Königin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 3 - Andrea Storm - E-Book

Königin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 3 E-Book

Andrea Storm

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Beschreibung

Prophezeiung oder trügerische Weissagung? Haithabu - größtes und reichstes Handelszentrum im Norden - 9. Jahrhundert Eine Nachricht warnt Häuptling Gorm Grymme und Thyra Danebod: Ein gewaltiges Kriegsheer aus Schweden, Angelsachsen und germanischen Stämmen zieht gen Haithabu. Die Stadt verspricht Schätze, reichlich Sklaven und den Tod der Rivalen. Thyra ist schon längst keine Sklavin und Feindin mehr, sondern eine hart ausgebildete Kriegerin. Die Einheimischen beäugen sie trotzdem misstrauisch. Als Fremde will sie den Frauen sagen, was zu tun ist? Die Prophezeiung der Göttin Freyja lässt Hoffnung aufkeimen: "Thyra wird die Wikingerfrauen im Kampf gegen die Feinde anführen und den Danewall ausbauen. Sie ist von uns Göttern auserwählt." Feinde kommen jedoch nicht nur übers Meer und Land. Die Neider in den eigenen Reihen sind mächtig. Wird sie die Kämpfe überleben und endlich mit ihrer großen Liebe vereint sein? Erlebe mit, wie Thyra sich ihrer Bestimmung stellt!

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ANDREA STORM

Königin

DER

WIKINGER

Die Jelling-Dynastie

Band 3

Historischer Roman

Storm, Andrea : Königin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 3. Hamburg, acabus ­Verlag 2023

1. Auflage 2023

ISBN: 978-3-86282-858-6

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-359-3

Buchsatz & Innengestaltung: Phantasmal Image

Lektorat: Amandara M. Schulzke, acabus Verlag; Sarah Weber, Hörstel

Korrektorat: Amandara M. Schulzke

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Bildern von istock / Getty Images Plus (© Robert Eyers, © Olga_Anourina, © michelsass, © kavrishka), Adobestock (© Lars Gieger, © Epic Fantasy Maps), Wikipedia (@Sven Rosborn) und Shutterstock (© Fotokvadrat)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2023

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Gedruckt in Deutschland

Jedwede Reise folgt einem geheimen Ziel,

einem Bestimmungsort,

von dem der Reisende nichts ahnt.

Sei mutig, entschlossen und wissbegierig.

Dann erlebst du eine Freiheit,

die vorher unerreichbar schien.

Prolog

»Eig-a pú pat már heid-r fat-a? Hast du das Möwennest gefunden?«

»Iur! Ja!«, rief Thyra zu Elfa hinauf. »Pat már fat-a ligg-ja á ei-n-n gjog-r folg-in-n. Mi-n-n-st-r fim egg sín á Reiter! Es liegt tief in einer Felsspalte verborgen. Mindestens fünf Eier sind im Nest!«

Thyra hing an einem Seil am Steilhang. Tief unter ihr tobten die gewaltigen Fluten des Nordmeeres. Aufgeregt kletterte die junge Frau an der Felswand seitwärts und warf einen schnellen Blick hinauf zum Klippenrand.

»Lá-ta me-k fir-r lí-t-il-lá-t-r! Pan-an efl-a ek sú már egg bet-r árn-a! Lasst mich weiter herab! Dann kann ich die Möweneier besser erreichen!«

Sie hatte sich das dicke Hanfseil um die Taille gebunden und hing mit den anderen Vogelfängern an der steil hinabfallenden Felswand des nördlichen Vogelfelsens von Vestmannabjorgini, der Nordmeerinsel der fár-oer1. Das Seil glitt durch ihre Hände. Federnd stieß sie sich mit den Füßen von der rí-p2 ab und fand einige Meter tiefer erneut den Kontakt zum Fels. So sprang sie in unzähligen Bögen von einem Möwennest zum anderen. Geschickt kletterte sie an der Felswand und erreichte das Möwennest unter sich. Das Möwenpaar hatte es vor Sonne und Nässe geschützt in einer mit Gras bewachsenen Felskluft gebaut.

»Ek eig-a pat heid-r! Ich habe das Vogelnest!«, rief Thyra zur fy-g-l-a, der Vogelfängerin Elfa, die am Klippenrand stand. Die Färöerin sicherte Thyra mit vier Wikingerfrauen an der Steilwand mit dem Hanfseil ab.

»Hvé hót egg sín á heid-r? Wie viele Eier sind im Nest?«, rief Elfa zur het-ja3 Thyra hinunter. Sie beugte sich vorsichtig über den Abgrund und spähte in die Tiefe.

Geröll löste sich vom zerklüfteten, mit Moos bewachsenen Fels, kollerte über den Rand, schlug auf einen Felsvorsprung, zerbrach, platschte in die brechenden Wellen und versank. Lautlos trudelten die Steine dem Meeresgrund entgegen und wurden zum Spielball der gefährlichen Meeresströmung.

Die Wellenberge donnerten gegen die Steilwand. Die Gischt flog, vom Wind getragen, hoch hinauf bis zu den Vogelfängerinnen an der Felswand.

Elfa warf einen bedeutungslosen Blick auf die herunterfallenden Steine und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Thyra. Zufrieden beobachtete die faereyiarnerin4, wie die het-ja die gesprenkelten, vom Gefieder noch warmen Möweneier vorsichtig in den mit Flaum und Federn ausgepolsterten Schaflederbeutel legte. »Sie hat schnell gelernt«, lächelte die faereyiarnerin. »Viel besser, als ich es ihr zugetraut hätte.«

»Fim5«, murmelte Thyra und legte das letzte Ei behutsam in den Beutel.

Der raue Nordwind fegte scharf und eiskalt über die rotbraunen Felsen der Färöer Inseln. Doch Thyra lächelte zufrieden, hing selbstsicher über der Brandung und sah glücklich über das aufgewühlte Meer zum Horizont.

Bauchige weißgraue Wolken zeigten immer größer werdende azurblaue Lücken im Himmel. Die weiß schäumenden Kappen unzähliger Wellenberge, vom Sonnenlicht angestrahlt, ließen den Sturm, der weit draußen auf dem Nordmeer tobte, erahnen. Basstölpel segelten elegant mit den Strömungen des Windes. Sie stießen im Flug ihren urtümlichen Ruf aus, flogen rasend schnell über das Meer und landeten wenig später geschickt auf der kabbeligen Meeresoberfläche.

Papageientaucher, Trottellummen, Basstölpel, Albatrosse, Sturmschwalben und unzählige Möwenarten tummelten sich über den Inseln und im Wind der langsam wärmer werdenden Frühlingsluft. Beinahe alle Zugvögel brüteten schon. Doch die faereyiarner warteten angespannt auf die Ankunft eines bestimmten Vogels – den Austernfischer.

Sie hielten Ausschau nach dem schwarz-weiß gefiederten Vogel, mit dem langen roten Schnabel und den staksigen dünnen Beinen. Denn er war der tjaldur, der Frühlingsbote. Der Vogel, der mit seiner Ankunft Licht, Sonne und Wärme versprach. Der Austernfischer war der Vogel, der auf den Inseln das Ende des langen dunklen Winters verkündete und den Frühling prophezeite.

Der eisige Winter auf den Färöer-Inseln ging seinem Ende entgegen. Die vom Rauch der Feuerstellen verqualmten Räume in den niedrigen Häusern wurden seltener. Nun kam die Zeit, an denen die Bewohner wieder etwas anderes aßen als gedörrtes Obst, Stockfisch, Wal- und Robbenfleisch, Fladenbrot und Schafskäse.

Die kalte Meeresgischt verscheuchte Thyras Träumereien. Eng an die nasse Felswand geschmiegt, suchte sie mit den Fingern einen gezackten Spalt, schob ihre Finger in das dunkle Loch, klammerte sich fest und ertastete mit den Zehenspitzen einen winzigen Vorsprung im zerklüfteten Felsen. Langsam schob sie sich an der nassen Wand entlang und fand den nächsten Vorsprung, einen weiteren Spalt, eine feste Ecke. Schweiß trat ihr von den Anstrengungen auf die Stirn, der vom scharfen Wind augenblicklich vertrieben wurde.

Konzentriert kletterte Thyra von einem Nest zum nächsten und sammelte die Möweneier ein. Dabei umschwirrten wütend kreischende Möweneltern die Eierdiebe, zielten im Sturzflug auf die Frauen und attackierten diese mit heftigen Schnabelhieben.

»Hné hót heid-r eig-a pú fat-a? Wie viele Nester hast du gefunden?«, rief Ruadhan, die lochlannach6, die einige Meter entfernt von Thyra an der Steilwand hing und ebenfalls Eier sammelte.

»Á-t-ján. En pú? Achtzehn. Und du?« Ruadhan stemmte sich mit den Beinen gegen die Felswand, blickte zu Thyra und lachte laut, während der Wind mit ihrem langen roten Haar spielte und sie selbst zum Spielball wurde.

»Saet-a. Pú mun-u bet-r mun-! Mí-n hre-d-jar sín skón-a ful-l-n-a me-d fó-ar-n. Ó-umraedi-lig-r hót, fló-r egg. Süße. Du musst besser werden! Mein Beutel ist schon voll mit Leckerbissen. Es sind unsagbar viele, warme Eier.«

»Pah!«, prustete Thyra und feixte. »Enn sín pú ei á haef-i en eig-a pín egg ey of-an va-s-ast. Mín hre-d-jar sín vird-u-lig-r hro-k-a! Noch bist du nicht am Ziel und hast deine Eier heil oben abgegeben. Mein Beutel ist prächtig gefüllt!«, höhnte sie. »En ek mun-u sú brag-r sín, sú of-an á kli-f bard sú egg á sú dýr in-n faereyiarnerinnen leg-g-ja mun-u! Ich werde die Erste sein, die oben am Klippenrand die Eier in die Hände der Wikingerinnen legen wird!

Ruadhan verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und runzelte die Stirn. Überlegend schürzte sie die Lippen und murmelte: »Ich glaube nicht, dass ich mich von einer ehemaligen thraell7 besiegen lassen werde.« Laut rief sie: »Mér mun-u sín lí-f-ga, hve-r sú fyr-st-r het-ja sín mun-u! Hve-r ór-ir faereyiarnerinnen sú fyr-st-r már egg pess á-r á sú lóf-i leg-g-ja mun-u! Wir werden es erleben, wer die erste het-ja sein wird! Wer unseren faereyiarnerinnen die ersten Möweneier des Jahres in ihre ausgestreckten Hände legt!«

»Á sú tif-a kli-f-r-a á in-n fo-g-l vegg-r! Auf die schnellste Kletterin an der Vogelwand!«, forderte Thyra ihre Freundin heraus.

»En ek mun-u sú sín! Und ich werde es sein!«, rief Ruadhan übermütig und begann bereits mit dem Aufstieg.

»Ek mun-u per mí-n dýr vi-n-n a en mun-u pín pják-a bol-r of pann kli-f bard drag-a, e-f pú van-meg-in-n of-an til-kom-a sín! Ich werde dir meine Hand reichen und deinen erschöpften Körper über den Klippenrand ziehen, wenn du entkräftet oben angekommen bist!«, lachte Thyra überschwänglich. Sie beeilte sich, den Vorsprung, den Ruadhan hatte, aufzuholen.

Entschlossen stemmte sie sich nach oben. Die Meeresbrandung prallte gegen die Küste und trieb die salzige Gischt hinauf bis zu den faereyiarnerinnen am Klippenrand.

»Ster-ta! Zieht!«, schrie Elfa. »Sí-a drí-f-a up-p! Ster-ta! Sie kommen hinauf! Zieht!«

Bergthora, die reiche Tuchhändlerin, rief mit vor Aufregung geröteten Wangen: »Flý-t-a yd-r! Mér vi-l-ja kál-a-st pann dám-r sá ó-umraedi-lig-r lyst-u-lig-r egg á ór tung-a grip-l-a. Beeilt euch! Wir wollen endlich den Geschmack dieser köstlichen Eier auf unserer Zunge zergehen lassen.«

»Ek et-a auk sed-r ei-n-ig-r rek-ling-r flei-r-i. Ich esse auch bald keinen Stockfisch mehr«, grummelte Ellisif. »Pat sín fyr mín geil-ig-r hál-a bring-a en mín fei-t-r gump-r s-an-n-sog-l-i ei gát. Das ist für meine schönen großen Brüste und meinen fetten Hintern wahrhaftig nicht bekömmlich«, jauchzte sie und zog.

»Mug-a sú rid-ul-l, sú at per undir sú fil-l-a bog-r-a sín frj-a, e-f pú komp-ás-ad-r en fei-t-r sín? Mag die Männerschar, die zu dir unter die Felle kriecht, es lieber, wenn du rund und fett bist?«, stichelte Malmfrid, die hinter Ellisif stand und zog.

Verächtlich drehte diese sich zur húsfreyja8 um und grinste sie und warf einen abfälligen Blick auf die dürre Frau. »Mín rid-ul-l mug-a fei-t-r kvend-i me-d gjó-lif-i brýst-i, ei-n-n bog-n-a kufr-ald-i en last-a-full-r krík-r. Meine Männerschar mag fette Weiber mit üppigen Brüsten, einem weichen Dickbauch und verführerischen Schenkeln.« Übermütig warf die Hure ihren Kopf in den Nacken und lachte herausfordernd. »Sí-a ligg-ja ged-ja-st á mér! Sie liegen gerne auf mir!«

»Pah!«, prustete Malmfrid launisch, während Bergdis, die Silberknotenfrau, seufzend ihre roten, abgeschürften Handflächen betrachtete und nuschelte: »Pat sín ei-n-ig-r di-k-t fyr ei-n-n heid-saer vik-ing-r. Pat bend-i rí-s-t-a mín fel-l. Hvé mun-n ek me-d s-lík-r klak-sár-r dýr pann sil-fr fad-m-r bók-a? Das ist keine Arbeit für eine angesehene Wikingerin. Das Seil zerschneidet meine Haut. Wie soll ich mit solch wunden Händen den Silberfaden sticken?«

»Sín hljó-d-r en drag-a! Sei still und zieh!«, befahl Gyda nur. »Auk pú vi-l-ja efr-i sú egg in-n mär et-a en me-d peim tjaldur ór-ir ór-a gamban-sumbl! Auch du willst später die Eier der Möwen essen und mit dem tjaldur unseren Frühlingsanfang feiern!«

Bergdis drehte sich nicht zur Gerberin hinter sich um. Diese Frau, die den beißenden Gestank nie schaffte abzuwaschen, war ihr zuwider.

Am Hanfseil zogen noch Rogned, die Holzhandwerkerin, Aesa die ry-n-d-r gryl-a und fál-a9, Oddbjorg die ság-a10 und der einzige Mann, Thengill. Er war der Bruder der Tuchhändlerin Bergthora und zog kräftig am Hanfseil, an dessen Ende Ruadhan hing.

»Beeilt euch, Weiber, und schwatzt nicht so viel«, knurrte er, während sich seine Muskeln unter der Tunika anspannten.

Bergthora warf ihrem Bruder einen vielsagenden Blick zu und schmunzelte. Manchmal war es gut, einen Mann unter vielen Frauen zu haben, der mit wenigen Worten das Gezänk beendete.

Weit draußen, dort, wo die Wolken die Wellen des Nordmeeres küssten, brach die Sonne durch die weißgraue Wolkendecke. Der Wind, der eine erste Ahnung von Wärme in sich trug, berührte das helle Grün auf den ebenen Bergwiesen. Thyra schloss für einen Moment die Augen und genoss den Meeresduft und den Geruch des nassen Steines. Lauter Jubel riss sie aus ihren Empfindungen, denn Ruadhan kletterte geschickt über den Klippenrand auf das Plateau.

»Het-ja! Wo bleibst du?« Die Irin warf einen strahlenden Blick über die Schulter.

»Ich gönne dir deinen Sieg«, gluckste Thyra vergnügt und verzog schmerzhaft das Gesicht, weil ein scharfkantiger Felsvorsprung einen blutigen Riss in ihre Haut schnitt, während sie ihren Körper über den Rand der Steilwand hinauf schob. Leise knurrte Thyra: »Aber nur dieses eine Mal.« Dann stand auch sie auf dem Hochplateau und wurde überschwänglich begrüßt.

Auf der Hochebene trafen sich hunderte Wikinger – Männer, Frauen und Kinder. Die Eiersammler wurden mit ihrer Beute lautstark empfangen.

»Wie viele Möweneier hast du eingesammelt?«

»Lass mich einen Blick in deinen Beutel werfen. Hast du auch keine zerdrückt?«

»Dein Beutel ist ja kaum gefüllt! Hast du die Eier zwischendurch ausgetrunken?«, wurde gelästert.

»Der Bauch wölbt sich ja schon nach vorn.«

»Wir hätten dich eher hochziehen sollen.«

»Dann hätten wir sicher mehr Eier bekommen.«

»Hast du den tjaldur fliegen sehen?«

»Ich will ein Ei«, quengelten die Kinder aufgeregt und bekamen jeder eines. Sofort pickten sie mit kleinen Messern ein Loch in die spitze Wölbung der harten Schale und schlürften genussvoll das warme, goldfarbene Eidotter mit dem schlüpfrigen Eiweiß heraus. Auch die Erwachsenen nahmen sich ein Möwenei und tranken es.

»Ha! Ich wusste gar nicht mehr, wie gut es schmeckt.«

»Kein Wunder!«, wurde Haraldr von Ingimundr, dem Schmied der faereyiarner gefoppt. »Du hast fast den gesamten Stockfisch allein gegessen. Deine Zunge kennt ja nichts anderes mehr.«

»Mmpf«, schnaufte Haraldr, legte seinen Kopf in den Nacken und schlürfte das angebrütete Ei aus. Schmatzend griente er Ingimundr an. »Meine Zunge vergisst nichts. Das Möwenei schmeckt wunderbar.«

***

Die vom Meer aufsteigende Sonne wärmte die hoch aus dem Wasser herauf ragenden schroffen Felseninseln und tauchte die Eilande in ein glänzendes bronzefarbenes Spektrum. Massiv ragte das zerklüftete Land aus Vulkanbasalt aus dem Nordmeer.

Es war vor Millionen Jahren emporgewachsen aus den Tiefen der Erde. Seitdem schwebte mit der feinen Gischt und dem Licht der Sonne und des Mondes ein niemals endender Zauber über die Inseln.

Die Sonne trocknete das Salz der See auf den roten Felsen. Weiß blieben bizarr geformte Salzkristalle zurück, die nur von hohen Monsterwellen ins Meer gezogen werden konnten.

In den unzähligen Nischen der Felswände wuchsen zähe, leuchtend grüne Gräser und die ersten Frühjahrsblüher, die in den vom Wind herangetragenen Sand fest ihre Wurzeln verankerten. Die bunten kleinen Köpfe wippten beharrlich mit den Böen des Windes.

Das Blau des Himmels, das Grauweiß der Wolken, das rotbraune Gestein, das in den unterschiedlichsten Arealen der Klippen in den herrlichsten Grau- und Blautönen leuchtete, formte einen Farbenreichtum, der den Betrachter verzauberte.

Weit schnitten Meeresbuchten in das versteckt liegende Innere der Vulkaninseln. Manche Meeresarme wurden durch Steinlawinen für die Schifffahrt unbezwingbar. Geröllhalden, die im Wechsel der Gezeiten des Meeres unaufhörlich die Strömung änderten und von gigantischen Felsen oder scharfkantigen Felsvorsprüngen in den eng werdenden Wasserstraßen durchbrochen waren, erforderten höchste Kenntnisse der Navigation.

Die Portale dieser geheimnisvoll wirkenden Fjorde waren oft nur durch enge Meeresschluchten zu erreichen und sehr schwer zu finden.

Das Donnern der brandenden Wellen dröhnte jedem Seefahrer weit hörbar entgegen und dehnte sich mit seinem Echo in ein unermessliches Crescendo. Jeder Fremde wurde so vor dem Befahren der Fjorde von der Natur eindringlich gewarnt.

Gorm Grymme, der dänische styrimannr11 der Drachenflotte, stand neben Grímur Kamban, dem jar-l12 aller Färöer-Inseln. Tief sanken ihre Füße ins saftig grüne Gras des Plateaus am Rand der Klippe des Vogelfelsens. Schweigend betrachteten sie den Tumult der Menschen und lauschten dem zornigen Geschrei der Vögel.

»Der Frühling erwacht. Es wird Zeit. Meine Krieger werden unruhig.« Angespannt starrte Gorm über das Nordmeer. »Und ich auch!«

Grímur folgte Gorms Blick. »Das Meer wird schon zahmer. Die Wellen sind nicht mehr so stark und bösartig. Die Eisschollen schmelzen jetzt in einer atemberaubenden Geschwindigkeit und stellen für die Schiffe keine Bedrohung mehr dar. Doch du solltest nicht zu früh mit deiner Flotte aufbrechen. Die Frühlingsstürme auf dem Nordmeer sind äußerst gefährlich.«

»Ich weiß«, grummelte Gorm. »Doch du hast deine Gastfreundschaft für meine Männer über den langen Winter mehr als eindrucksvoll bewiesen.«

Er löste seinen Blick vom Ozean und sah Grímur bedeutungsvoll an. »Solltest du je in Schwierigkeiten geraten und meine Hilfe brauchen, scheue dich nicht, mir eine Nachricht zu senden. Ich werde dir immer zur Seite stehen!«

Grímur sah Gorm kurz an, dann drehte er sich zum Meer und nickte bedächtig. »Ich hoffe«, brummte er tonlos in seine Gedanken vertieft, »dass dieser Fall nie eintreffen wird.«

»Das hoffe ich auch. Für dich und besonders für die anderen.« Gorm lachte, als er die Frauen beobachtete, die gerade über den Rand der Klippe kletterten.

Er betrachtete Thyra eingehend und schmunzelte. »Was für eine Frau! Unglaublich. Vor einigen Monaten konnte sie noch nicht einmal unsere Sprache und jetzt ...?« Er schüttelte den Kopf.

»Jetzt klettert sie über eine der gefährlichsten Klippen der Färöer, hängt an einem Seil über der tödlichen Brandung der See am Vogelfelsen und sammelt Möweneier für unser Frühlingsfest.«

Grímur stupste Gorm freundschaftlich gegen die Rippen. »Du solltest sie in dein Lager unter deine Felle holen. Es kann ja jeder sehen, wie sehr du dieses Weib begehrst.«

»Jeder?« Gorm tat entrüstet.

»Jeder«, schmunzelte der jar-l.

»Sie ist ja auch ein Prachtweib.«

»Und eine Kriegerin! Sie wird dich herausfordern.«

»Pah!«, schnaufte Gorm. »Das macht sie andauernd!«

Grímur versuchte, sein Lachen zu unterdrücken.

»Was lachst du?«, schnauzte Gorm.

»Nur eine Kriegerin ist einem Häuptling ebenbürtig«, meinte Grímur, drehte sein Gesicht in den Wind und lachte laut.

Gorm starrte mit zornig gerunzelter Stirn zu Thyra, die gerade ihre gesammelten Möweneier verteilte. Leise flüsterte er: »Dieses Weib macht mir große Schwierigkeiten.«

»Das macht sie und das wird sie«, bestätigte Siguror, Gorms Freund und Königsdrengir ungefragt. Der Wind trug das Knirschen der Steine unter seinen Schritten davon und so trat er lautlos von hinten neben seinen Häuptling und den Jarl. Freundschaftlich schlug er Gorm auf die Schulter.

»Komm! Auch ich will von den Möweneiern kosten.«

»Ja!« Grímur rieb sich voller Vorfreude seinen leicht vorgewölbten Bauch.

Siguror musterte mit zusammengezogenen Augenbrauen ausgiebig den Bauch des jar-ls.

»Du scheinst großes Leid durchgemacht zu haben.«

Der Freund streichelte schelmisch lächelnd seine beiden Bartzöpfe und stichelte: »Dieser Winter war wirklich hart. Du hast deinen Körper beträchtlich quälen müssen.«

Grímur hob lauernd seine Augenlider und erklärte gedehnt mit seiner tiefen Stimme: »Es war ein langer und kalter Winter.«

Siguror wandte sich zum Gehen. »Stimmt. Und ein Fürst kämpft gegen jeden Feind. Selbst wenn es sich um Stockfisch und Fladenbrot handelt.« Eilig schritt er davon. Er ahnte, dass Grímur sich diese Frechheit nicht gefallen lassen würde.

Gorm lachte und folgte seinem Königsdrengir. Nur Grímur knurrte verärgert und stapfte über die grüne Wiese, wo die Schafe blökend vor ihm flüchteten.

***

Die Menschen auf der Insel lachten, scherzten und tanzten voller Freude. Die Sonne, der Wind, das gemeinsame Fest, die rohen Möweneier und dieser Duft vom Meer kommend, trugen ihnen eine lockende Ahnung des Frühlings entgegen.

Die Kinder umringten Elfa, die fy-f--a13, zupften an ihrer Tunika und redeten aufgeregt durcheinander.

»Wann kommt der tjaldur14? Und wann kletterst du an der Steilwand herunter, um die Vögel zu fangen?«

»Bald.« Elfa lächelte beruhigend. »Trinkt zuerst einmal die Möweneier.«

»Ich will auch dabei sein und mit dir an den Klippen runterklettern.«

Mit ernstem Gesichtsausdruck und wachen Augen sah ein fünfjähriger Junge zur Vogelfängerin.

»Wenn du groß bist.« Elfa strich ihm mit ihrer verhornten Hand über das Haar.

Zornig wischte er ihre Hand weg. »Ich bin schon groß!«, fauchte er und stampfte mit dem Fuß auf.

Elfas Lächeln erstrahlte jetzt über das ganze Gesicht.

»Noch größer«, beruhigte sie den kleinen zornigen Jungen und streckte ihren Arm waagerecht aus. »Wenn du mit deinem Kopf meinen Arm berührst«, erklärte sie ihm mit erstem Gesicht, »zeige ich dir, wie du am Vogelfelsen klettern musst, um die Vögel zu greifen und die leckeren Eier zu sammeln.«

Der Junge verzog ungeduldig sein Gesicht und presste zornig seine Lippen zusammen.

»Bis ich so groß bin, bist du vielleicht schon tot«, meinte er griesgrämig. »Meine Mutter ist auch schon tot und mein Vater auch und du siehst genauso alt wie meine Mutter aus, als sie starb.« Traurig schniefte er und wischte sich verstohlen die Träne und den Rotz aus seiner Nase mit dem Handrücken weg.

Nachdenklich sah Elfa auf ihn hinab. »Also gut. Jetzt bist du noch zu klein, aber in wenigen Jahren wirst du gewachsen sein. Ich habe einen Freund, auch er ist Vogelfänger. Mit ihm werde ich reden und wenn ich zu dem Zeitpunkt tot sein sollte«, sie beugte sich zu ihm hinunter und sah dem Jungen direkt in die Augen, »dann erfüllt mein Freund, der Vogelfänger, mein Versprechen.«

Er strahlte.

»Wie heißt du?«

»Ottar«, rief er mit stolzgeschwellter Brust.

»Also Ottar.« Die fy-g-l-a schaute ernst und legte ihm ihre Hand auf seine kleine dünne Schulter. »Hiermit haben wir eine Abmachung! Ich zeige dir den Vogelfang und du wirst mein Helfer oder …« Sie schmunzelte. »Oder, wenn ich tot sein sollte, wirst du der Helfer meines Freundes sein. Hiermit ist es abgemacht.«

Ottar nickte ernst. So ernst, wie es ein Fünfjähriger nur konnte. Dann drehte er sich aufgeregt um und rannte fort.

»Da hast du aber jemanden sehr glücklich gemacht.« Aesa sah dem Jungen hinterher.

»Wir werden sehen«, grummelte Elfa und prüfte die festen Knoten ihres Seiles, das sie eng um ihren Körper schnürte, »ob er als Vogelfänger taugt.«

»Warum?«, fragte Aesa erstaunt.

Elfa lachte ätzend. »Hingst du schon einmal an einem Seil über den Klippen? Unter dir der tiefe Abgrund, während der Wind dich mit seinem kalten Atem von links nach rechts gegen die raue Felswand schleudert? Unter dir das tobende Meer und scharfkantige Steinbrocken, die deine Knochen unbarmherzig brechen lassen, wenn du herunterfällst. Und dann die gewaltigen Wellen und die Unterwasserströmung. Sie hält deinen Körper unter Wasser. Verhindert, dass du den Kopf wieder über die Wasseroberfläche bekommst. Du kannst nicht atmen. Deine Lungen bersten und das Einzige, woran du denken kannst, ist Luft. Du willst nur noch Luft einsaugen.«

Sie verdrehte die Augen. »Dröhnend schlagen die Wellen gegen die Klippen und den Stein. Wenn du überlebst, schmirgeln sie dir das Fleisch bei lebendigem Leib blutig von den Knochen. Und noch lange, bevor du gerettet werden kannst, weißt du, dass du für den Rest deines Lebens ein Krüppel sein wirst. Ein vom Meer angefressenes, hilfloses Monster.«

Sie blickte an Aesa vorbei zum Ozean. Ihre Gedanken eilten voraus und hingen bereits an der Steilwand.

Leise murmelte sie eher zu sich selbst als zu Aesa. »Die feine Gischt treibt mit dem Wind nach oben und benetzt den roten Stein mit den samtig grünen Moosen feucht und schmierig. Du hast nur eine Hand, um dich am Seil zu halten, weil du mit der anderen das langstielige Netz hältst, um den Papageientaucher oder die Möwe zu fangen, die gerade vom Klippenabsatz fliegt. Die Stimmen der Wellen, das leise Plätschern des Wassers und der laute Aufprall gegen die Wand flüstert dir seine Freiheit wie ein Geheimnis ins Ohr. Du hängst am Seil und fühlst dich mit den Vögeln verwandt. Sie breiten ihre Flügel aus, spannen ihre Muskeln an und, nach nur einem Wimpernschlag, heben sie ab und lassen sich vom Wind unter ihren Flügeln in die Weite der Welt tragen.«

Sie lächelte. »Ich spanne die Muskeln meiner Beine an und stoße mich vom Fels ab, wie ein Vogel im Wind. Weit breite ich meine Arme aus und schwinge über das Meer, viele Meter vom festen Stein entfernt. Ich sehe die Wellen, die weißen Schaumkronen und nur eine Handbreit über dem Grund, unter der Meeresoberfläche sehe ich Fische oder einen Wal oder einen Delphin.«

Sie sah Aesa unverwandt an. »Manchmal erkenne ich mein Spiegelbild auf der glitzernden Meeresoberfläche für einen winzigen Augenblick. Es ist ein magischer Moment, ein mystischer Zauber, der mich gefangen hält.«

Tief atmete die Vogelfängerin die salzige Luft in ihre Lungen. »Die Gefahr und diese außerordentlichen Momente halten mich gefangen. Gefangen im Kreislauf der Jahreszeiten.« Sie sah die Hohe Frau fragend an. »Und? Möchtest du eine Vogelfängerin werden?«

»Nein«, murmelte Aesa beeindruckt. »Ich will keine Vogelfängerin werden.«

Elfa lächelte sanft. »Ich kann Vögel fangen und du bist die Zauberfrau, die ry-n-d-r gryl-a15 und unsere fál-a16. So kann jeder etwas Besonderes.«

Aesa nickte. Ihr Blick wanderte verstohlen zu Thyra und wenig später über das Meer. »Jeder ist vom Schicksal vorbestimmt.« Ihre Worte waren nur ein Hauch.

Doch Elfa hörte es und ein unheimlicher Schauer fuhr warnend über ihre Haut.

»Alle Vogelfänger in die Seile!« Thengills Gebrüll wehte Tage nach dem ersten Eiersammeln über die Köpfe hinweg. Er stand nahe am tief abfallenden Klippenrand. Befehlend ruderte er signalisierend mit den Armen. »Die Vögel warten schon auf den Tod. Kommt und pflückt sie von der Felsenwand unserer Färöer-Insel!«

»Wir kommen ja schon«, rief Elfa gefolgt von Thyra und Ruadhan.

Verstohlen blickte Thyra sich um. »Sind wir die einzigen Frauen?«

Kurz sah Ruadhan die Freundin an und fing schallend an zu lachen. »Was glaubst du denn? Wir sind het-jas! Elfa hat es von ihrem Vater gelernt. Während ich es von Thengill beigebracht bekommen habe.« Die Kriegerinnen schritten eilig zur entfernt gelegenen, windgepeitschten Vogelklippe, die westlich des Felsens lag, wo sie die Möweneier aus den Nestern sammeln wollten. Die lochlannach packte Thyras Hand und rannte los.

»Lass das!«, fauchte Thyra. Doch Ruadhan Freude war ungehemmt. »Die Färöer Wikingerinnen hängen nicht in den Seilen.«

»Aber wir sind doch auch …«

»Du bist eine Angeln-Frau«, rief Ruadhan über die Schulter rufend. »Und ich Irin. Elfa ist die Ausnahme.«

»Seid ihr bald so weit?« Spannung lag in der Luft.

»Wir kommen ja schon.« Thyra stellte sich mit den anderen Vogelfängern in einer Reihe am Rand des steil herabfallenden Vogelfelsens auf. Der Westwind blies ihnen kalte Windstöße in das Gesicht. Thyra blinzelte und biss die Zähne zusammen, sodass ihre Wangenknochen hervortraten. Thengill band ihr das dicke Hanfseil um den Körper. »Du darfst keine Angst haben. Verlasse dich auf deine Kraft und vertraue auf dein Können«, raunte er ihr von den anderen unbemerkt ins Ohr.

Thyra nickte nur. Auf ein Kommando von Thengill schoben alle Vogelfänger auf dem Bauch liegend zuerst die Beine über den Rand der Klippe, suchten mit ihren Zehenspitzen die ersten Felsvorsprünge und Löcher, fanden Halt und griffen mit den Händen in Einkerbungen.

Plötzlich hörte Thyra Ruadhans warnende Stimme in ihrem Kopf.

»Nicht dem Fall der Steine hinterher sehen! Nicht von der strudelnden Strömung und den rotbraunen Felsen ablenken lassen. Nicht hinunter sehen! Die Steine wollen dich ins Meer locken, wo dein Körper langsam von Möwen, Fischen, knabbernden Krabben und vom Salz aufgefressen wird.«

«Zurück in die Gegenwart.« Heftig schüttelte sie ihren Kopf und schleuderte das Wasser aus ihrem Haar. Thyra ertastete mit dem linken Fuß eine Vertiefung.

»Danke Ruadhan für deine so bildhafte Darstellung meines Todes, wenn ich einen Fehltritt mache.«

Sie konzentrierte sich auf jeden Handgriff. Jeder Vogelfänger trug einen Lederbeutel über die Schulter und hielt ein aufgespanntes Netz an einem langen Holzstiel. Wie Spinnen kletterten sie an der Wand entlang.

»Fangt mir einen Papageientaucher!« Weit vornüber, über den Klippenrand gebeugt, brüllte Eirikr zu den Fängern hinunter.

»Und fangt mir eine fette Möwe und eine Trottellumme!« Hallgeirrs Stimme dröhnte durch den Trichter, den er mit den Händen vor seinem Mund formte.

»Möwe, Trottellumme und Papageientaucher werden tot an meinem Gürtel hängen«, versprach Thyra und griff mit flinker Hand den Hals einer auf dem Nest sitzenden brütenden Möwe. Sie hatte von der Gefahr für ihr Leben keine Ahnung und flog nicht fort. Sie blinzelte die Wikingerfrau mit großen braunen Augen treu und unschuldig an.

»Es wird schnell gehen«, versprach Thyra ihr fast liebevoll, brach der Möwe mit einer geschickten Handbewegung das Genick, sammelte die gepunkteten Eier und die Federn mit dem kostbaren, äußerst weichen Flaum vom Nest und verstaute alles im vorsichtig in dem Lederbeutel.

Tot baumelten die Vögel am Gürtel, die Köpfe eng aneinandergereiht. Die roten und fast schwarzen Beine mit den breiten Füßen schaukelten mit dem Wind und den Bewegungen der Fänger an der Steilwand hin und her.

Es war eine schwierige und gefährliche Jagd. Kurz schielte Thyra zu Elfa hinüber und sah ihre üppige Beute leblos am Gürtel hängen.

Vor Thyra auf einer schmalen Stufe der Klippe drängte sich eine Gruppe von Papageientauchern zusammen. Einige flogen davon, doch die meisten brauchte sie nur zu greifen. Nach kurzer Zeit wurde ihr Gürtel schwer vom vielen Vogelfleisch und die Ledertasche beulte sich prall gefüllt.

»Zieht mich rauf!«, rief Thyra gegen den Wind, während ihr Blick am von Wolken zerfetzten Himmel hängenblieb. Ein schwarz-weißer Vogel mit rotem Schnabel flog über ihren Kopf hinweg.

»Ruadhan! Ruadhan!« Impulsiv wedelte Thyra mit dem Netz. »Was ist das? Ist das der tjaldur? Ist er das?«

Das Wasser tropfte von ihren Haaren und glänzte im Sonnenlicht.

Die lochlannach drehte gerade einer Trottellumme den Hals um, stopfte ihn hinter ihren Gürtel und sah mit zusammen gekniffenen Augen zum Himmel. »Was siehst du da?«

»Ist er das? Ist das der tjaldur?«

»Wo?« Die Irin suchte den Himmel ab. Ruadhan stockte in der Bewegung. Da flog er!

Der bedeutsamste Vogel der Färöer.

Der Austernfischer!

Der Glücksbringer, für denjenigen, der ihn zuerst erblickt.

Der tjaldur!

Laut schrie Ruadhan hinauf zum Klippenrand und deutete mit wilden Handbewegungen zum Himmel: »Tjaldur! Er fliegt! Er ist da! Der tjaldur ist da! Thyra hat den tjaldur gesehen!«

Die Männer auf der Ebene, die die Vogelfänger an den Seilen sicherten, starrten zum Himmel und über das Meer.

Sein einzigartiger Ruf zauberte jedem ein Lächeln aufs Gesicht.

»Der tjaldur ist da!«, schrie Ingimundr, der Schmied, und ließ vor lauter Freude über dessen Ankunft das Seil los. »Die Kriegerin Thyra hat ihn entdeckt!«

Elfa spürte, wie sich ihr Seil lockerte.

»Oh nein«, zischte sie noch. Ihr erschrockenes Gesicht versteinerte und sie erstarrte am gesamten Körper. Nur Sekunden dauerte der freie Fall. Sie fiel fünf, sechs, vielleicht auch sieben Schritt in die bodenlose Tiefe. Mit einem schmerzhaften Ruck wurde ihr freier Flug abrupt gebremst. Nur einen Schritt von der brausenden Wasseroberfläche des Nordmeeres getrennt. Das Hanfseil schnitt ihr in den Körper und ein schmerzhaftes Knacken im Rücken ließ sie fast ohnmächtig werden. Bewegungslos hing sie im Seil. Ihre Arme und Beine waren ausgestreckt, hilflos den Mächten der Natur ausgesetzt. Ihr Kopf baumelte seltsam verrenkt nach unten. Wellenkämme berührten auf ihrem Weg sanft ihren Körper. Sie benetzten ihre Füße, die am weitesten herunterhingen.

Möwen, Papageientaucher, Trottellummen, Tordalken, Basstölpel und Küstenseeschwalben schwärmten aufgeregt flatternd um die absurd am Seil hängende Frau herum.

Doch das Meer hält immer eine Überraschung bereit und eine Symmetrie. Für diejenigen, die beobachten und die ein geübtes Auge für die Natur bereithalten, ist es ein völlig natürlicher Vorgang.

Ingimundr besaß diese Erkenntnis. Er sah auf Elfas verdreht am Seil hängenden Körper.

»Sie bewegt sich.«

Sein Auge war scharf auf die Vogelfängerin gerichtet. Fast lautlos zählte er: »Vier, fünf.« Er warf einen schnellen Blick weiter hinaus.

»Da ist sie. Die große Welle.« Er blickte auf Elfa und wusste, dass sie ihn nicht hörte. »Sechs, sieben, acht.«

»Neun«, zählte er und schrie: «Jetzt! Luft anhalten!«

Elfa hörte aus weiter Entfernung Ingimundrs Warnung. Seine Worte kamen undeutlich an ihr Ohr. Sie wurden vom Brausen des Windes und dem Rauschen der Brandung unterbrochen. Doch irgendwo, in den Tiefen ihres Unterbewusstseins erkannte sie, dass ihr die Warnung galt und gehorchte.

Es war die Zehnte. Jede zehnte Welle, die vom Meer heranrollte, war größer und mächtiger als die anderen. Sie überrollte Elfa. Der wirbelnde Sog mit seiner gefährlichen Unterströmung zog mit seiner massiven Kraft an ihrem Körper. Ruckartig umfing eine fast grausame Kälte von den geschmolzenen Eisschollen jede Faser ihres Körpers; und Elfas Geist verließ die Bewusstlosigkeit.

»Hmpf!«, drang es gequält aus ihrer Kehle. Sie fühlte, wie das raue Hanfseil durch ihre Kleidung hindurch ihre Haut aufriss und ins Fleisch um ihre Hüfte schnitt.

Warm floss das Blut langsam aus den geschlängelten Bahnen ihres Körpers über ihre so herrlich gekühlte Haut und Kleidung. Sie schluckte und ihr Herz pochte bis zum Hals. Ein dünner Schweißfilm, vom Kick des freien Falls ausgelöst, zog sich über ihre Haut. Ganz allmählich fing Elfa unkontrolliert an zu zittern.

»Ich hasse es!«, brachte sie mit rauer Stimme, stirnrunzelnd und mit blassem Gesicht hervor. Unbeholfen griff sie ins Seil, zog sich in die Senkrechte und genoss, wie das angesammelte Blut in ihrem Kopf wieder in ihren Körper floss. Der Druck ließ nach.

»Kannst du dich bewegen?« Ingimundr hatte sich weit über den Rand der Klippe gebeugt.

Elfa hob ihren Kopf und erkannte ihn schemenhaft. Sie nickte und prüfte vorsichtig ihre Arme.

»Alles gut«, murmelte sie und blickte zu ihren Beinen und bewegte diese. »Die Beine auch.«

Sie legte ihren Kopf in den Nacken und erkannte viele besorgte Gesichter am Klippenrand.

»Mir geht’s gut«, rief sie hinauf und fing an, ihren Körper mit leicht schwingenden Bewegungen gegen die Klippe zu schleudern. Nach wenigen Schwingungen packte sie einen hervorstehenden Grat und hangelte sich zur Wand, griff einen kleinen Vorsprung und suchte mit Zehenspitzen und zitternden Beinen einen Spalt zum Stehen.

»Ich erwürge den Mistkerl, der oben mein Seil losließ! Ich kastriere ihn!«, fluchte Elfa und mörderische Gedanken ließen sie wütend hinauf brüllen: »Seid ihr wahnsinnig?«

Dann lächelte sie wider die Vernunft. »Wenn es Hafr ist, habe ich keine Chance.« Befreit lachte sie. »Der ist seine Eier schon los.«

Ruadhan beobachtete Elfas Fall in die Tiefe, das Wellenbad und ihre anfänglich etwas benommenen Kletterversuche. Sie schmunzelte und rief Elfa unbeeindruckt, die wie ein kleiner schrumpeliger Apfel am Zweig baumelte, aufmunternd zu: »Der tjaldur ist da! Er flog an Thyra vorbei. Er bringt ihr dieses Jahr das Glück.«

»Mag sein! Aber für den Mann dort oben, wird es der letzte Frühling sein!«, giftete Elfa und kletterte hinauf.

»Du hättest deine Augen vielleicht nicht so sehr auf deinen Fang fixieren, sondern eher deine Augen zum Himmel richten sollen.«

»Ich danke dir für deine gefühlvollen Worte«, giftete Elfa. Vor ihren Augen verschwammen die Konturen der Klippe. Sie musste sich zunehmend auf den Tastsinn ihrer Finger und Zehen verlassen. »Ich habe ihn nicht gesehen und hänge dennoch am Seil.«

»Aber du bist nicht tot«, feixte Ruadhan und gab mit einem Ruck an ihrem Seil das Signal zum Hinaufziehen. Auch an ihrem Gürtel hingen massenhaft tote Vögel.

»Zieht mich rauf!«, verlangte sie, als sie den Kopf des faereyianers Haraldr über der Kante erkannte. Der nickte, gab Ruadhan ein Handzeichen und den anderen den Befehl zum Ziehen. Ohne Probleme kletterte sie an der steilen Vulkanwand nach oben.

»Nein, tot bin ich nicht. Aber der Mann dort oben darf seinen Platz in Walhalla einem anderen Krieger schenken. Er wird ihn nicht mehr finden, wenn ich mit ihm fertig bin.«

»Wenn du mit dem Krieger fertig wirst, hat er einen Platz in Odins Halle auch nicht verdient!«, brüllte Ruadhan zu Elfa hinunter.

Elfa kletterte langsam und mit der Hilfe der am Seil ziehenden Männer hinauf. Mühsam und unter Schmerzen zog sie sich auf das Plateau.

»Wer war das? Wer hat mich fallen lassen?«, war das Erste, das sie zornig brüllte. Die Männer winkten nur ab und Agmundr wickelte spöttisch das Seil auf.

»Wenn du Angst hast zu fallen, solltest du nicht klettern.« Mit diesen knappen Worten drehte er sich um und ging.

Aesa wartete schon auf die Vogelfängerin und meinte ungerührt: »Das ist jetzt nicht wichtig.« Die Heilerin packte Elfa am Oberarm und drückte sie auf den Rücken. »Liegen bleiben!«, befahl die Hohe Frau herrisch und Elfa, die das erste Mal Aesas befehlende Stimme hörte, gehorchte.

»Hast du Schmerzen?«

»Nein.«

»Kannst du deine Arme und Beine gut bewegen?«

»Ja.« Elfa klang ziemlich angesäuert. »Mir geht es gut.«

Drehe dich auf den Bauch.«

»Was?«

»Auf den Bauch.« So langsam wurde auch Aesa wütend.

»Ach was!«, schnauzte Elfa, kniete sich hin und stellte sich auf die Beine. «Ich kann stehen.«

»Ich sehe es. Du schwankst.« Aesa musterte die Vogelfängerin genau. Elfas Pupillen waren geweitet. Sie roch nach frischem Angstschweiß und sie sah das helle Blut auf der Kleidung. Bizarr trockneten die Flecken und zeichneten sich dunkelrot an den Rändern ab.

»Lass mich deinen Rücken sehen«, forderte Aesa. «Es klebt Blut an deiner Kleidung.«

»Das ist von den toten Vögeln am Gürtel.«

Elfa log, ohne mit der Wimper zu zucken und schlug brüsk die helfende Hand aus. »Kümmere dich um andere.« Unwirsch stapfte sie davon.

Aesa schüttelte kaum sichtbar ihren Kopf und sah der mürrischen Vogelfängerin nach.

Diese vergaß ihre Rachegedanken, als sie von unzähligen Kindern bestürmt wurde.

»Elfa! Elfa! Hast du Möweneier für uns?«

»Können wir sie essen?«

»Hast du auch einen Vogel für mich?«

»An Thyra ist der tjaldur vorbeigeflogen. Konntest du ihn sehen?«

***

Die Nacht brach herein und auf jeder der achtzehn Färöer-Inseln leuchteten die Feuer, um den Winter zu verscheuchen und den Frühling zu begrüßen. Weit strahlte der orangerot, manchmal bläuliche flackernde Lichtschein zum Himmel hinauf und schien mit seinen glühenden Funken auf dem Weg zu den Sternen zu sein.

Das volle Gesicht des Mondes erstrahlte hell zwischen den Sternen und der herrlich würzige Duft der gebratenen Vögel zog über das Land und das Meer.

Aesa stand mit hocherhobenen Armen in der Mitte des Thingplatzes auf der Anhöhe. Wind und leichter Regen brachten Kälte mit. Das Blut, das während ihrer Einweihungszeremonie die hohen Runensteine benetzte, hatten Regen, Wind und Schnee noch nicht vom Stein gewaschen.

Die bedeutenden Frauen des Wikingervolkes umringten die Megalithfelsen. Alle trugen ihr bestes Festgewand und die runenkundige Zauberfrau ihr weißes Ledergewand.

Weißes Hermelinfell umsäumte den Kragen, die Bündchen an den Ärmeln und den Saum. Mit der Farbe ihres Blutes hatte die Hohe Frau Runen auf ihr Gewand gemalt. Vor Aesas Füßen lag ausgebreitet das Fell eines ausgewachsenen Robbenweibchens. Die ersten Blumen des Jahres lagen verstreut auf der graubraun getupften Haut.

Die einfachen Frauen, die ohne Reichtum, und die Sklavinnen standen etwas entfernt und beobachteten respektvoll die Zeremonie. Doch standen sie immer noch im heiligen Kreis des Thingplatzes. In ihren Gedanken trugen sie ihre geheimen Wünsche und in den vielen Körben die Opfergaben an die Göttinnen. Die Körbe waren gefüllt mit Blumen und Gräsern, dazu die geschmückten toten Körper der Papageientaucher, Trottellummen, Möwen, einige Eier, Brote, geräucherten Fisch, Lammfleisch und Butter aus der fetten Milch der Schafe.

Heute huldigten sie der einen Göttin, Nerthus, der Göttin der Fruchtbarkeit.

Alle freien Männer standen bei diesem Fest außerhalb des heiligen Platzes und hielten die Feuerfackeln. Auch die männlichen Sklaven durften dabei sein. Sie mussten sich abseits halten.

»Grækarismessa17«, rief Aesa. »Heute ist der erste Tag des beginnenden Frühlings. Wir begrüßen dich, geliebte Göttin Nerthus. Du bist unsere Göttin der Fruchtbarkeit und lässt in unseren Schößen den Leib der Kinder heranwachsen, die wir gebären dürfen. Du nimmst den Samen unserer Pflanzen in deine Quelle der Kraft, in deine Erde und lässt sie wachsen, sodass auch wir uns von ihr ernähren können. Du füllst das Meer mit den Gaben der Fische, Wale, Muscheln und Krebse. Du füllst den Wind und lässt auf deinen luftigen Schwingen die Vögel zu uns kommen. Wir danken dir Nerthus für deine Gaben. Heute soll der Tag sein, an dem wir dich und deine guten Taten ehren.«

Aesa griff in einer im Kleid verborgenen Tasche und holte eine Handvoll getrocknete, stark duftende Kräuter heraus. In einer weit kreisenden Bewegung verteilte sie diese über die Blumen auf dem Seehundfell.

»Wir begrüßen dich, neues Jahr, und bringen dir unsere Opfergaben.«

Sie trat zurück. Langsam schritten die Frauen nacheinander in die Mitte des Thingplatzes und legten mit leise geflüsterten Worten, in denen sie ihre Wünsche versteckten, ihre Gaben um das Fell herum.

Der Mond wanderte geduldig am Himmel entlang.

Den Männern jedoch war diese Gelassenheit nicht gegeben. Sie traten ungeduldig auf der Stelle. Die Fackeln erloschen nach und nach und leises, tiefes Stimmengemurmel drang zu den Frauen herüber. Sie hörten es, doch sie ignorierten die Männer.

Die Frühlingsgöttin war die Hüterin der Fruchtbarkeit. Sie füllte die Leiber der Frauen mit der Frucht des Lebens. Schenkte ihnen die Gaben des Meeres und der Erde. Heute war der Tag der Wikingerfrauen.

Aesa sah es und lächelte wissend in sich hinein. Sie griff in den Leinenbeutel hinter sich und holte zwei Zundersteine heraus. Langsam kniete sie sich nieder. Mit einem kräftigen Schlag gegen die Steine flog ein blitzender Funke in das vorbereitete alte Gras. Wenige Augenblicke später flackerte das erste Flämmchen, und die vielen Kräuter verbreiteten einen aromatischen Duft, der sich auf ewig erinnernd in den Nasen der Wikinger wiederfand.

»Heute, am Tag des Grækarismessa, weht nur ein schwacher Wind und so werden wir den Frühling bald kommen sehen. Es werden keine vierzig Tage Sturmwind mehr über die Inseln blasen.«

Ein zustimmendes Gemurmel durchbrach die Stille und übertönte das Knistern der Feuer.

»Das Eis der ungezählten Eisschollen zog tauend ins Meer und unser Frühlingsbote, der tjaldur, flog heute Glück bringend über das Land.«

Weit breitete Aesa ihre Arme aus, drehte sich langsam im Kreis, neigte ihren Kopf und begrüßte ehrerbietig jeden einzelnen Runenstein.

»Wir danken dir Nerthus und erhoffen für die duph eine glückliche Fahrt auf dem Nordmeer, zum Land ihrer Mütter und Väter, nach haidabýr, ans Ende der Welt.«

***

Thyra saß mit den anderen Frauen am Lagerfeuer, aß das köstliche Vogelfleisch und schlürfte mit Genuss rohe Eier aus. Sie scherzte und lachte mit den Wikingerinnen. Es war ein anstrengender Tag gewesen und doch waren alle aufgeregt und voller Hoffnung. Eine unsichtbare Erregung lag für Thyra in der Luft.

Sie spürte Gorm lange, bevor sie ihn sah.

»Gorm.« Ihr ganzer Körper vibrierte nur für sie bemerkbar. Eilig schluckte sie ihren Bissen herunter. Auch das nabíd18 hatte seine Verlockung verloren.

»Was ist?«, fragte Aesa, die neben Thyra auf der Erde hockte und am Flügel eines Papageientauchers knabberte.

»Ich glaube, ich habe zu viel gegessen«, log Thyra und stand auf. »Ich bin gleich wieder zurück.« Schon war sie in der Dunkelheit verschwunden.

Nachdenklich sah Aesa Thyra nach. »Man sollte nicht zu viel Fleisch auf einmal zu sich nehmen«, lächelte sie vielsagend und griff sich das knusprig geröstete Bein einer Möwe.

Allein stand Thyra weit entfernt vom Trubel an einen Megalithfelsen gelehnt und starrte in den sternklaren Nachthimmel. Der Wind trug ihr die gedämpften Stimmen der anderen und die Laute der Musikinstrumente zu. Sie roch den nassen Stein, an dem sie lehnte. Eine unergründliche Erregung ergriff ihren Körper und ließ sie zittern.

Thyra schmiegte sich an den kalten Fels und ertastete mit den Fingern die rauen Unebenheiten.

»Meine Sinne spielen mir einen Streich!«, murmelte sie und presste die Lippen fest zusammen. »Ich fühle ihn, obwohl er nicht da ist. Ich rieche ihn, dabei sitzt er mit seinen Königsdrengiren und den styrimannr der Drachenflotte weit entfernt am anderen Feuer und lässt sich Fleisch und nabíd schmecken.«

Sie schluckte, lehnte den Kopf gegen den Felsen, sah in den Sternenhimmel und atmete tief die Luft des Meeres, vom Duft des Grases geschwängert ein.

Ich bin eine dumme Frau. Thyra schloss über sich selbst lächelnd die Augen. Ich sollte zurück zum Feuer gehen.

Der kalte Stein auf ihrer Haut half ihr, Gefühle und Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. »Er kommt nicht! Er wird auch nicht kommen. Geh endlich zurück zu deinen Freunden«, murmelte sie und stieß sich vom Fels ab. Kleine Steine drückten durch ihre Ledersohlen. Geschickt wich sie dem Schmerz aus und ging auf dem mit Gras bewachsenen Hochland davon, als seine Stimme sie leise rief: »Thyra.« Langsam trat er aus dem Schatten der Dunkelheit.

Die het-ja öffnete den Mund. Sie wollte antworten, doch kein Laut kam aus ihrer Kehle. Sie schluckte nur und stolperte mit wenigen Schritten zurück. Gorm stand jetzt genau vor ihr. Sie spürte seine Wärme, roch seinen Duft.

Gorm hob seine Hände und legte sie sanft um ihren Kopf.

»Ich hatte Sehnsucht nach dir«, raunte er, hob ihr Gesicht an und sah in ihre Augen. »Ich habe gehofft, dich allein anzutreffen.« Langsam beugte er sich vor und berührte ihre Lippen.

Thyras Knie zitterten. Sie war froh, dass der Fels ihren Rücken stärkte. Seine Küsse wurden fordernder, heftiger und Thyra wollte es genau so. Ihre Antwort war Leidenschaft.

»Ich will dich.« Gorm knabberte an ihrem Ohr. »Jetzt!«

Thyra sagte nichts, umklammerte mit einem Bein seinen Körper, zog ihn noch näher an sich und spürte seine Erregung. Er wollte sie. Nur der Stoff ihrer Kleidung trennte ihre Körper. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie nicht in der Lage war, den Knoten ihres Gürtels zu lösen.

Gorm half. Sie küsste ihn und tastete nach seinem Gürtel, schaffte es, ihn zu öffnen und ließ ihn fallen. Ungeduldig schob sie seine Tunika hoch. Doch Gorm war schneller. Er riss sich den hinderlichen Stoff vom Leib und zog Thyra ihr Kleid über den Kopf.

Schwer atmend standen sie voreinander. Die Flammen der entfernten Feuer zeichneten schattenhafte Ornamente auf ihre nackten Körper.

Thyra betrachtete ihn. Es dauerte einen Moment, doch dann löste Thyra sich von dem Anblick und legte fest ihre Hände auf seine Brust, atmete seinen betörenden Duft ein. Sie fühlte seinen Schweiß auf ihrer Handfläche, roch ihn und beherrschte sich nicht mehr. Ohne falsche Scham drückte sie Gorm auf die Erde, legte ihn auf den Rücken.

Genoss hemmungslos ihre Vereinigung.

Erregende Wellen überrollten ihre Körper, bis sie schließlich mit geschlossenen Augen ruhig nebeneinanderlagen und innig und liebevoll umarmten.

Gorm umfasste zärtlich mit beiden Händen ihren Kopf, sah tief in Thyras Augen, küsste ihre warmen Lippen und raunte mit tiefer Stimme: »Du gehörst mir, Het-ja!«

***

»Hohe Frau?« Gorm trat achtungsvoll am nächsten Morgen zu Aesa, die vor ihm in der Mitte des Thingplatzes auf der Hochebene kniete. Die hoch aufragenden Felsen warfen lange Schatten über diesen heiligen Platz.

»Ry-n-d-r gryl-a? Was erzählen die Runen?«

Schweigend beugte sich Aesa über ihr weißes Ledertuch und starrte auf die Zeichen der ausgeworfenen Runen und las deren Botschaft.

Gorm wartete geduldig. Der stetige Wind trug den Lockruf des Ozeans und seinen würzigen Duft über das Land. Der Schiffsführer wollte segeln. Er wollte die Wellen unter seinen Füßen spüren, sich mit Rán der Meeresgöttin und ihrer Tochter Gjalp im Kampf mit den Urgewalten des Meeres messen.

Sein Blick sollte nicht mehr länger eingeschränkt werden von Felsen, Bergen und Hügeln. Er wollte endlich wieder den freien, weiten Blick auf den unendlichen Horizont.

Er wollte das äußerste Ende des Weltmeeres sehen!

Langsam richtete die Hohe Frau sich auf. Ihr Blick ging weit hinaus und war starr in die Ferne gerichtet. Aesa sah weder Gorm noch die heiligen, hoch aufgerichteten Megalithfelsen, die sie umringten. Noch spürte sie die Wärme, die aus der Erde emporstieg. Aesa war verbunden mit den Göttinnen – und Thor, dem Wettergott, dem stärksten aller Götter. Dem Sohn Odins und Jorunns.

Thor entschied, wann die Rückreise der dänischen Drachenflotte über das Nordmeer begann!

Aesa sprach mit den Göttern. Gorm konnte es sehen. Sie horchte und nickte, bewegte ihre Lippen, obwohl kein Ton über ihre Zunge glitt. Sie lächelte und schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf.

Gorm betrachtete die schöne gefährliche fál-a19. Betrachtete sie als Frau, nicht als Heilige, sah, wie ihr bis zur Erde reichendes, rotbraunes Haar vom Sonnenlicht angestrahlt wurde. Er musterte ihr ebenmäßiges Gesicht und erblickte die moosgrünen Augen, in denen graublaue Punkte leuchteten. Lange schwarze Wimpern umrahmten sie und warfen filigrane Schatten auf ihre oftmals so blassen Wangen.

Deine Augen haben die Farbe der sly20, an dessen Ufer haidabýr21 liegt. Du bist eine kluge, einzigartige Frau. Du hättest einen liebenden Mann und viele Kinder verdient. Doch sie werden dir für immer versagt bleiben.

Gorm blickte an Aesa vorbei. Sein Blick traf die eingemeißelten Runen auf dem Felsen, der sich hinter der Zauberfrau zum Himmel aufrichtete.

»Die Zeit ist nicht mehr fern.« Aesas Stimme klang tonlos. Gorm richtete augenblicklich seine gesamte Aufmerksamkeit auf das runenkundige Zauberweib.

»Thor fordert dich auf, den Kampf mit Rán und Gjalp, ihrer verwöhnten Tochter, aufzunehmen.«

»Wann?«, wagte Gorm ungeduldig zu fragen.

»Wenn der Vollmond sein Gesicht abwendet.« Das Zauberweib sah Gorm direkt ins Gesicht. Sie lächelte ihn an. »Die Zeit ist gekommen, um Abschied zu nehmen.«

Gorm grinste freudig. »Ich werde dem ersten ey-versk-r22 berichten.«

»Grímur Kamban, der Erste der faereyiarner wird deine Antwort begrüßen und bedauern«, lächelte Aesa.

»Er ist mir ein wahrer Freund geworden.« Gorm starrte nachdenklich auf die Runen und deutete fragend auf die Steine. »Erzählen sie etwas über unsere Reise und das Ziel?«

Aesa warf noch einmal einen Blick auf die unregelmäßig durcheinander liegenden Steine. »Sie fordern dich heraus, dein Schicksal anzunehmen. Dann wirst du alles erreichen!«

Gorm schluckte unbewusst. Alles!, dachte er. Seine Stirn wölbte sich in nachdenkliche Falten. Ruhig setzte er sich neben Aesa. »Das kann alles oder nichts bedeuten!«

»Es ist dein Weg und kann dein Ziel werden.«

»Du wirst mir das Ziel sagen?«

»Nein, doch ich kann es sehen. Aber die Antwort, die du wünschst, darf ich dir nicht geben.«

Gorm lächelte und erhob sich.

»Ich danke dir ry-n-d-r gryl-a, auch wenn die Antworten der Götter wie immer etwas im Nebelgrau verschwimmen.«

Aesa schwieg und nickte erhaben.

Noch einmal ließ Gorm seinen Blick über die hohen emporragenden Megalithfelsen schweifen, die diesen geweihten Thingplatz umgaben. Im Tageslicht sah er die noch immer klebenden Reste des dunkelroten Blutes, das die greise Zauberfrau und zum Sterben bereite Gnupas, beim letzten Løgting23 kurz vor ihrem Tod gegen den Fels gespritzt hatte. Ein haarsträubender Schauer lief Gorm bei der Erinnerung an diesen stürmischen Wintertag über die Haut. Er schüttelte sich. Jetzt war Frühling. Die Sonne strahlte warm und hell. Er sah lächelnd auf Gnupas Nachfolgerin und ließ Aesa, die neue Hohe Frau, in der Mitte des Thingplatzes zurück. Mit weiten Schritten ging er den schmalen Pfad, der sich den Rücken des Bergkammes herunter schlängelte, zurück ins Dorf Eysturoy auf der Insel Funningur, um Grímur Kamban, dem jar-l, von der Abreise der Drachenflotte zu berichten.Aesa kniete vor ihren Runen und spürte keinen Wind, keine Sonnenstrahlen und auch nicht die Feuchtigkeit, die aus der Erde zu ihr drang. Dafür fühlte sie die Götter, die um sie kreisten und leise wispernd sprachen.

»Es beginnt!«, zischten die Göttinnen. »Es beginnt!«

Aesa schluckte. Sie war sich nicht sicher. »Was?«, wagte sie zu fragen. »Was beginnt?«

»Schaue auf die Zeichen. Siehst du es denn nicht?«, höhnte Werdandi.

»Lass ihr Zeit.« Freyja beruhigte die ungeduldige Werdandi.

»Warum?«, zischelte Werdandi, die Schicksalsgöttin. »Ich bin verantwortlich für das Werden. Sie muss es lernen! Schnell lernen. Sonst kann sie keine ry-n-d-r gryl-a sein!«

Aesa starrte auf die Runen vor ihr.

»Was soll geschehen?«, murmelte Aesa verzweifelt und biss sich auf die Lippen. »Ich sehe die Reise der Drachenschiffe über das Nordmeer.«

»Sie erkennt es! Siehst du?«, griff die Liebesgöttin Freyja Werdandi höhnisch an.

»Ja«, zweifelte Werdandi. »Weiß dieses einfache Menschenwesen denn auch, wohin die Fahrt geht?«

»Nach haidabýr«, antwortete Aesa.

»Und was noch?«, lauerte Werdandi und hockte sich genau vor Aesa mit ihren ausgebreiteten Runen. »Was noch?«, forderte die Norne eindringlich und ließ ihre offenen Hände über die vor ihr liegenden Runen kreisen.

»Ein König und eine Königin werden dort herrschen.«

Werdandi grinste und Freyja lächelte wissend. »Sie wird eine gute Zauberfrau und Seherin sein.«

Werdandi lächelte verwegen, schritt mit ihrem Gewand aus Falkenfedern um Aesa herum, breitete ihre Flügel aus und gesellte sich zu den anderen Göttinnen, die unruhig um die Megalithfelsen schritten.

»Wir werden sehen.« Sie zweifelte, noch nicht vollständig überzeugt. »Wir werden sehen!«

»Sie ist ein einfaches Menschenwesen«, meinte Snotra. »Ich werde diesem Wesen Klugheit schenken müssen.«

»… und feine Manieren«, unterbrach Urd und schüttelte ihr braunes Federkleid, sodass einige der wertvollen Federn davonflogen. Mit einem Augenzwinkern besah sie sich die glänzenden Federn im Frühlingsgras. »Die Menschen werden meine Glücksbringerfedern sammeln und zu würdigen wissen.«

»Ach!«, stritt Snotra. »Für das menschliche Schicksal bist du doch zuständig.«

»Sicher«, lächelte Urd. »Das eine bedingt das andere.«

»Lasst das!«, scheuchte Freyja die Göttinnen auf. »Ihr bringt die Frau durcheinander.« Besorgt warf sie einen Blick auf die blasse, schmale Zauberfrau. »Sie ist noch jung. Sie wird es lernen.«

Die Göttinnen erhoben sich, breiteten ihre weiten Flügel aus und verschwanden so lautlos und feenhaft, wie sie gekommen waren.

Aesa stellte sich aufrecht hin. Sie war müde. Es war anstrengend, mit der Welt der Göttinnen und Geister in Kontakt zu treten. Sie steckte die Runen in den weißen Lederbeutel, rollte das Ledertuch zusammen und folgte dem Pfad zurück in das Dorf.

»Gnupas«, murmelte sie leise. »Welches schwere Amt hast du mir nur aufgebürdet?« Sie seufzte. »Laek-n-a24 wäre völlig ausreichend gewesen. Doch jetzt bin ich auch noch die ry-n-d-r gryl-aund fál-a25. Ich sollte wenigstens ein Amt abgeben und mir eine Frau zur Ausbildung suchen.«

»Du wirst eine große, einflussreiche Frau in deinem Volk werden«, hörte nur Aesa die weibliche Stimme raunen.

»Und warum?« Aesa runzelte zweifelnd die Stirn. »Warum ich?«

»Weil es dein Schicksal ist, der Königin von haidabýr zur Seite zu stehen. Der zukünftige König und seine Königin werden mit deiner Hilfe eine Dynastie gründen. Und die Königin wird dich an ihrer Seite dringend brauchen.«

»Wer sind sie? Wer wird die Königin sein?« Neugierig drehte Aesa sich im Kreis, sah aber niemanden.

»Hast du es denn nicht in den Runen lesen können?«, hörte sie eine feixende Stimme.

»Nein.« Verärgert ging Aesa den Weg zum Dorf. »Habe ich nicht.«

Kurz schloss Aesa die Augen und hörte die Göttin lachen.

»Das ist eine große Aufgabe. Einen König und eine Königin zu begleiten, damit sie eine Dynastie gründen können.« Sie schluckte, atmete tief und zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, ich werde meine Aufgabe erfüllen.«

Sie erreichte die ersten Häuser von Eysturoy, sah zum Hafen und erkannte zwischen den anderen Schiffen das faxi byrjar26, das langskip27 auf dem sie reiste. Aesa blickte zum Himmel und erblickte den fast runden, aber nur schemenhaften mýl-in-n28. Zusammen stand er mit der strahlenden mýl-in29. Bald würde sich der Mond in seiner ganzen Pracht zeigen.

»In zwei Tagen ist Vollmond und in einer Woche«, murmelte Aesa im Selbstgespräch, »haben wir nid30. Dann brechen wir auf!«

Eine unbändige Freude ließ sie laut und glücklich lachen. Die fál-a strahlte. »Endlich! Wir fahren nach Hause.«

***

Die Wikingerfrauen kamen mit vollen Körben aus geflochtenen Wacholderzweigen und mit prallen Ledersäcken von den weitläufigen Bergebenen in das Dorf zurück. Sie hoben beschwingt winkend die Arme und riefen Aesa von Weitem fröhlich zu.

Die fál-a grüßte zurück und wunderte sich bei der beachtlichen Größe der Körbe und Ledersäcke über den leichten und unbeschwerten Gang der Frauen.

Sie trafen sich in der Mitte des Dorfplatzes. Die Wikingerinnen stellten ihre Last auf die Erde und schöpften mit einer hölzernen Kelle Wasser aus einem Eimer, um ihren Durst zu löschen.

»Was habt ihr darin?« Aesa deutete neugierig auf die Körbe und Säcke.

»Daunen«, antwortete Rogned schnaufend, mit vor Anstrengung hochrotem Gesicht. Aesa sah viele winzige Schweißperlen auf ihrer Stirn glänzen.

»So viel?«, wunderte sich Aesa und sah staunend auf die Ausbeute.

»Ja«, antwortete Oddbjorg, die ság-a31 der Schafsinsel. »Gyda, Bergdis, Bergthora, Ruadhan, Thyra und ich haben den wertvollen Flaum der Eiderente in die Ledersäcke gestopft.«

»Und wir«, rief Rogned laut dazwischen und deutete auf sich, Elfa, Ellisif und Malmfrid. »Wir haben die Nester der Graugans und der Weißwangengans gesucht.«

»Gefunden und eingesammelt«, grummelte Malmfrid, griesgrämig wie immer.

»Eiderente!«, murmelte Aesa und stutzte. »Die Eiderente brütet hier auf den Färöer-Inseln?«

»Ja! Warum?«, fragte Elfa und nahm einen Schluck Wasser.

Aesa lächelte wehmütig. »Weil sich in meiner Heimat, in der Nähe meiner Heimatstadt haidabýr ein Fluss durch das Land schlängelt.« Aesa stockte und schwieg sinnierend. Träumend sah sie in Elfas neugieriges und aufforderndes Gesicht, gab sich schließlich einen Ruck, erklärte seufzend: »Dieser Fluss heißt Eider.«

»Hmm hmm«, brummelte Elfa und trank die Kelle leer.

Aesa sah wieder auf die Beute der faereyiarnerinnen, runzelte entsetzt ihre Stirn und erinnerte sich an ihre ursprüngliche Frage. »Ihr habt alle Vogelnester geplündert?«

»Nein«, beruhigte Oddbjorg sie. »Wir zerstören doch nicht das Leben der Tiere auf unseren Inseln!« Sie lächelte nachsichtig. Woher sollte die ry-n-d-r gryl-a es wissen?

»Auch eine Hohe Frau weiß nicht alles«, begriff sie und erklärte: »Wir suchen die Nester der Vögel und nehmen uns nur einen Teil der Daunen. Die angebrüteten Eier lassen wir im Nest. Und damit die Brut schlüpft und nicht kalt wird und stirbt, füllen wir die Nester mit getrocknetem Gras auf.«

Aesa nickte anerkennend und fragte: »Darf ich die Daunen sehen und fühlen?«

Oddbjorg lächelte. »Sicher! Komm zu mir! Ich öffne meinen Ledersack für dich.«

Ganz vorsichtig löste die ság-a das lederne Band um ihren stramm gefüllten Sack und öffnete ihn behutsam. Dennoch flog sofort feiner grauer Flaum auf und tanzte in der Luft.

Staunend griff Aesa hinein und holte sich eine Handvoll heraus. »Der Flaum ist ganz leicht und zart!«, rief sie überrascht aus.

»Ja«, bestätigte Oddbjorg stolz. »Und sieh mal!« Sie griff etwas Eiderentenflaum und zog das Daunenknäuel langsam auseinander. »Hörst du?« Oddbjorg hielt Aesa die Daunen an das Ohr. »Hörst du, wie es knistert?«

»Ja!«, fasziniert betrachtete Aesa die Daunen. »Der Flaum verhakt sich ineinander!«

»Genau!«, antwortete sie und wunderte sich über Aesas Beobachtungsgabe. »Und genau das macht ihn so wertvoll! Diese Daunen sind so leicht und luftig, dass du ihn kaum spürst. Er verklumpt nicht im Leinensack und wenn du unter ihm liegst und schläfst, wärmt er dich besser als so mancher Mann.« Die ság-a griente verschmitzt und pustete eine graubraune Flaumwolke davon. »Selbst in den wenigen heißen Sommertagen wird dir unter dieser Daunendecke nicht heiß.« Sie verschloss ihre kostbare Fracht wieder.

»Oh«, enttäuscht beobachtete Aesa Oddbjorgs Tun.

»Sei nicht traurig.« Oddbjorg verschnürte den Sack. »Du wirst ihn noch lange genug in deinen Händen halten und du wirst von dieser Daune in deinen Träumen verfolgt werden.«

Aesa sah Bergthora, die dazu trat, verständnislos an. »Warum?«

Bergthora packte ihren Ledersack. »Weil wir jetzt alles ins Haus tragen und bearbeiten werden.«

»Ja«, griente Ellisif die Hure anzüglich. »Damit es meine Männer von oben und unten immer schön warm haben.«

Aesa sah abermals fragend auf Bergthora. Doch die Tuchhändlerin hatte ihren Ledersack längst geschultert und war gegangen.

Aesas Blick glitt zu den anderen Wikingerinnen und schließlich erklärte Gyda, die Gerberin: »Wir werden viele Tage die Daunen reinigen. Jeder kleinste Grashalm, jeder winzige Zweig, Moose, Kot und Eierschalen.« Sie machte eine umfassende Handbewegung. »Einfach alles werden wir heraus sammeln, bis nur noch die reine Eiderentendaune übrig bleibt.«

»Aha«, murmelte Aesa skeptisch und folgte nachdenklich dem Tross der faereyiarnerinnen.

***

»Ich würde lieber mein Schwert führen und mich mit einem Krieger messen, als in diesen verfluchten Daunen zu zupfen und zu pulen!« Ruadhan schimpfte, wie es nur eine Irin konnte, und knallte ihren Korb wutschnaubend gegen die Wand im ersten Raum des Hauses der Tuchhändlerin.

Thyra blickte Ruadhan vielsagend an.

»Stapelt die Ledersäcke mit den Daunen auf die Körbe«, befahl Bergthora. »Sonst haben wir nicht genügend Platz zum Arbeiten.«

»Geh zur Seite«, schnauzte Bergdis und wuchtete ihren Ledersack auf Ruadhans Korb. Die lochlannach machte eine Grimasse und zog sich rückwärtsgehend bedächtig zurück und stellte sich wie beiläufig neben Thyra.

»Wenn wir beide verschwinden«, zischte Thyra Ruadhan ins Ohr, »würde es bei dem Andrang der vielen Frauen hier im Haus doch kaum auffallen.«

Über Ruadhans Gesicht zog ein listiges Lächeln. »Kaum.« Noch mehr Frauen drängten in das Haus. Ein unübersichtliches Gedrängel, lautes Geplapper und Lachen füllten den Raum.

Thyras Augen blitzten vergnügt. »Jetzt!«, nickte sie der lochlannach zu.

»Jetzt!«, bestätigte Ruadhan, griff unbeobachtet ihr Schwert und glitt geschmeidig und von niemandem beobachtet, fast verstohlen, durch die niedrige Tür nach draußen. Wenige Augenblicke später folgte Thyra.

Lachend rannten die beiden Frauen den Bergkamm hinauf und blieben erst stehen, als sie das Haus der Tuchhändlerin nicht mehr sehen konnten. Keuchend beugte Thyra sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab.

»Es sind mehr als fünfzehn Frauen im Haus. Ich finde, das reicht!«, lachte sie schnaufend.

Ruadhan gluckste und betrachtete verschmitzt ihre Handflächen. »Und außerdem sind meine Hände für das Schwert und den Bogen gemacht. Nicht zum Daunenrupfen!«

»Wir sind het-jas!« Thyras Augen funkelten vergnügt. »Komm! Wir gehen in die Schlucht. Dorthin, wo wir ungestört üben können.«

Die beiden Kriegerinnen verschwanden hinter der Bergkuppe. Doch ihr Verschwinden blieb nicht von allen unbemerkt. Aesa saß auf der schmalen Bank vor dem Haus der Tuchhändlerin. Sie beobachtete die Flucht der beiden Kriegerinnen, machte sich ihre Gedanken, schwieg und schmunzelte.

Die Färöer Wikingerinnen saßen beengt im Dämmerlicht des Hauses der Tuchhändlerin dicht nebeneinander.

In der Mitte verbreitete die Feuerstelle Wärme, die gefüllten Körbe standen davor. Vorsichtig griffen die Frauen hinein und zogen die Eiderentendaunen heraus, zupften sie auseinander und pulten jeden kleinsten Gegenstand aus ihnen heraus. Dann stopften sie die gereinigten Daunen in einen luftigen Leinensack hinter sich und griffen erneut in den Korb.

Sie achteten genau auf ihre Bewegungen, damit keine dieser leichten Gebilde in das offene Feuer des mittleren Raumes schwebte, verbrannte und ein Flammeninferno auslöste.

Bergthora achtete streng darauf. »Passt gut auf. Ich will mein Heim nicht verlieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Haus abbrennt«, knurrte sie drakonisch und saß wie eine Wächterin vor dem Eingang des Schlafraumes, wo das Feuer knisterte und den lecker duftenden Eintopf darüber köcheln ließ.

Wenn der Wind die hellen Klänge von schlagenden Schwertern zum Ort trug, erahnten die Frauen, dass in einer Schlucht ein Schwertkampf stattfand.

***

Das volle Gesicht von mýl-in-n strahlte vom nachtschwarzen Himmel auf die Erde hinab und warf zwei schemenhafte Schatten auf das steinerne Hochplateau.

Es war der dunkelste Teil der Nacht.

»Jetzt haben wir myrk-naett-i