin geworden. Dr. Frey hatte sich die Geschichte aufmerksam angehört und kam zu dem Schluss, dass auch Henrike Steinfeld ein Umfeld brauchte, in dem sie zur Ruhe kommen konnte.

»Die Kur im Hochgebirge hat Noël sehr gut getan. Ich würde Ihnen raten, im Urlaub nicht zu Ihren Eltern nach Spanien zu fahren. Ich weiß, dass Ihre Eltern sich freuen würden, aber für Noël sind die Berge besser. Im Hochgebirge gibt es keinen Pollenflug. Die sauerstoffärmere Luft sorgt dafür, dass vermehrt rote Blutkörperchen gebildet werden, die den Sauerstoff transportieren. Und außerdem ist es ruhiger. Sie sagten doch, dass Ihre Schwester mit den Kindern auch immer dazu kommt«, hatte Dr. Frey mit ihrer ganzen ärztlichen Autorität und trotzdem warmherzig vorgeschlagen.

Henrike hatte zögernd zugestimmt. Es war richtig. Ein Urlaub bei ihren Eltern und mit ihrer Schwester und deren lauter Familie war eigentlich nicht das, was sie sich wünschte. Natürlich waren alle enttäuscht, aber es war die richtige Entscheidung gewesen. Das Haus auf Mallorca war ein Traum, aber nicht der richtige Ort für Noël und auch nicht für Henrike.

»Wir besuchen euch dafür in den Weihnachtsferien«, hatte sie ihre Mutter getröstet und sie darauf hingewiesen, dass Silvia mit ihrer Familie doch auch noch da wäre. Ihre Schwester Silvia kam jedes Jahr nach Spanien und eigentlich sollte das für ihre Mutter doch Trubel genug sein. Drei Jungen, die von morgens bis abends lautstark den Pool bevölkerten, und ein Schwiegersohn, der sich gerne im Urlaub als Hobbykoch betätigte und die Küche in ein Schlachtfeld verwandelte. Silvia wiederum ließ sich wie eine Prinzessin bedienen und war selten dazu bereit, ihrer Mutter unter die Arme zu greifen. Vielleicht war das auch der Grund, warum ihre Mutter wollte, dass Henni und Noël kamen. Noël liebte seine Großeltern, war ruhig und verständig und Henni half dabei, das Chaos im Haus nicht ausufern zu lassen.

Henni seufzte, als sie an Silvia und ihre Familie dachte, nahm einen letzten tiefen Atemzug und schaute, ob Noël noch schlief. Sie sah nur seinen Wuschelkopf. Sie ließ das Gespräch mit der Rektorin und der Klassenlehrerin noch einmal Revue passieren und eine Anspannung kehrte in ihr schönes Gesicht zurück. Dass Noël ein männliches Vorbild bräuchte, hatte Henrike schwer getroffen. Ob die Lehrerinnen glaubten, dass es ihre Entscheidung war, mit Noël allein zu leben? Ich bin nicht freiwillig alleinerziehend, dachte sie. Noël hat einen Vater. Dass sich sein Vater nicht kümmerte und ständig wechselnde Freundinnen hatte, war nicht das, was sie sich für ihren Sohn wünschte. Aber was sollte sie dagegen unternehmen, fragte sie sich.

Frank Steinfeld oder »Franco Sartori.«, wie er sich mit Künstlernamen nannte, war ein gefeierter Schlagerkönig. Sie hatten geheiratet, als er noch ein unbekannter Sänger war. Dann kam Noël und mit Noël sein Durchbruch als Schlagerkönig. Anfangs war es wie ein Rausch. Sie waren mit dem Säugling auf Tournee gefahren. Doch schon bald bekam ihre Beziehung Risse. Henni wollte kein Leben im Tour-Bus. Sie wollte eine richtige Familie. Sie wollte ihren Mann nicht mit den weiblichen Fans teilen. Dann kamen »Francos« Seitensprünge und es hatte ihr gereicht. Noël war achtzehn Monate alt, als sie sich trennten.

»Muss ich auch schon aufstehen?« Eine verschlafene Stimme riss Henni aus ihren Gedanken. Noël war aufgewacht, strampelte die Bettdecke zurück und reckte sich.

»Wir wollen früh los. Bevor es zu heiß wird«, sagte Henni.

»Okay«, war die knappe Antwort und Noël sprang aus dem Bett. Für einen Elfjährigen war Noël groß und schlaksig. Er stand auf der Schwelle zum Jugendlichen. Mit seinen dunkelblonden Haaren und den grünen Augen glich er seiner Mutter. Seine Größe hatte er eindeutig von Frank, seinem Vater. Schon jetzt reichte er seiner zierlichen Mutter bis zur Schulter. Geplant war eine letzte Wanderung mit dem Bergführer Sebastian Oberammer, denn morgen würden sie nach Hause abreisen. In der ersten Woche hatten Mutter und Sohn es langsam angehen lassen, weil sich Noël erst akklimatisieren sollte. In der darauffolgenden Woche hatten beide mit kürzeren Wanderungen begonnen und sich trotzdem übernommen. Muskelkater und Blasen an den Füßen waren die Folge gewesen. Die Pensionswirtin Gundel Weißenhuber hatte den »Flachlandtirolern«, wie sie ihre Gäste liebevoll nannte, den Bergführer empfohlen.

»Gehen Sie mal mit dem Sepp. Der kennt sich in unserer Gegend wie in seiner Westentasche aus. Und der merkt auch, was sie sich zutrauen können. Die meisten Unfälle in den Bergen passieren deshalb, weil sich die Leute übernehmen«, hatte sie im urbayerischen Tonfall vorgeschlagen.

Heute war schon die zweite Wanderung mit dem Bergführer geplant und das hatte nur einen Grund, nämlich Sebastian Oberammer. Deshalb war Noël so schnell auf den Beinen. Nach einem kleinen Frühstück packten Henni und Noël ihre Rucksäcke mit dem von der Pensionswirtin vorbereiteten Proviant. Pünktlich um acht stand Sebastian vor dem Almhof und begrüßte Henni und Noël mit einem kameradschaftlichen Handschlag und dem für die Berge typischen »Du«.

»Hallo ihr beiden. Und, Noël, hast du gut geschlafen und bist fit für den heutigen Anstieg?«, fragte der Bergführer.

»Klar doch«, sagte Noël und grinste.

»Hast du auch dein Notfallspray dabei?«, fragte Sebastian. Er war von Henni instruiert worden, doch zu Hennis Überraschung kannte sich Sebastian gut mit Asthma aus. Noël zeigte sein Spray und der Bergführer nickte und zeigte ihm einen Daumen hoch.

Mit einem Seitenblick registrierte der Bergführer, dass Henni nicht nur zweckmäßig gekleidet war, sondern auch zauberhaft aussah. Sie trug eine Wanderhose, die ihre schlanken Beine zur Geltung brachte und eine karierte Bluse, in der sie frisch und jugendlich wirkte. Sebastian musste zweimal hinsehen. Henni lächelte. Der Bergführer gefiel nicht nur Noël. Henni mochte seine lässige Sportlichkeit, die nicht antrainiert, sondern ganz natürlich wirkte, als sei es die größte Selbstverständlichkeit, unangestrengt und mühelos die Berge zu erklimmen. Er benutzte nicht viele Worte, aber fand sofort den richtigen Ton für Noël. Der Junge hatte bei der ersten Wanderung kein einziges Mal gemault, dass der Weg zu lang oder zu schwierig wäre. Noël strengte sich an. Er wollte Sebastian zeigen, was er »drauf«, hatte. Dass man ihn als »Schlappi« bezeichnet hatte, nagte noch immer an ihm. Sebastian holte vor dem ersten Anstieg sein Smartphone heraus und zeigte die Route, die sie heute zurücklegen würden.

»Wir haben einiges vor und werden vierhundert Höhenmeter zu bewältigen haben. Aber wir machen viele Pausen. Der Weg führt an drei bewirtschafteten Almen vorbei. Für den Rückweg können wir auch den Sessellift nehmen, wenn es gar nicht mehr geht«, schlug Sebastian vor. Dann sah er in den strahlend blauen Himmel. »Das Wetter soll laut Wettermeldung von heute früh stabil bleiben. Wir werden sehen.«

»Das sieht nach einem perfekten Tag aus. Keine Wolke am Himmel«, meinte Henni.

»Ja, aber in den Alpen ändert sich das Wetter mitunter schnell«, gab er zu bedenken. Henni und Noël konnten sich das nicht wirklich vorstellen. Aber sie hatten auf Anweisung von Sebastian Regensachen und einen warmen Pullover eingepackt. Die erste Alm erreichten sie nach anderthalb Stunden. Der Himmel war immer noch wolkenlos, aber Wind kam auf und ließ Henni frösteln. Gut, dass sie jetzt eine Softshelljacke überstreifen konnte. Sie setzten sich und stellten die Rucksäcke ab. Noël brauchte keine Pause und sah sich lieber auf der Alm um. Sebastian und Henni kamen ins Gespräch.

»Noël macht seine Sache wirklich gut. Er scheint medikamentös gut eingestellt zu sein. Das Asthma macht sich nicht bemerkbar. Das habe ich schon anders gesehen. Wir haben in der Nähe eine Klinik für Asthmapatienten. Ich biete manchmal Workshops für Kinder an. Viele Kinder mit Asthma werden von ihren Eltern in Watte gepackt. Das ist nicht gut. So kommt es nämlich zu einer Abwärtsspirale und die Kondition der Kinder wird immer schlechter. Sie sitzen stundenlang vor dem Computer oder Fernseher, weil sie ja Asthma haben und sich nicht überanstrengen sollen. Wenn sie mal ein paar Kilometer gehen sollen, beginnt gleich das große Jammern«, sagte der Bergführer.

»Noël hatte es in letzter Zeit nicht leicht. Er wurde geärgert. Einmal konnte er nicht beim Sport mitmachen, weil er einen Infekt hatte. Da haben sie ihn »Schlappi« genannt oder »Dampflok«. Erst vor kurzer Zeit hat ihm ein Junge sein Notfallspray weggenommen. Noël hat mit seinem Lineal auf den Übeltäter eingeschlagen und deshalb mächtig Ärger bekommen.« Henni machte eine Pause. Sie wollte nicht wie eine übereifrige Mutter klingen, die ihr Kind, egal was es angestellt hatte, verteidigte. Dann fügte sie noch hinzu: »Er ist beeindruckt von dir und möchte zeigen, dass er mithalten kann«, sagte Henni lächelnd. Sebastian sah Henni ruhig in die Augen, bis sie verlegen wegschaute.

»Du hast als Mann leichtes Spiel bei ihm«, fügte sie hinzu und wurde zu ihrem Ärger rot. Sie griff nach ihrem Getränk und dreht sich nach Noël um. Er stand bei den Ziegen und fütterte sie mit Löwenzahn.

»Es gibt einen einfachen Trick, gesunden Kindern zu zeigen, was es bedeutet, Asthma zu haben. Man lässt sie durch einen ganz kurzen Strohhalm Luft holen. Sie dürfen nur durch den Mund atmen. Dann sollen sie Kniebeugen oder etwas Ähnliches machen. Die meisten Kinder haben Spaß an solchen Experimenten und sie sind sehr wirkungsvoll. Kaum ein Kind schafft mehr als ein paar Kniebeugen«, erklärte er.

»Ich weiß. Als Noël in der Kurklinik war, hat man mit den Eltern dieses Experiment auch gemacht. Es ist beängstigend zu wissen, wie schlecht das eigene Kind Luft bekommt, besonders während eines Anfalls«, sagte Henni tonlos und Sebastian kam sich für einen Moment dumm vor. Er wechselte das Thema.

»Was ist denn mit Noëls Vater?«, fragte der Bergführer. Henni drehte sich wieder zu Sebastian herum. Sein Blick ruhte auf ihr.

»Sein Vater spielt in Noëls Leben eine untergeordnete Rolle«, sagte sie schnell.

»Inwiefern?«

»Insofern, als dass ich geschieden bin und Frank viel beschäftigt ist. Er hat nur sporadisch Zeit für Noël. Eigentlich kommt er nur, wenn ich ihn ausdrücklich darum bitte. Zu Noëls Geburtstag und zu Weihnachten kommt er. Nicht zuverlässig, aber meistens. Dann bringt er auch große Geschenke mit …«

»Er bringt Geschenke mit, aber keine Zeit?«, fragte Sebastian nach und ließ Henni nicht aus den Augen.

»Genau, so ist es«, sagte sie. »Aber ich sollte fairerweise erwähnen, dass Noëls Vater Franco Sartori ist.«

Sebastian lachte auf. »Sorry, wer? Dieser Schlagerstar? Wirklich?«