Kreideherz - Regine Brühl - E-Book

Kreideherz E-Book

Regine Brühl

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Beschreibung

Kreideherz: Ein Roman über die erste große Liebe, endlose Partys, tolle Musik und die große Freiheit – mit viel Musik aus den 1980ern! Do you remember? Chalk hearts melting on a playground wall. (Kayleigh, Marillion) Der Duft von Sonnenmilch und Bastmatten an einem Sommertag im Freibad, die ersten Partys in der Scheune oder Fußballgucken am Samstagabend in der Dorfkneipe, schüchterne Gespräche am elterlichen Festnetztelefon, Tanzstunden mit Damenwahl und schwitzenden, pickeligen Partnern, gemeinsames Trampen zur Rolling-Disco-Show im Nachbarort oder das Einweichen neuer Jeanshosen in der heißen Badewanne – wer sich daran erinnert, hat seine Jugend definitiv in den 1980ern erlebt. Juliana und Markus erleben die wohl unbeschwerteste Zeit ihres Lebens. Im August 1986 dauern die großen Ferien in der Eifel noch an und gähnend lange Tage gehören für sie ebenso zum Sommer auf dem Land wie unbändiger Leichtsinn und das kribbelnde Gefühl von Schmetterlingen im Bauch. Immer mit dabei sind die legendären Songs dieser Zeit, aus der Musikbox, vom Kassettenrekorder, mit selbst aufgenommenen Kassetten oder dem Walkman. Zusammen mit ihren Cliquen machen sie so einiges mit: Die große Freiheit bei Fahrten mit Mofas und Mopeds, aufregende Ausflüge nach Köln, stundenlanges Eckenknutschen, die Dr. Sommer-Aufklärungsseiten in der BRAVO, Karnevalsfeiern und Alkoholvergiftungen, vermeintliche Schwangerschaften und Petersilie, geheime Fahrübungen in der Lavagrube, baumelnde Duftbäumchen am Rückspiegel, der achtzehnte Geburtstag oder die Tanz-in-den-Mai-Party, nebenher Abitur- und Führerscheinprüfungen, der erste Auftritt der eigenen Band und ein gemaltes Kreideherz auf der Straße … Aufregender könnte das Leben kaum sein! Im Wechsel schlüpfen Regine Brühl und Stephan Falk, die selbst zur Landjugend gehörten, in die Rollen von Juliana und Markus. Der Roman Kreideherz ist nicht nur eine rasante Love-Story mit großen Träumen, dem ersten Liebeskummer und vielen Hoffnungen – er lässt auch Erinnerungen an eine Zeit mit unendlich vielen guten Musiktiteln aufleben. Im Rückblick klingt vieles davon nostalgisch, jedoch waren es auch »the best days of my life«. Kaum ein anderes Jahrzehnt war so unbeschwert und musikalisch so vielseitig wie die 1980er Jahre. Fast hundert Titel sind Bestandteil der Story und drücken die Empfindungen und Gefühle der jugendlichen Protagonisten aus. Die Playlist gibt es am Ende des Buches. Ein Roman für alle, die sich an die 1980er erinnern, ihre Jugend auf dem Land erlebt haben oder alle, die verstehen wollen, warum diese Zeit so unbeschwert und wunderbar war.

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Seitenzahl: 331

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Regine Brühl und Stephan Falk

Kreideherz

Eifeler Literaturverlag 2022

Kreideherz

Roman

Eifeler Literaturverlag 2022

Regine Brühl • Stephan Falk

Impressum

1. Auflage 2022

© Eifeler Literaturverlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Eifeler Literaturverlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.eifeler-literaturverlag.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Umschlaggestaltung:

Dietrich Betcher

Lektorat:

Christoph Swiontek

Inhaltliche Beratung und Kommunikation:

Jeannette Fentroß

Abbildungsnachweis:

© Narin – stock.adobe.com

Druckbuch:

ISBN-10: 3-96123-049-8

ISBN-13: 978-3-96123-049-5

E-Book:

ISBN-10: 3-96123-064-1

ISBN-13: 978-3-96123-064-8

Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Ti Amo – Umberto Tozzi

Juli 1977 Bussana /Sanremo, Italien

Am Strand von Bussana, einem Urlaubsort in Ligurien, ist Hochsaison, die blauen Liegen sind alle belegt. Es ist einer dieser Tage, die sich für ein Kind in einen endlosen Sommer voller Freiheit und Glück einreihen. Die Sonne steht heiß am Himmel und erwärmt den Sand. Ein dunkelhaariges Mädchen mit Zöpfen hat sich ein Handtuch unter die nackten Beine gelegt, um ihre Haut zu schützen. Das Meer treibt seine Wellen in einem sanften Rhythmus an den Strand. Das Mädchen baut eine Sandburg und verziert sie mit Muscheln. Im dunklen, gelockten Haar trägt es ein langes, rosafarbenes Band, das ihr über den Rücken fällt, und passend dazu einen rosa-weißgestreiften Badeanzug. Ein konzentrierter Gesichtsausdruck, die hübschen blassblauen Augen, die langen schwarzen Wimpern und die sanft geschwungenen Lippen lassen erahnen, wie wichtig dem Kind das Kunstwerk aus Sand ist. Immer wieder benetzt es mit einer orangenen Gießkanne den Bau, damit der Sand durch die Hitze nicht austrocknet und herabfällt. Ein sanfter Wind trägt den Geruch von Pizza und frittierten Sardellen durch die Luft. Nicht weit entfernt sitzen die Eltern in ihren für die Ferien angemieteten Strandliegen und trinken italienischen Kaffee.

Das Mädchen füllt seinen Eimer mit Meerwasser und flutet die Gänge des Burggrabens, bis der Bau vom Wasser umgeben ist. Dann läuft es zu seiner Mutter und setzt eine türkise Sonnenblende auf die Stirn.

Barfuß läuft die Achtjährige den Strandabschnitt entlang, weicht spielenden Kindern aus, bis sie an eine ruhigere Stelle kommt, an der keine Badegäste mehr zu finden sind. Hier macht sie die ersten Fußabdrücke im Sand, was ihr ein Glücksgefühl gibt. Ihr Blick schweift den weißen Schaumrand der Wellen vor ihr entlang und fällt auf einen großen hellen Gegenstand, der angespült wurde. In diesem Moment kommt ein etwa gleichaltriger Junge auf sie zu, er sprintet zum Treibgut zu und hockt sich hin, noch bevor das Mädchen die Stelle erreicht hat. Erst jetzt erkennt sie, dass er eine große Muschel in der Hand hält.

»Das ist meine. Ich hab sie zuerst gesehen«, verteidigt sie ihren Meeresfund. »Nein, ich habe sie aber zuerst in der Hand gehalten!«, feixt der Junge zurück. Ihre Blicke treffen sich. Der Junge schaut sie angriffslustig aus außergewöhnlich schönen braunen Augen an, in denen sich das Meereslicht spiegelt. Der schwarzhaarige Junge, der mit seiner gebräunten Haut aussieht wie ein Italiener, besitzt hübsche Züge, die schon erahnen lassen, wie er einmal als Mann aussehen wird. Er muss im Meer gebadet haben, denn seine langen Haare sind noch feucht. Sein Mund öffnet sich und er setzt an, etwas zu sagen. Dann überlegt er kurz und schweigt, während er die große Muschel in den Händen dreht und von allen Seiten anschaut. Dann hält er sie ans Ohr »Oh hör mal … das Meeresrauschen ist darin!« Er reicht ihr die Muschel, die sie andächtig an ihr Ohr hält. »Ja. Der Klang ist wunderschön. Ich höre Delfine und Wale, die singen. Und einen Sturm, der draußen tobt. Aber auch Möwen und eine Seeschlange.« Der Junge zieht die Stirn in Falten. »Unsinn, wie hört sich denn eine Seeschlange an?« »Sie schlägt mit dem Schwanz und macht Wellen im Wasser.«

»Lass mich nochmal!« Ungeduldig nimmt der Junge ihr die Muschel aus der Hand und horcht erneut. »Ich höre nur Rauschen.« »Tja, du hast halt auch keine Fantasie!« »Hab ich doch!«, antwortet er erbost. »Aber offensichtlich nicht viel. Oder die Muschel zeigt nur mir ihr Geheimnis, da sie bei mir bleiben will.«

Jetzt schnauft der Junge verächtlich. »Weißt du was? Ich habe eine Idee!« »Welche?«

»Wir vergraben die Muschel. Dann gehört sie uns beiden.« »Mmh … Wo denn?« »Komm mit.«

Die beiden laufen auf einen kleinen Kiefernhang zu, der Junge trägt die Muschel wie eine Trophäe in seinen Händen vor dem Körper. »Hier unter der höchsten Kiefer verbuddeln wir sie.« Mit bloßen Händen versuchen sie, den sandigen Boden aufzugraben, doch es gelingt ihnen nicht. »Ich hole meine Schaufel, warte.« Er läuft weg in Richtung der Liegestühle. Das Mädchen lehnt sich mit dem Rücken an den Baum und streckt seine Beine aus. Im Schatten unter der Kiefer zu sitzen und die Muschel einmal allein zu besitzen und betrachten zu dürfen, ist ein schönes Gefühl. Nur leider dauern die Minuten der Ruhe nicht lange an, bis der Junge mit einer roten Strandschaufel zurückkommt. Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn, er ähnelt ein wenig Huckleberry Finn. Sofort beginnt er, ein Loch zu graben. Es riecht nach Kiefernnadeln und vom Kiosk her tönt aus der Ferne Ti Amo von Umberto Tozzi, ein Lied, das gerade als Superhit in Italien ständig im Radio läuft. Die Muschel legen die beiden Kinder fast andächtig und schweigend in die Mulde und das Mädchen bedeckt sie mit Sand und Erde. Beide setzen sich noch eine Weile an den Baumstamm. »Wie lange bleibst du hier?«, möchte die Dunkelhaarige wissen.

»Leider nur noch heute. Morgen müssen wir heimfahren.« »Oh. Schade.« Er springt auf.

»Ich muss jetzt zurück zu meinen Eltern. Wir packen noch die Koffer und gehen zum Abschluss in die Pizzeria.« Er sieht ein wenig traurig aus.

»Na, dann … mach’s gut.« Als er weg ist, überlegt das Mädchen, ob es die Muschel nicht doch wieder ausgraben und mit nach Hause nehmen soll.

Kapitel 1

Dein ist mein ganzes Herz – Heinz Rudolf Kunze

Seltsamer Typ, Spießer oder so ähnlich, dachte ich als Dein ist mein ganzes Herz von Heinz Rudolf Kunze aus der Lautsprecherbox meiner Plastik-Hi-Fi-Kompaktanlage dröhnte. Wie wenig mochte ich diese Billig-Kompaktanlagen. Alles in einem: Plattenspieler, Kassettenrekorder und Radioempfänger. Praktisch sollte das sein, aber es endete maximal in Mittelmäßigkeit. Mittelmaß war irgendwie nie mein Ding gewesen. Wahrscheinlich haben die Kompaktanlagenbesitzer von damals heute alle einen Kaffeevollautomaten in ihrer Einbauküche stehen. Gleiches Prinzip, nicht richtig schlecht, aber auch nicht richtig gut – eben Mittelmaß. Ich tröste mich damit, dass es ein Weihnachtsgeschenk meiner verzweifelten und leider komplett unmusikalischen Eltern gewesen ist. Was soll man dem Jungen denn auch sonst schenken? Schwamm drüber! Es war nett gemeint. »Nett gemeint«, auch so eine Floskel aus dem Feld der Mittelmäßigkeit. 

Doch Dein ist mein ganzes Herz ist wie für eine Kompaktanlage gemacht. Passt bestens. Kein richtig schlechter Song, aber auch kein richtig guter. Es war der letzte Samstag im Mai 1986 und ich war nicht in der Situation, dass ich mein Herz hätte verschenken können. Da war einfach keine, die gut genug darauf aufgepasst hätte. Was machen große wie kleine Jungs, wenn sie niemandem ihr Herz schenken können? Richtig, sie schauen einfach Fußball. Und das passte an diesem Samstagabend hervorragend, denn in Mexiko begann die Fußball-Weltmeisterschaft und das Eröffnungsspiel meiner Lieblingsfußballmannschaft stand an. Die »Squadra Azzurra« trat als amtierender Weltmeister gegen das osteuropäische Team aus Bulgarien an. Also suchte ich mein Italien-Trikot im Kleiderschrank, es roch ein wenig nach Kneipenluft, ich streifte es mir trotzdem über, nur, um dann meine Jeansjacke mit den abgeschnittenen, verfransten Ärmeln und am Rücken mit einem Sticker vom Iron Maiden Plattencover überzuziehen. Meine Kutte, so nannte man das in dieser Zeit. Mit einem Blick von heute sah das wahrscheinlich eher »scheiße« aus, aber es war zumindest kein Mittelmaß. Es war frisch draußen für diese Jahreszeit und es hing ein typischer Eifelregen in der Luft. Die Fahrt auf meinem schwarzen Hercules Mofa M5 in die Dorf­kneipe war kurz, doch das Outfit musste auch für eine kurze Strecke korrekt sein. Ich wollte »fresh« aussehen, würden die Jugendlichen heute sagen. Denn wer weiß, auch wenn es höchst unwahrscheinlich war, vielleicht traf ich ja ein Mädel, dem ich mein Herz anvertrauen konnte. Spätestens da hätte mir schon klar sein sollen, welch unbelehrbarer Träumer ich gewesen bin. Wo sollte dieses Mädel denn herkommen?

Samstagabend in einer Dorfkneipe namens »De Mamm« mitten in der Eifel und die üblichen Verdächtigen an der Kneipentheke. Damals ein Sammelbecken von schrägen und weniger schrägen Typen. Weltverbesserer, die schon immer wussten wie alles besser geht, aber immer nur in ihren Erzählungen stecken geblieben sind – und natürlich abendfüllende Erklärungen dafür parat hatten, warum sie nichts von dem taten, worüber sie permanent sprachen. Wortkarge Kartenspieler und Menschen, die mit einem Würfelbecher so viel Lärm machen konnten, dass es heute wahrscheinlich verboten wäre, ohne Ohrstopfen mit ihnen im selben Raum zu sitzen. Und wie in jeder guten Dorfkneipe gab es diese Typen, die entweder noch bei der Mama wohnten oder nur deswegen alleine lebten, weil die Eltern bereits verstorben waren. Sie saßen meist am Ende der Theke, ihr Bier bestellten sie mit einem kurzen Augen­aufschlag. Einmal die Augenlider leicht anheben und einen kurzen Blick aufs leere Glas werfen. Die Übersetzung dazu war. »Mach noch eins!« Zack und das nächste Bier war gezapft. Warum viele Worte verlieren, wenn es auch so funktionierte? Mit ihren Ellenbogen hatten sie bereits seit Jahren zwei kleine Kuhlen in die Holztheke gestützt. Der eigene Aschenbecher stand links neben ihnen. Denn mit der linken Hand rauchen wirkt wesentlich cooler, außerdem hatte man die rechte Hand dann frei, um sich bei heiklen Themen am Bierglas festzuhalten oder einfach nur den Kopf zu stützen. Meistens waren solche Typen eher Zuhörer und sprachen wenige Worte oder besser gar nicht. Blicke reichten auch allgemein zur Kommunikation aus. »Nonverbale Kommunikation« sagt man heute dazu. Ansprechen konnte man diese Figuren jedenfalls nicht. Denn sobald sie ihre Lippen weiter als zum Luft holen öffneten, erfasste den Gegenüber ein heftiger Atemschwall, manche sagen Mundgeruch dazu, was ich als eine sehr freundliche Beschreibung empfand. Denn was aus solch einem Schlund heraus wehte, das machte einem olfaktorisch sehr deutlich, dass der Verwesungsprozess in manchem Fällen bereits vor dem klinischen Tod eintreten kann. Nicht selten wurde diese Duftnote von einer vorher gegessenen Frikadelle entsprechend aromatisiert. Zwiebeln gehörten unverkennbar auch zu einem gebratenen Fleischklops und sorgten für eine ganz eigene Note. Bei uns hieß dieser Kneipenstammgast Wumms. Wumms war Kettenraucher und rauchte die Kult-Zigarettenmarke Africaine. Damals qualmten die Menschen wie selbstverständlich in den Gaststätten und keinen schien das zu stören. Nicht selten war der Gastraum so voller Zigarettenqualm, dass man nicht bis zur Eingangstür der Kneipe sehen konnte. Wumms war früher mal ein begnadeter Fußballspieler gewesen, womit sich dann auch sein Spitzname erklärte. Ich mochte den Typen, er wirkte wie ein unerkannter Intellektueller oder ein Philosoph der nie sprach aber auch nicht schrieb. Nicht nur seine Frisur machte ihn unvergesslich, und wenn es diese Dorfkneipe noch heute gäbe, ich würde wetten, Wumms säße immer noch an derselben Stelle – mit genau derselben Frisur.

Im Nebenraum der Kneipe, der sogenannten inoffiziellen Jugendzone, standen zwei Freunde am Kicker und spielten Tischfußball. Einen Flipper gab es auch, der klimperte und leuchtete vor sich hin und fand wie der flackernde Computer-Kasten keinen Interessierten für ein Spiel. In der hinteren Ecke gab es einen Fernseher für die Übertragung des Fußballspiels. Anpfiff. Bis auf Wumms, der von der Theke aus bis in die hinterste Ecke des Nebenraums einen gelangweilten Blick auf den Fernseher warf, war ich der Einzige, der Lust hatte dieses Spiel wirklich anzuschauen. Beckenbauers Deutschland-Team spielte eben erst ein paar Tage später und für die italienische Nationalmannschaft interessierte sich hier kaum einer. Ich setzte mich alleine in die Nähe des Fernsehers und bejubelte den Treffer zum 1:0 von Alessandro Altobelli. Das Spiel endete 1:1 und war eher Mittelmaß. Je später der Abend, desto besser füllte sich die Kneipe, wie es sich für einen Samstag auf dem Dorf damals gehörte. Einige ältere Paare um die fünfzig oder sechzig kamen zum sonnabendlichen Kegeltreffen und verschwanden in Richtung Bahn im Keller. Die Theke war voller Männer, die über Politik wetterten. Im jugendlicheren Nebenraum fanden sich immer mehr Kumpels ein und auch das ein oder andere Mädel kam dazu. In der Kneipe vermischte sich der Zigarettenqualm der Raucher mit dem Geruch frisch gebratener Frikadellen aus der Küche hinter der Theke. Mir schwirrte noch immer die Schnulze von Kunze im Ohr, obwohl ich das überhaupt nicht wollte. Also ging ich rüber zur Musikbox, so eine Art Spotify in analog – nur mit weniger Auswahl. Für fünfzig Pfennig konnte man zwei Musiktitel aus hundert Songs auswählen. Ich entscheid mich für We built this city von Starship und Falco mit Jeanny, Part I, in der Hoffnung, diesen Kunze endlich aus meinem Kopf zu bekommen. Bei der Musik von Kunze denke ich heute an Familienväter, die im FC Bayern München-Trikot den Geburtstag ihrer Kinder in einem Burger-Restaurant feiern, während deren Frauen dabei hektisch mit ihrem Smartphone durch die Gegend laufen, um alles sofort auf den Social-Media-Kanälen von perfekten Mamas posten zu können. Unsere Geburtstagsfeiern als Kind, falls es überhaupt eine gab, waren mit Sackhüpfen, Eierlaufen und Topfschlagen um einiges entspannter.

Zwischenzeitlich war auch Bombe eingetroffen und stand wie üblich am Flipper. Bombe hieß eigentlich Sven, aber so nannte ihn keiner von uns. Bombe hatte nicht nur eine Figur wie eine Bombe, sondern meistens auch ein bombiges Outfit. Denn zu seinen geschätzten 110 Kilo Gewicht, die sich auf einer Körpergröße von maximal 1,70 Meter verteilten, kam auch noch ein kreisrunder, kugelförmiger Kopf. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mit weißem Netzhemd und braunen Cowboystiefeln durch die Gegend zu laufen – oder sollte man besser sagen: zu wackeln. Ob er wegen seines Aussehens oder wegen seiner permanenten Späße Bombe genannt wurde, keiner wusste es. Bombe war immer gut gelaunt und für jeden Unfug zu haben. Ich denke, das machte ihn einfach bei allen beliebt, egal ob Mädels oder Jungs. Da ich ihn besser kannte als alle anderen aus unserer Clique, wusste ich, dass es im Inneren dieser Spaßbombe anders aussah. Er war tiefgründiger als er sich zeigte und wenn er alleine war, dann war er oft sehr melancholisch. Einige Jahre später war Bombe verschwunden. Keiner wusste so genau, wo er steckte. Zu Hause ausgezogen und ohne ein Wort an seine Kumpels, war er für uns wie vom Erdboden verschluckt. Selbst mir hatte er vor seinem Verschwinden kein Sterbenswörtchen erzählt. Ab diesem Zeitpunkt war kein Gerücht abstrus genug, um Bombes Verschwinden zu erklären. Angeblich hat er sich in einen Typen von einer Travestie-Show, der in Köln lebte, verliebt und ist im Überschwang der Hormone Hals über Kopf abgehauen. Zumindest erzählt man sich das so im Dorf, was wiederum nichts bedeuten muss.

Jemand hatte Limahl mit Never ending story aus dem Angebot der Musikbox gewählt und ich wusste, dass an diesem Abend nicht mehr viel passieren würde. Hier war einfach nicht der richtige Platz, um sein Herz zu vergeben. An wen auch? Es waren ja nur zwei Mädels an diesem Abend in unserer Dorfkneipe und die waren einfach nicht mein Fall. Nett ja, aber nett war ja dann auch wieder Mittelmaß. Und für Mittelmaß war mein Herz damals noch zu unerfahren, die Not war nicht groß genug. Ein paar Runden am Flipper und einige Malzbier später hatte ich genug und fuhr mit meinem Mofa durch die Nacht nach Hause. Leider immer noch mit diesem Song Dein ist mein ganzes Herz im Kopf. Es war einfach kein Abend für Van Halens Jump. Solche Abende gab es zwar, aber heute war es eben anders.

Kapitel 2

Home by the sea – Genesis

Es war der erste heiße Tag im Juni 86. Und schon wieder fiel die Bastmatte vom Gepäckträger meines silbernen Fahrrads und landete auf der Fahrbahn. Genervt hielt ich an, um sie aufzusammeln. Lachend überholten mich die Zwillinge aus unserem Dorf, die mit ihren Mofas an mir vorbeirasten. »Du hast da was verloren!« Die Zwillinge waren ziemlich eingebildet und beim Lachen blitzten die Drähte ihrer festen Klammern und ihre straßenköterblonden Locken fielen ihnen über ihre beigen Hornbrillen. Mit einem Schlenker fuhren sie demonstrativ an mir vorbei, so dass mir die Abgase in die Nase wehten.

»Blöde Schnepfen!«, verärgert hob ich die Badematte auf, die sich auf der Straße ausgerollt hatte, wickelte sie zusammen und band die Schleife wieder zu.

Dass man bei der Hitze, es waren immerhin über dreißig Grad Celsius, auch noch freiwillig die zwölf Kilometer mit dem Rad zum Freibad fuhr – immer bergauf – das grenzte überhaupt schon an Wahnsinn. Aber ein Mofa besaß ich nicht und in unserer ländlichen Eifelgegend fuhr am Nachmittag kein Bus. Nur morgens hin und abends einer zurück in die Stadt. Als ich das Nachbardorf erreichte, wartete meine Freundin Judith schon an der Kreuzung auf mich. An ihrem Lenker hing ein quietschgelber Korb aus Plastik, in dem sie ihre Badesachen verstaut hatte. Wir mussten noch einen steilen Berg hinauf, die Fahrräder konnten wir nur schieben. Dabei suchten wir den Schatten der Bäume, während der Gurt der umgehängten Adidastasche in unsere Schultern einschnitt. In ihr schleppte ich immer und überall meinen ITT Kassettenrekorder und eine Menge selbst aufgenommener Kassetten mit. Denn Musik musste man immer dabeihaben. Phil Collins, Stimme begleitete uns mit Mama beim Strampeln.

Wir zahlten an der Freibadkasse eine Mark und fünfzig Pfennige für den Eintritt und machten uns auf die Suche nach unserer Clique. Andreas, Bianca, Simone, Thomas und Uli lagen direkt unter einem Baum, neben dem ein Mülleimer stand, auf ihren Handtüchern. Simone entdeckte uns als erste und rief uns zu: »Juuudith! Juliana!«

Simone rauchte, die anderen lagen Eis essend auf ihren Handtüchern. Ich zog meine rosa-weiß gestreiften Espadrilles aus, die schon fast die dünne Sohle verloren, und breitete mein Handtuch neben Andreas auf der ausgerollten Bastmatte aus, wobei ich vermied, sie auf vergammelte Zigarettenstummel zu legen.

Judith und ich liefen zu den Umkleidekabinen, wo ein paar Jungs Unsinn anstellten und Mädels hinterherspionierten. Beim Warten auf meine Freundin entdeckte ich, dass im Zaun hinter den Umkleiden ein Loch war. Interessant, dachte ich! Dann liefen wir zum Schwimmbecken und sprangen ins Wasser. Es war saukalt. Da wir Mädels es selbst bei den heißen Temperaturen nicht lange im kühlen Nass aushalten konnten, wärmten wir uns am Beckenrand auf den Steinfliesen, die von der Sonne aufgeheizt waren. »Thomas und Simone gehen miteinander!«, klärte mich Judith auf. Mit einem Blick in unsere Liegeecke sah ich, dass sie knutschten. »Seit wann?«, wollte ich wissen. »Seit eben, glaub ich!« Wir lachten.

»Komm, lass uns Pommes holen!« Am Kiosk stand eine riesige Schlange, doch wir hatten Hunger.

Auf meinem Kassettenrecorder lief gerade Home by the sea, als wir uns aufs Handtuch fallen ließen. Flott aßen uns Simone und Bianka unsere Fritten weg. Andreas schaute mich von der Seite an. »Soll ich dir den Rücken eincremen?« Er nahm die Delial Sonnenmilch und begann etwas ungeschickt mit dem Auftragen der Emulsion. »Damit du nicht rot wirst.« Die Berührungen auf der nackten Haut des Ausschnittes meines blauen Adidas Badeanzugs waren überraschend angenehm, so dass ich verschwieg, dass ich an dieser Stelle nur selten Sonnenbrand bekam. Ich schloss genießend die Augen und nahm den Geruch wahr, ein Mix aus Sonnencreme, Bastmatte, Andreas’ Aftershave, Biankas My Melody-Parfum, dem Chlorwasser und dem Frittenfett aus dem Kiosk. Unter hunderten Gerüchen würde ich garantiert diesen mit geschlossenen Augen als Freibadgeruch identifizieren können. Die Sonne trocknete die Wassertropfen auf meiner Haut. Das frischverliebte Paar unterhielt sich über Frank Zander.

Als Andreas jeden Zentimeter meines Rückens mehrmals eingesalbt hatte, bat ich ihn: »Die Beine nicht vergessen!« Leicht errötend begann er ungefähr in meinen Kniekehlen und massierte die Milch bis zu den Füßen ein, weiter oben traute er sich offensichtlich nicht. Nur noch Phil Collins und die Stimmen der Badenden nahm ich wahr und wurde schläfrig. Ich fühlte einen wohligen Schauer und glitt sorglos in einen leichten Schlaf. Als ich erwachte lag Andreas ganz nahe neben mir und schaute mich an. Ich blinzelte ihn an und lächelte.

»Du siehst schön aus, wenn du schläfst«, sagte er grinsend zu mir. »Nur, wenn ich schlafe?« »Nein, auch sonst manchmal.« Er lachte.

»Hast du Lust, mal was Verrücktes anzustellen?«, wagte ich ihn zu fragen. Andreas war ganz Ohr. »Ja, kommt drauf an, was denn?«

»Ein Vollmondbad hier ganz allein?« Andreas schaute mich mit seinen braunen Augen ziemlich überrascht an. »Wie willst du das schaffen?«

»Lass dich überraschen. Bist du nun dabei oder nicht?«, fragte ich ihn herausfordernd und wusste bereits die Antwort.

»Klar. Und wie machen wir das, ohne dass unsere Eltern was merken?« Manchmal war Andreas recht fantasielos. »Na, du tust so, als legst du dich schlafen, schließt die Zimmertür ab und kletterst den Balkon runter. An der Regenrinne. Das Moped schiebst du bis zur Kreuzung.« Schweigen. »Ja, okay.«

»Und ich schleiche mich leise zur Kellertüre raus, die kann ich offenlassen.« Andreas besaß eine Fantic, auf der wir in der Nacht hinfahren konnten.

Bevor wir an diesem Abend das Schwimmbad verließen, steckten Andreas und Thomas noch Papierstreifen in die Zündkerzenstecker der Mofas der Zwillinge, so dass diese nicht mehr ansprangen. »Die werden wohl abgeholt werden müssen!« Lachend fuhren wir nach Hause, ich mit meinem ersten Sonnenbrand an den Oberschenkeln, den ich zu Hause erfolglos versuchte, meinen Eltern zu erklären.

Zwei Wochen später war die Vollmondnacht. Verabredet hatten wir uns für 23.30 Uhr, Andreas wartete mit seiner Fantic am alten Apfelbaum auf mich. Er gab mir seinen Helm und half mir beim Schließen des Halsgurtes, er selbst fuhr ohne. Ich nahm hinter ihm Platz und er sagte, ich sollte mich gut an seinem Bauch festhalten. Als er losfuhr, legte ich meine Wange an seinen Rücken, spürte seinen muskulösen Körper. Es kribbelte ganz doll in meinem Magen als er zum ersten Mal beschleunigte, da ich das Mitfahren nicht gewohnt war. Die Luft war lau, ein schöner, trockener Sommerabend, die Felder waren frisch gemäht und dufteten nach Heu. Das Mondlicht beleuchtete die Landschaft. Wir hielten auf dem leeren Parkplatz des Freibads. Ich nahm Andreas an der Hand und führte ihn mit Herzklopfen zu der Stelle hinter den Umkleidekabinen.

Als ich auf das Loch im Zaun deutete, pfiff Andreas überrascht. »Psst, sei leise, wer weiß, ob noch wer hier ist!«, warnte ich ihn. Wir warfen die Handtücher durch die kleine Öffnung und kletterten hinterher. Das Wasser spiegelte den Mond und glitzerte silbern. Es war niemand hier außer uns, nur die Grillen zirpten. Hand in Hand näherten wir uns dem Wasser.

»Die Umkleidekabinen sind abgeschlossen«, lachte Andreas. Er begann langsam, seine Jeans auszuziehen, unter der er seine Badehose trug, und zog sein Oberteil aus. Ich hatte so weit nicht vorausgedacht, gab ihm das Handtuch zum Vorhalten und zog mich dahinter um. Wir lachten. Dann lief ich los, sprang mit einem Kopfsprung ins Becken. Es war unglaublich kalt, aber wunderbar. Andreas ließ sich hinter mir ins Wasser gleiten. Wir ließen uns auf dem Rücken treiben und blickten in den Sternenhimmel, der sich als Glanzgefunkel im Wasser spiegelte. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte mich. Es war eine magische Nacht. Leise plätscherte das Wasser. Wir fassten uns an den Händen und schwebten auf der Wasseroberfläche. Liebestrunken trieben wir in der Nachtstille. Ich fühlte ein unbändiges Gefühl der Freiheit und des Einsseins mit dem Universum.

Auf dem Heimweg leuchteten uns Glühwürmchen den Weg. Bevor wir aufs Moped stiegen, strich Andreas eine Strähne aus meinem Pony und küsste mich. Auf dem Heimweg durch die Sommersternennacht sang ich Follow you, follow me … ich hielt mich an Andreas fest und heute weiß ich, dass dieser Augenblick zu einem der glücklichsten Momente in meinem Leben zählte.

Kapitel 3

Ohne Dich schlaf ich heut Nacht nicht ein – Münchner Freiheit

Es war ein Samstag im Juni 86. Draußen war es bereits ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit in der Eifel. Somit bot es sich an, diesen Tag im Freibad zu verbringen. Im Radio lief Liebe auf den ersten Blick von der Münchner Freiheit und die Zeile ›Diesen Zauber aus purem Glück‹ verfolgte mich für den Rest des Tages. Keine Chance, sie zu vergessen. Ohrwurm hieß das schon damals.

Was heute Social-Media-Kanäle und Messenger-Dienste sind, war damals das Wartehäuschen der Bushaltestelle direkt neben der Kirche. Hier gab es alle relevanten Neuigkeiten. Zudem wurden die Aktivitäten der näheren Zukunft an der »Busse«, so lautete die liebevolle Abkürzung für unser Bus-Häuschen, geplant. Also bin ich mit meinem Mofa rüber zur Busse. Es war um die Mittagszeit und irgendjemand war immer an der Busse – heute würde man »online« sagen. Sebastian, der bei allen nur als Semmel bekannt war, wohnte direkt neben der Busse und verbrachte seine Zeit fast ausschließlich an unserem Treffpunkt. Semmel war somit ein analoger Vorreiter von Facebook, Instagram und Snapchat in Menschengestalt. Vielleicht ist er später im Silicon Valley gelandet und hat WhatsApp oder einen anderen Messenger-Dienst erfunden. Wer weiß das schon? 

Semmel war auch einer von denen, die wie Bombe, irgendwann einfach weg waren und bis heute nicht mehr zurückkamen. Er wusste genau, was angesagt war, wer wo war, wer wann kommt und geht. Wer mit wem und wann und lauter solche Sachen. Natürlich war er dadurch auch in der exklusiven Situation, diese Informationen für sich zu nutzen und zu entscheiden, wem er und vor allem wann er etwas weiterverbreitete. Selten hat Semmel selbst etwas mitgemacht, wie auch, er musste ja vor Ort Präsenz zeigen und Informationen sortieren und gezielt verteilen. Als eines der wenigen Scheidungskinder zu dieser Zeit wohnte er allein mit seiner Mutter. Die wiederum war so eine Art Virenscanner für die Busse und hatte stets ein Auge auf Semmel und das, was an der Busse passierte. Am Wochenende stand meist ein sogenanntes Rähmchen an der Busse, so bezeichneten wir einen Kasten Bier mit 0,33 Liter Flaschen. Weiterer Antriebsstoff für Geselligkeit und argwöhnisch geduldet vom mütterlichen Virenprogramm. Wie diese Rähmchen immer wieder dort hinkamen, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.

Es war, wie es sein sollte. Semmel saß an der Busse und neben ihm Nicki. Die beiden rauchten eine selbst gedrehte Zigarette aus Samsontabak. Gemeinsam eine, denn Semmel zog jeweils nur kurz an der Zigarette und gab diese direkt an Nicki zurück. Schließlich saß seine Mutter vornehmlich auf dem kleinen Balkon ihrer Wohnung und behielt alles im Blick. Entspannt eine Zigarette rauchen war somit für Semmel nicht möglich. Ich hatte Mama Semmels Wohlwollen, wahrscheinlich mochte sie mich sogar. Das hatte wohl mit meiner Vergangenheit als Messdiener zu tun. Anders konnte ich mir das nicht erklären.

Nicki begrüßte mich mit einem Schwall Rauch, den sie mir direkt ins Gesicht hauchte. Sie war ein Schatz und ich habe sie wirklich sehr gerne gehabt. Nicht so wie man in dem Alter vielleicht ein Mädchen gerne gehabt hätte, sondern eher wie ein prima Kumpel der einfach nur kein Typ war. Nicki hing lieber mit uns Jungs als mit ihren gleichaltrigen Klassenkameradinnen rum. Bei Nicki weiß ich bis heute nicht, ob sie in mich verliebt war. Wir haben uns in all den Jahren nicht einmal geküsst, trotzdem gab es ein unsichtbares Band zwischen uns und wir konnten uns wirklich alles erzählen. Einfach wunderbar, eine echte Freundin. Semmel erzählte, dass einige aus unserer Gruppe sowie zwei, drei Klassenkameraden von mir, die auch er kannte, bereits im Freibad waren. Nicki wusste nicht so recht, ob sie Lust hatte mitzukommen, Semmel wollte lieber an der Busse bleiben. Wir tauschten uns kurz über die 0:2-Niederlage im Weltmeisterschaftsspiel Deutschland gegen Dänemark am Vorabend aus, bevor ich noch mal nach Hause bin und meine Sachen fürs Schwimmbad eingepackt habe.

Einen kompletten Tag im Freibad mit Freunden und Klassenkameraden war wie eine kurze Reise ans Meer. Sonne, blechern klirrende Kassettenrekorder, billige Sonnenbrillen, der Geruch von Tiroler Nussöl und Chlor, kitschig-bunte Badetücher im Patchwork-Muster aneinandergelegt, fettige Kartoffelchips, Flips und literweise Billig-Cola von einem bekannten Discounter. Freibad-Saison. Was auf keinen Fall fehlen durfte: Sonnenmilch von Delia. Sie war der, wie man heute sagen würde, Door-Opener für einen Hautkontakt zu den Mädels. Die Mädchen, die etwas von sich hielten und ihren Körper pflegten, hatten ihre eigene Delia-Flasche in der Badetasche. Und wir Jungs hatten somit das Legitimationsmittel, um gleichaltrige Mädels zart und vor allem hautnah zu berühren. Denn irgendjemand musste den Mädchen ja den Rücken eincremen. Einerseits eine charmante Geste, andererseits eine gute Übungseinheit für später, dachte ich mir. Schon kam mir eine weitere Textzeile von einem Song der Münchner Freiheit in den Sinn: ›Und ich gebe offen zu, das, was ich will, bist du.‹ Ohrwurm halt.

Meine Augen strahlten als ich schon aus der Ferne sah, dass Kerstin auch da war. Und Gott sei Dank lagen die zickigen Hoffmann-Zwillinge nicht direkt neben ihr und den anderen. Da ich die beiden Mofas der Zwillinge am Eingang stehen sah, befürchtete ich Schlimmeres – Glück gehabt. In der Hoffnung, Kerstin eincremen zu dürfen, schlurfte ich voller Vorfreude in Richtung meiner Klassenkameraden, legte mein orange blau-gestreiftes Badetuch auf die frisch gemähte Wiese vom Freibad und hörte aus Achims Kassettenrekorder Summer of 69 von Bryan Adams. Super, Kerstin war noch nicht eingecremt, meine Chance. Allerdings war ich an diesem Tag doch nicht schnell genug und Ralf nutzte den kleinen Vorsprung, den er hatte. Sehnsüchtig schaute ich den beiden zu. Wie gerne hätte ich an diesem Tag Kerstin den Rücken und vielleicht auch die Beinrückseiten eingecremt.

Cornelia war ebenfalls da. Sie wartete auf Daniel, der eine Viertelstunde später kam. Cornelia ließ sich nur von Daniel eincremen, an ihre pickelige Haut durften zu dieser Zeit nur Daniels Hände. Das war für die anderen Jungs mehr Glück als Pech. Es war sogar erleichternd, denn Cornelias weiblichen Reize waren weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick zu entdecken und das lag nicht an den billigen Sonnenbrillen für zehn Mark, die unseren Blick verdunkelt hatten. Wahrscheinlich hätten auch ein dritter Blick und eine andere Sonnenbrille daran nichts geändert. Ganz ehrlich, in diesem Alter waren für uns innere Werte so interessant wie Synchronschwimmen bei den Olympischen Spielen. Weiser wird man schließlich erst mit steigendem Lebensalter – aber nur, wenn man Glück hat. Denn auch dafür gab es keine Garantie. Cornelia und Daniel dagegen passten bestens zusammen. Beide überzeugten rein äußerlich eher auf den zweiten Blick, wenn überhaupt. Daniel fiel wegen seiner 1,90 Metern Körpergröße und einer schon mit siebzehn Jahren einsetzenden Glatze auf. Sein Brillenmodell steigerte dabei nicht gerade die Attraktivität, passte dafür umso besser zum Gestell von Cornelias Brille. Optiker schienen damals gewusst zu haben, wer zu wem passt. Für uns waren die beiden zu dieser Zeit eher ein abschreckendes Beispiel junger Verliebtheit, peinlich war den beiden nichts. Zum Beispiel konnte man das Schmatzen ihrer Zungenküsse auch noch zwei Meter weiter hören. Zugucken wollten dabei aber keiner und über den Rest schweige ich mich lieber aus. Notfalls blieb einem nur der Sprung ins Wasser oder die Alternative, den Walkman rauszuholen und sich Musik auf die Ohren zu setzen. Nur Bombe hatte eine auffällige Angewohnheit im Freibad. Meist verschwand er mehrmals an einem Nachmittag in den Umkleidekabinen, obwohl er längst umgezogen war und kam auch immer wieder in derselben Badehose zurück, manchmal freudestrahlend, manchmal leicht verstört. Ich fand das bereits seit längerer Zeit sehr rätselhaft. Und es war endlich an der Zeit, dieser Sache nachzugehen. Somit ging ich Bombe unauffällig hinterher.

Im großen gemischten Umkleideraum mit den Einzelkabinen roch es nach Hygienemittel gegen Fußpilz. Drei von diesen Fußstrahlern hingen an der gegenüberliegenden Wand. Die orangefarbenen Kabinentüren schlugen ständig auf und zu. Kinder kreischten und liefen ihren Eltern voraus ins Babybecken. Ältere Damen besetzten die an der Wand hängenden Haartrockner und manch einer saß auf einer Kabinenbank und knipste sich die Zehennägel. Mal kam jemand in Badesachen heraus, mal ein anderer, der sich nach dem Schwimmen wieder angezogen hatte.

Ich bin im unsichtbaren Abstand zu Bombe geblieben. Er ging nicht direkt in eine der Kabinen, sondern sondierte zuvor die Lage und beobachte, wer wo hineinging. Als ein Mittdreißiger, ich glaube, es war jemand vom örtlichen Schwimmverein kam, um sich in einer der Kabinen umzuziehen, spurtete Bombe mit seinen kurzen Beinen und dem kugelförmigen Körper in die freistehende Nebenkabine. Erst ein paar Minuten später, nachdem der Kabinennachbar bereits fertig umgezogen und gegangen war, kam er wieder aus der Kabine heraus. Sichtlich guter Dinge marschierte Bombe, der mich nicht entdeckte, aus der Umkleide zu den anderen. Aber was hatte er bloß in der Kabine gemacht? Nachdem Bombe aus dem Blickfeld war, ging ich in die Kabine, in der er scheinbar eine gute Zeit gehabt hatte. Im ersten Moment hatte ich da nichts Auffälliges gesehen. Doch dann fiel mir ein weißer Punkt auf etwa ein Meter Höhe an der orangefarbenen Wand ins Auge. Dieser Punkt bestand aus einem Stückchen Papiertaschentuch und hatte die Funktion einer Lochfüllung. In der Kabinenwand war ein fünf Millimeter großes Loch – ein Guckloch. Hatte Bombe hier etwa jungen Männern heimlich beim Umziehen zugeschaut? Er hatte! In diesem Moment klackte die Kabinentür neben mir und jemand kam zum Umziehen. Ich musste kurz durchatmen, wartete einen kleinen Moment, bis ein nasses Badeteil in der Nachbarkabine auf den Fliesenboden klatschte. Eine richtige Recherche verlangte danach, dass ich dieses Guckloch genau inspizieren musste und einen Blick hindurch warf. Für eine Sekunde sah ich einen schwabbeligen Frauenhintern und genau in diesem Moment wurde das Guckloch von der anderen Seite bemerkt. Ein kurzes »Blöder Spanner!«, hallte zu mir hinüber und im selben Moment wurde das Loch von der Gegenseite zugestopft. Bloß weg, dachte ich mir. Leise öffnete ich den Drehriegel der Kabinentür und ging eilenden Schrittes und mit leicht rotem Kopf aus der Umkleidekabine. Bis heute weiß ich nicht, wer genau in der Nachbarkabine gestanden hat, aber die Stimme erinnerte mich irgendwie an die Frau von Franz Hagente, dem örtlichen Autohausbesitzer. Auf jeden Fall musste ich später immer an diesen schwabbeligen Frauenhintern denken, wenn ich an dem Autohaus in unserem Dorf vorbeifuhr. Bombe lag gut gelaunt auf seinem Handtuch, drehte den Kassettenrekorder lauter und Words von F.R. Davids tönte aus den Lautsprechern.

Cornelia hingegen war nicht »Too shy« um sich vor unser aller Augen Daniels intensiver Körper- und Hautpflege hinzugeben. Bereits das Bearbeiten von kleineren Mitessern war ekelerregend. Doch der Höhepunkt des Ekels wurde erreicht, als Cornelia einen erbsengroßen Eiterpickel auf Daniels Rücken ins Visier nahm und augenscheinlich ausdrücken wollte. Das Ding war eine Gefahr für die nähere Umgebung. Als in diesem Moment dann auch noch Ohne Dich schlaf ich heut Nacht nicht ein von der Münchner Freiheit losdudelte, sprang ich wie von einer Wespe gestochen auf und rannte zum Schwimmbecken. Bloß weg, dachte ich nur.

Kapitel 4

Do kanns zaubere – BAP

Es war ein Freitagnachmittag, als wir uns mit unserer Clique in Ulis schwarzem VW-Bus auf die Fahrt ins Wochenende machten. Zwei der Jungs, Andreas und Uli, waren gerade achtzehn geworden, was total gut war, denn so waren wir mobil. Im Radio lief The Cure mit Close to me. Und »close to me« saß Andreas, denn da wir zu siebt waren, mussten wir uns ziemlich eng zusammenquetschen. Es war heiß, wir trugen Shorts. Es gab keine Klimaanlage, nur ein Gebläse, das laut brummte, und ich fühlte mich während der Fahrt wie in einer fünfunddreißig Grad warmen Sardinenbüchse. Ich erinnere mich gut, dass wir Richtung belgischer Grenze an einer Tankstelle hielten und Geld zusammenlegten, um noch einmal volltanken zu können. Danach ging es in den Lidl, um für das Wochenende einzukaufen. Es gab natürlich nur praktische Mahlzeiten, sprich Dosenfutter, das schnell zuzubereiten war und das möglichst satt machte. Wir hatten zwei Einkaufswagen voll, die dann fast nicht mehr in den Kofferraum des Bullis passten, denn die Mädels hatte natürlich so viele Klamotten mit, als ginge es auf eine Kreuzfahrt. Allein Judith hatte vier Paar Schuhe für drei Tage eingepackt. Die Jungs waren da einfacher gestrickt, sie hatten neben dem, was sie auf der Haut trugen nur noch einmal Wechselklamotten dabei und vielleicht noch eine Zahnbürste. Dann wieder ins überhitzte Auto, weiter ging es mit Friday I’m in love immer noch von The Cure, die Stimmung wurde immer ausgelassener. Alle Fenster waren heruntergekurbelt und es zog von links nach rechts und wieder zurück. Meine langen Haare flogen durch Andreas’ und mein Gesicht. Er schaute mich verliebt an und es kribbelte in meinem Bauch. Er nahm unauffällig meine Hand, so dass es keiner der anderen mitbekam. »It‘s Friday – I’m in love« sangen wir mit, mehr von dem Text konnten wir nicht auswendig.

Durchgeschwitzt kamen wir in dem kleinen Ort an der belgischen Grenze an, in dem unser Pastor ein Blockhaus besaß, das er an Jugendgruppen zu einem erschwinglichen Preis vermietete. Wir räumten die Vorräte ins Haus und bezogen die Zimmer. Die Jungs ins rechte Schlafzimmer, die Mädels ins linke. Es gab Betten auf zwei Etagen mit weichen, etwas durchgelegenen Matratzen. Ich packte neben Judith meinen Schlafsack aus und wir guckten uns im Haus um, das sehr schön und rustikal eingerichtet war. Oben gab es einen großen Raum mit einer runden Bank, auf der man im Kreis quatschen, singen, spielen konnte – was auch immer. Daneben waren die Küche und das Esszimmer, vom Holztisch mit Sitzecke blickte man durch die Terrassentür in Richtung Belgien – denn das lag nicht weit entfernt. Eigentlich sah man nur ins Grüne. Meinen Walkman auf den Ohren zog ich die Adidas Tennis Special, die gerade angesagtesten Sportschuhe, aus, und lief barfuß auf die Wiese. Laut hörte ich Just like Heaven von The Cure und tanzte dabei, ich hätte die ganze Welt umarmen können. Die Sonne schien und Uli und Thomas suchten trockenes Holz für ein Lagerfeuer. Andreas nahm mir die Kopfhörer ab und flüsterte: »Du, ich mag dich!« Dann setzte er mir die Hörer schmunzelnd wieder auf, ich tanzte weiter und nickte und mich überkam der Impuls, ihn einfach zu umarmen und ausgelassen mit ihm über die Wiese zu tanzen.

Erst zögerlich machte er mit, aber das nicht ohne sich zu schämen. Die anderen lachten zwar über uns, wie wir da herumsprangen, aber es war uns egal. Als die Sonne unterging, wurde der Himmel rosa-rot, ein mega Spektakel am Himmel. Wir grillten die mitgebrachten Würstchen direkt über dem Lagerfeuer. Ich hatte die Gitarre mitgenommen und meine mit der Schreibmaschine abgetippten Liedtexte der aktuellen und legendären Pop- und Rocksongs. Mit der Hand hatte ich die Akkorde drübergeschrieben. Die Texte nahm man aus TOP Heften oder vom Plattencover. Im Licht des Feuers sangen bis auf wenige Ausnahmen alle mit. Von Reinhard Meys Über den Wolken über Nights in white satin von Moody Blues bis zu Scarborough Fair von Simon and Garfunkel war alles dabei. Die meisten Texte konnte man nach den ersten alkoholischen Getränken auswendig. Die Jungs tranken Bitburger, die Mädels lieber Blue Curacao mit Apfelsaft gemischt oder Baileys. Uli kam auf die Idee, Flaschendrehen zu spielen, das war ein Supervorschlag. Bianca lief sofort los, um eine leere Sprudelflasche zu holen. Wir setzen uns auf die Terrasse aus Holz und begannen reihum, die Flasche zu drehen. Bianca begann, sie meinte, das wäre ihr Privileg, da sie schließlich die Flasche besorgt hatte. Gespannt setzte ich mich bequem in den Schneidersitz hin. Sie musste nicht lange nachdenken und stellte die erste Frage: »In wen aus der Runde könntest du dich am ehesten verlieben?« Sie drehte und der Flaschenhals zeigte auf Thomas, der prompt rot anlief.

»Äh, ich … weiß nicht.« »Na, los – jetzt drucks nicht rum!«, forderte Bianca ihn auf. »Die Frage ist doch echt noch harmlos!« »Na, ich würde sagen … Judith. Aber nur am ehesten! Und auch nur, wenn es keine anderen Menschen mehr auf diesem Planeten gäbe!«, verteidigte sich der Jüngste der Jungen.

»Hey, was soll das denn heißen!«, empörte sich Judith und wir anderen prusteten laut los! »Jetzt du, denk dir was aus, Thomas!« »Ja …Was würdest du gerne mal ausprobieren, traust dich aber nicht?« Thomas drehte die Flasche, deren Hals bei Andreas stoppte. Er schnaufte: »Das erzähl ich auch ausgerechnet euch! Keine Ahnung. Ich würde gern mal eine ganze Nacht mit Ulis VW-Bus rumfahren, so ohne Führerschein.«

»Nie im Leben!« Uli war da anderer Meinung.

»Worauf achtest du bei einem Mann oder einer Frau zuerst?«, ging die nächste Frage an Bianca »Also ganz klar, auf den Hintern und die Augen!«

»Was war der größte Fehler deines Lebens?« Die Frage bekam ich. Ausgerechnet. Da ich auf keinen Fall mit irgendwelchen Sachen von früher rausrücken wollte, antwortete ich: »Na, mit euch hierhin zu fahren!«