Kursbuch 180 -  - E-Book

Kursbuch 180 E-Book

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Beschreibung

Das Bewusstsein der Unmöglichkeit eines vollständigen Weltwissens, wie Sokrates es einst konstatierte, galt lange als ultimative Erkenntnis. Doch diese Form des Nichtwissens lässt sich noch steigern! Der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erweiterte mit seinem legendären Zitat ("But there are also unknown unknowns") das Spektrum der Dinge, die wir nicht wissen, um die Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen. Im Kursbuch 180 "Nicht wissen" gehen deshalb unter anderem Harald Lesch, Jürgen Zöllner und Gregor Maria Hoff der Bedeutung von Nicht-Wissen in Physik, Medizin Religion auf den Grund. Mit Beiträgen von Armin Nassehi, Wolfgang Schmidbauer, Karsten Fischer, Werner Vogd, Jürgen Zöllner, Ernst Poppel, Harald Lesch, Paul Hahn, Gregor Maria Hoff, Hans Urlich Gumbrecht, Peter Felixberger, Marting G. Kocher, Andreas Zeuch, Colm Tóibín und Andrian Kreye.

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Inhalt

Armin Nassehi

Editorial

Andrian Kreye

Brief eines Lesers (10)

Armin Nassehi

Wenn wir wüssten!

Kommunikation als Nichtwissensmaschine

Wolfgang Schmidbauer

Muss der Partner einen Seitensprung gestehen?

Über das erfolglose Streben nach Symbiose

Karsten Fischer

Überwachen und steuern

Was der Staat nicht wissen darf und auch nicht wissen wollen sollte

Werner Vogd

Götter in Grau

Über das gestörte Verhältnis zwischen Arzt und Patient

Jürgen Zöllner

Sterben müssen wir alle

Nichtwissen in der Medizin

Ernst Pöppel

Ich habe keine Ahnung

Nichtwissen in der Hirnforschung

Harald Lesch

Warum bin ich ein Mensch?

Nichtwissen in der Physik

Paul Hahn

Learning

Gregor Maria Hoff

Gott im Verzug

Nichtwissen in der Religion

Hans Ulrich Gumbrecht

Pep Herberger

Sport als Medium von Erregungssteigerung

Peter Felixberger

Die Stunde der Blender

Über die letzten Geheimnisse echter Autorität

Martin G. Kocher

Richtig falsch

Verzerrungen, Abweichungen und Fehler bei der Entscheidungsfindung

Andreas Zeuch

Im Tal der Ahnungslosen

Intuition als strategisches Wissen

Colm Tóibín

Zwei Frauen

Eine Erzählung

Anhang

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi

Editorial

Wenn man genau hinsieht, hängt die Latte des Wissens sehr hoch – nicht wenn wir im Alltag Wissen anwenden, aber wenn wir etwas übers Wissen wissen wollen und darüber räsonieren. Warum also nicht am Anfang die Latte wirklich hoch hängen? Wie hoch die Erwartungen ans Wissen letztlich sind, zeigt sich schon in der aiken Philosophie. Schon Platon – darunter machen wir es nicht, wenn wir die Latte wirklich hoch hängen – unterscheidet zwischen episteme und doxa, also zwischen dem Wissen und dem bloßen Meinen; das Erste unfehlbar und wahr, das Zweite bloß plausibel und fehlbar, das Erste also wirklich echtes, wahres Wissen, das Zweite ein Alltagswissen, das hinreicht, um das tägliche muddling through zu bewältigen. Diese Unterscheidung sollte sich in Variationen in der ganzen abendländischen Denkgeschichte halten und findet in Kants Kritik der reinen Vernunft ihre berühmteste Formulierung. Kant unterscheidet hier drei Weisen des »Fürwahrhaltens«, nämlich Meinen, Glauben und Wissen. Danach ist das Meinen ein sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Es hält weder einer objektiven Prüfung stand, noch ist es subjektiv angemessen, es ist gewissermaßen beliebig, zufällig, idiosynkratisch, bedeutungslos. Glauben dagegen ist zwar immer noch objektiv unzureichend, aber subjektiv sehr wohl angemessen. Es mag also objektiv unzureichend sein, die Auferstehung des Fleisches oder die schicksalhafte Macht der – Vorsicht: Pleonasmus! – Sternenkonstellation zu behaupten. An sie zu glauben aber sei subjektiv angemessen, wenn man Glaubens- von Wissensfragen unterscheiden kann. Wissen schließlich ist für Kant nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv zureichend, will heißen: Wirkliches Wissen bildet die Welt letztlich ab, wie sie wirklich ist, letztlich unabhängig von dem Beobachter, der etwas über die Welt weiß. Es kann dann durchaus Wissensfortschritt geben, aber kaum konkurrierendes Wissen über denselben Gegenstand.

Kant geht es tatsächlich ganz explizit um die Frage der objektiven Gewissheit »für jedermann« – aber den entscheidenden Satz übers Wissen erwähnt Kant eher en passant, wenn er betont, dass die Grundlage seiner eigenen Transzendentalphilosophie sich den strengen Kriterien objektiver und subjektiver Angemessenheit des Wissens entzieht. Für sie sei Meinen zu wenig, »aber Wissen auch zu viel«. Und diese Einschränkung verschärft sogar noch die Bedingungen für angemessenes Wissen und hängt die Latte in der Tat sehr hoch. Also selbst dort, wo es um die Bedingungen der Möglichkeit dafür geht, was Wissen bedeutet und was man wirklich wissen kann, steht einem kein Wissen zur Verfügung – und wenn Kant damit auch nur einen methodischen Hinweis auf die Transzendentalphilosophie gibt, so enthält diese Bemerkung doch einen starken empirischen Gehalt: Alles Wissen, das wir verwenden, verwenden wir im Horizont von Ungewissheit. Wissen ist also stets mit einem negativen Vorzeichen versehen, ob wir wollen oder nicht. Wer vom Wissen spricht, spricht also auch vom Nichtwissen.

Darum geht es in diesem Kursbuch – darum, wie prekär, wie vorläufig, wie unvermeidlich und manchmal: wie wünschenswert Nichtwissen ist. Stellen wir uns einen Markt vor, auf dem alle vollständiges Wissen hätten. In diesem Fall würde der Markt zusammenbrechen, weil alle das Gleiche tun würden – und schon würde aus dem richtigen, vollständigen Wissen falsches Wissen, und das gilt nicht nur auf Märkten. Vielleicht ist die größte Herausforderung fürs Wissen heute die, dass wir das Objekt des Wissens nicht mehr einfach voraussetzen können – nicht mehr einfach heißt: Der Gegenstand ist so komplex, dass sich die Bedingungen fürs Wissen schneller ändern als das, was man darüber wissen kann – und dann können sie auch noch Unterschiedliches bedeuten. Das macht nicht einmal vor dem Nichtwissen halt, denn dies ist ja nicht einfach die Negation eines »subjektiv und objektiv angemessenen Fürwahrhaltens«, sondern eher der praktische Modus, in dem wir mit dem Wissen umgehen.

Wolfgang Schmidbauer, Karsten Fischer und Andreas Zeuch stellen ganz ähnliche Fragen zu sehr unterschiedlichen Gegenständen: Schmidbauer hat Zweifel, ob der Liebespartner alles über erotische Abenteuer und Fantasien des anderen wissen sollte. Vielleicht sollte er es nicht einmal nicht wissen wollen. Karsten Fischer würde einen Staat, der alles über seine Bürgerinnen und Bürger wissen wollte, für ebenso übergriffig halten wie einen Liebespartner, der alles vom anderen wissen will. Und Andreas Zeuch sieht im fehlenden Wissen über alle Entscheidungsbedingungen gar keinen Fehler und macht Intuition sogar als Quelle für strategisches Wissen aus. Martin Kocher beschreibt ganz ähnlich, wie Verzerrungen und Abweichungen von Marktentscheidern vom Standardmodell des Homo oeconomicus keineswegs eine prinzipielle Störung darstellen, sondern letztlich den empirischen Normalfall unseres Entscheidungsverhaltens – nicht nur auf Märkten.

Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt in seinem Beitrag, wie sehr der Sport davon lebt, wie wenig wir vorher wissen können, wie ein Wettkampf ausgehen wird – und wie sehr sich deshalb gerade der Sport Methoden des Managements und der rationalen Planung nähert, um mit diesem Nichtwissen umgehen zu können. Dass es gerade hier auch viele Blender gibt, hatte Peter Felixberger wohl nicht im Blick, als er sich an seine Rekonstruktion jener Kränkung gemacht hat, dass die erfolgreichsten Wissensstrategien womöglich Blendgranaten sind. Die Stunde der Blender habe gerade erst begonnen – und im Visier hat er vor allem diejenigen, die öffentlichkeitswirksam behaupten können, wie sich die Dinge nun tatsächlich verhalten. Werner Vogd schließlich macht darauf aufmerksam, dass der Erfolg ärztlichen Handelns sich weniger an explizitem Wissen bemisst, sondern an einem praktischen Sinn, der jenes Vertrauen erzeugt, das den Mediziner für den Patienten erst zum Arzt machen kann.

Wir haben vier Autoren gebeten, explizit über das Nichtwissen in ihren Disziplinen Auskunft zu geben: Harald Lesch zeigt, wie in der Physik mit dem Wissen auch die Ungewissheit wächst; Jürgen Zöllner macht in der Medizin mehr Vermutungswissen als sicheres Wissen aus und begründet das mit der Komplexität des Gegenstandes, die allzu einfache Kausalitätsaussagen ausschließt; in ein ähnliches Horn stößt Ernst Pöppel, der Nichtwissen in der Hirnforschung mit dem Ausruf »Ich habe keine Ahnung«! einleitet und gerade in der bildverliebten Hirnforschung eine Sucht nach Ontologisierung ausmacht; und der Theologe Gregor Maria Hoff sieht in der Religion eine Agentin prekären Wissens.

Es bestätigt sich die kantsche Skepsis – wer über die Bedingungen des Wissens räsoniert, verliert sicheren Wissensboden. Dennoch: Gerade das Prekäre am Wissen setzt voraus, wissen zu wollen. Welche auch emotionale Kraft dieser Wille entfaltet, zeigt sich in den Bildern des Fotografen Paul Hahn, die Schul- und Lernszenen unter anderem in Afrika und Indien zeigen. Bildung ist wahrscheinlich immer noch das einzige Mittel, mit Wissen und Nichtwissen zugleich umgehen zu lernen.

Sehr freuen wir uns über die kleine Erzählung Zwei Frauen des irischen Autors Colm Tóibín. Deren letzter Satz lautet: »Ja, so hat es wohl ausgesehen«, sagte Frances. »So hat es wohl ausgesehen.« Wie es wirklich war, sagt das nicht, nur wie es ausgesehen hat – irgendwie eine Parabel auf das Nichtwissen des Wissens.

Andrian Kreye hat den Stab »Brief eines Lesers« aufgenommen und gibt ihn mit der nun zehnten Variante weiter.

München, im November 2014

Armin Nassehi

Andrian Kreye

Brief eines Lesers (10)

Man landet beim Nichtwissen nicht mehr zwangsläufig bei Sokrates’ unzählige Male um- und fehlgedeutetem »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Das geläufigste Zitat der jüngeren Geschichte stammt vom damaligen amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der im Februar 2002 während der Vorbereitungen für den Irakkrieg bei einer Pressekonferenz jenen Satz prägte, der zunächst als eine der rhetorischen Verkrampfungen abgetan wurde, mit der die Bush-Regierung so ziemlich jede Ungeheuerlichkeit schönredete, später aber als in sich logisch und schließlich vom Star der linken Philosophie Slavoj Žižek als durchaus bedenkenswert rehabilitiert wurde: »There are known knowns. There are things we know that we know. There are known unknowns. That is to say, there are things that we now know we don’t know. But there are also unknown unknowns. There are things we do not know we don’t know.«

Legendär wurde das Zitat weniger wegen der Binse vom Gegensatz zwischen den bekannten Bekannten, den Dingen, von denen wir wissen, dass wir sie wissen, und den bekannten Unbekannten, jenen Dingen, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Rumsfelds rhetorische Wunderwaffe waren die unbekannten Unbekannten, jene Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen. Was damals lächerlich wirkte, sollte in den folgenden Jahren zu einem Leitmotiv werden.

Die Neugier war also groß auf das Inhaltsverzeichnis des neuen Kursbuches zum Thema Nichtwissen. Man erwartet ja doch viel von einer Institution der Ideengeschichte in diesem Lande, wenn es sich um einen Zustand handelt, der im bildungsbürgerlichen Deutschland und Europa immer noch als Mangel und Makel behandelt wird. Die französische Kulturministerin Fleur Pellerin wurde erst im Herbst arg gezaust, weil sie bei einem Fernsehinterview von einem Mittagessen mit dem frisch gekürten Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano geschwärmt hatte, ihr dann aber kein einziger Buchtitel aus seinem Werk einfiel. Die Frage, wie viel ein Minister eigentlich nicht wissen darf, hatte sich ja gerade erst gestellt, als Günther Oettinger zum EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft berufen wurde, obwohl er sich bisher nur als Energiepolitiker profiliert hatte. Da prallten das humboldtsche Bildungsverständnis und der Hyperpragmatismus der Politik mit Wucht aufeinander.

Nur langsam wird dieser Reflex von jenen unbekannten Unbekannten überholt, die den Lauf der Geschichte längst so viel drastischer bestimmen als die bekannten Unbekannten. Es sollte nach Rumsfelds Zitat noch einmal sechs Jahre dauern, bis das ganze Ausmaß der unbekannten Unbekannten deutlich wurde. Das war im Herbst 2008, als der Zusammenbruch der Lehman-Brothers-Investmentbank die Weltwirtschaft in die Knie zwang. Es war in diesem Moment der Verzweiflung, dass sich die Welt von den traditionellen Wirtschaftswissenschaften abwandte, die so oft den Anspruch gehabt hatten, die Risiken zumindest der bekannten Unbekannten kalkulieren zu können.

Es war das Buch des Mathematikers und Philosophen Nassim Nicholas Taleb Der Schwarze Schwan, das damals neu entdeckt wurde. Taleb war es auch gewesen, der Rumsfeld zu seinem erst einmal bizarren Zitat inspiriert hatte. Taleb hatte den Schwarzen Schwan als Sinnbild für jene neue Dimension des Nichtwissens geschaffen, die so viel weiter geht, als die klassische Definition des Sokrates, die das Nichtwissen zumindest im vereinfachten geflügelten Wort als Erkenntnis der bekannten Unbekannten meinte.

Talebs Schwarzer Schwan ist das vollkommen unvorhergesehene, fast unmögliche Ereignis, das alles verändert, gerade weil niemand das Phänomen und damit auch seine Folgen zuvor kennen konnte. Er geht in seiner Analyse des ultimativen Nichtwissens, des Schwarzen Schwans, sehr weit, dem Menschen eine prinzipielle Unfähigkeit des klaren Denkens zu unterstellen. Aber genügt das klare Denken alleine, um angesichts solcher Unwägbarkeiten weiterzukommen?

Man sucht ja dann immer gleich in der eigenen Biografie, um ein Phänomen anekdotisch zu untermauern. Als Reporter hat man da in der Regel einen großen Schatz an Extremsituationen. Es gibt zum Beispiel kaum einen besseren Ort, nichts zu wissen, als einen Tisch bei der Dinnerparty eines New Yorker Wissenschaftsphilanthropen, an dem der einzige Gast, der außer einem selbst keinen Nobelpreis hat, der Mathematiker Marvin Minsky ist, der vor nun fast schon 60 Jahren den Begriff der künstlichen Intelligenz erfinden konnte, weil er die Intelligenz wissenschaftlich definierte. Als Reporter sucht man sich in Extremsituationen ja in der Regel erst einmal einen sicheren Ort, um zu beobachten. An einem amerikanischen Dinnerpartytisch gibt es allerdings kein Entkommen. Was also tun als europäischer Bildungsbürgersohn, der den Makel des Nichtwissens von Erziehung und Bildungswesen früh in die soziale DNA eingepflanzt bekam? Es war dann auch erst einmal die Rede von Methoden zur Zellforschung, biochemischen Prozessen der Sehkraft und neuen Erkenntnissen zu schwarzen Löchern.

Nun sind Naturwissenschaftler in der Regel nicht unbedingt Anhänger, aber meist Vertreter jenes humboldtschen Bildungsverständnisses. Kein Naturwissenschaftler würde sich damit brüsten, keine Ahnung von Shakespeare zu haben. Umgekehrt sind sie es gewohnt, dass die Allgemeinbildung in Europa und Amerika bisher vor allem von den Geisteswissenschaften geprägt wurde. Die Neugier ist also in der Regel groß, wenn man in eine solche Runde stößt, gerade wenn man sich mit Kultur und Politik beschäftigt. Die Unterhaltung landete dann auch schon bald bei den zwei größten aller schwarzen Löcher, der damals noch akuteren Wirtschaftskrise und dem Klimawandel. Was aber gibt es für Wissenschaftler Interessanteres als ein System, in dem alle bisherigen Theorien versagen, in dem es nur Rätsel gibt, kaum Antworten?

Daniel Kahneman saß an diesem Abend mit am Tisch, Mitbegründer der Verhaltensökonomie, auf die sich die Welt mangels besserer Erklärungsmodelle gestürzt hatte. Es war vor allem Kahnemans Erwartungstheorie, in der das ganze Elend der überhitzten Märkte zu liegen schien. Im dunkel getäfelten Saal der großen Villa mit den großen Tischen voller Wissenschaftler wäre es durchaus der Rahmen gewesen, die Theorie in Stellung zu bringen.

Doch der Abend verlief ganz anders. Fragen wurden gestellt und immer wieder aufs Neue Fragen. Die Souveränität, mit der die Wissenschaftler ihr Nichtwissen umkreisten, zog einen in den Bann. Und schließlich ins Gespräch. Da war diese Entdeckerlust, die man längst in der Vergangenheit wähnte, diese Begierde, immer weiter ins Unbekannte vorzustoßen, dort immer neue weiße Flecken zu entdecken, und ja, auch schwarze Löcher.

In den letzten Jahren sind Nassim Talebs Schwarze Schwäne immer zahlreicher geworden. Auf die erste Wirtschaftskrise folgten die Enthüllungen von Wikileaks, die Umwälzungen der arabischen Welt, die Eurokrise, Edward Snowdens Enthüllungen der Komplettüberwachung der Welt durch die NSA, der Ausbruch der Bürgerkriege im Nahen Osten, die Krise in der Ukraine und auf der Krim, der Aufstieg des Islamischen Staates, die Ebola-Seuche. Mit nichts von alledem hatte man gerechnet. Mit nichts von alledem wusste die Welt etwas anzufangen. Es schien, als sei nicht Francis Fukuyamas Ende der Geschichte gekommen, sondern das Ende der Gewissheiten.

Nun also das neue Kursbuch zum Thema. Ein Dutzend Texte kreist da um das Nichtwissen. Es ist wie immer der reine publizistische Luxus, dass sich die Autoren in so unterschiedlichen Formen wie der Erzählung, dem Fotoessay oder der wissenschaftlichen Betrachtung einem Thema nähern, das so komplex und dramatisch den Zeitgeist bestimmt. Da sprüht diese Neugier aus den Seiten, die auch jene Dinnerparty trug, bei der sich die Wissenschaften gegenseitig auf neue Spuren halfen. Und darum geht es letztendlich auch in diesem Band – um eine Spurensuche, die nicht zwangsläufig in der Erkenntnis enden muss. Es reicht schon, wenn die Richtung stimmt.

Armin Nassehi

Wenn wir wüssten!

Kommunikation als Nichtwissensmaschine

Eines der schönsten Kinderspiele ist die »Stille Post«. Einer beginnt und flüstert dem Nächsten ein Wort oder einen Satz ins Ohr, und am Ende wird dann geprüft, ob tatsächlich das herausgekommen ist, was der Erste gesagt hat. Dieses bisweilen lustige Kinderspiel klingt sehr harmlos, und doch variiert es die vielleicht wirkmächtigste Kommunikationstheorie des 20. Jahrhunderts, nämlich das Verständnis von Kommunikation als Relation von Sender und Empfänger. Sender und Empfänger werden durch die Informationsübertragung unterschieden. Wenn also der erste Sprecher »Mist« ins Ohr des zweiten flüstert und dieser »List« weitergibt und der Dritte dem Vierten eine »Lust« anvertraut, dann lässt sich darauf schließen, dass die Kommunikation insofern gestört ist, als das Signal nicht genau genug war.

Es ist auf dem Weg vom Ersten über den Zweiten und Dritten zum Vierten etwas verloren gegangen, Präzision nämlich, denn in einem wirklich gelungenen Kommunikationsprozess müsste auch der Letzte noch »Mist« hören. Für solch einen Kommunikationsprozess steht letztlich die technische Übertragung von Signalen Pate – also etwa die Übertragung über ein Kabel oder über Funk, bei der ja in der Tat meistens etwas verloren geht. Es entsteht im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Rauschen, weil entweder der Sender nicht genau chiffriert hat oder der Empfänger nicht mit dem gleichen Algorithmus dechiffriert hat oder auf dem Übertragungsweg Bandbreite verloren gegangen ist. Was wir im Radio hören, ist nie so gut wie das, was in das Mikrofon gesprochen wurde – zunächst nur bezogen auf die Tonqualität –, und doch richten wir uns irgendwie darin ein, mit einer gewissen Unschärfe umzugehen. So werden Kommunikationskanäle dahin gehend eingerichtet, dass ihre Bandbreite der Differenziertheit und Tiefe des Signals entsprechen muss. Für die Übertragung einer Morsenachricht reicht tatsächlich ein Kanal aus, der Aktivität von Nichtaktivität unterscheiden kann, während die Stereoübertragung eines Symphoniekonzerts eine erheblich komplexere oder wenigstens dichtere Übertragungsform und -rate erfordert. Im Übrigen ist das Morsealphabet oder die binäre Darstellung von Zahlenwerten gerade dafür erfunden worden, mit möglichst einfachen Übertragungswegen auszukommen, während im Falle der Übertragung eines Symphoniekonzerts sich die Übertragungstechnik dem Übertragungszweck anpasst. Es gibt Technikfreaks, die bestimmte Musikaufnahmen oder auch Töne nur hören, um messen zu können, ob etwas und, wenn ja, was auf dem Übertragungsweg von einer Schallplatte oder CD-ROM über einen Verstärker bis zu den Lautsprechern verloren geht. Wer je solche Freaks über schlichte Lautsprecherkabel hat fachsimpeln hören (Material, Abschirmung, Querschnitt und so weiter) und wer sich schon einmal über den Meterpreis solcher Kabel gewundert hat, weiß, wovon hier die Rede ist.

Bis dato war nur vom Übertragungsweg die Rede. Natürlich kommt es auch auf Sender und Empfänger an. Man sagt dann, dass Verschlüsselung und Entschlüsselung nach den gleichen Regeln, in den gleichen Frequenzen oder in der gleichen Sprache erfolgen muss. Wer nicht »Mist«, sondern »rubbish« sagt, kommt weniger wahrscheinlich zum Missverständnis »List«, sondern hört dann vielleicht »rabbit«, und der nächste dann »Hobbit«. Also sogar das Missverständnis hängt davon ab, dass man mit ähnlichen Chiffrierungen, etwa einer Sprache, hier des Deutschen oder des Englischen, oder im Falle anderer Übertragungswege analoger oder digitaler Signale, Frequenzen oder sonstiger Einheiten arbeitet. Kommunikation in dem Sender-Empfänger-Modell ist davon abhängig, dass Sender und Empfänger auf der gleichen Frequenz senden und empfangen, und zugleich ist sie davon abhängig, dass möglichst wenig zwischen Sendung und Empfang verloren geht oder durcheinanderkommt.

Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation

Das ist freilich eine allzu simple Darstellung, denn hier würde Kommunikation gar nicht erklärt, sondern das größte Problem der Kommunikation bereits als gelöst vorausgesetzt, nämlich: dass auf denselben »Frequenzen« gesendet und empfangen wird. Doch die Sache ist komplizierter, und deshalb lohnt es sich, auf die aus den 1940er-Jahren stammende mathematische Kommunikationstheorie von Claude Shannon und Warren Weaver zu sprechen zu kommen.1 Shannon und Weaver haben versucht zu zeigen, dass Kommunikation nur zustande kommt, wenn aus Signalen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit Informationen generiert werden können – die Wahrscheinlichkeit richtet sich danach, ob die Signale sich einer mit den Mitteln des Empfängers dechiffrierbaren Ordnung fügen, die wiederum als Ordnung für den Empfänger plausibel sein muss. Das bedeutet, dass Kommunikation nicht einfach eine Übertragung von Informationen sein kann, weil Informationen nichts anderes sind als Kalkulationen im Hinblick auf andere mögliche Lösungen.

Wer also Funksignale aus dem All danach abscannt, ob sie womöglich von intelligenten Lebensformen stammen könnten, wird sie im Hinblick auf eine Ordnung im Vergleich zu anderen möglichen Ordnungen ordnen. Und wer versucht, herauszubekommen, was sein Mitmensch – Arbeitskollege, Liebespartner, Steueranwalt, Nachrichtensprecher – gerade mitteilt, wird die Signale auf Muster beziehen, die ihm selbst wahrscheinlich erscheinen, und entsprechend einordnen. Was Shannon und Weaver als mathematische Kommunikationstheorie bezeichnen, ist also das Kalkül, mit dem die Wahrscheinlichkeit des Signals von einem Empfänger berechnet wird.

Den beiden Pionieren der Kommunikationstheorie ging es zunächst um die technische Übertragung von Signalen, aber auch die semantische Form der Kommunikation, etwa in natürlicher Sprache, arbeitet sich an Wahrscheinlichkeiten von Bedeutungen ab. Das hätte man bereits aus der klassischen Hermeneutik wissen können, denn wenn sprachliche Äußerungen – von der einfachen Äußerung eines Mitmenschen bis zu göttlich geoffenbarten heiligen Schriften – unterschiedlich verstanden werden können, unterliegen Verstehensprozesse letztlich einem Wahrscheinlichkeitsmanagement der angemessenen Bedeutung, was immer und wer auch immer die jeweilige Angemessenheit kalkuliert.

Das Sender-Empfänger-Modell dieser klassischen Kommunikationstheorie ist also keineswegs so simpel, wie es sich zunächst anhört, denn es wird nicht einfach ein Signal übertragen, sondern es wird darauf hingewiesen, wie voraussetzungsreich es ist, dass Signale als Signale rezipiert werden. Die Grundbedingung der Kommunikation – symbolisiert in der Metapher der gemeinsamen »Frequenz« – kann also nicht vorausgesetzt werden, sondern muss im Prozess der Kommunikation erzeugt werden.

Shannons und Weavers Verdienst ist es also, auf die Unschärfe der Kommunikation hingewiesen zu haben. Sie haben letztlich sogar gezeigt, wie unwahrscheinlich Kommunikation ist, eben weil Kommunikationsprozesse stets mit der Unschärfe der Informationsübertragung umgehen müssen und gerade der Empfänger nicht einfach ein passiv empfangendes Gefäß ist. Auch das Empfangen von Signalen ist ein aktiver Prozess, der vor dem Hintergrundrauschen möglicher Signale dasjenige identifizieren muss, das insofern einen Unterschied macht, als es eine Information sein kann – oder muss man formulieren: einen Unterschied identifizieren, der dann einen Informationswert hat? Letztlich ist das egal, wenn nur darauf geachtet wird, dass auch der Empfang aktive Qualitäten haben muss. Das Übertragungsmodell Sender-Empfänger meint also streng genommen gar keine Übertragung, weil der Sender nur übertragen kann, wenn der Empfänger empfangsbereit oder -fähig ist. Das ist uns in unserer stark technisierten Welt heute vielleicht plausibler, als es zu Shannons und Weavers Zeiten war: Wir ärgern uns permanent mit technischem Equipment herum, das irgendwie kompatibel sein oder gemacht werden muss mit anderem technischem Equipment, wobei die Kompatibilität beziehungsweise die connectivity noch nicht die Kommunikation ersetzt, sondern bloß die Bedingung ihrer Möglichkeit darstellt. Letztlich aber halten wir Kommunikation dann für gelungen, wenn es so aussieht, als handle es sich um einen nachgerade verlustfreien Prozess von A nach B.

So gehen wir im Alltag öfter als selten davon aus, dass unser Gegenüber uns versteht und wir unser Gegenüber verstehen. Wir sind sogar so sehr darin geübt, dies kontrafaktisch vorauszusetzen, dass wir im Alltag mit vergleichsweise unscharfen Signalen umgehen können. Auch hier richtet sich die Notwendigkeit der Bandbreite von Kommunikationskanälen nach der Informationstiefe. Ein rotes Licht reicht schon, um uns dazu zu veranlassen, unser Automobil zum Stehen zu bringen. Und wenn uns im Zug der Schaffner auf Erschleichung des Wegeentgeltes prüft, dann reicht es schon, sein Gemurmel von dem der anderen Fahrgäste unterscheiden zu können, um die Fahrkarte zu zücken, während eine halbe Stunde zuvor die Wegeauskunft, wie man zum Bahnhof kommt, eine ziemlich genaue Übertragungsrate erfordert, um nicht eine Abzweigung zu übersehen, die dann alle anderen nachfolgenden Abzweigungen ihres Sinnes beraubt. Das war übrigens auch eine der Intentionen von Shannon und Weaver – mit einer mathematischen Kommunikationstheorie mitberechnen zu können, wie viel Störung in der Kommunikation tolerabel ist, woraus sich dann die technische Einrichtung von Signalstärke, -art, -tiefe und -bandbreite kalkulieren lässt. Kommunikation hat es also weniger mit einem Übertragungsmanagement im engeren Sinne zu tun, sondern mit einer besonderen Form des Unschärfemanagements. Mit genau dieser Unschärfe oder besser mit einer künstlichen Herstellung von Unschärfe arbeitet nun die »Stille Post«. Man muss flüstern, was das Signal undeutlicher macht, und vor allem durch die anderen Sprecher unbeobachtbar. Für alle beobachtbar bleibt dann nur das, was der letzte Sprecher gehört hat, und das, was der erste Sprecher dann als Ausgangspunkt des Spiels preisgibt – in unserem behelfsweise sehr kurzen Fall »Mist« –, und der vierte dann vielleicht »Luft« als das angibt, was er gehört hat, nachdem der dritte, wir erinnern uns, die »List« zur »Lust« geformt hat.

Nichtwissen als Kommunikationsmittel

Die Reihe »Mist – List – Lust – Luft« zeigt (und das ist auch das, was das Spiel dann sogar pädagogisch wertvoll erscheinen lässt und trotzdem Spaß macht), dass man weder von »Mist« auf »Luft« schließen kann, genauso wenig aber von »Luft« auf »Mist«, von den jeweiligen Zwischenstationen ganz zu schweigen. Anders gesagt: Der erste Sprecher kann nicht wissen, was der zweite Sprecher hört und weitergibt, und er kann noch weniger wissen, was der letzte Sprecher dann als den Endpunkt der Reihe angeben wird. Und wenn man nur diesen Endpunkt kennt, also »Luft«, gibt es letztlich keinen Algorithmus, der uns wissen lassen kann, was denn der Ausgangspunkt war. Selbst wenn der letzte Sprecher als Ergebnis »Mist« präsentieren würde, wüssten wir nicht einmal, ob denn in den Zwischenstationen nicht andere Begriffe aufgetaucht sind. Die Reihe »Mist – List – Lust – Luft« ist nicht prinzipiell wahrscheinlicher, als die Reihe »Mist – List – Luft – Mist« weniger unwahrscheinlich gewesen wäre.

Wenigstens lässt sich die Sache nicht wirklich berechnen, aber schon die Tatsache, dass man sie berechnen müsste, ist ein Hinweis darauf, dass man sich eben nicht darauf verlassen kann, dass »Mist« eher auf »Mist« verweist, als »Luft« es nicht tut. Und das ist vielleicht das, was das Interessanteste an der Kommunikation ist – wie mit ihrer Unschärfe umzugehen ist und wie wenig das etwas mit Störung oder Imperfektibilität zu tun hat. Man muss sich nur vorstellen, Kommunikation würde in diesem Sinne störungsfrei funktionieren – es wäre nicht nur so, dass die »Stille Post« unfassbar langweilig würde, in unserem Falle wäre das Ergebnis buchstäblich »Mist«. Es würde nicht einmal Langweiligkeit registriert werden können, weil all das nur in einer ihrerseits völlig langweiligen Welt funktionieren würde, in einer Welt, in der wir tatsächlich alles immer schon genau wissen beziehungsweise wissen könnten, zumindest in der Weise, wie dieses Wissen als Wissen kommuniziert würde. Dabei weist die »Stille Post« ja nicht nur auf Störung, sondern auch auf Kreativität hin – und das dürfte etwas sein, auf das die meisten pädagogischen Beobachter eines solchen Spiels kaum kommen werden, denn zur déformation professionnelle von Pädagogen gehört es üblicherweise, dass sie nur an Störungen und Abweichungen orientiert sind, mit dem Ziel, diese möglichst bald zu beseitigen.

Aber was wäre, wenn Kommunikation tatsächlich nur eine Übertragung wäre? Wer hätte es noch nicht erlebt, dass sich manche Dinge nur sagen lassen, weil sie in Kommunikationsprozessen Unschärfe nutzen? Kommunikation – zwischen Liebespartnern, in der Familie, in Meetings in Unternehmen, Universitäten, Verlagen, Kirchen, vor Gericht und in therapeutischen Settings – lohnt sich doch nur, weil man prinzipiell nicht wissen kann, was dabei herauskommt. Und zugleich ist das auch der Funktionssinn von Kommunikation. Ich zumindest erlebe an mir selbst oft, dass ich mit, vor und gegen andere, vor allem in mehr oder weniger hitziger Echtzeit, Sachen sage, auf die ich selbst nie kommen würde. Nicht selbst meint: Ohne den Interpretationsspielraum und ohne die Unschärfe der Kommunikation hätte es gar keine Anreize für Signale gegeben, die sich ihrerseits um die Wahrscheinlichkeit bestimmter Auslegungsordnungen hätten kümmern müssen.

Auf etwas zu kommen, auf das man ohne Kommunikation kaum gekommen wäre, geht nur deshalb, weil man gerade in der Kommunikation nicht wissen kann, was als Nächstes folgt, zumindest gilt das nur für sehr wenige Situationen, die man dann sogar sehr voraussetzungsreich organisieren muss. Man denke etwa an religiöse Liturgien mit ihren rituell festgelegten Ereignissen oder an festgelegte Verfahren im Recht oder im Sport – was aber letztlich auch wiederum nur dazu dient, dass in solchen Situationen das Unerwartete mit einiger Wahrscheinlichkeit ausgestattet wird. Das gilt etwa für religiöses Erleben oder göttliche Eingebung während der Liturgie, als Wahrheitsfindung in einem Gerichtsprozess vor dem Hintergrund erwartbarer Verfahrensregeln oder als genialer Spielzug im Sport, dessen Unwahrscheinlichkeit ja nur auf dem Boden festgelegter sportlicher Liturgien möglich ist.

Wer sich auf Kommunikation einlässt, muss auf Wissen verzichten – zumindest in dem Sinne, dass man in Kommunikationsprozessen eben nicht wissen kann, wie sie ausgehen. Kommunikation ist also ebenso riskant wie unvermeidlich. Unvermeidlich ist sie, weil, sobald man in Kontakt mit jemandem tritt, Verhalten als Kommunikation zugerechnet wird, auch Nichtverhalten. Riskant ist sie, weil Kommunikation immer ein Moment Offenheit enthält, eine gewisse Abweichungswahrscheinlichkeit, eine requisite variety, wie es in der Kybernetik heißt2 – und all das bloß als Störung anzusehen, würde verkennen, wie unscharf jeglicher soziale Kontakt sein muss, damit es irgendwie weitergeht.

Kommunikation ist ein Gegenwartsoperator, das heißt, er findet immer jetzt, immer in einer Gegenwart statt, immer wenn es gerade geschieht, und reicht dann in eine unbekannte Zukunft hinein, in der erst darüber entschieden wird, was wo wie ankommt – eingedenk der oben bereits dargelegten Tatsache formuliert, dass ja nichts ankommt, sondern woanders anders verarbeitet wird. Die Formenvielfalt einer Kultur und einer Gesellschaft ist also letztlich davon abhängig, die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation zu nutzen, um sich an sich verändernde Bedingungen ihrer selbst und ihrer Umwelt einstellen zu können. Nicht gelingende Kommunikation im Sinne des Verlusts an Signaleindeutigkeit bei der Übertragung von Signalen, sondern die Unschärfe und Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation ist es, was Lernen, was neue Erfahrungen, was Erfindungen, was produktive Unruhe ermöglicht.

Von Kommunikation zu profitieren, heißt eben nicht, dasselbe zu verstehen wie der erste Sprecher. Profitabel ist die Abweichung. Lohnend ist das Nichtwissen dessen, was als nächster kommunikativer Akt entsteht. Übrigens wissen wir meistens genau deshalb das, was wir meinen, erst, wenn wir es gesagt haben beziehungsweise wenn wir mit den Reaktionen auf das konfrontiert werden, was wir eigentlich gar nicht sagen wollten – in dem Sinne, dass wir die Reaktion des anderen in der Kommunikation nicht wissen und deshalb auch nicht kontrollieren können. Dass wir in einem elementaren Sinne nicht wissen können, wie Kommunikation weitergeht, ist vielleicht die entscheidende Signatur der Moderne, die wie keine frühere Epoche auf Kommunikation setzt.

Nicht dass in früheren Gesellschaften nicht geredet worden wäre – ganz im Gegenteil: Die Überlieferung in früheren Gesellschaften war viel näher an mündlicher Überlieferung gebaut, basierte auf Erzählungen, die sich in der Wiederholung unmerklich verändert haben und darin eine kontinuierliche Welt ermöglicht haben, die sich durch Wiederholung einerseits stabilisieren, andererseits durch möglichst langsame Veränderung durchaus wandeln konnten, ohne dass man das wirklich registrieren musste. Kultureller Wandel war langsam und eher ereignisarm, sodass zwar viel gesprochen wurde, aber eher wenig Kommunikation stattgefunden hat. Kommunikation wird erst dort relevant, wo es um Anschlüsse geht, also dort, wo es nicht in erster Linie um Tradierung geht, sondern um einen expliziten Umgang mit Unschärfe.

Die frühen Kommunikationstheorien waren womöglich noch zu sehr an der Tradierung, also an der Frage der störungsfreien Übertragung von Informationen orientiert, aber sie enthielten bereits das, worum es Kommunikation letztlich funktional geht: mit jener Unschärfe umzugehen, die mit der Differenz von Perspektiven (Sender, Empfänger, Sprecher, Interessen et cetera) immer verbunden ist. Gerade deshalb sind theoretische Bemühungen im 20. Jahrhundert immer wieder auf Kommunikation als dasjenige Medium gestoßen, in dem sich Sinn und Bedeutung, Wille und Vorstellung, Wahrheit und Richtigkeit ermitteln lassen. In der Philosophie hat ein linguistic turn stattgefunden, der den Gegenstand nicht mehr im Sein oder im Bewusstsein auffindet, sondern in sprachlichen Ausdrücken. Jürgen Habermas hat diese sprachliche Wende hin zu einer sprachpragmatischen Wende radikalisiert: Es geht dann nicht um Sprache als System sprachlicher Ausdrücke, sondern um das Sprechen als konkrete Tätigkeit, in der sich mit sprachlichen Mitteln Sinn und Bedeutung herstellen lässt.3 Darin zeigt sich ein starker Glaube an die »sprachliche Verflüssigung« der Wirklichkeit, die davon leben soll, dass mit der Unschärfe unterschiedlicher Perspektiven ein Bedeutungs- und Sinngewinn erzielt werden kann. Auch hier entsteht ein kreativer, ein hermeneutischer Raum erst dadurch, dass aus Sprache als System aufeinander bezogener Zeichen Sprechen als pragmatische Anwendung von Zeichen wird, dessen Potenz gerade in der Unschärfe des Sprachgebrauchs liegt.

Was Kommunikation potent macht, ist, dass man nicht wissen kann, wie es ausgeht – was Kommunikation freilich auch zu einem Medium der Beschleunigung und der Krise macht, ist, dass es tatsächlich nie ausgeht. Kommunikation kann keinen natürlichen Endpunkt finden, keinen letzten Konsens und keinen letzten Dissens, keine endgültige Sachverhaltsfeststellung und keinen Ein-für-alle-Mal-Sinn – und zwar deshalb, weil man all das in der Kommunikation noch einmal als weitere Information lesen kann, an die man dann anschließen kann. Eine auf Kommunikation setzende Gesellschaft ist eine, die alles wissen will, aber nicht wissen kann, weil es immer weitergeht. Tröstlicherweise – oder auch: horribile dictu – bindet uns Kommunikation an konkrete Gegenwarten, die man nur in weiteren Gegenwarten auflösen kann. Man ist immer schon drin, und um aus der Kommunikation rauszukommen, muss man kommunizieren – und weiß dann nur noch, dass man nicht wissen kann, ob es nun genug ist. Meistens ist es nicht genug.

Deshalb ist die moderne Gesellschaft eine geschwätzige Gesellschaft, nicht stillzustellen, nicht zu entschleunigen, nicht mit letztem Wissen auszustatten, weil nichts das Letzte sein kann. Was waren das noch Zeiten, als es um die »letzten Dinge« gehen konnte! Die vier »letzten Dinge« – Tod, Gericht, Himmel, Hölle – sollten einmal das Ende aller Kommunikation markieren. Die bekannteste künstlerische Darstellung ist sicher Hieronymus Boschs Gemälde »Die sieben Todsünden« (ausgestellt im Prado, Madrid), in dessen Ecken die vier letzten Dinge abgebildet sind. Sie markieren Endgültigkeiten, an die man nicht mehr anschließen kann.

Aber auch das hat nichts genützt, denn auch über sie muss nun kommuniziert werden – und seitdem es auch in letzten Dingen keine Autoritäten mehr gibt, die Kommunikation zugunsten einfachen Weitererzählens stoppen können, werden alle letzten Dinge durch Kommunikation zu vorletzten Dingen, denn schon wenn die letzten Dinge gemalt sind, und dann auch noch mit all den Mittelalterzitaten eines Hieronymus Bosch mit seinen Dämonen und Bestiarien, muss man sie ansehen und anschließen. Insofern sind diese »letzten Dinge« dann selbst vom Gift der Anschlusskommunikation gebeizt. Kommunikation kann nicht aufhören. Selbst »letzte Dinge« sind keine »letzten Dinge«, wenn sie es nicht wirklich sind – also außerhalb der Kommunikation stattfinden. Sie geht weiter. Gerade weil man nicht wissen kann, wie sie weitergeht. Sie hört erst auf, wenn man es weiß – aber das ist gerade bei den »letzten Dingen« nur um die Paradoxie zu haben, dass man dann erst recht nichts mehr wissen kann (was wir freilich auch nicht so genau wissen).

Sagen und Meinen

Ich komme noch einmal auf die »Stille Post« zurück. An der Reihung der Worte »Mist – List – Lust – Luft« kann man schön lernen, wie Kommunikationsprozesse vom Nichtwissen darüber leben, wie es weitergeht, auch wenn es sich hier nur um eine spielerische Parabel handelt. Aber ein anderer Aspekt ist noch gar nicht angesprochen worden, der an dem Spiel auffallen sollte und der uns auf eine ganz andere Form des Nichtwissens stößt, die für Kommunikation konstitutiv ist. Das unverdächtige Kinderspiel spielt also mit einer Störung der Übertragungswege und erzeugt meistens lustigere Ergebnisse als das, was ich hier nun hilfsweise inszeniert habe – und doch kommt bei aller unverdächtigen Form ein Verdacht auf.