Kursbuch 217 -  - E-Book

Kursbuch 217 E-Book

0,0

Beschreibung

Dies ist ein Kursbuch über alternative Fakten. Es geht allerdings nicht darum, sich die Dinge so zurechtzulegen, wie man sie gerne hätte, nicht um fake news. Es geht um die Frage danach, ob die Dinge nicht nur anders denkbar, sondern auch anders sein können. Die Frage: "Was wäre, wenn ..." lässt sich natürlich nicht eindeutig beantworten, denn sie enthält immer schon eine sehr begrenzte Perspektive auf die Wirklichkeit. Sie suggeriert, dass man über die Wirklichkeit genau weiß, warum sie so geworden ist, wie sie gerade erscheint. Die Frage: "Was wäre, wenn ..." stellt vielmehr die Frage, was überhaupt ist, oder besser, wie wir uns einen Reim darauf machen. Die Frage verweist darauf, wie sehr unser Bild der Wirklichkeit nur ein Bild ist, das mit guten Gründen auch anders aussehen könnte. Gerne streiten wir uns darüber, was überhaupt der Fall ist – um so interessanter ist die Frage, wie die Dinge anders hätten sein können und ob es Alternativen zur bestehenden Welt gibt. So zeigt Alexandra Schauer, wie eine Analyse des Möglichkeitsinns, also des Denkens in anderen Möglichkeiten, zwischen einem "Alles-könnte-anders-Sein" und einem "Nichts-tun-Können" oszilliert. Sibylle Anderl zeigt an der Quantenphysik oder Stringtheorie, wie sehr die physikalische Beobachtung zunächst sich selbst im Blick hat, um überhaupt reflektieren zu können, worauf sich der Blick richtet und richten kann. Armin Nassehi wiederum diskutiert die Frage, welche unprüfbaren Kausalannahmen in allen Behauptungen beziehungsweise Diagnosen enthalten sind, die meinen, etwas über historische Verläufe sagen zu können, hätte sich ein bestimmtes Ereignis anders zugetragen. In den Intermezzi fragen dann Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit, was auf dem afrikanischen Kontinent anders sein könnte, wenn ... . Auch die Bilder von Michel Kreuz haben eine afrikanische Perspektive und rufen nach Alternativen. Judith Kohlenberger stellt sich eine humane Flüchtlingspolitik vor, Andreas Knie verweist auf ein für die autogerechte Stadt wegweisendes Urteil von 1966, Simon Strauss plädiert für eine optimistische, oder besser: weniger pessimistische Form der Beobachtung möglicher Alternativen, und Olaf Unverzart stellt "Was wäre, wenn ..."-Fragen mit je einem Bild. Peter Felixberger hat schließlich in seinem FLXX acht Begriffe erschaffen, gewissermaßen alternative Begriffe, alles Komposita mit ungewöhnlichen Wortkombinationen, etwa Lernbesinger, Kannprophet, Mehrverorter oder Überunser.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 161

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Armin Nassehi Editorial

Jan SchwochowEine Quelle, zwei GrafikenWas wäre, wenn zwei Drittel eine Diktatur zurückwollen?

Olaf UnverzartWasWäreWenn

Sibylle AnderlIst das wirklich möglich?Eine Erkenntnisreise in fremde Welten

Intermezzo Andreas KnieWas wäre, wenn die Autos verschwänden?

Alexandra SchauerWas nicht ist, aber sein könnteZum Möglichkeitssinn als gesellschaftsstrukturierender Kraft

Intermezzo Daniel Cohn-Bendit, Claus LeggewieWas wäre mit Afrika als Kontinent der Zukunft?

Intermezzo Judith KohlenbergerWas wäre, wenn Europa eine humane Flüchtlingspolitik betreiben würde?

Armin NassehiWas wäre, wenn was wäre?Über Nebenpfade, Nebenfolgen, Nebenstellen

Intermezzo Simon StraußWas wäre, wenn das Glas halb voll sein würde?

Robert JungkStatt auf den großen Tag zu wartenÜber das Pläneschmieden von unten. Ein Bericht aus »Zukunftswerkstätten«

Intermezzo Sebastian Klein, Kai ViehofWas wäre, wenn wir aufhören würden, Besitz anzuhäufen?

Berit Glanz | Islandtief (10)Wildlachse und SchwertwaleDie Berit-Glanz-Kolumne

Christian KirchmeierClippy’s ReturnGrundsätzliche Probleme von »Was wäre, wenn«-Erzählungen

FLXXWanted: Acht unbekannte Typen in freier WildbahnSchlussleuchten von und mit Peter Felixberger

Michel KreuzWestafrika, #

Die Autoren und Autorinnen

Impressum

Armin Nassehi Editorial

Dies ist ein Kursbuch über alternative Fakten – aber nicht, was Sie denken. Es geht nicht darum, das Geschäft der Schwurbler zu übernehmen und sich die Dinge so zurechtzulegen, wie man es gerne hätte, nicht um fake news. Es geht nicht um den strategischen Einsatz der Unwahrheit, sondern um die Frage danach, ob die Dinge auch anders denkbar, und nicht nur anders denkbar, sondern auch anders sein können.

Es geht darum, ob es alternative Varianten der bekannten Wirklichkeit hätte geben können, wenn … Dieses »wenn« zielt auf die entscheidende Frage, die sich schon im Alltag oft stellt. Wer hat sich nicht schon gefragt, was gewesen wäre, hätte man diese Idee schon früher gehabt, hätte man jene Entscheidung anders getroffen oder wäre irgendein Zufall nicht eingetreten? Im Guten wie im Schlechten. Gerade im Schlechten neigt man dazu, zu glauben, dass alles gut geworden wäre, wären die Weichen anders gestellt worden.

Aber die Schwierigkeit fängt nicht erst bei den Alternativen an, sondern schon bei dem, was ist. Alles, was ist, kennen wir nur aus unserer eigenen Auffassung dessen, was ist. Anders gesagt: Unsere Wirklichkeitsauffassung ist vor allem eine Auffassung, ein Bild, eine Vorstellung. Schon sich selbst zu beschreiben, ist eine sehr selektive Form – die je nach Kontext oder Adressat sehr unterschiedlich, bisweilen sogar widersprüchlich ausfallen kann. Schon das, was ist, wäre anders möglich – in dem Sinne, dass es sich auch anders beschreiben und auffassen ließe.

Die Frage »Was wäre, wenn …?« lässt sich natürlich nicht eindeutig beantworten, denn sie enthält immer schon eine sehr begrenzte Perspektive auf die Wirklichkeit. Sie suggeriert, dass man über die Wirklichkeit genau weiß, warum sie so geworden ist, wie sie gerade erscheint. Die Frage »Was wäre, wenn …?« stellt auch die Frage, was überhaupt ist, oder besser, wie wir uns einen Reim darauf machen.

Die Frage führt letztlich den Beobachter in das Spiel ein: Sie verweist darauf, wie sehr unser Bild der Wirklichkeit nur ein Bild ist, das mit guten Gründen auch anders aussehen könnte. Gerne streiten wir uns darüber, was überhaupt der Fall ist – umso interessanter ist die Frage, wie die Dinge anders hätten sein können und ob es Alternativen zur bestehenden Welt gibt.

Die Beiträge dieses Kursbuchs kreisen alle um die Beobachtbarkeit der Welt und alternative Möglichkeiten. Keiner der Beiträge behauptet, zu wissen, was gewesen wäre, wenn … In allen Texten geht es vielmehr darum, was die Frage eigentlich bedeutet und wie sehr die Beobachtung von Alternativen von der Beobachtung von Alternativen abhängig ist.

So zeigt Alexandra Schauer, wie eine Analyse des Möglichkeitssinns, also des Denkens in anderen Möglichkeiten, zwischen einem »Alles-könnte-anders-Sein« und einem »Nichts-tun-Können« oszilliert – beide Seiten übrigens ihrerseits Möglichkeiten eines Beobachters. Auch Christian Kirchmeier arbeitet sich – am Beispiel von KI-Narrativen – an der Verbindung von Kontingenz und Realismus ab und fügt sie in einem »Kontingenzrealismus« zusammen, der die utopische Möglichkeit an ihrer realistischen Ermöglichung misst. Dass er von Narrativen spricht, verweist wiederum auf den Beobachter, der erst recht im Beitrag von Sibylle Anderl eine zentrale Rolle einnimmt. Sie zeigt an den Grenzbereichen der Beschreibbarkeit der Welt in der Physik – etwa an der Quantenphysik oder Stringtheorie –, wie sehr die physikalische Beobachtung zunächst sich selbst im Blick hat, um überhaupt reflektieren zu können, worauf sich der Blick richtet und richten kann. Mein eigener Beitrag diskutiert die Frage, welche unprüfbaren Kausalannahmen in allen Behauptungen beziehungsweise Diagnosen enthalten sind, die meinen, etwas über historische Verläufe sagen zu können, hätte sich ein bestimmtes Ereignis anders zugetragen. Auch hier geht es um nichts anderes als den Beobachter.

Mit Robert Jungks Bericht aus »Zukunftswerkstätten« – ein Kursbuch-Clässix-Beitrag aus dem Kursbuch 53 aus dem Jahre 1978, ein Text übrigens, den ich in meinem ersten Studiensemester im Wintersemester 1979/80 in einer erziehungswissenschaftlichen Veranstaltung gelesen habe – dokumentieren wir eine interessante Kontinuität. Seine Zukunftswerkstätten sollten alternative Entwicklungswege beschreiten – und haben auf einen besonderen Beobachter gesetzt, auf Betroffene nämlich, die eine »Befreiung von der ›Expertokratie‹« ermöglichen sollten, um damit zu besseren Alternativen zu kommen. Der Versuch und seine Begrenzung dauern an.

Für die Intermezzi haben wir unseren Autorinnen und Autoren die Grundfrage des Heftes gestellt. Sie sollten die Frage an einem Beispiel durchspielen. So fragen Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie, was auf dem afrikanischen Kontinent anders sein könnte, wenn … Auch die Bilder von Michel Kreuz haben eine afrikanische Perspektive – die Bilder rufen geradezu nach Alternativen. Sebastian Klein und Kai Viehof fordern zu einem neuen Wohlstandsbegriff auf. Judith Kohlenberger stellt sich eine humane Flüchtlingspolitik vor, Andreas Knie verweist auf ein für die autogerechte Stadt wegweisendes Urteil von 1966, Simon Strauß plädiert für eine optimistische, oder besser weniger pessimistische Form der Beobachtung möglicher Alternativen, und Olaf Unverzart stellt »Was wäre, wenn«-Fragen mit je einem Bild – und beginnt übrigens auch in Afrika.

Jan Schwochows Grafiken beschäftigen sich diesmal mit der Frage, unter welchen Bedingungen die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland unter Einhaltung ihrer demokratischen Verfahren nach der Wahl von autoritären Parteien nachhaltig Schaden nehmen kann. Die Grafiken zeigen das System der politischen Institutionen in Deutschland sowie ein Schema von Gesetzgebungsverfahren. Als neuralgischen Punkt identifiziert er die Änderungen der gesetzlichen Grundlagen des Bundesverfassungsgerichtes und empfiehlt hier Sicherungen durch die Einführung von Zweidrittelmehrheiten.

Berit Glanz legt in diesem Kursbuch ihr zehntes Islandtief vor, diesmal eine Reportage über die isländische Fischereiindustrie und über maritime Aquakulturen. Sie weist auf die schwierigen Zielkonflikte zwischen arbeitsplatzrelevanten ökonomischen Belangen, Fragen des Tier- und Artenschutzes und politischer Durchsetzbarkeit hin. Die Reportage beginnt mit einer Reise an die Westfjorde des Inselstaates.

Schließlich Peter Felixbergers FLXX Schlussleuchten. Peter hat acht Begriffe erschaffen, gewissermaßen alternative Begriffe, die auch möglich gewesen wären, alles Komposita mit ungewöhnlichen Wortkombinationen, etwa Lernbesinger, Kannprophet oder Überunser. Mein liebster davon ist der erste, Mehrverorter. Das sind Leute, die dasselbe je nach Kontext unterschiedlich bezeichnen und damit alternative Fakten schaffen, nicht in dem Sinne, dass sie lügen, sondern in dem Sinne, dass man auch ohne Lüge die Unwahrheit sagen kann – so würde ich es jedenfalls verstehen. Angekündigt hat Peter weitere Folgen – wir dürfen gespannt sein.

Jan SchwochowEine Quelle, zwei GrafikenWas wäre, wenn zwei Drittel eine Diktatur zurückwollen?

Die politischen Entwicklungen bei unserem Nachbarn Polen oder auch die Lage in Ungarn zeigen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verwundbar sind. Was wäre, wenn es auch bei uns eine Mehrheit für Parteien gäbe, die unsere Demokratie in ein autoritäres Regime umbilden wollen? Dazu habe ich mir unser politisches System näher angesehen und zwei Grafiken erstellt, die das Problem näher erläutern. Das Organigramm auf der linken Seite stellt vereinfacht unser politisches System in Deutschland dar. Auf so kleinem Raum bin ich gezwungen, nur die wirklich relevanten Dinge unterzubringen. Gleichzeitig profitiert der Leser, weil er die Zusammenhänge so einfacher und schneller verstehen kann. In der Grafik auf der rechten Seite setze ich den Fokus auf die aktuellen Ereignisse und die Gesetzgebung. Unsere Demokratie ist so konstruiert, dass Gesetze mit einfachen Mehrheiten beschlossen werden. Änderungen an wichtigen Gesetzgebungen, wie dem Grundgesetz, benötigen eine Zweidrittelmehrheit. Die sogenannte Ewigkeitsklausel (Artikel 79) schützt uns vor einer Wiederholung der Geschichte. Mit dieser Regelung wollte man den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus (Ermächtigungsgesetz) begegnen und naturrechtliche Grundsätze in Form der Menschenwürde sowie der Strukturprinzipien in Artikel 20 (Republik, Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat) mit einer zusätzlichen Sicherung versehen. Dennoch ist gerade das Verfassungsgericht eine unserer Schwachstellen. Was wäre, wenn hier Richter von einer autoritären Regierung eingesetzt werden? Aufgrund des Erstarkens extremer Parteien prüft unsere Regierung gerade, inwieweit man mithilfe der CDU (Zweidrittelmehrheit!) das Bundesverfassungsgericht noch besser vor möglicher Einflussnahme schützen kann. Änderungen des Gesetzes zum Schutz des Verfassungsgerichts benötigen derzeit nur eine einfache Mehrheit. Wie krisenfest unser Rechtsstaat ist, hängt erheblich vom Grad der Unabhängigkeit der Justiz ab – denn sie sichert die Gewaltenteilung. Die rechte Grafik zeigt eindrucksvoll, dass die AfD bei den in diesem Jahr bevorstehenden Wahlen bereits in einigen Bundesländern die Macht übernehmen könnte. Natürlich reicht es noch nicht für Mehrheiten, die unsere Demokratie und Justiz gefährden können. Trotzdem sollten wir achtsam sein und auch die Meinungs- und Pressefreiheit noch besser schützen.

Olaf UnverzartWasWäreWenn

die neue Welt Africa First wäre?

wir aus der Geschichte lernen?

jeder Glaube richtig sein darf?

der letzte Baum gerodet ist?

es mehr zählt zu sein als zu haben?

man Glück findet, indem man es nur aufheben muss?

Sibylle AnderlIst das wirklich möglich?Eine Erkenntnisreise in fremde Welten

Bei allem Kummer, den uns alternative Fakten bereiten, bei aller Begeisterung für die nackten Tatsachen und all das, was uns konkret und unzweifelhaft vorliegt: Was wären wir und was wäre die Welt ohne unsere Fähigkeit zum kontrafaktischen Denken? Die Frage ist natürlich rhetorisch. Alles wäre arm, trist und unmenschlich. Wir hätten keine Vorstellungen, keine Imagination, keine Intuition, selbst unsere Wahrnehmungen könnten wir kaum organisieren ohne das Mögliche im Unterschied zum Tatsächlichen und Notwendigen. Die Frage »Was wäre, wenn …?« steht im Zentrum unserer Identität – so radikal kann man das formulieren.

Dass wir trotzdem Grenzen des Vorstellbaren begegnen, ist philosophisch eine anregende Beobachtung. Der weite Raum des Möglichen ist mit gewissen Randbedingungen konfrontiert, die in ihm verschiedene Bereiche unterscheiden. Als Erstes wäre da die Physik: Der Raum dessen, was physikalisch möglich ist, wird von den Naturgesetzen aufgespannt. Alles, was in unserer Welt passiert, muss sich ihnen beugen – so sind sie definiert. Wenn wir uns dieser Grenze entledigen, landen wir gedanklich in fremden, möglichen Welten, von denen einige durch Science-Fiction-Erzählungen erkundet wurden, andere durch wissenschaftliche Simulationen (Was wäre, wenn die Feinstrukturkonstante nur minimal größer wäre? Was, wenn die Lichtgeschwindigkeit sich im Laufe der Zeit änderte?). Und wieder andere, und sicherlich die allergrößte Mehrheit, sind nie von einem Menschen erkundet worden.

Von metaphysischer Modalität sprechen die Philosophen; entsprechend kann man als die zweite Regulierungsinstanz des Möglichen die Metaphysik verstehen. Mit diesem so eingegrenzten Möglichkeitsraum lässt sich einiges anstellen, man denke nur an die weiten Reisen durch den Kosmos, die sich nicht um die Einstein’sche Beschränkung der Reisegeschwindigkeit scheren. Allenfalls eine noch weiter gefasste Kategorie des Möglichen lässt sich formulieren, wenn man als dritte Instanz die Logik identifiziert: Dieser potenziell größte Bereich des Möglichen enthielte dann alles, was logisch möglich ist, also keine inneren Widersprüche enthält. Ob das logisch Mögliche tatsächlich noch mehr Freiheiten liefert als die metaphysische Modalität, ist philosophisch umstritten und hängt natürlich nicht zuletzt von den eigenen metaphysischen Vorlieben ab. Jenseits der Logik, so viel ist aber klar, machen »Was wäre, wenn«-Spiele uns Menschen keinen rechten Spaß mehr – auch wenn es wiederum eine anregende Frage ist, ob andere Lebewesen, Aliens etwa, sich der Grenzen der Logik und auch des raumzeitlichen Denkens entledigen könnten.

Naturwissenschaftler, wie etwa Physiker, sind meist am inneren Bereich des Möglichen interessiert. So versuchen sie die Grenze des physikalisch Erlaubten abzuklopfen, indem sie sich auf die Suche nach Naturgesetzen begeben: das in allen Regularitäten aufscheinende Gerüst, das in seiner Notwendigkeit jedem Zufall trotzt. Wie rätselhaft allein diese Unternehmung ist, wird deutlich im berühmten Vergleich zweier Sätze, von denen nur einer ein Naturgesetz beschreibt: »Alle Goldkugeln im Universum haben einen kleineren Radius als zwei Kilometer« und: »Alle Urankugeln im Universum haben einen kleineren Radius als zwei Kilometer.« Denn während der erste Satz ein empirischer ist (nach allem, was wir wissen, gibt es keinen Prozess, der eine größere Goldkugel produzieren könnte), ist letzterer dadurch begründet, dass eine größere Urankugel sich sofort unter der eigenen Gravitation durch Spaltungsprozesse zerstören würde. Oder unserem Thema gemäß ausgedrückt: Was wäre, wenn wir eine drei Kilometer große Goldkugel besäßen? Wir würden in einer Welt leben, die nur kontingent anders ist als unsere! Was wäre, wenn wir eine drei Kilometer große Urankugel besäßen? Wir würden in einer Welt leben, die anderen Gesetzen folgt!

Doch nicht nur die Grenzen des physikalisch Möglichen sind von Interesse. Auch die Beschreibung, Klassifikation und Erklärung des in diesem Möglichkeitsraum real Existierenden konfrontieren die Forscher fortwährend mit den in unserer Welt nicht realisierten Möglichkeiten. Wenn Ereignis A Ereignis B verursachen und damit erklären soll, heißt das schließlich, dass B nicht auftreten würde, wenn A ausbliebe. Das Argument ist das Herzstück aller kontrafaktischen Analysen und Experimente sowie das Werkzeug zur Beantwortung der Frage »Warum sind die Dinge nun gerade so, wie sie sind, und nicht anders?«.

Die nicht realisierten Möglichkeiten und möglichen Welten lauern also an vielen Stellen auf den, der empirisch diejenige aktual existierende Welt erforschen möchte, in der wir alle leben. Das kann man klaglos akzeptieren, denn die möglichen Welten sind ohne Zweifel überaus nützlich. Doch jedem auch nur minimal metaphysisch Interessierten stellt sich daraufhin eine Frage, die geeignet ist, ihn tief erschaudern zu lassen: Was ist eigentlich der Status dieser möglichen Welten? Gibt es sie? Vielleicht auch außerhalb unserer Köpfe? Wer dieser Frage folgt, durchwandert die verschiedenen Bereiche des Modalen. Die Quantenphysik ermöglicht eine Reise in die Fülle aller möglichen Welten im Rahmen unserer Naturgesetze, die Stringtheorie führt noch weiter in die Welten, die auch fremden Gesetzen folgen, und die virtuellen Realitäten scheren sich schließlich um kaum noch etwas anderes als um die Logik.

Die möglichen Welten der Quantenphysik

Die Quantenphysik ist eine Theorie, die niemand versteht – nicht, weil sie so schwierig wäre oder weil sie besonders komplizierte Rechnungen erfordert. Der Grund ist, dass niemand weiß, was diese in der Praxis so überaus erfolgreiche Theorie des Mikrokosmos zu bedeuten hat. Ihr Herzstück ist die Schrödinger-Gleichung, die als recht gewöhnliche Differenzialgleichung zunächst wenig Rätselhaftes an sich hat. Sie beschreibt das raumzeitliche Verhalten mikroskopischer Objekte wie zum Beispiel Elektronen: Wo sie sich aufhalten und wohin sie sich bewegen. Geleistet wird diese Beschreibung durch die sogenannte Wellenfunktion, die man anhand der Schrödinger-Gleichung berechnen kann – eine Aufgabe, die ebenfalls keine besondere Hürde darstellt.

Die Quantenmechanik besitzt aber eine merkwürdige Eigenart: Sie liefert eine lediglich statistische Beschreibung der Gegebenheiten. Wenn man die quantenmechanische Wellenfunktion nutzen will, um etwas über beobachtbare Elektronen zu lernen, zeigt sich, dass aus der Wellenfunktion nur Aufenthaltswahrscheinlichkeiten folgen: Sie prognostiziert, dass sich das Elektron mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hier befindet, mit einer anderen dort. Wo genau es ist, sagt die Wellenfunktion nicht voraus. Das sieht man erst, wenn man das Elektron wirklich beobachtet, es »misst«.

Das zentrale Problem im Verständnis der Quantenmechanik liegt in der Frage, was diese quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten bedeuten. Denn die naive Antwort »Sie beschreiben unser eingeschränktes Wissen über den Aufenthaltsort des Elektrons, aber in Wirklichkeit hält es sich doch immer an irgendeinem konkreten Ort auf« ist falsch. Dass sich Elektronen in gewisser Hinsicht wie Wellen verhalten (der berühmte Welle-Teilchen-Dualismus), weist darauf hin, dass sich das Elektron vor der Messung an verschiedenen Orten gleichzeitig befindet. Erst sobald es gemessen wird, fällt gewissermaßen die Entscheidung, wo es ist. Man nennt das den »Kollaps der Wellenfunktion«: Während sich die Wellenfunktion vorher deterministisch entwickelt, wie jede andere ordentliche physikalische Funktion auch, kollabiert sie im Moment der Messung zu einem lokalisierten Peak. Und wenn man die Messung vielfach wiederholt, folgen diese Kollapsereignisse in ihrer Häufigkeit den durch die Wellenfunktion ausgedrückten Wahrscheinlichkeiten.

Wie absurd das alles ist, illustriert die berühmte Schrödinger’sche Katze. Ihr wird dadurch eine quantenmechanische Zustandsfunktion aufgedrückt, dass sich mit ihr in einer Box eine Giftkapsel befindet, deren Öffnung vom Auftreten eines quantenmechanisch beschriebenen Zerfallsprozesses abhängt. Daher gilt: Vor einer Messung ist der Zerfall gleichzeitig eingetreten und nicht eingetreten, das Gift ist freigesetzt und nicht freigesetzt und die Katze ist entsprechend tot und lebendig zugleich – so lang, bis jemand eine Messung vornimmt (den Deckel öffnet) und alle gekoppelten Wellenfunktionen zum Kollaps bringt. Was uns hier solche Denkschmerzen verursacht, ist nicht nur, dass wir den Bereich des Logischen verlassen haben. Sondern auch, was diesen besonderen Status der Messung rechtfertigt. Wie kann es sein, dass sich das Schicksal der Katze erst in dem Moment entscheidet, in dem wir in die Box sehen? Und wie ist das mit einer Theorie vereinbar, die alles andere will, als dem Menschen und seiner Beobachtungsfähigkeit einen herausgehobenen Status zu verleihen? Was ist eine Messung überhaupt? Und was verleiht ihr diese besondere Kraft, Wellenfunktionen zum Kollaps zu bringen? Wie kommt man aus dem Raum der überlagerten Möglichkeiten in den Raum des Aktuellen?

An diesen Fragen hat sich viel Streit entzündet. Viele verschiedene Interpretationen der Quantenmechanik wurden entwickelt, um zu einer möglichst denkschmerzfreien Deutung dessen zu kommen, wie Theorie und Beobachtung zusammenhängen. 1957 veröffentlichte der junge Physiker Hugh Everett an der Princeton University in seiner Doktorarbeit eine Idee, die unter allen Interpretationen als die radikalste und gleichzeitig die einfachste gelten kann: Was wäre, wenn die Wellenfunktion in Wirklichkeit gar nicht kollabierte? Was wäre, wenn all die in ihr beschriebenen Möglichkeiten real wären und eine Überlagerung verschiedener Realitäten erzeugten?

Der Messprozess wäre dann mit der subjektiven Wahrnehmung des Beobachters erklärbar, der sich immer nur in einer konkreten Weltvariante befindet. Bei jeder Messung würde sich die Welt gemäß den in der Wellenfunktion gefassten Wahrscheinlichkeiten aufspalten. Die Realität würde so zu einem gigantischen, sich immer wieder verzweigenden Baum. Und auch jeder Beobachter existierte in vielfachen Varianten, ohne dass all dies für uns wahrnehmbar wäre. Sie und ich hätten jeweils eine einzige, klar definierte Vergangenheit. Aber Sie und ich hätten gleichzeitig eine unüberschaubare Vielzahl künftiger Identitäten.

Die mögliche Erklärung dafür, dass wir von dieser Parallelität von Welten gar nichts merken, wurde 1970 vom deutschen Physiker Dieter Zeh veröffentlicht: Quantenmechanische Überlagerung wird durch Wechselwirkungsprozesse mit der Umwelt zerstört. Man nennt das Dekohärenz (und wenn man Quantencomputer bauen will, die überlagerte Zustände benötigen, ist sie ein echtes Problem). Sie wäre der Grund, warum es für uns so wirkt, als wäre die Welt, in der wir leben, die einzig reale. Der Grund, warum unsere Welt uns nicht quantenmechanisch, sondern klassisch erscheint.

Über den Status dieser Viele-Welten-Interpretation wird leidenschaftlich gestritten. Die Ablehnung war anfänglich so groß, dass der frustrierte Everett der Wissenschaft den Rücken kehrte. Mittlerweile ist die Akzeptanz gewachsen, und trotzdem gibt es noch zwei Lager. Die einen loben die Viele-Welten-Interpretation für ihre ontologische Sparsamkeit: Sie beruht auf einer einzigen Annahme, nämlich dass der Schrödingergleichung nichts hinzuzufügen ist. Die anderen lehnen sie aufgrund ihrer ontologischen Verschwendungssucht ab: Sie führt mehr Welten ein, als wir gedanklich bewältigen können.

Würde sie aber stimmen, wären große Teile des physikalisch Möglichen real.

»Everett forderte uns dazu auf, anzuerkennen, dass unsere physikalische Welt all das übersteigt, was wir uns jemals vorgestellt haben«, resümierte der schwedisch-amerikanische Physiker Max Tegmark 2007 anlässlich des 50. Geburtstags der Interpretation im Journal Nature. Sein einziger Fehler sei es gewesen, seiner Zeit voraus gewesen zu sein. »Ich glaube, wir werden uns noch stärker an die verrückten Eigenschaften unseres Kosmos gewöhnen und sogar feststellen, dass seine Seltsamkeit Teil seines Charmes ist.«