Kritik üben - Anthony O. Scott - E-Book

Kritik üben E-Book

Anthony O. Scott

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Beschreibung

Wir alle sind Kritiker. Ob im Kino, im Restaurant oder beim Fußball, wir wissen sofort genau, was gut war und was in die Hose gegangen ist. Und wir machen unser Urteil auch gleich in allen möglichen Medien öffentlich: Daumen rauf, Daumen runter. Reicht das? A. O. Scott, in der „New York Times“ für die Filmkritik verantwortlich, hat da so seine Zweifel. Er plädiert dafür, die Kritik als eine Kunst zu betrachten. Nicht der spontane Reflex zählt, sondern die fundierte Kenntnis, dazu das genaue Argument, das zu einem begründeten Urteil führt. Langweilig? Überhaupt nicht. Das feine Urteil als hohe Kunst betrieben macht unsere Gespräche interessanter, egal, ob es um Romane oder um Rotwein geht.

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Wir alle sind Kritiker. Ob im Kino, im Restaurant oder beim Fußball, wir wissen sofort genau, was gut war und was in die Hose gegangen ist: Daumen rauf, Daumen runter. Reicht das? A. O. Scott, in der New York Times für die Filmkritik verantwortlich, plädiert dafür, die Kr tik als eine Kunst zu betrachten und einzuüben. Nicht der spontane Reflex zählt, sondern die fundierte Kenntnis und das genaue Argument, das zu einem begründeten Urteil führt. Langweilig? Überhaupt nicht. Das feine Urteil, als hohe Kunst betrieben, macht unsere Gespräche interessanter. Und es bereitet dem Kritiker selbst das Vergnügen, immer genauer zu verstehen, was er hört, sieht und liest.

Hanser E-Book

A. O. Scott

Kritik üben

Die Kunst des feinen Urteils

Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer

Carl Hanser Verlag

Für Justine

ERNEST:  Du hast mir heute abend manches Sonderbare gesagt, GILBERT:  Du sagtest, es sei schwerer, über etwas zu reden, als es zu tun, und nichts zu tun, sei das Schwerste. Du sagtest, alle Kunst sei unmoralisch, alles Denken gefährlich; die Kritik sei schöpferischer als das Schaffen, und die höchste Kritik sei die, die im Kunstwerk offenbart, was der Künstler nicht hineinlegte; gerade weil jemand etwas nicht machen könne, sei er der geeignete Richter und Beurteiler, der wahre Kritiker sei ungerecht, unaufrichtig und nicht vernünftig. – Mein Freund, du bist ein Träumer.

GILBERT:  Ja, ich bin ein Träumer, denn ein Träumer ist der, der seinen Weg nur im Mondschein findet, und seine Strafe ist, dass er den Morgen vor der übrigen Welt dämmern sieht.

ERNEST:  Seine Strafe?

gilbert:  Und sein Lohn.

Oscar Wilde, »Kritik als Kunst«

Solange wir ein Bewusstsein haben, fällt uns die Aufgabe zu, die Kunst zu verteidigen. Uns bleibt lediglich die Möglichkeit, gegen das eine oder andere Mittel der Verteidigung Bedenken zu erheben.

Susan Sontag, »Gegen Interpretation

Inhalt

Einleitung

Was ist Kritik? (Ein einführender Dialog)

Erstes Kapitel

Der Kritiker als Künstler und umgekehrt

Zweites Kapitel

Das Auge des Betrachters

Selbstkritik

(Ein weiterer Dialog)

Drittes Kapitel

Verloren im Museum

Viertes Kapitel

Das Problem mit den Kritikern

Praktische Kritik

(Noch ein Dialog)

Fünftes Kapitel

Wie man sich irren soll

Sechstes Kapitel

Die Verfassung der Kritik

Das Ende der Kritik

(Ein abschließender Dialog)

Danksagung

Register

Einleitung:

Was ist Kritik?

(Ein einführender Dialog)

F:  Was hat Kritik für einen Sinn? Wozu sind Kritiker gut?

A:  Das sind die großen Fragen! Die naheliegenden Fragen jedenfalls. Aber sie sind nicht genau gleichbedeutend.

F:  Ist denn Kritik nicht einfach alles das, was Kritiker machen?

A:  Sicher. Und jeder, der kritisiert, ist ein Kritiker. Du siehst das Problem. Kaum haben wir angefangen, da drehen wir uns schon im Kreis. Wenn wir von Kritik reden, sprechen wir dann über eine berufliche Tätigkeit – eine Art Schriftstellerei, eine Sorte von Journalismus oder Forschung, eine irgendwie geartete intellektuelle Disziplin – und darum über die Leute, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen? Oder sprechen wir über ein weniger spezialisiertes Unternehmen, so etwas wie Kartenspielen oder Kochen oder Fahrradfahren, etwas, was jeder lernen kann? Oder vielleicht sogar über eine elementarere, reflexartigere Tätigkeit wie Träumen oder Atmen oder Weinen?

F:  Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass ich hier die Fragen stelle.

A:  Entschuldigung.

F:  Fangen wir also noch einmal an, und zwar mit dir. Du bist ein berufsmäßiger Kritiker und ebenso ein Mensch, der viel über die Frage nachdenkt, was Kritik ist und wozu sie dient.

A:  Wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und natürlich nicht ausschließlich.

F:  Okay. Aber was ich frage, ist –

A:  Wozu ich gut bin? Was für einen Sinn meine Tätigkeit hat?

F:  Wenn du es so formulieren möchtest. Ich hätte es vielleicht nicht ganz so feindselig ausgedrückt.

A:  Keine Sorge. Widerspruch ist wahre Freundschaft, wie William Blake gesagt hat. Jeder Kritiker gewöhnt sich allmählich daran, mit Skepsis und Argwohn und manchmal mit regelrechter Verachtung umzugehen. Wie können Sie es wagen? Was gibt Ihnen das Recht? Warum sollte irgendjemand auf Sie hören? Das bekommen wir ständig zu hören. Menschen zu reizen, dass sie unsere Kompetenz, unsere Intelligenz, ja überhaupt unser Existenzrecht in Frage stellen – das macht anscheinend einen großen Teil dessen aus, was es heißt, ein Kritiker zu sein.

F:  Und nun hast du beschlossen zurückzuschlagen. Du fühlst dich in der Defensive. Träfe es zu, wenn man sagte, dass du dieses ganze Buch geschrieben hast, um mit Samuel L. Jackson abzurechnen?

A:  Nicht direkt. Aber ich bin froh, dass du das erwähnst. Ein paar Hintergrundinformationen: Im Mai 2012 wurde in 3500 nordamerikanischen Kinos der Film The Avengers uraufgeführt – den hast du doch gesehen? Alle haben ihn gesehen. An diesem Tag habe ich eine Besprechung veröffentlicht, in der ich einige Aspekte des Films – die klugen Dialoge, die Eleganz des Spiels – lobte, mich über andere dagegen beschwerte; insbesondere monierte ich, dass er seine Originalität auf dem Altar einer Blockbuster-Konformität opferte. Wenn ich mich selbst zitieren darf: »Das Geheimnis von The Avengers besteht darin, dass es sich dabei um eine flotte kleine Dialogkomödie handelt, die als etwas anderes verkleidet ist, und dieses andere ist ein gigantischer Geldautomat für Marvel und ihre neuen Studiobosse, die Walt Disney Company.« Diese Einschätzung ist ziemlich stichhaltig, wenn ich selbst das so sagen darf. Als dann einige Jahre später Avengers: Age of Ultron herauskam, sagten alle anderen anscheinend mehr oder weniger das Gleiche: dass der Reiz und das Spannende dieses Films von seelenlosem Firmenspektakel überlagert werde. Es bereitet eine gewisse Genugtuung, an der Spitze derer gestanden zu haben, die auf das Offensichtliche hinwiesen.

Damals war ich jedoch Opfer eines jähen Gegenschlags. Kurz nachdem meine Besprechung auf der Website der New York Times erschienen war, postete Jackson, der in The Avengers und in anderen Folgen von Franchise-Filmen des Marvel-Universums Nick Fury spielt, auf Twitter einen Aufruf an die »#Avengers fans«, in dem es hieß: »AO Scott braucht einen neuen Job! Helfen wir ihm dabei, einen zu finden! Einen, zu dem er WIRKLICH fähig ist!« Scharen seiner Follower folgten seinem Ruf, wobei sie nicht forderten, dass ich von meiner Redaktion gefeuert werden sollte, sondern in bester Twitter-Manier Jacksons Attacke weiterleiteten und sie um ihre eigenen phantasievollen Vorschläge zum Thema meiner Eignung ergänzten. Die durchdachteren Tweets äußerten bekannte, man könnte sogar sagen kanonische antikritische Positionen: dass mir die Fähigkeit zur Freude abgehe; dass ich allen anderen Menschen den Spaß verderben wolle; dass ich ein Hasser, ein Spießer und ein Snob sei; ja sogar – und das war irgendwie etwas Neues –, dass aus dem jugendlichen Nerd in der Mittelschule, auf dem alle herumhackten, weil er keine Comics mochte, schließlich ich geworden sei. (Zu meiner Zeit waren einige der jugendlichen Nerds, auf denen alle herumhackten, gerade diejenigen, die Comics liebten, aber nun, da die Superhelden und ihre Fanboy-Anhängerschaft die Regie übernommen haben, hat sich das wohl geändert. Auf mir hackte man aus Gründen herum, die nichts mit Comics zu tun hatten.)

Der Avengers-Vorfall plusterte sich zu einem jener absurden und hyperaktiven Internetgewitter auf, die heute ein fester Bestandteil unseres kulturellen Lebens sind. Mace Windu hatte mich herausgefordert! Ich hatte den gerechten Zorn von Jules Winnfield heraufbeschworen! Auf Unterhaltungswebsites erschienen Photoshop-Produkte, die Jackson und mich in Kampfposen zeigten. Kurzkommentare schossen aus dem Boden wie Pilze nach einem Regensturm. Unser Twitter-Heckmeck fand den Weg in brasilianische, deutsche und japanische Schlagzeilen. Einige meiner Kollegen traten dafür ein, nicht nur für meine umkämpfte Person einzutreten, sondern auch für die Integrität und die Bedeutsamkeit der Tätigkeit, für die ich in Jacksons Augen nicht qualifiziert war.

F:  Hattest du Angst?

A:  Im Gegenteil. Ich war dankbar. Weder meiner Person noch meinem Lebensunterhalt drohte irgendwelche Gefahr, und The Avengers brachte es dann so weit, dass er als zweitschnellster Film weltweit an den Kinokassen eine Milliarde Dollar einspielte. Ich bekam auf Twitter einige hundert Follower und wurde für wenige Minuten sowohl zu einem schrecklichen Schurken als auch zu einem imaginären Märtyrer für eine edle und vielgeschmähte Sache. Überall herrschte eine Win-Win-Situation, und danach zog jeder wieder seines Weges.

Doch selbst ein Sturm im Wasserglas kann meteorologische Folgen haben, und ich glaube, dass Jackson eine berechtigte und wichtige Frage aufgeworfen hatte. Sieht man vom Wert oder Unwert dessen ab, was ich über The Avengers oder irgendeinen anderen Film geschrieben habe, dann ist stets die Frage berechtigt, welche Aufgabe denn der Kritiker hat und wie sie sich WIRKLICH bewältigen ließe.

F:  Da bist du hier also angetreten, um diese Tätigkeit gegen die Attacken – die Kritik – von sensiblen Filmstars und ihren Fans zu verteidigen? Ist das nicht ein kleines bisschen heuchlerisch? Es sieht so aus, als könntest du zwar austeilen, aber nicht einstecken.

A:  Nun ja, eigentlich nicht. Das heißt, ja, wir werden alle etwas empfindlich, wenn die Leute, über deren Arbeit wir schreiben – oder auch unsere Leser –, an unserer Tätigkeit etwas auszusetzen haben. Das ist nur menschlich verständlich. Was mich hier mehr interessiert, ist die allgemeine Tendenz – ich würde tatsächlich sagen, die universelle Fähigkeit unserer Spezies –, Einwendungen zu erheben. Und auch Lob auszusprechen. Zu urteilen. Das ist das Fundament aller Kritik. Woher wissen wir oder glauben wir zu wissen, was gut oder schlecht ist, was man attackieren oder verteidigen oder wovon man seine Freunde in Kenntnis setzen soll? Wie beurteilen wir den Erfolg oder das Scheitern von The Avengers oder irgendeinem anderen Werk? Denn ob es nun unsere Aufgabe ist oder nicht, tatsächlich urteilen wir. Wir können gar nicht anders.

F:  Und wie urteilen wir? Oder vielleicht lautet die Frage: »Warum urteilen wir?«

A:  Um ehrlich zu sein, als ich daranging, dieses Buch zu schreiben, dachte ich, die Antworten würden sich viel zwangloser einstellen, als sie es dann taten. Ich ging davon aus, dass es tatsächlich Antworten geben werde, die so ausfielen, dass ich sie klar und mit Nachdruck formulieren könnte. Vielleicht würde ich entdecken, dass wir wissen, was schön oder bedeutsam ist oder einfach nur Spaß macht, weil es Nervenschaltungen oder hormonelle Reaktionen gibt, die sich zu Beginn der menschlichen Ära herausgebildet haben, um uns dabei zu helfen, Raubtieren zu entkommen und eine zahlreichere Nachkommenschaft zu produzieren. Oder vielleicht käme ich zu dem Schluss, dass wir zum Bestimmen und Unterscheiden von Werten fähig sind, weil wir Zugang zu angeborenen und ewigen Maßstäben haben, die zwar im Laufe der Jahrhunderte Veränderungen unterworfen sind und sich von Ort zu Ort unterschiedlich äußern, die uns aber doch auf dem Weg zu Wahrheit und Schönheit halten.

Wir können uns die Geschichte der menschlichen Kreativität ansehen und dabei Muster – Formen, Klänge, Geschichten – finden, die auf eine tiefliegende Kontinuität schließen lassen. Wir können uns auch die überwältigende Vielfalt menschlichen Schaffens vor Augen führen und zu dem Ergebnis kommen, dass keine Kategorie, keine Menge von Kriterien das alles irgendwie in sich schließen könne. Jede Kultur und jede Klasse, jeder Stamm und jede Clique, jede Geschichtsepoche hat ihre eigenen Maßstäbe für Kunstfertigkeit und Erfindungsgabe entwickelt. Unsere modernen, kosmopolitischen Sensibilitäten weiden sich an den Gegenständen, die sie hinterlassen haben, sie untersuchen und vergleichen und widmen sich der angenehmen Aufgabe, das Gefundene zu sortieren und zu verarbeiten. Mittlerweile werden wir von neuem Zeug überschwemmt, was auch angenehm ist, selbst wenn das Überangebot dazu führen kann, dass wir uns gelähmt und leer fühlen. Wir staunen über die Fülle oder sind beunruhigt darüber, dass das alles viel zu viel ist. Es gibt eine solche Menge von Dingen, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. So vieles steht da auf dem Tisch, das Zerstreuung und Aufklärung verspricht, dass es sich wie ernsthafte Arbeit anfühlen kann, hier eine Auswahl zu treffen.

F:  Und diese Arbeit – das Aussieben und Abwägen, das Maßnehmen und Interpretieren –, das nennst du Kritik.

A:  Ja. Aber sie ist auch etwas Grundlegenderes und Dringlicheres. Die Sache ist kompliziert. Ich möchte noch einmal auf Samuel L. Jackson eingehen. Sechs Monate nach der Avengers-Episode kam er in einem Interview mit der Huffington Post auf unsere Twitter-Auseinandersetzung zurück und verlieh dabei einem weit verbreiteten Einwand gegen Kritik im allgemeinen und gegen die Kritik von Popkultur im besonderen Ausdruck. »Neunundneunzig Prozent aller Menschen sehen sich diesen Film als das an, was er ist«, sagte er. »Er ist keine intellektuelle Darlegung, die man irgendwie mit dem Intellekt angehen muss.« Das ist ein altes und starkes – in mancher Hinsicht unschlagbares – Argument gegen Kritik, hinter dem die Vorstellung steht, dass schöpferische Tätigkeit zu ihren eigenen Bedingungen erfasst werden sollte und dass Denken der Feind der Erfahrung ist. Und tatsächlich ist es genau die Aufgabe des Kritikers, anderer Meinung zu sein, sich zu weigern, irgendetwas nur als das zu betrachten, was es ist, vielmehr darauf zu beharren, es einer intellektuellen Prüfung zu unterziehen.

»Mit dem Intellekt angehen« ist ein absichtsvoll hässliches Wort, dessen Verwendung einen Vorwurf eigener Art darstellt. Aber in Wirklichkeit ist es einfach ein Synonym für »denken«, und man darf fragen, weshalb es nötig sein sollte, so energisch zu bestreiten, dass The Avengers sowohl das Produkt von Nachdenken als auch ein potentielles Objekt von Denktätigkeit sein könnte. Der Film ist sehr wohl eine »intellektuelle Darlegung« in dem allgemeinen Sinne, dass er aus den bewussten Intentionen und der aktiven Intelligenz seiner Schöpfer, Jackson eingeschlossen, hervorgegangen ist. Ebenso wie viele andere Comic-Unterhaltungsproduktionen nimmt sich dieses Werk auch vor, Gegenstände zu erkunden, die für Fans dieses Genres ebenso wie auch für Kenner der hohen Literatur mit Sicherheit als große Themen zu erkennen wären, als da sind Ehre, Freundschaft, Rache und das Problem des Bösen in einem gerechten Universum. Und schließlich zeigt der Film The Avengers (und das tut er meines Erachtens auf äußerst irritierende Weise), was passieren kann, wenn ein spielerischer Erzählinstinkt mit dem Imperativ globalen Profits kollidiert, der der Motor so vieler Hollywood-Produktionen im 21. Jahrhundert ist.

All das bedeutet, dass The Avengers ein äußerst interessantes und komplexes Kunstwerk ist und dass es lohnt, sich über den Erfolg wie über die Grenzen dieses Films den Kopf zu zerbrechen. Und doch könnte selbst das Bemühen, die Spreu vom Weizen zu trennen, den Kontext zu finden und einen Claim abzustecken, darauf hinauslaufen, dass man das Eigentliche verfehlt. Oder, wie Jackson es formulierte: »… wenn du etwas Abgefucktes über ein Stück schwachsinnige Popkultur sagst, das wirklich gut ist – The Avengers ist ein verdammt großartiger Film; Joss [Whedon] hat da eine Arbeit geleistet, die einfach spitze ist –, wenn du das nicht kapierst, dann sag einfach: ›Ich kapier es nicht.‹«

Ich kapiere es aber. Insbesondere registriere ich, wie Jackson hier mit zweierlei Maß misst, wenn er The Avengers als unter aller Kritik (»ein Stück schwachsinnige Popkultur«) und zugleich als über alle Kritik erhaben (»ein verdammt großartiger Film«) verortet. Er wiederholt die reflexartige Verachtung für Kinofilme und andere Vergnügungen der niederen Schichten, die Intellektuellen einer früheren Epoche so leicht fiel, und zugleich operiert er mit der alten superarroganten Vorstellung, dass ein Kunstwerk unantastbar ist und sich selbst genügt. Unter diesen Umständen wird ein Kritiker entweder den Fehler begehen, eine Sache, die nur als harmloser, unbeschwerter Spaß gedacht war, törichterweise ernst zu nehmen, oder aber etwas Erhabenes auf sein eigenes lächerliches Niveau herabzuziehen. Aber schuldig wird er so oder so.

Hier kommt jedoch das Wichtige: Darin wird sich ein Kritiker nicht von einem beliebigen anderen Menschen unterscheiden, der sich The Avengers ansieht (oder einen Roman liest oder ein Gemälde betrachtet oder einem Musikstück lauscht) und über diese Erfahrung nachdenkt. Denn dieses Nachdenken ist der Punkt, an dem die Kritik beginnt. Dessen machen wir uns alle schuldig. Oder zumindest sollten wir das tun.

F:  Du hast also ein Buch zur Verteidigung des Denkens geschrieben? Wo ist da die Kontroverse? Niemand hat doch wirklich etwas gegen Denken.

A:  Ist das dein Ernst? Der Anti-Intellektualismus ist doch praktisch unsere bürgerliche Religion. »Kritisches Denken« mag ein allgegenwärtiges pädagogisches Schlagwort sein – eine diffus definierte Fertigkeit, deren Erwerb wir unseren Kindern auf dem Weg ins Erwachsenenalter wünschen –, aber die Belohnungen dafür, dass man auf den Gebrauch seiner Intelligenz verzichtet, folgen dann sogleich in reichem Maße.

Als Konsumenten von Kultur werden wir in Passivität eingelullt oder bestenfalls zu einer Verfassung von Pseudo-Halbbewusstsein gedrängt, und man ermutigt uns entweder zu einer defensiven Gruppenidentität als Mitglieder einer Fangemeinde oder zu einem seichten, halbironischen Eklektizismus. Gleichzeitig werden wir als Bürger des politischen Gemeinwesens auf ein polarisiertes Klima ideologischer Aggressivität verpflichtet, in dem große Töne allzu häufig an die Stelle von Argumenten treten.

Es bleibt kein Raum für Zweifel und nur wenig Zeit für Nachdenklichkeit, da wir uns eines Sperrfeuers von Sensationen und einer Flut von Meinungen zu erwehren haben. In unserer Phantasie können wir uns ausmalen, dass wir kürzer treten oder aussteigen, aber letztlich müssen wir lernen, in der Welt zu leben, die wir vorfinden, und sie so klar zu sehen, wie wir können. Das ist keine einfache Aufgabe. Einfacher ist es, sich den Tröstungen von Gruppendenken, Vorurteil und Ignoranz hinzugeben. Um diesen Verlockungen zu widerstehen, braucht man Wachsamkeit, Disziplin und Neugier.

F:  Dann ist das, was du geschrieben hast, also ein Manifest gegen Faulheit und Dummheit?

A:  Das könnte man so sagen. Aber warum soll man es in derart negatives Licht rücken? Dieses Buch ist, wie ich hoffe, auch eine Verherrlichung von Kunst und Phantasie, eine Erkundung unseres angeborenen Triebes, Vergnügen zu kultivieren, und der verschiedenartigen Wege, auf denen wir diesen Impuls verfeinern.

F:  Und das alles ist Aufgabe des Kritikers?

A:  Es ist Aufgabe aller Menschen, und ich glaube, dass es eine Aufgabe ist, die wir tatsächlich bewältigen können. Ich behaupte, dass am Anfang des Bemühens die Art und Weise stehen könnte, in der wir mit den Werken umgehen, die unserem endlosen Hunger nach Sinn und Vergnügen entgegenkommen, und zugleich auch die Art und Weise, in der wir unsere Reaktionen auf diese schönen, verwirrenden Dinge verstehen.

Wir neigen viel zu sehr dazu, die Kunst als eine Verzierung zu betrachten und den Geschmack als einen festliegenden, schmalen Pfad anzusehen, auf dem jeder von uns dahinzieht, allein oder in der ausgesuchten Gesellschaft Gleichgesinnter. Oder aber wir bemühen uns, die schöpferischen, angenehmen Aspekte unseres Lebens Dingen unterzuordnen, die vermeintlich bedeutsamer sind, und die ästhetischen Dimensionen der Existenz in die Kästen zu verfrachten, in denen unsere religiösen Glaubensvorstellungen, politischen Dogmen oder moralischen Ansichten untergebracht sind. Wir trivialisieren die Kunst. Wir verehren den Unsinn. Wir können über unseren eigenen Schwachsinn nicht hinaussehen.

Das reicht jetzt! Die Kunst ist dazu da, unser Denken zu befreien, und die Aufgabe der Kritik ist es, herauszufinden, was wir mit dieser Freiheit anfangen sollen. Dass jeder ein Kritiker ist, heißt (oder sollte heißen), dass wir allesamt in der Lage sind, gegen unsere Vorurteile anzudenken, eine Balance zwischen Skepsis und Aufgeschlossenheit zu finden, unsere abgestumpften und übersättigten Sinne zu schärfen und gegen die intellektuelle Trägheit anzukämpfen, die uns umgibt. Wir müssen unseren bemerkenswerten Geist einsetzen und unserer Erfahrung die Ehre erweisen, sie ernst zu nehmen.

F:  Okay, schön. Aber wie?

A:  Gute Frage!

Erstes Kapitel

Der Kritiker als Künstler und umgekehrt

Was ist ein Kritiker? Wenn Sie sich umhören – oder einige meiner Mails lesen –, dann werden Sie erfahren, dass ein Kritiker vor allem ein gescheiterter Künstler ist, der seit langem unterschwellig gehegte, neiderfüllte Ressentiments auf diejenigen ablädt, die das Glück, das Talent oder die Disziplin besaßen, um Erfolg zu haben. Diese Annahme ist dermaßen weit verbreitet, dass sie auf einen allgemeinen Glaubensartikel hinausläuft. Jeder beruflich tätige Kritiker könnte aus weggeworfenen Briefen und gelöschten E-Mails mühelos eine Folge von Variationen über die Themen »Sie sind ja bloß eifersüchtig« und »Ich möchte sehen, wie Sie es besser machen« zusammenstellen.

Als Reaktion hierauf lässt sich (unbescheiden und daher nicht durchweg überzeugend) immer bemerken, dass die Geschichte empirische biographische Beweise für das Gegenteil liefert: eine lange Liste bedeutender Kritiker, die zugleich meisterliche Vertreter verschiedener Kunstgattungen waren. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Charles Baudelaire brillante Texte über moderne Malerei, ohne dass das seinen Fertigkeiten oder seinem Rang als Dichter Abbruch getan hätte; Gleiches taten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts John Ashbery und Frank O’Hara. Philip Larkin, ebenfalls ein Dichter, schrieb begeistert und verständnisvoll, wenngleich mit einem Anflug seines gewohnt mürrischen Temperaments, über Jazz. Hector Berlioz war ein herausragender Musikkritiker und ebenso ein großer Komponist. George Bernard Shaw war sowohl einer der größten englischsprachigen Theaterkritiker als auch einer der größten englischsprachigen Dramatiker seiner Zeit. Le Corbusiers Schriften über Architektur sind mindestens ebenso einflussreich gewesen wie seine Bauten, und sie sind möglicherweise gefälliger. Die bedeutendsten Regisseure der französischen Nouvelle Vague – Jean-Luc Godard, Eric Rohmer, Claude Chabrol, François Truffaut – haben als Filmkritiker angefangen, die für die Zeitschrift Cahiers du Cinéma arbeiteten. Die bedeutenden Lyrikkritiker waren zumindest seit der Romantik mehrheitlich zugleich auch selbst Dichter, und einige (Samuel Taylor Coleridge, T. S. Eliot) haben auf beiden Gebieten kanonische Geltung erlangt. – Also!

Doch der defensive Kritiker mag gezwungen sein zuzugestehen, dass es sich bei solchen Gestalten um Sonderfälle handelt, um Ausnahmen, die eine fest verankerte Regel bestätigen. Diese Regel wird durch die offensichtliche und anscheinend unabänderliche hierarchische Unterscheidung zwischen der Tätigkeit von Kritikern und der von Künstlern verfestigt. Ein Mensch mag beides tun, aber es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, wo der wirkliche Wert – die wirkliche Arbeit – liegt. Die Romane sind in Ordnung, aber wirklich herausragend sind die Buchbesprechungen. Lässt sich ein schwächeres, ein vernichtenderes Lob denken? Die Schriftsteller und Lyriker, über die sich derartiges sagen lässt, gehören überwiegend zu den weniger Bedeutenden und den beinahe Denkwürdigen, welche unerschrockenen Doktoranden Themenfutter liefern und mit grauer, stoischer Geduld im Schatten auf einen Augenblick der Neubewertung und Wiederentdeckung warten. Die Zahl der Kritiker, denen es gelungen ist, etwas Bleibendes zu schaffen – allein auf Grund ihrer Kritiken einen Sitz auf dem Parnass oder einen Platz im Kanon zu behaupten –, ist verschwindend gering.

Das rührt ohne Zweifel daher, dass das Schreiben von Kritiken als eine zeitbezogene, reaktive, sekundäre Tätigkeit aufgefasst wird, die alles, was sie an vorübergehendem Prestige, an Bedeutung oder Erschütterungswert besitzt, der dauerhaften Arbeit wirklicher Künstler raubt. Auf dem Weg in seine Zukunft – vom Altar ins Museum; vom Buchladen ins Klassenzimmer; vom Konzertsaal ins Aufnahmestudio; vom heruntergekommenen Grindhouse am Times Square bis zur Criterion Collection als DVD-Box; vom chaotischen Bereich physischer Artefakte bis zum problemlosen digitalen Archiv – gewinnt das Werk zusätzliche Bewunderer und neue Skeptiker, und es ruft Interpretationen hervor, die in seinen vertrauten Konturen bislang ungeahnte Bedeutungen und Freuden ausfindig machen. Mit anderen Worten, Kunst ist dauerhaft und auch wandelbar, während Kritik etwas Fixiertes und daher Vergängliches ist. Die Kritik hat die Aufgabe, von Kunst zu handeln; die Kunst hat einfach die Aufgabe zu sein.

Aus dieser Perspektive ist Kritik im besten Falle hilfreich und verzichtbar, ein unwesentliches, veränderliches Requisit, wie die mobile Trennwand in der Galerie, an der man ein Gemälde aufhängt, oder der Umschlag, den man auf die Paperback-Ausgabe eines Klassikers klatscht. Nützlich vielleicht, aber im Grunde überflüssig. Und von der Erkenntnis, dass wir ohne Kritik leben können, ist es immer nur ein kleiner Schritt bis zu der Feststellung, dass wir das tun sollten. Auf den ersten Seiten seines Buches Von realer Gegenwart, in dem er den unbeachteten Andeutungen des Göttlichen in der säkularen Kultur nachgeht, entwirft George Steiner ein Utopia – eine »gegen-platonische Republik«, in der »jedes Gespräch über Kunst, Musik und Literatur verboten« wäre und aus der man »die Rezensenten und Kritiker verbannt« hätte. Dass Steiner selbst als Kritiker beträchtliches Ansehen genießt, ist kein Zeichen für Unredlichkeit, sondern eher für Idealismus, für eine Entschlossenheit, sich eine kulturelle Situation vorzustellen, welche nicht von der »Vorherrschaft des Sekundären und Parasitären« belastet ist, die unsere unglückliche gegenwärtige Lage definiert.

Steiners Angriff auf die Kritik ist eine Verteidigung der Kunst. Dabei geht es nicht darum, den Kampf gegen einzelne Kritiker aufzunehmen, die aus Gehässigkeit oder Gefühllosigkeit die Empfindungen bestimmter Künstler verletzen, sondern um einen tiefgründigeren Antagonismus, um die Reaktion auf eine stärker systembedingte Bedrohung. Nach Auffassung Steiners wie auch in den Augen vieler anderer, die seine Vorurteile teilen, wenngleich sie nicht über seine Gelehrsamkeit verfügen, ist Kritik ein verderblicher, parasitärer Auswuchs auf dem machtvollen Stamm menschlichen Schöpfertums. Zumindest in den Phantasien antikritischer Ideologen (die oftmals selbst berufsmäßige Kritiker sind) lassen sich die Herrlichkeiten des Schöpfertums nur begreifen, wenn man diese verzerrenden Auswüchse beseitigt. Es ist ein existentieller Kampf, ein Kampf auf Leben und Tod: Wenn die Kunst leben soll, muss die Kritik sterben.

Doch genau das Gegenteil ist wahr. Ich behaupte hier, dass Kritik nicht nur die Lebenskraft der Kunst nicht zerstört, sondern dass sie es ist, die ihr ihren Lebenssaft liefert; dass Kritik, wenn man sie recht versteht, keine Feindin ist, gegen die man die Kunst verteidigen muss, sondern vielmehr ein anderer Name – der richtige Name – für die Verteidigung der Kunst selbst.

Lassen Sie mich noch weitergehen. Die Kritik ist der spätgeborene Zwilling der Kunst. Beide beziehen ihre Stärke und ihre Identität aus einer einzigen Quelle, selbst wenn ihre wechselseitige Abhängigkeit wie bei den meisten Geschwistern häufig von Rivalität und Argwohn verhüllt ist. Wird es defensiv oder anmaßend klingen, wenn ich sage, dass Kritik eine eigenständige Kunst ist? Nicht in dem engen, alltäglichen Sinn, in dem »Kunst« mehr oder weniger gleichbedeutend mit Fertigkeit ist, sondern im großartigen, voll begeisterten, romantischen Sinne des Wortes. Dass der Kritiker so etwas wie ein Handwerker ist, versteht sich; ich möchte darauf beharren, dass der Kritiker auch ein Schöpfer ist. Und wenn meine eigenen fachmännischen Bemühungen nicht hinreichen, um diese Behauptung zu tragen – denn, sehen Sie, ich stand unter Termindruck, und der Redakteur hat die besten Passagen gestrichen, und mich versteht ja sowieso keiner –, möchte ich vorübergehend auf ein Argument zurückgreifen, das von einer Autorität stammt.

H. L. Mencken, der Weise von Baltimore und Erzfeind von allem, was an der amerikanischen Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unecht und schwammig war, erklärte, jeden guten Kritiker treibe »nicht das Motiv des Pädagogen, sondern das Motiv des Künstlers«. Er wandte sich gegen die verbreitete, irrige Auffassung, der Kritiker schreibe deshalb, »weil er von dem leidenschaftlichen Bedürfnis erfüllt [sei], aufklärend zu wirken, Irrtümer und Fehler bloßzustellen und eine bestimmte Lehrmeinung zu verbreiten« – kurz, Auseinandersetzungen zu führen –, und trat für einen erheblich grundsätzlicheren Impuls ein. Was den Kritiker bewegt, ist, so schreibt er, »nicht mehr und nicht weniger als der schlichte Wunsch, sich ungehindert und mit Inbrunst seiner Gaben zu bedienen und all den Ideen eine unverkennbare, objektive Form zu geben, die in seinem Innern brodeln und die für ihn etwas Faszinierendes haben – sein Wunsch ist es, sie auf dramatische Weise ans Tageslicht zu befördern und sich so in der Welt Gehör zu verschaffen«. Genauso ist es!

Kompliziert wird diese nonchalante Behauptung intellektueller und schöpferischer Autonomie – getragen von der Bravour und dem Scharfblick, zu denen Mencken im besten Falle fähig war, und von dem dauerhaften Platz im literarischen Pantheon Amerikas, den er sich zu erwerben vermochte – durch den Charakter der spezifischen Kunstform, die Menckens fiktiver Kritiker betreibt. Der widersprüchliche Kern der Sache ist, dass Kritik eine Kunst ist, die mit Bezug auf andere Künste und somit im Konflikt mit ihnen hervorgebracht wird. T. S. Eliot, der nicht zögerte, einen Zusammenhang zwischen der Kritik und »den anderen schönen Künsten« herzustellen, bemerkte auch ihren exzeptionellen Status, den wesentlichen Unterschied zwischen ihr und ihren Geschwistern. Er beschrieb die Kunst (insbesondere die Lyrik, die er nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern auch aus Hochachtung vor ihrer traditionellen Vorrangstellung in der abendländischen Ästhetik favorisierte) gern als »autotelisch«, das heißt, als sich selbst erfüllend oder sich selbst genügend. Ein Gedicht, eine Plastik oder ein Musikstück ist im wesentlichen (so nimmt er an) unabhängig beziehungsweise frei stehend, während sich jede Kunst der Kritik, mag sie an sich auch noch so blendend sein, immer an etwas anderes anlehnen und darauf Bezug nehmen muss.

Das lässt die Kritik zu einer Anomalie werden. Es mag sein, dass die Kunst aus einem Kampf mit den harten Fakten des Lebens und der Verstocktheit des verfügbaren Materials hervorgegangen ist, aber bei diesem Kampf geht es nicht wirklich um persönliche, wechselseitige Feindschaft. Der Bildhauer ist nicht der Feind des Steins. Der Maler tritt nicht in Wettbewerb mit der menschlichen Gestalt. Die Tonart G-Dur nimmt keinen Anstoß daran, dass ein Komponist sie verwendet. Wörter entwickeln keinen Hass auf Dichter. Die Kritik ist jedoch, wie Mencken feststellt, anders. Und das zum Teil deshalb, weil sie persönlich ist oder zu sein scheint.

Wenn sich [der Kritiker] niedersetzt, um seine Kritik abzufassen, dann hört sein Künstler auf, ein Freund zu sein, und wird zu bloßem Rohmaterial für sein Kunstwerk. Es ist meine Erfahrung, dass Künstler über diesen rücksichtslosen Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, ausnahmslos verärgert sind. Sie sind erfreut, solange sich der Kritiker auf das bescheidene Geschäft beschränkt, sie zu interpretieren – vorzugsweise ausgehend von der Wertschätzung, die sie selbst von sich haben –, aber in dem Augenblick, in dem er darangeht, ihr Thema mit eigenen Variationen auszuschmücken, in dem Moment, in dem er in das Unternehmen neue Ideen einführt und darangeht, sie in Kontrast zu ihren Ideen zu setzen, da werden sie aufsässig. Genau dies ist natürlich der Punkt, an dem die Kritik zu einer echten Kritik wird; davor handelte es sich lediglich um eine Besprechung. Wenn ein Kritiker diese Grenze überschreitet, verliert er seine Freunde. Wenn er ein Künstler wird, dann wird er dadurch zum Feind aller anderen Künstler.

Menckens Schlussfolgerung lautet, dass diese Feindseligkeit letztlich allen Beteiligten nützt: »Am besten gedeiht die Literatur nämlich immer in einer Atmosphäre beherzten Streits.«

Da hat er recht! Und dies gilt auch für alle anderen Künste. Die Kritik ist die Kunst, die sich mit ihnen zu ihrem eigenen Wohl (dem der Künste) auseinandersetzt und ebenso zu dem Zweck, ihre eigenen ästhetischen Ziele (die der Kritik) zu verfolgen und sich in der Welt Gehör zu verschaffen. Dies bedeutet, dass die Kritik alles andere als eine untergeordnete, weniger bedeutende, sekundäre Kunst ist; sie ist vielmehr größer als die anderen. Es gibt mehr davon, ihr Horizont ist weiter, sie hat eklektischere Methoden als irgendeiner ihrer Rivalen. Sie schließt sie allesamt in sich und zwingt sie dazu, ihren Erfordernissen zu dienen. Sie ist nicht parasitär, sondern primär.

Ich weiß, wie das klingt: Sophisterei, eitle Übertreibung, nichts als arroganter Unsinn. In dem Sinne, in dem Mencken die Kritik verstand und praktizierte, ist sie eine relativ neue und begrenzte Beschäftigung, und im Lauf der menschlichen Geschichte haben zahlreiche künstlerische Traditionen eine Blüte erlebt, ohne auch nur im Mindesten von dem berührt gewesen zu sein, was wir oder Mencken unter Kritik verstehen würden. Man hat keine Kartusche ausgegraben, die auf die Existenz eines ägyptischen Weisen deutete, der das Publikum dazu aufforderte, sich die Pyramiden nicht entgehen zu lassen. Damals konnte man sie noch schwerer verfehlen, als das heute möglich ist. Schreiber und Kalligraphen hatten in den Epochen, in denen es noch keine Zeitungen und Zeitschriften gab, weder Zeit noch Neigung, Reaktionen auf das neueste Madrigal oder das soeben fertiggestellte Altarbild aufzuzeichnen und abzuschreiben. Wenn wir durch die Säle von Museen wandern, können wir uns von afrikanischen Masken, griechischen Vasen und chinesischen Schriftrollen anrühren und entzücken lassen, ohne zu wissen – in manchen Fällen sogar ohne auch nur erraten zu können –, was zeitgenössische Kenner in ihren Ursprungsländern wohl von ihnen gehalten hätten.

Wir können aber auch sicher sein, dass diese Objekte und Erfahrungen nicht den Weg zu uns gefunden haben, ohne einen Prozess der Beurteilung und Prüfung durchzumachen, der in dem Moment ihrer Konzipierung einsetzte und der alle Stadien ihrer Reifung prägte. Jedes geschaffene Ding entspricht ästhetischen Normen und kulturellen Zielsetzungen, die in ihm angelegt sind, auch wenn sie nachgeborenen oder fremden Betrachtern nicht zugänglich sein mögen (und gegen diese Normen kämpft es auch an, es transzendiert sie bisweilen). Ein Kunstwerk ist selbst ein Stück Kritik.

Das Ziel, das George Steiner mit seinem Gedankenexperiment verfolgt – sein kategorisches Vertreiben des Nebels von Kommentar, der in seinen Augen die schönsten Erzeugnisse der menschlichen Phantasie umgibt –, ist die Klarstellung ebendieses Punktes. »Ernst zu nehmende Kunst, Musik und Literatur«, schreibt er, »ist immer auch ein kritischer Akt«, und damit meint er nicht nur, dass Kunst im allgemeinen eine »Kritik des Lebens« darstellt, wie Matthew Arnold es formuliert hat, sondern auch, dass die Künste »eine kommentierende Reflexion, ein wertendes Urteil über das Erbe und den Kontext [verkörpern], denen sie angehören«.

Dies ist eine steife, pseudo-germanische Form der Feststellung, dass Kunstwerke keineswegs in einem Zustand heiterer, autotelischer Isolation existieren, sondern dass sie über sich selbst hinausgreifen und mit anderen Werken, die neben ihnen her und vor ihnen existieren, und mit den historischen Verhältnissen, in denen sie entstehen, in Verbindung treten. Auf einer gewissen Ebene ist dieser Aspekt so offenkundig, dass er kaum einer Erwähnung bedarf. Bibliotheken, Lehrpläne, Museen und der iTunes-Store verdanken ihre Organisationsprinzipien alle dem Glauben an die organische Existenz von Genres, Traditionen, Perioden und anderen Formen künstlerischer Verwandtschaft. Routinemäßig lehrt man uns, auf den »Kontext« zu achten, was ein angenehm unbestimmter Begriff für die Dinge ist, die wir über den betrachteten Gegenstand möglicherweise wissen wollen, und auch, präziser, für die Dinge, die dieser Gegenstand anscheinend weiß.

Wir können uns immer noch an den Mythos des einsamen Schöpfers klammern, der sich in einer Dachkammer abrackert und auf den Besuch der Muse wartet, aber die Realität des Schaffens hat stets viel interaktiver ausgesehen. Und das nicht einfach deshalb, weil ein einzelner Maler oder Schriftsteller aller Wahrscheinlichkeit nach, und sei es auch im Streit oder unter Zögern, einer Szene oder einer Schule angehört, oder gar wegen des seinem Wesen nach kollektiven, auf Kooperation angelegten Charakters von Betätigungen wie Theater, Film, Architektur und Musik. Alle Kunst, die als solche kenntlich ist, handelt in gewissem Maße von anderer Kunst. Jeder Schriftsteller ist ein Leser, jeder Musiker ein Hörer, und sie werden von einem Bedürfnis getrieben, ihre Vorbilder zu imitieren, zu korrigieren, zu verbessern oder auf sie einzugehen. Es wäre übertrieben, wollte man sagen, jeder Künstler sei ein gescheiterter Kritiker, der nicht in der Lage ist, das bereits Existierende zu würdigen, ohne ihm etwas hinzuzufügen, aber es erscheint mir nicht falsch zu sein, wenn man sagt, dass alle Kunst eine erfolgreiche Kritik darstellt.

Dies ist eine einfache, praktische Beobachtung, aber ich möchte auch auf eine Wahrheit hindeuten, die ich für gewaltiger und grundlegender halte. In der Post-Alles-Gegenwart sind wir eine Ästhetik des Samples, des Mischmaschs und des Pastiches gewohnt. Schon seit mehreren Jahrzehnten – in einer Epoche, die durch Hip-Hop-Aneignung gekennzeichnet ist, durch TV-Shows, die sich selbst auf den Arm nehmen, durch literarische Parodie und Hommage im Film – speist sich die Kultur aus verschiedenen Stilarten der Entlehnung, des Zitats und des Metakommentars, und das tut sie vielfach auf erfrischend originelle Weise. Schlimmstenfalls hat man uns mit ermüdenden und zynischen Wellen von Remaking und Recycling traktiert, aber was noch mehr ins Auge fällt, ist die schiere Neuartigkeit, die so oft aus der Betrachtung und Neuerfindung des Alten hervorgeht. Der Hip-Hop ist vielleicht das beste Beispiel für dieses scheinbare Paradoxon: eine authentisch und zeitweise radikal neue Musiksprache, die aus den gestohlenen Beats und den gemischten Sounds früherer Formen zusammengesetzt ist. Vergleichbare Praktiken – des Zunickens und Zublinzelns, des Persiflierens und der Hommage, der Neuzusammensetzung und Zielverschiebung – tauchen auf, wo immer unser Blick hinfällt. Filmemacher wie Quentin Tarantino und Joel und Ethan Coen (um nur zwei der bekannteren Fälle zu erwähnen) graben in der Kino-Vergangenheit, um Werke zu schaffen, die von Geschichte gesättigt sind, ohne irgendeinem ihrer Vorgänger direkt zu ähneln. Die bildende Kunst hat seit den 1980er Jahren, als Andy Warhol Jackson Pollock als bedeutendste Leitfigur der jungen Generation ablöste, in aggressiver Weise sowohl die Ikonographie früherer Zeiten wie auch die Bilder selbst neu zusammengesetzt. Hundert Treibhausblumen sind erblüht: Gemälde, die auf Gemälden basierten, Fotos von Fotos, Fotos von Gemälden und schwer einzuordnende, schwer zu verfehlende Artefakte, die als Kunstwerke gelten, weil für sie keine andere Kategorie existiert.

Darüber ist natürlich nicht jeder glücklich. Mittlerweile gibt es ein bis zum Bersten gefülltes Archiv von Klagen über die abgeleiteten, sekundären, unseriösen Aspekte nicht nur einzelner Werke oder Künstler, sondern ganzer Kunstformen und des hektisch verlegenen Zeitgeists selbst, der in der Luft Anführungszeichen markiert. Die Situation, die Steiner als »unsere gegenwärtige Misere« bezeichnet (und die einer weniger trübsinnigen Sensibilität als eine ganze Welt von Spaß erscheinen könnte), wird häufig deshalb kritisiert, weil hier Hybridformen, Abklatsche und Imitationen überhandnehmen, Secondhand-Zeug, das die authentischen, heroischen, selbstermächtigten Meisterwerke von einst verdrängt hat. Doch was immer man von bestimmten Trends und Tendenzen in der Kultur des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts hält – der Zeit, die man früher Postmoderne nannte und die jetzt einfach »jetzt« heißt –, sie repräsentieren die jüngste Wiederholung eines Sachverhalts, der so alt ist wie die Kunst selbst.

Imitation ist nicht die Aushöhlung von Originalität; sie ist die Vorbedingung von Originalität. Das beweist die Geschichte. Die Popkultur des vergangenen halben Jahrhunderts ist ein Perpetuum mobile zur Produktion von Neuheiten gewesen, die sich fast auf der Stelle in Nostalgie verwandeln. Ein alter Song ist einer, der vor zwei Sommern im Radio gespielt wurde, ein Klassiker ist das Stück, nach dem man beim College-Abschlussball getanzt hat, und die Filme und Fernsehprogramme, an die man sich aus seiner Kindheit erinnert, sind in einen Schleier des Antiquarischen gehüllt. Doch der Faden, der die Generationen miteinander verbindet, verläuft in unerbittlicher Dialektik von Nachahmung und Neuerfindung. Jede Explosion einer verwandelnden Neuheit erweist sich bei näherem Hinsehen als Wiederentdeckung und Umgestaltung dessen, was schon da war, unterstützt von neuer Technik und der eifrigen Verehrung von Fans, die ihre Idole dadurch zu ehren gedenken, dass sie diese imitieren und übertreffen. Die Geschichte des Rock ’n’ Roll ist eine Chronik aufeinanderfolgender Generationen von Teenagern, die sich zunächst einmal Chuck-Berry-Riffs beibrachten. Sobald der Stil zu groß oder zu barock wird – sobald das Rohmaterial der Musik von kommerziellen Dimensionen oder künstlerischem Ehrgeiz überlagert wird –, tritt jemand auf den Plan, der dem Rad eine weitere Drehung verpasst, indem er es neu erfindet.

Die Bilderstürmer der französischen Nouvelle Vague standen im Banne der Kunstfertigkeit von Schreiberlingen aus den Studios von Hollywood – mit anderen Worten, von auteurs –, und sie waren von der Kraft amerikanischer kommerzieller Genres angetan. Jean-Luc Godards À bout de souffle (Außer Atem) ist ein Film ohne Vorbild, voller Frische, voll von jugendlicher Kraft und der Atmosphäre der Pariser Nachkriegsrealität, und doch ist er im Großen und Ganzen ein Kommentar zum amerikanischen Krimikino, das bis in die 1930er Jahre zurückreicht. Und ein nicht geringer Teil der interessantesten nachfolgenden Filme – von Bonnie and Clyde bis zu Filmen von Wong Kar-Wai – ist wiederum eine Kommentierung und Fortschreibung der Themen und Stile von À bout de souffle.

Godard ist natürlich eine Ausnahmegestalt, die aber eben deshalb auch exemplarisch ist. Vielleicht hat es nie einen Filmemacher gegeben, der so absolut und so zwanghaft vom Kino besessen war – als Protokoll von Geschichte, als Denkwerkzeug, Laufgitter und Schlachtfeld. Godard ist auch ein Regisseur, für den Filmemachen und Filmkritik letztlich nicht unterscheidbar sind. Wenn man sagt, dass die polemischen und anerkennenden Essays, die er als junger Mann in den Cahiers veröffentlichte – in denen er sich mit kämpferischer Inbrunst die Filme von Howard Hawks, Fritz Lang, Nicholas Ray und anderen falsch verstandenen Genies des Studiosystems aneignete –, ein Vorspiel zu den Erkundungen kinematographischer Formen waren, die später in À bout de souffle und danach umgesetzt wurden, dann sagt man damit auch, dass diese Filme mit anderen Mitteln die Untersuchungen fortführten, mit denen er in seinen Aufsätzen begonnen hatte. In seinem Spätwerk (vor allem in dem achtteiligen, viereinhalbstündigen Film Histoire[s] du Cinéma) tritt diese Kontinuität deutlich zutage, da hier die Abfolge bewegter Bilder zum idealen Medium dafür wird, über das Erbe und die Zukunft des Kinos nachzudenken.

Godards Histoires sind eine großartige Anomalie und zugleich die Apotheose eines vertrauten Genres, des Films über einen Film. Das Kino ist eine Sprache mit inhärenten Fähigkeiten zur Reflexion, über die andere Kunstformen wohl nicht zu verfügen scheinen. Dass man Musikkritik in Partitur setzt oder Kunstkritik mit Pinsel und Farbe betreibt, ist unwahrscheinlich. Doch genau in diesen Kunstformen findet Godards epische Collage – ein Kontrapunkt von entlehnten Bildern und meditativer Erzählung – ihre stärksten Vorbilder.

Der Kanon der Hochliteratur, der schönen Künste und der klassischen Musik besteht aus einem langen Gespräch zwischen Epochen, Stilen und Nationen, das gelegentlich nicht offen, sondern verdeckt geführt wird, das aber immer da ist. Einige der bedeutendsten Denkmäler der klassischen Moderne – James Joyce’ Ulysses, Ezra Pounds Cantos, T. S. Eliots »The Waste Land« – sind nagelneue Gobelins, die aus altem Garn gewoben wurden, und einige der radikalsten Innovationen der Avantgarde des 19. und 20. Jahrhunderts sind Akte der Wiederentdeckung und Neuinterpretation. Pounds Ermahnung »Macht es neu« – ein dauerhaftes modernistisches Motto, das sich stets wieder auffrischen lässt – setzt die Existenz jenes überaus wichtigen »es« voraus, also all der Dinge, welche die Fregatte der menschlichen Kultur in ihrem Kielwasser hinter sich gelassen hat.

Das Neue tritt nicht in einem Vakuum auf; es braucht Material. Und der revolutionäre Impuls, der von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in aufeinanderfolgenden Wellen über die Künste fegte, war mit dem zwanghaften Ausgraben derartigen Materials verbunden, um es zu retten, zu berichtigen und zu bearbeiten. Manet, der erste große moderne Maler, mag auf die sozialen Unruhen im Paris der 1860er und 1870er Jahre reagiert haben, aber er führte auch eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit Tizian und Velázquez und der Tradition der europäischen Malerei, bei der er den Versuch unternahm, die Quellen ihrer Vitalität zurückzugewinnen und ihnen in seinem eigenen gewandelten Milieu Geltung zu verschaffen. Picasso begann seine Laufbahn wenig mehr als eine Generation nach Manet mit einer intensiven Untersuchung seiner heimatlichen Tradition und beschwor in seinen frühen Bildern Goya, Velázquez, El Greco und andere spanische Meister. In dem Maße, wie sein Ehrgeiz wuchs, suchte er radikal auf immer größeren Feldern nach Anregungen, bis hin zu den afrikanischen Masken und Figuren, die den Demoiselles d’Avignon