Krötenliebe - Julya Rabinowich - E-Book

Krötenliebe E-Book

Julya Rabinowich

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Beschreibung

Alma Mahler, die "femme fatale", die den Verlust ihres Vaters mit einer unüberschaubaren Zahl von Liebhabern aufzuwiegen versucht, Paul Kammerer, der umstrittene Vater der Epigenetik, der das Geheimnis um seine Kröten-Experimente mit ins Grab nimmt, und Oskar Kokoschka, das "enfant terrible" der Wiener Kunst im frühen 20. Jahrhundert, der seinem Liebeskummer mit mehr als unzulänglichen Mitteln beizukommen versucht: die Protagonisten eines skurrilen Ringelspieles. Julya Rabinowich geht der Sehnsucht nach, in der diese drei miteinander verbunden sind. Ein faszinierender Remix historischer Skandale und Begebenheiten zwischen Venedig, Dresden und Wien im Österreich der Jahrhundertwende.

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Seitenzahl: 230

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Alma Mahlers Kindheit, Paul Kammerers ungeklärter Selbstmord und Oskar Kokoschkas Beziehung zu einer lebensgroßen Puppe – Julya Rabinowich geht der Sehnsucht nach, in der diese drei miteinander verbunden sind. Alma, die femme fatale, die den Verlust ihres Vaters mit einer unüberschaubaren Zahl von Liebhabern aufzuwiegen versucht. Paul Kammerer, der umstrittene Vater der Epigenetik, der das Geheimnis um seine Kröten-Experimente mit ins Grab nimmt. Kokoschka, das enfantterrible der Wiener Kunstszene, der seinem Liebeskummer mit mehr als unzulänglichen Mitteln beizukommen versucht. Ein faszinierender Remix historischer Skandale und Begebenheiten zwischen Venedig, Dresden und dem Wien der Jahrhundertwende.

Deuticke E-Book

Julya Rabinowich

Krötenliebe

Roman

Deuticke

ISBN 978-3-552-06323-5

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Fotos: © Josephiney Photography, LLC (Kommode mit Flaschen), Hagströmer Medico-Historical Library (Salamander), © ÖNB/Wien, 203.465-D (Alma Mahler),

© IMAGNO/Austrian Archives (Paul Kammerer, Oskar Kokoschka)

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Nina & Martina

Prolog

Wenn man annimmt, die Zeit wäre keine Gerade, sondern ein Kreis, in dessen perfekter Rundung kein Anfang und kein Ende auszumachen sind, dann kann man auch annehmen, dass dieser Zeit-Ring um seine Achse beweglich ist, dass alles, was in den 360 Grad jemals enthalten war, zu jedem Augenblick erhalten bleibt, jeweils auf seinem eigenen Abschnitt. Das ist tröstlich und erschreckend zugleich: Alles ist zu jedem Augenblick, und nichts ist vergangen.

Man kann aber auch annehmen, die Zeit wäre ein Kaleidoskop: Bei jeder Drehung brechen die Muster aus glänzenden Glassteinchen in neue Konstellationen, die einander ähneln, sich aber nie in exakt gleicher Weise wiederholen. Das ist tröstlich und erschreckend zugleich: Nichts kommt wieder, was einmal verschwunden ist.

Vielleicht war es so, aber vielleicht auch ganz anders.

Einer, dessen Blick sich vor Gier geengt hat zu einem kleinen dunklen Tunnel, an dessen Ende das Licht der begehrten Dinge leuchtet, fragt sich nicht, sondern bündelt seine ganze Kraft, sein ganzes Unvermögen und Vermögen, um endlich in dieses erlösende Licht zu tauchen. Er fragt nicht nach dem Danach und nach dem Preis. Ein Künstler, ein Wissenschaftler, eine Muse. Das Dreieck von Mutter, Vater und Kind. Von Geliebten und Eheleuten. Von Geburt und Tod und dem, was dazwischen liegt. Was dazwischen liegt: Veränderung.

Kokoschka

Dresden, 1918

Er legte den Pinsel aus der Hand. Das Geräusch von Holz des Stiels auf dem Holz der Palette. Der Pinsel rollte auf der schief gestellten Oberfläche hin und her, bis er an einem noch feuchten Farbklumpen ankam. Finger in nachtblauem Ölfilm. Wenn er sich nach längerer Pause wieder seiner Arbeit zuwandte, würde er den Pinsel nicht mehr aus der Farbumklammerung lösen können. Es war ihm egal.

Er machte aus Gewohnheit ein paar Schritte zurück, weg von seiner Arbeit, um die Staffelei in ihrer Gesamtheit wahrnehmen zu können. Es ist trügerisch, sich auf die Euphorie zu verlassen, die ein kleines Stückchen Leinwand zu entfesseln vermag, dieser Ausschnitt, den man in diesem Augenblick für gelungen, ja für genial hält, der aber nach dem Einfügen ins große Ganze nicht bestehen kann. So ist es mit jeder Leidenschaft, warum also nicht auch mit der Malerei, würde Alma wohl sagen. Würde sie das?, fragte er sich. Die rechte Ecke des Bildes schwebte in weißer Leere, von vorgezeichneten Linien der Kohle getragen. Das blaue Kleid, das die Frauenfigur in der Mitte trug, umhüllte den geisterhaften Umriss eines unfertigen Körpers. Die Hülle sollte das Innere erst definieren. Er war unentschlossen. Die Finger in den Kittel gekrallt, stand er da, spürte die Klebrigkeit auf seiner Haut, atmete den intensiven Geruch der Ölfarbe ein, der ihn nach mehreren Stunden schwindeln machte, wie eine Droge, bewusst in Kauf genommen mit all ihren Nebenwirkungen. Dieser Schwindel ist bereits auf einige Bildnisse übertragen: in Form von ineinander verschlungenen Farbschlieren, Hautpartikeln, gewundenen Körpern, fließendem Haar. Seit dem im Krieg erlittenen Kopfschuss litt er immer wieder an heftigen Schwindelanfällen.

Er drehte sich leicht zur Seite, griff nach der gewundenen Lehne des Stuhls aus gebeiztem Holz, um Halt zu finden. Thonet-Stühle seiner Mutter. Thonet-Stühle, hatte Romana Kokoschka vor langer Zeit gesagt, wären für sein Wiener Atelier gerade gut genug. »Du kannst mit deinen Besuchern gemütlich sitzen«, hatte sie gesagt. Davor hatte sie allerdings noch damit gedroht, Alma zu ermorden, wenn sie ihn nicht in Ruhe ließe. Alma hatte ihm empört berichtet, dass seine Mutter vor ihrem Fenster auf und ab gegangen sei. Eine Hand auffällig in der Manteltasche bewegend – und Alma, die sich hinter einer Gardine versteckte, bedeutungsschwangere Blicke zuwerfend. Es nützte nichts.

Die Möbelstücke hatte er dennoch behalten. Gemütlich sitzen. Als ob es darum ginge. Gemütlich! Sitzen! Keine Zeit, keine Zeit dafür. Die Zeit läuft, sie galoppiert, trägt einen davon wie der Rücken eines Pferdes, geradewegs in feindliche Bajonettspitzen hinein, aber man schließt dennoch die Augen und will glauben, Held zu sein, ein fremdbestimmter tragischer Held. Ein Pferd, das er noch nicht erworben hatte, noch nicht erwerben konnte, das Geld fehlte vorläufig. Seine Mutter betete im ersten Kriegsjahr, dass dieses Geld niemals zusammenkommen würde, sie hoffte immer noch auf seine Vernunft, wie jede Mutter wollte sie ihren Sohn nicht zum Kriegsanbruch an der Front sehen, auch nicht als feinen Dragoner hoch zu Ross.

»Was sagst du, Almi?«, fragte er, zu der Gestalt gewandt, die hinter der Staffelei auf einem Sofa voller Samtkissen ruhte, ein fülliges helles Bein über das andere, den Kaftan aus Brokat neckisch zurückgeschlagen. Er drehte die Staffelei vorsichtig zu ihr hin.

Die Antwort blieb aus.

Er hielt kurz inne, als ob er noch auf Antwort warten würde. Riss sich dann ungeduldig den Kittel herunter, wühlte seine Hände erneut hinein, wischte Farbreste von seinen Fingerkuppen. Warf den Kittel zur Seite. Er ging auf sie zu, streckte vorsichtig den Arm nach dem hohen, runden Busen, der aus dem Halsausschnitt ragte, aus.

Schon die erste Berührung entzauberte den Augenblick vollständig.

Seine Finger glitten über mondhellen Plüsch.

Die Augen der Puppe blickten durch ihn hindurch.

Er umklammerte sie, zwang seine Zunge zwischen ihre halb geöffneten aufdringlich rosa Lippen, schmeckte von seinem Speichel aufgeweichten Stoff, dem seine Wärme vorübergehend eigene Temperatur verliehen hatte, ein Fremdkörper in seinem Mund. Ihre Lippen zerfaserten. Er spuckte noch lange nach dieser uneleganten Annäherung kleine Stoffflusen auf den Atelierboden. Er fluchte dabei, die Flüche drangen zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, er hätte sie am liebsten ebenfalls auf die von Farbflecken übersäten Dielenbretter gespien. Er biss hasserfüllt in ihr Gesicht. Sie fiel auf das Sofa zurück und kippte langsam und lächelnd zwischen die Kissen, rutschte die Wand entlang, blieb mit lächerlich weggebogenem Arm liegen, die Beine immer noch wie eine Brezel ineinander verschränkt, so, wie er sie vor dem Beginn der Sitzung fixiert hatte.

»Du unnützes Samtloch«, sagte er zu ihr und drehte sich weg, »du Kröte, du elendige!«

Nachdem das Dienstmädchen die Puppe in feierlicher Aufmachung zum Tisch gesetzt hatte, stand er auf, verbeugte sich und schob fürsorglich den Teller zu ihr hinüber. Die Puppe lächelte huldvoll, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Das frisierte Haar fiel in Wellen auf die Schultern. Auf dem Tisch dampfte ein goldbraun gebackenes Huhn in einer Porzellanschüssel mit geschwungenen Griffen. Daneben stand eine kleinere mit einem großen Silberlöffel, versenkt in Kartoffelsalat mit Speckwürfelchen. Er goss sich Wein aus der Karaffe ein, füllte auch ihr geschliffenes Weinglas und äffte ihre Kopfbewegung nach. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab, waren noch feucht, er hatte sich gerade erst gebadet. Der Docht der Kerze knisterte. Sonst war es vollkommen still. Das Dienstmädchen namens Reserl bewegte sich lautlos in die Richtung des Ganges, der in die Küche führte. Sie trug feine Hausschuhe, die er ihr gekauft hatte – gerührt von der Zartheit, mit der sie mit der Puppe umging, der Vorsicht, mit der sie den Tisch deckte. Von den aufmerksamen Blicken, die oft auf seinem Gesicht ruhten, aber auch recht oft auf seinen Werken.

»Auf uns, meine Beste«, sagte er und berührte ihr Glas mit seinem. Die Gläser klirrten leise, die Bewegung war zögerlich gewesen. Reserl seufzte als Echo des Gläserklirrens in der Küche.

»Nun komm schon her«, rief er, »Madame hat keinen Appetit.«

In der Nacht schreckte er auf dem Sofa im Atelier auf. Es roch immer noch nach Farbe. Das Zimmer schwankte. Er fror. Die Decke lag auf dem Boden, er hatte sie wohl in unruhigem Schlaf abgestreift. Die Kerze auf dem Stuhl neben ihm war abgebrannt. Seine Mutter würde die dicken Wachsflecken auf ihren Thonet-Stühlen erst in mehreren Wochen zu Gesicht bekommen. Die Streichholzschachtel daneben war leer. Unter dem Fenster entfernten sich Schritte rasch. Jemand lief. Jemand schrie.

Eine betrunkene Stimme, mehrere, vielleicht ein Streit unter Saufbrüdern. Sein Herz raste. Er griff nicht an seine Brust, hinter der es flatterte und gegen die Rippen stieß. Er griff neben sich, im Halbdunkel konnte man fast nichts erkennen, aber er wusste, dass sie da war, er griff nach ihrer Schulter, tastete Seide, und nachdem sein Hand ihrem Arm gefolgt war, dorthin, wo das Nachthemd aufhörte, den sanften Plüsch ihrer Hand. Dann war er ganz wach und ließ die Stoffhand fallen. Sie fiel wie Gliedmaßen von Bewusstlosen.

Er war nicht in Wien. Er war in Dresden.

Hinter ihm lagen Krieg und Almas Verrat. Er tastete unwillkürlich nach den Narben auf seinem Oberkörper und seinem Kopf, neue Markierungen auf der Landkarte seines Körpers, seiner Gegenwart, der Zukunft, Zeugen seines Unglücks und seines Glücks. Die Bilder des Sturzes und der furchtbaren Verwundungen ließen ihn nie ganz los. Er erinnerte sich an das Geräusch, mit dem die Kugel in sein Ohr eingedrungen war, um am Genick wieder auszutreten. An das Knacken der Knochen, die Erschütterung des gesamten Schädels. An das Gefühl, sein Kopf würde endlich tatsächlich in all jene Stücke zersplittern, in die ihn diese Liebe brach. Er konnte die Farbe jenes Bajonetts, das in seinem Fleisch versank, auch noch mitten in der Nacht genau beschreiben, oftmals waren die Farbtöne unbewusst in seinen Farbmischungen aufgetaucht, und er hatte sie mit noch düstereren Farben und brutalen Pinselstrichen wieder verborgen. Die toten Pferdeleiber, die wie eine Collage ineinander gesprengten Körper, Kameraden und Feinde, vereint in Bewegungslosigkeit und Schwere. Dennoch wurde er damals entgegen aller Wahrscheinlichkeit gerettet und in kritischem Zustand nach Wien zurückgebracht. Ihr entgegen. Er war überzeugt, dass ihn nur diese Erwartung überleben hatte lassen, auch wenn die Ärzte gänzlich anderer Meinung waren. Schlimmer als die Wundschmerzen und der entsetzliche Schwindel: Sie war auf sein Bitten und Betteln nicht einmal an sein Krankenbett geeilt.

Er setzte sich fluchend auf und schüttelte seinen Kopf so brutal hin und her, dass er seine Nackenwirbel knacken hörte, und trat anschließend die Puppe aus den seidigen Bettdecken auf den Boden. Das Kissen glitt hinterher. Er stand auf und ging zum Fenster. Riss es auf. Die Laterne auf der Kreuzung gegenüber beugte ihr Köpfchen mit einem orangen Heiligenschein im Verhangenen. Er trommelte gegen den Fensterrahmen, schlug das Fenster wieder zu. Kehrte zum Bett zurück, hob die Puppe sorgfältig wieder hoch, drückte sie erst an seine Brust wie ein krankes Kind, hielt sie dann wie eine Braut und legte sie vorsichtig wieder ins Bett und umfasste ihren Kopf mit seinen Händen.

Hoffte vergeblich auf ein Schließen der pelzigen Lider.

»Das kannst du doch nicht mit mir machen, Almi …«

Aus unterschiedlichen Blickwinkeln wirkte das Gesicht mal ernst, mal verschmitzt, die dunklen Linien, mit denen die Augen umrahmt waren, die überzeichneten Brauen darüber spielten je nach Lichteinfall dem Betrachter übel mit, ebenso das dichte Haar. Sie gab ihm selbst als Surrogat, als seelenloses Objekt noch ihre Rätsel auf, und er konnte sie immer noch nicht lösen.

Er erinnerte sich daran, Alma schon zuvor eine Sphinx genannt zu haben.

»Almi, man kann nicht nach Belieben einmal töricht und einmal weise sein. Man verliert sonst beide Glücksmöglichkeiten. Und Du wirst eine Sphinx, die nicht leben noch sterben kann, aber den Mann umbringt, der sie liebt …«,1 hatte er ihr geschrieben am 6. März 1914, da war alles noch weit weg, das ihn jetzt quälte, seine Lunge unangetastet, sein Gehörgang intakt wie die Verbindung zu Alma. Und sie war ihm eine Sphinx geblieben, eine private, eine böse, dumme Sphinx.

Er streichelte noch einmal über ihr Gesicht. Der Plüsch war nicht beruhigend, sondern ein Beweis, dass nichts als eine Larve neben ihm lag, aus der nichts mehr schlüpfen würde können. Höchstens ein paar Motten. Keine Frage, die Puppenmacherin aus München hatte ganze Arbeit geleistet, aber er musste zugeben: Hermine Moos war eben eine Puppenmacherin und keine höhere Gewalt. Man hatte sie ihm empfohlen, und er hatte sich unverzüglich mit ihr in Verbindung gesetzt. Natürlich war jeder Versuch, eine Göttin von Ungöttlichen rekonstruieren zu lassen, dazu verurteilt zu scheitern. Auch das war keine Frage.

Er war eingeladen worden, nach Dresden zu gehen. Alma war verheiratet und hatte ihn verschmäht, er verließ Wien mit der sich bietenden Gelegenheit. Er war immer noch das bewunderte Enfant terrible.

Quälend fiel ihm ein, wie sehr er sich auf die Lieferung der Puppe gefreut hatte. Es war nicht einfach gewesen. Er hatte die Tage gezählt, schließlich die Stunden, bis die Bestellung bei Hermine Moos fertiggestellt war und endlich auf dem Weg zu ihm. Die Puppenmacherin verbarg ihr Erstaunen, wenn es denn je eines gegeben hatte. Der Auftrag war lukrativ und durch seine Einzigartigkeit naturgemäß herausfordernd. Ob seinen Anweisungen auch genau Folge geleistet wurde, wollte er wissen. Ob die Verarbeitung seinen genauen Vorstellungen entspreche.

Als Erstes war ein recht schweres, sechzig mal sechzig Zentimeter großes Paket eingetroffen, das er dem erstaunten Postboten aus den Händen gerissen und eilig in sein Atelier verfrachtet hatte.

Kaum abgestellt, wurde das Paket schon zerstört, er kämpfte fluchend mit dem harten Karton.

Im Inneren verbarg sich Holzwolle, die aus den Rissen auf den Boden fiel. Er versenkte seine Hände darin, tastete Hartes, umfasste es und zog es hoch. Seine Hände bebten, fast wäre der Gegenstand, fein säuberlich in einige Schichten braunes Papier gewickelt, auf den Boden gefallen.

Er entfaltete eine nach der anderen. Ein Tanz der sieben Schleier, schon wieder, aber diesmal konnte sie sich ihm nicht mehr willentlich entziehen. Dunkle Augenbrauen, leicht höhnisch blickende Augen in durchdringender Farbe sahen in die seinen: Er hielt den Kopf Almas in seinen Händen. Die Haare waren noch nicht daran befestigt worden, das gab dem Modell etwas Androgynes und Phantastisches, machte es aber gleichzeitig schwer, sie wiederzuerkennen. Er hob den Kopf, die Finger vorsichtig an ihrem kahlen Hinterhaupt wie bei einem Baby, an seine Lippen, ohne sie zu berühren.

Almas Kopf roch ein wenig nach frischgewaschenem Stoff.

Er stellte ihn auf dem Speisezimmertisch ab und trank ein Glas Wasser in ihrer Gesellschaft. Das erschrockene doppelbekinnte Gesicht der Haushälterin, die später Befehlsgewalt über Reserl erhalten sollte, erschien hinter der Glastür – im hochgeschlossenen schwarzen Kleid im Dunkeln stehend schien auch sie nur aus einem Kopf zu bestehen – und verschwand sofort wieder, als sich ihre Blicke trafen.

Tags darauf schickte er das Probemodell mit zahlreichen Korrekturhinweisen wieder zurück.

Er hatte andere Skizzen angefertigt und erneut Grübchen und Ausbuchtungen des Körpers penibel beschrieben, um diesen Körper, der ihm so quälend genau bekannt war und gleichzeitig so fern blieb, möglichst naturgetreu abzubilden und seine dringlichsten Bedürfnisse zu befriedigen. So, wie er den lebendigen warmen Leib Alma Mahlers abwechselnd mit seinen Händen, mit Stift und Pinsel festgehalten hatte, musste er den Schöpfungsprozess nun widerwillig umkehren: Nicht sie stand ihm Modell, um ihn zu immer neuen Abbildungen ihrer verschiedenen Egos anzuspornen, sondern seine Erinnerung schöpfte sie neu als Skizze, setzte sie aus unzähligen Bruchstücken launischer Momentaufnahmen zusammen: der verzogene Mund, die Farbe ihrer aufklaffenden Schamlippen im Kerzenlicht, die purpurne Schleimhaut, die plump geformten Knie, die Wölbung ihres Bäuchleins, das in den Schatten der Scham überging, das Haar, das er betrachtet hatte, wie es unter ihm zwischen den Kissen seines Ateliersofas verschwand, der Schatten über dem Hals, wenn sie ihren Arm im Schlaf kindlich unter ihren Kopf legte, das alles musste mühsam und vor allem schmerzlich genau wieder aus den Untiefen seiner Erinnerung geholt und mit wissenschaftlicher Genauigkeit festgehalten werden.

Die Puppenmacherin brauchte genaue Vorlagen, die Puppenmacherin benötigte Anweisung, sie war keine wie Alma, die seine halb ausgesprochenen Ideen verstand und ihn bestärken konnte, wenn er gerade selbst den Weg nicht erkannte. »Ich bin auf die Qualität Ihrer Arbeit gespannt«, schrieb er der Puppenmacherin, »gespannt darauf, wie die Beschaffenheit des Materials sich eignet, und auf die Umsetzung meiner Skizzen.«

Sie schrieb ihm ernsthafte Briefe mit fachmännischen Nachfragen, die von ihrer Kunstfertigkeit zeugten. Seine anfängliche Aufregung legte sich.

Die Frau schien ihr Handwerk zu verstehen.

Er brauchte nur noch Geduld.

Mit jeder neuen Frage wurde er paradoxerweise nervöser statt ruhiger. Was, wenn das Ergebnis nicht an das Original herankam? Wenn er sie doch bloß noch einmal sehen könnte … Mit geübtem Blick ließe sich ein Maßnehmen schnell erledigen. Sie müsste sich nicht einmal entkleiden. Vermutlich. Er würde ihr den Grund verschweigen. Sie würde nicht verstehen.

Alma hatte kein Verständnis mehr für ihn und, was noch schlimmer war: keine Zeit. Keinen Platz. Tage und Nächte waren almalos verstrichen, eine Woche, zwei Wochen, viele. Die Zeit klumpte zur lichtlosen Ewigkeit zusammen, ein umgekehrter Urknall, alles zog sich ins Nichts zurück, er war ein Hund, der seinen Herrn verloren hatte und dem das unerträgliche Warten auf dessen Wiederkehr ins Zeitlose gleitet.

Anfangs hatte ihn das noch bei seiner Arbeit beflügelt, er träumte vom Wiedersehen, seinem warmen Fleisch in fremdem, nein, nicht fremdem, in wohlbekanntestem und vertrautestem Fleisch, er wollte nicht glauben, was man ihm zutrug.

Sie würde umkehren.

Sie hatte dennoch geheiratet.

Diesen elenden farblosen verbissenen Deutschen.

Nicht ihn. Nicht ihn.

Das Warten auf das Abklingen der Phantomschmerzen, die Abtreibung der nicht stattgefundenen eigenen Ehe mit ihr war eine unverdiente Strafe. Sie hätte ihn heiraten können. Sie hätte ihn heiraten müssen. Ob die Bilderserie die Ursache dieser Entfremdung war, in der er sie mit seinen Gedärmen spinnend dargestellt hatte? Nein, das konnte nicht sein.

Sie, die Jägerin, müsste sich davon doch eher geehrt fühlen, befand er voller Unmut über ihr unerklärliches Verhalten. Er selbst jagte nun exakteren Maßen nach, korrigierte voreilige Angaben, zermarterte seinen Kopf nach weiteren Details, fertigte Diagramme an, vermaß seine eigenen Werke, um sich nicht erneut zu irren. Leicht erschlaffte Haut, die unter Schwangerschaften gelitten hatte. Jede hatte dunkelrote Striemen auf ihre Seiten aufgemalt, die erst nach und nach verblasst waren. Und als das Glück es so wollte, dass sich sein Samen in ihrem Unterleib einnistete, als sein Leben eben drauf und dran war, eine völlig neue, berauschend schöne Wendung zu nehmen, da hatte sie das gemeinsame Kind, das sie verbinden sollte, bis dass der Tod sie scheide, kurzerhand und ungefragt aus sich herauskratzen lassen, herauskratzen lassen aus seiner rötlichen Höhle und aus der Schwerelosigkeit reifenden Schlafes. Er hatte ihr die blutgetränkte Watte noch im Spital entrissen, um das verbliebene kostbare Restchen ihrer Symbiose in seiner Anzugsinnentasche zu versenken, als ob er die Schwangerschaft gegen ihren Willen in sich hätte fortsetzen können, er hatte mit dem Wattebausch geredet und ihn abends in den Schlaf gewiegt, auch jetzt war das Stückchen Stoff noch bei ihm, aber er hatte es schon seit geraumer Zeit kaum noch besucht: Der Anzug hing nun in einem anderen Schrank, in seinem hatte Platz gemacht werden müssen für die Garderobe der Puppe.

Alma, auf einigen Bildern in der Pose der Schaumgeborenen inszeniert, sollte jetzt endlich von der Leinwand zu ihm hinuntersteigen. Wie war das Verhältnis ihrer Hüfte zu den Ausbuchtungen an der unteren Hälfte ihres Hinterteiles? Der Winkel, den der Ansatz ihrer Brüste zum Schlüsselbein bildete …

Er hatte das Gefühl, Alma zu sezieren, um aus ihr ein Exponat machen zu können, das sich seinem Willen endlich beugen müsste, die Lust, den Schmetterling mit einer Nadel auf weißem Untergrund festzusetzen, war überwältigend, und auch das Wissen, dass das Insekt – der Schönheit seiner Bewegung beraubt – diese Lust kaum rechtfertigen würde können.

Die Lieferung verzögerte sich. Er war verzweifelt. Seine Produktion im Atelier erlahmte. Ihr aufmerksamer Blick fehlte ihm. Je weniger Alma ihn sah, desto weniger malte er, es gab ja nichts zu sehen. Er lag nächtelang schlaflos, den Blick gebohrt in ihre zweidimensionalen Augen, zersplittert in viele Augenpaare auf seinen Leinwänden, aus verschiedenen Winkeln der immer gleiche Blick mit halb gesenkten Lidern, der Mund auf eine seltsam männlich brutale Art zur Seite gebogen. Manchmal legte er seine Hände auf den rauen Stoff der Werke und fuhr Almas Konturen mit seinen ebenso rauen Fingerkuppen nach, im Versuch, die in ihnen gespeicherte Erinnerung an ihre Körpertemperatur zu wecken.

Ihr Blick ist tierhaft, konzentriert und so flucht- wie angriffsbereit. Wie diese Lider sich senkten, wenn er in sie eindrang, wie sie zu flattern begannen, als seine Haut ihre teilte, als er in immer weiter ausholende Schwingung zwischen ihren Schenkeln verfiel, eine Schwingung, die sich zwischen den beiden Polen abspielte, um die es ging, um Leben und Tod, bei keiner anderen Frau fühlte er sich im Augenblick der Vereinigung so zwischen Leben und Tod wie in ihr, er schwang wie das verdammte Foucaultsche Pendel, und die Abstände zwischen diesen Pendelschlägen verkürzten sich von Augenblick zu Augenblick.

Eine Schwingung, die er manchmal voll boshafter Erregung stoppte, um nicht nur ihre Haut, um sie selbst in eine Vor- und Nachher-Alma zu teilen, eine wimmernde, eine um ihn gewundene verwilderte Kreatur, die schrie und um sich biss.

Aber selbst in dieser vermeintlichen Herrschaft über sie war er sich seiner Präsenz in ihr nie sicher, sie entwand sich ihm noch in der ausgeprägtesten Ekstase, und oft sprang sie unerwartet abrupt auf, hüllte sich, ohne seine Körperflüssigkeiten abzuwaschen, in ihre Kleider und verließ sein Atelier, während er fassungslos und mit leicht zitternden Oberschenkeln zurückblieb. Danach malte er üblicherweise in einer unerreichten Konzentration und Ausdauer, als würde er den nicht bis zum Ende ausgekosteten, nur halb vollstreckten Akt wieder und wieder an der Leinwand vollziehen wollen. Eine lange Reihe ihrer Bildnisse zeugt davon: eine gnadenlose Königin, der etwas grobschlächtige Körper einmal in blauer Seide, einmal in schmeichelndem Morgenlicht gebadet.

So konnte es nicht weitergehen. So jedenfalls nicht.

Er fuhr nach München und urgierte die Puppe nochmals, machte eine scheußliche Szene, brüllte die Puppenmacherin an, bis sie in Tränen ausbrach. Nach seiner Rückkehr nach Dresden fürchtete er die ganze Nacht und den folgenden Tag, dass sie seine Bestellung nun nicht mehr fertigstellen würde und er endgültig verloren wäre. Schrieb einen vor Gift und Galle flammenden Brief an Alma, in dem er sie verfluchte, ihren Unterleib schmähte, der einer rauschenden Straßenkreuzung gleiche, ein öffentlicher Ort, von jedem dahergelaufenen Idioten zu erreichen, ein Wunder, dass dort nicht beständig Karambolagen stattfänden! Sie verkenne ihre Situation vollständig, wisse nicht, was gut für sie sei, erkenne nicht, was das Schicksal für sie beide bedeuten würde. Er drohte, in der Nacht erneut wie in all den Jahren zuvor schon vor ihrem Haus zu wachen, sich gut zu verbergen wie damals, sodass ihr Hauspersonal ihn bestimmt nicht fortjagen könnte, und schon gar nicht ihr schwächlicher farbloser importierter Gemahl, drohte, den nächsten erbärmlichen Lüstling, der dieses Haus verließ, zu erschlagen. Verdächtigte eine erstaunlich lange Reihe von Männern und schrieb jeden einzelnen Verdachtsfall mit Namen und Nachnamen aus, manche sogar mit Familienstand. Die Liste nahm die Hälfte des Briefes ein. Nachdem er sich beruhigt hatte, schien ihm der Raum, den er seinen Nebenbuhlern einräumte, lächerlich groß zu sein, und er strich die Hälfte wieder, immer noch im Gefühl, dennoch mit der ersten Fassung recht zu haben.

Er trank nachts viel und hastig und zerschlug die letzte Flasche. Trat nach den Scherben. Reserl erwachte, eilte in dramatisch gerafftem Nachthemd und einem rasch übergeworfenen zartgeblümten Morgenmantel herbei und machte wieder sauber. Kehrte ihm den Rücken und einen kleinen festen Hintern zu und kniete herausfordernd auf dem Boden, in der vergeblichen Hoffnung, dass sie so seine Aufmerksamkeit auf sich bündeln würde.

Sie war jung, jünger als Alma. Sie wäre nach oberflächlicher Betrachtung attraktiv.

Er wollte lieber auf die Puppe warten und mit Geistern schlafen. Sie verließ den Raum so lautlos wie immer, mit einem zögerlichen Blick zurück.

Der anschließende Schlaf presste seine Schläfen und ermüdete. Nachdem Reserl morgens mit dem Brief zur Post aufgebrochen war, rannte er ihr nach und nahm ihn ihr wieder ab. Die Puppe erschien in der folgenden Woche.

Alma

Wien und Umgebung, 1881-1885

Die ersten Blicke sind die wichtigsten. Nichts kommt je wieder an dieses jungfräuliche Erkennen heran, das diese Blicke entzünden können, sie sind erste Worte einer völlig neuen, einer intimen Sprache, deren Intimität nicht zwingend in Zuneigung begründet liegt. Als Alma Carl Moll das erste Mal sah, missfiel ihr sein angespanntes Gesicht. Noch mehr missfielen ihr die nervös an seinem Kostüm umher suchenden Hände, die wie Eidechsen den Stoff hinauf- und hinunterliefen, als ob er verborgene Schlupflöcher suchen würde, in denen er sie und damit seine Unruhe endlich verbergen konnte. Alma saß auf ihrem Kinderstuhl neben der Staffelei ihres Vaters Emil Jakob Schindler, die Füße in dicken Wollstrumpfhosen wand sie um die geschnitzten Sesselbeine. Sie saß regungslos und sah ihn finster von unten an, der Mund ein ernster Strich. Der neue Schüler des Vaters mühte sich um ein gewinnendes kinderkompatibles Lächeln. Kinder spüren Lüge, so gut wie sie Betrug wittern. Alma hätte am liebsten ihre kurzen Nägel in seinem Gesicht verkrallt, gerade als er die Mundwinkel nach oben verzog wie einen Vorhang im Theater. Er hatte gelbe Zähne.

Sie hob die Hand, sah das Gesicht ihres Vaters, seine linke Augenbraue, die sich bereits nach oben zur faltigen Stirn bewegte, und ließ die Hand wieder sinken. Ihr Vater machte eine joviale Geste, als ob er das Gewitter, das sich zwischen diesen beiden zusammenbraute, und das sich erst über vierzehn Jahre später vollends entladen würde, vorausahnen würde. Er beugte sich zu seiner Tochter hinunter.

»Almi«, sagte er zu ihr. »Warum so finster, Sonnenschein?«

Die dreijährige Alma senkte den Blick und betrachtete den dunklen staubigen Boden. Sie wollte wieder allein mit ihrem Vater sein. Carl Moll verbeugte sich, Almas Vater begleitete ihn hinaus. Die Eingangstür der Stadtwohnung fiel ins Schloss. Alma atmete laut aus. Der Eindringling war weg.

Die erste Verbindung war gekappt.

Es dauerte nicht lange, und Moll kam wieder. Und wieder. Und wieder. Er schleppte Mappen an, die er langwierig vor dem Landschaftsmaler ausbreitete, sie gingen Blatt für Blatt durch, Moll sog jedes Wort in sich hinein, von lauten Schnaufgeräuschen begleitet.

Es gab einige hoffnungsvolle junge Männer, die sich dem Meister anboten, aber wenige, die ihr Angebot großzügig auf die ganze Familie ausdehnten. Er, der angehende Maler, fand die Frau des Meisters bemerkenswert schön. Er wollte sie malen als schaumgeborene Aphrodite, er wollte sie malen als Frau im Pelz, wie auf jenem Bild von Rubens, er wollte sie malen als Eva, nur mit einem lächerlichen welken Feigenblättchen bedeckt, und noch mehr wollte er der Adam neben ihr sein. Almas Mutter Anna bemerkte den neuen Schüler ihres Mannes nicht sofort. Manchmal braucht es bei Naturereignissen etwas Zeit, bis alle unumkehrbaren Abläufe in Gang gesetzt werden.

Eines Tages erwachte Alma von ihrem Mittagsschlaf und hörte leise Geräusche aus dem Schlafzimmer der Eltern. Ein leises Lachen, ein Gurren, ein Ton, den sie so noch nie zuvor gehört hatte.

Sie setzte sich schlaftrunken auf und rieb sich die Augen. Gretel war noch von tiefem Schlummer umfangen, sie schnarchte, sie war verkühlt, und die Luft entwich ihr leichter über den Mund als über die verstopfte Nase. Alma beugte sich angestrengt horchend nach vorne, bis ihre Knie an ihre schmale Kinderbrust stießen. Das Lachen verstummte, sie hörte ein leises Schnaufen, das sich gänzlich von dem Schnaufen neben ihr unterschied. Sie schlüpfte unter der Decke hervor und betrat den Gang. Im Gang sah sie, dass der lange dunkle Mantel des Vaters und seine Kopfbedeckung vom Haken in der Garderobe verschwunden waren, ebenso seine Lieblingsschuhe.

»Papa«, fragte sie, ohne Antwort zu bekommen.