Küstenrot - Gaby Kaden - E-Book

Küstenrot E-Book

Gaby Kaden

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Mia, jung, hübsch, mit den feuerroten Haaren und einem ausgesprochenen Faible für die Farbe Rot, ist verschwunden. Ihr knallrotes Fahrrad liegt verlassen im hohen Gras. Einige Stunden später finden Badegäste am Strand von Carolinensiel-Harlesiel eine männliche Leiche, die unerklärliche Kopfverletzungen aufweist. Am nächsten Morgen liegt eine halb nackte Frauenleiche zwischen einem alten Schiffswrack am Strand von Spiekeroog. Tomke Evers und ihr Team müssen ermitteln. Stehen die beiden Morde in einem Zusammenhang? Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Drei junge Touristen werden in erbärmlichem Zustand in einem Ferienhaus gefunden …

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Seitenzahl: 434

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Widmung

Vorwort

Nackte Sommerhitze

Oma Jettchen

Die rote Mia

Wo bleibt Mia?

Mirko

Verschwunden

Wo ist Mia?

Wattwürmer

Spätes Frühstück

Fast zur gleichen Zeit

Auf dem Weg zum Strand

Im Sielkrug

Gewitterwolken

Gefangen

Am Morgen

Die Leiche am Wrack (Montag)

Warten am Wrack

Nur ein Dach (Montagvormittag)

Recherche (Montagvormittag)

Schlimme Tatsachen (Montagvormittag)

Hühnersuppe und der blanke Hans (Montag in der Mittagszeit)

Ein neues Versteck (Montag)

Fakten sortieren (Montagnachmittag)

Nachschub (Montagmittag)

Nur ein Dach (Montagabend)

Auf der Insel (Montag)

Noch mehr Fakten ... (Montagabend)

Nur ein Dach (Montagabend)

Gefangen

Der Besuch und eine schwere Nacht

Am nächsten Morgen (Dienstagmorgen)

Urlaub zu Ende (Dienstagvormittag)

Herzinfarkt (Dienstagmorgen)

Umsonst (Dienstagvormittag)

Die Ermittlungen gehen weiter (Dienstag)

Fakten sortieren (Dienstagvormittag)

In der Mittagsstunde (Dienstag)

Am Frühstückstisch

Auf dem Kommissariat (Mittwoch)

Bürokram (Mittwoch)

Auf dem Kommissariat (Mittwoch)

Identifiziert

Unruhig (Mittwochabend)

Lange Nacht der Recherche (Mittwochabend)

Auf dem Revier (Donnerstagvormittag)

In der Schule

Auf der Suche nach dem Motiv

Und jetzt? (Donnerstag)

Hausbesuch (Donnerstag)

Zurück auf dem Revier (Donnerstag)

Keine Klärung in Sicht? (Freitag)

Neue Vernehmung (Freitag)

Das große „L“

Auf der Suche nach einem neuen Opfer (Freitag)

Ein wertvoller Fund

Verwirrung auf Spiekeroog

Gefangen

Ein kostbarer Fund

Ein lauschiger Abend auf Spiekeroog

Gefangen

Die Zeit ist um

Einer nach dem anderen

Die Suche

Die Überraschung

Ein kurzes Wochenende

Gefasst

Endlich Ergebnisse

Die Vernehmung

... oder doch noch nicht?

Rezept: „Miakuchen“ – Fantastischer Fantakuchen

Ostfriesische Teekultur

Meine Lieblingsvariante: Das Rezept mit Rumrosinen

Gaby Kaden

Küstenrot

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:

Küstennächte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com.

Foto (Portrait): Fotokünstlerin Sabine Stenzel

Foto (Rückseite): Gesche Laue

eISBN 978-3-8271-9798-6

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing

www.ansensopublishing.de

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Über die Autorin:

Gaby Kaden lebte über 50 Jahre in Hessen, hat einen erwachsenen Sohn und zog 2011 mit ihrem Mann an die Nordsee, nach Carolinensiel. „Veränderungen sind wichtig, nur sie bringen mich weiter, machen mich offen. Stillstand ist Rückschritt“, sagt sie. In der alten Heimat arbeitete sie im kaufmännischen Bereich, war Betriebsrätin, Schiedsfrau und folgte zusätzlich ihrer Berufung, der spirituellen Arbeit mit Menschen. Nach Kurzgeschichten und Meditationen veröffentlichte sie 2010 ihr erstes Buch „Schluss mit Angst und Panik“.

Obwohl schriftstellerische „Spätzünderin“, hat sie mit ihren Küstenkrimis „Die Tote im Siel“, „Küstenhaie“ und „Küstennächte“ schnell auf sich aufmerksam gemacht. Sie sammelt wahre, dem Volk vom Munde abgeschaute Geschichten, die mit Erfundenem, Humor und ein wenig „Lokalkolorit“ verschmelzen.

Gaby Kaden ist ehrenamtlich im „Deutschen Sielhafenmuseum“ in Carolinensiel tätig und seit 2015 Mitglied im „SYNDIKAT“.

2016 veröffentlichte Gaby Kaden einen Kurzkrimi in der Anthologie „Sommerferien-Eiskalt“. Sie bietet Lesungen, Krimi-Dinner und mehr an.

Mehr über Gaby Kaden unter: www.gaby-kaden.de

Ich widme dieses Buch einem kleinen, tapferen Mädchen in der Schweiz.

Möge sie den schweren Kampf gewinnen, gesund und gestärkt daraus hervorgehen, um bald wieder an ihre geliebte Nordsee zu kommen.

Vorwort

Ich schreibe Kriminalromane und trotzdem, die Sehnsucht nach Liebe, Frieden und Harmonie überwiegt – gerade jetzt!

Vorab ist es mir wieder ein Bedürfnis Danke zu sagen.

All meinen Leserinnen und Lesern danke! Ohne Euch gäbe es kein neues Buch! Danke für ganz viel Feedback, auf welchem Weg auch immer.

Danke auch dafür, dass ich wieder einige Protagonisten und ihre Örtlichkeiten mit wirklichem Namen erwähnen durfte.

– Gesche und Thomas von der Insel Spiekeroog, auch dafür, dass sie mit uns die anstrengende Recherchetour gegen den Sturm zur „Ostplate“ auf Spiekeroog unternommen haben.

– André, dem Inselpolizisten auf Spiekeroog und seiner Frau Thurit.

– Jochen Boosmann (Opa Jochen) von der „Dünenklause“ auf Spiekeroog.

– Fallon, der Wirtin vom Restaurant „Sielkrug“ in Carolinensiel, sowie

– Ulrike vom „Puppencafé“.

– Siebo Lübben.

– Achim, dem Skipper der „Hoop op Zegen“ & Gurken-Herbert, wie gehabt.

– Peter Strauß, der Gedankengeber für das „rote Rad“ war.

Danke an:

Meine beiden Männer – ich liebe Euch.

Sabine Stenzel für das Portrait. Irina, die unerbittlich darauf achtet, dass ich ermittlungs- und kriminaltechnisch korrekt arbeite. Kerstin für das Vorlektorat!

Danke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des CW Niemeyer Verlages für Lektorat, Betreuung, für Unterstützung und Geduld sowie Carsten Riethmüller für das wunderbare Cover.

Ohne EUCH alle wäre alles NICHTS!

Ja, auch im letzten Jahr durfte ich wieder stolpern, fallen, lernen – jedoch auch aufstehen und weitermachen. Danke für die Prüfungen!

Danke Ostfriesland, dass ich hier leben darf!

Und natürlich möchte ich erwähnen, dass alles in diesem Buch frei erfunden und ausschließlich meiner Fantasie entsprungen ist. Alles andere wäre Zufall!

Ihr wisst, ich spinne mir gerne etwas zusammen.

... übrigens, diese „Verleih-Inseln“ wird es hoffentlich nie geben.

Nackte Sommerhitze

Obwohl oder gerade weil die beiden Fenster in dem kleinen Haus, dicht an der Straße, weit geöffnet waren, war die Hitze kaum auszuhalten und an Schlaf nicht zu denken, seit drei Tagen nicht. Diese Hitze, der Schlafentzug und der immer und immer wiederkehrende Lärm ließ die drei Männer schier verrückt werden. Sie saßen festgebunden und fast nackt, nur mit einer Unterhose bekleidet, auf harten, hölzernen Stühlen in dem kleinen Raum, schrien um Hilfe, bettelten um Gnade und darum, ihrer Qual doch endlich ein Ende zu bereiten. Aber es waren stumme Schreie, niemand konnte sie hören. Ihre Körper waren nass vor Schweiß, der sie trotz der unerträglichen Hitze frösteln ließ. Wieder näherten sich diese Geräusche, unerträgliche Motorengeräusche. Ein, zwei, drei, vier schwere Fahrzeuge rauschten heran, fuhren dröhnend vorbei, entfernten sich. Und dann wieder Ruhe. Ruhe und Hitze. Die nächsten kamen. Eins, zwei, drei. Ruhe und grausame Hitze. Wann wurde ihre Qual endlich beendet? Was wollte man von ihnen? Warum quälte man sie so?

Sie saßen auf ihren harten Stühlen dicht nebeneinander, hatten Augenkontakt, sprechen konnten sie allerdings nicht miteinander. Jeder Versuch endete in stummen Mundbewegungen. Wer es sah, hätte diese Bewegung mit der Schnappatmung eines Fisches auf dem Trockenen verglichen.

Der Durst war unerträglich, und als wäre das nicht grausam genug, ließ das Salz des Schweißes, der erbarmungslos durch ihre Gesichter lief, ihre Lippen brennen, aufplatzen und ihn noch unerträglicher werden. Im gleichen Raum stand ein Bett, in dem eine alte Frau schlief. Die Hitze und der Lärm schienen ihr nichts auszumachen. Sie hatte das Federbett bis zu den Ohren hochgezogen und atmete ruhig und gleichmäßig. Manchmal war ein Seufzen zu hören, manchmal ein entspannter Schnarcher, dann wieder ruhiges Atmen mit leichten Pfeiftönen einer Schlafenden.

„Hilfe“, deuteten die Lippen eines der Männer stumm an, „Hilfe!“

Oma Jettchen

Nur kurz nach dem Notarzt kamen Tomke und Hajo in Carolinensiel vor dem kleinen Haus auf dem Deich an. Die Auffahrt war mit dem Notarztwagen sowie dem Krankentransportwagen zugestellt, so parkten sie unten an der Straße. Tomke sprang heraus, noch bevor Hajo das Auto zum Stehen gebracht hatte, heraus und lief quer über die Straße.

Was war hier nur los?

Ein Anruf von Tant’ Fienchen hatte sie am frühen Morgen geweckt. Irgendetwas hatte sich ereignet, sodass Fienchen den Notarzt rufen musste. Was passiert war, hatte Tomke nicht richtig verstanden. Fienchen stammelte etwas von dehydriert und Kreislauf, von fremden Männern und dass ihre Schwester nicht bei Sinnen sei.

War bei den alten Frauen eingebrochen worden? Wurden sie überfallen? Davon hatte Tant’ Fienchen allerdings nichts gesagt.

Tomke war einiges gewohnt von Tant’ Fienchen und ihrer Oma, den beiden Schwestern, die immer für ein waghalsiges Unternehmen gut waren und ihr damit manchen Nerv raubten. Auf den Anruf ihrer Tante heute konnte sie sich allerdings keinen Reim machen und er ängstigte sie sehr.

Was war mit Oma passiert?

Sie stürmte ins Haus und hätte fast einen Sanitäter über den Haufen gerannt, der ihr im Hausflur entgegenkam.

„Ruhig, junge Frau“, befahl er lakonisch, „ganz ruhig. Die alte Dame versucht schon wieder Bäume auszureißen. Mich hat sie gerade des Raumes verwiesen. Drei Männer an ihrem Bett seien zu viel, fand sie.“

Tomke schüttelte den Kopf und preschte an ihm vorbei in die Schlafstube ihrer Großmutter. An deren Bett standen der Notarzt, ein weiterer Sanitäter, Tant’ Fienchen und Mariechen, die Nachbarin von gegenüber. Oma saß im knallgelben Nachthemd mit Spitzeneinsatz, den Rücken von zwei Kissen gestützt, aufrecht im Bett, winkte Tomke zu und rief: „Alles gut, keine Aufregung!“ Die Bettdecke hatte sie etwas zurückgeschoben.

Als dann auch noch Hajo in die Stube gerannt kam, nahm Tant’ Fienchen ein dünnes Laken vom Stuhl und erklärte: „So viele Männer an deinem Bett, Jettchen, das geht aber nicht. Leg dir mal was über.“

„Was ist denn passiert?“, wollte Tomke angstvoll wissen. Oma verdrehte die Augen und bemerkte: „Lass mal, die spinnt, meine Schwester. Ich weiß außerdem gar nicht, was die ganze Aufregung soll. Vielleicht habe ich ja schlecht geträumt.“

„Von wegen“, begehrte Tant’ Fienchen auf, „du hast um Hilfe geschrien, dass es der ganze Ort gehört haben muss.“

„Hahahaaa“, war das unnachahmliche Lachen von Mariechen zu hören. Oma winkte ab.

„Na klar! Mariechen war schon früh im Garten und hat es auch gehört“, verteidigte sich Fienchen. „Ich habe mich fast zu Tode erschreckt und bin sofort rein in ihre Schlafstube. Da saß sie mit wirrem Blick im Bett und schrie: ‚Hilfe, Hilfe, das muss ein Ende haben, Hilfe!‘“

Ich habe sie immer wieder geschüttelt, bis sie endlich aufwachte.

„,Losbinden‘“, hat sie geschrien und: „,Nackt, alle nackt!‘“

Schweißgebadet war deine Oma und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Puls ging wie ein Maschinengewehr und kam nicht mehr zur Ruhe. Weder meine Beruhigungstropfen noch ein kalter Waschlappen unter der Brust haben geholfen. Deshalb habe ich den Notarzt gerufen und jetzt werde ich auch noch als spinnert beschimpft.“ Fienchen war sauer und rannte aus dem Raum. Tomke sah ihr kopfschüttelnd nach.

„Was ist denn nun mit meiner Großmutter, Herr Doktor?“, wandte sich Tomke an den Notarzt.

Der packte gerade seine Gerätschaften zusammen, wickelte den Gummischlauch um das Stethoskop und legte es in den Koffer.

„Nun“, äußerte er nachdenklich. „Was vorher war, kann ich nicht sagen und zum Grund der Aufregung auch nicht, oder ob ein Albtraum der Auslöser war. Jetzt ist jedenfalls wieder alles im grünen Bereich. Der Puls und auch der Blutdruck sind fast normal und für das Alter ihrer Großmutter sowieso. Das Einzige, was ich bemängeln würde, ist der Zustand der Haut. Der ergibt sich allerdings mit Sicherheit durch die derzeitige Hitze und daraus, dass alte Menschen nicht genug trinken. Stimmt’s, Frau Evers?“, vermeldete er mit einem tadelnden Blick auf die alte Dame. „Da die Patientin offensichtlich schweißgebadet war, ist das dann erst recht nicht verwunderlich.“

„Sag ich doch“, war Omas Kommentar. „Ich weiß gar nicht, was die Aufregung soll.“

Sie winkte mit der rechten Hand in Richtung Stubentür und meinte: „Also, dann alle mal raus hier, ich stehe auf.“

„Nein, Oma, nein, nein, du bleibst im Bett. Oder muss sie eventuell mit in die Klinik, Herr Doktor?“

„Wenn wir sichergehen wollen, nehmen wir sie mit. Alte Menschen neigen bei dieser Hitze und der Dehydrierung schon mal zu Anflügen von Verwirrtheit. Wir hängen ihnen ein paar Flaschen unserer leckeren Flüssigkeiten an – und morgen können Sie wieder nach Hause“, wandte er sich dann wieder an Oma.

„Niemals! Ich bleibe hier. Ins Krankenhaus? Niemals. Was soll ich denn dort? Da ist schon so mancher hin- und nicht mehr zurückgekommen. Und von wegen verwirrt!“, sie drohte mit der Faust. „Gebt mir was zu trinken, außerdem hatte ich noch keinen Tee. Nu is dat good“, bestimmte sie und warf das Laken zur Seite.

„Raus hier jetzt“, setzte sie noch nach. „Ich muss mich anziehen, und eine nackte Olle wollt ihr nicht wirklich sehen“, kam es dann verschmitzt aus dem Bett.

Der Notarzt hob resigniert die Schultern und griff nach seinem Koffer.

„Dann nicht. Sie haben ja recht, Frau Evers, wenn es nicht unbedingt sein muss, geht keiner gerne ins Krankenhaus. Aber versprechen Sie mir bitte, dass Sie in Zukunft deutlich mehr trinken. Bei dieser Hitze ist das sehr wichtig.“

Bevor Oma antworten konnte, rief ihre Schwester von der Tür herüber: „Da werde ich schon aufpassen, dass du trinkst, Schwester. Wenn es sein muss, mit Gewalt. So einen Schrecken wie heute früh jagst du mir nicht mehr ein. Von wegen Albtraum, wenn das nicht von Verwirrtheit zeugt, weiß ich nicht.“ Sie schob den viel zu langen Ärmel ihrer Jacke zurück und tippte sich gegen die Stirn.

Tant’ Fienchen versank auch heute in dem ihr eigenen Schlabberlook, der viel zu weiten Hose und einer weiten Strickjacke, die sie, trotz der hohen Temperaturen am frühen Morgen, bis zum Hals geschlossen hatte. Sie begleitete alle hinaus, nur Tomke blieb in der Stube und wollte ihrer Großmutter beim Anziehen helfen.

„Was war denn los, Oma?“, wollte sie nach einer Weile wissen. „Was war denn los? Warum hast du um Hilfe geschrien?“

„Um Hilfe?“, tat Oma ahnungslos, „daran kann ich mich gar nicht erinnern.“

Sie sah den Blick ihrer besorgten Enkelin und schob nach: „Vielleicht habe ich ja wirklich schlecht geträumt.“

Tomke schaute sie von der Seite fragend an. Was sollte man nur mit ihr machen? Fing nun langsam das an, wovor sie schon lange Angst hatte? Wurde Oma vielleicht senil oder dement? Bisher war sie immer topfit im Kopf, aber irgendwann ... Tomke wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

„Oma, muss ich mir Sorgen machen?“, wollte sie dann weiter wissen.

„Nein, musst du nicht. Aber wenn wir gerade unter uns sind. Wann heiratet ihr eigentlich, du und Hajo?“

„Lass es Oma, das ist kein Thema, und gerade jetzt nicht!“

„Denk dran, ich bin nicht mehr die Jüngste und würde schon gerne deine Hochzeit erleben. Du übrigens auch nicht!“

„Ich? Was meinst du?“

„Na, die Jüngste! Oder willst du etwa ewig ,Fräulein Evers‘ bleiben?“, kicherte sie.

Tomke zog sie scherzhaft am Ohr und lachte: „Dann eben Fräulein!“ Sie half ihr dabei, das quietschgelbe Nachthemd über den Kopf zu ziehen, bis Oma Jettchen plötzlich innehielt.

„Dreh dich mal um, Deern. Nackt wirst du mich, solange ich es verhindern kann, nicht sehen.“

Tomke war entsetzt. „Spinnst du?“ fauchte sie ihre Oma an. „Was soll denn das. Ich helfe dir und gut! Keine Widerrede, du warst doch noch nie prüde.“

„Lot man, Deern, dat geit schon, und mit prüde hat das nix zu tun. Eine alte Frau wie ich ist kein so schöner Anblick mehr, weder in der oberen noch in der unteren Abteilung, also dreh dich um.“

„Nix gibt’s, ich helfe dir.“ Doch Oma hob abwehrend ihre Hand und deutete mit den Augen an, dass Tomke gehen solle. Diese gab sich dann seufzend geschlagen – Widerrede war jetzt nicht angebracht – und meinte: „Dann schicke ich dir deine Schwester herein, das hast du nun davon.“

Oma wollte protestieren, winkte schließlich aber nur ab. „Meinen gelben Sack bekomme ich auch alleine ausgezogen, das musst du nicht machen“, rief sie ihr nur noch nach.

Bis Fienchen hier ist, bin ich fertig, überlegte sie und murmelte leise: „Traum ...? Das war ein Traum? Nur ein Traum, aber gut. Da lässt sich was draus machen.“ Sie grinste verschmitzt in sich hinein, wurde dann aber wieder nachdenklich. „Ich muss aufpassen, was ich tue, damit ich dem Kind keinen Ärger mache, schließlich ist sie Beamtin ..., aber irgendwas wird schon gehen.“ Wieder huschte ein verschmitztes Lächeln über ihr inzwischen wieder rosiges Gesicht.

Die rote Mia

„Bleib nicht zu lange, Mia“, rief Elisabeth Bengels ihrer Tochter durch das geöffnete Küchenfenster nach. „In einer Stunde gibt es Mittagessen!“

„Ja, ja, ist gut, Mama, ich will nur noch schnell zum Strand und ins Wasser springen, zurzeit ist Hochwasser“, hörte Elisabeth noch. Dann hatte sich Mia auch schon das rote Fahrrad aus dem Schuppen geschnappt und war in ihrer unnachahmlich wilden Art davongebraust. Elisabeth blickte ihr kopfschüttelnd nach.

„Du hast kein Handtuch dabei ...“, begann sie, doch das Mädchen war schon um die Hausecke verschwunden. „Soll sie doch“, entschied Elisabeth, „es ist aber auch heiß heute.“

Schon jetzt, kurz vor Mittag, brannte die Sonne unerbittlich und mit ganzer Kraft vom Himmel. Das Thermometer zeigte 34 Grad im Schatten, was für die Nordseeküste, selbst im August, sehr ungewöhnlich war. Unvermittelt beschäftigte sich Elisabeth wieder mit ihren Vorbereitungen für das sonntägliche Mittagessen. „Wie das wohl noch werden soll mit dem Wetter?“, hing sie ihren Gedanken nach und begann damit, die Kartoffeln zu schälen.

Mia trug heute nur ihren roten Bikini, darüber ein rotes Top und einen rot-weiß gestreiften, kurzen Rock, der vom Fahrtwind immer wieder hochgeschlagen wurde, sodass das Unterteil ihre Bikinihose darunter hervorblitzte.

Ihre langen, feuerroten Haare hatte sie zwar mit einem bunten Band zusammengebunden, doch schon nach kurzer Zeit lösten sich wilde kleine Locken und Haarsträhnen, die ihr nun ins Gesicht wehten. Aber das störte sie nicht. Zu groß war die Vorfreude auf den Strand – und ihn!

Mia wollte den Radweg entlang der Harle nehmen, bog darum von der Neuen Straße direkt nach links ab und fuhr weiter Richtung Flugplatz, um dann über die Schleuse zum Strand zu kommen. Das war der kürzeste und schnellste Weg.

Einfach noch mal raus zum Strand, Sonne und Wind direkt am Meer genießen und ihn treffen, bevor das Referat zum Thema Deichbau, das sie nach den Sommerferien abgeben musste, wieder ihre volle Konzentration forderte. Außerdem beschäftigte sie noch etwas anderes, das aber mit der Schule nur indirekt zu tun hatte. Bei einem Streit mit einer Mitschülerin, kurz vor den Ferien, hatte sie etwas aufgeschnappt, dem musste sie unbedingt noch nachgehen, bevor Mitte der nächsten Woche die Schule wieder begann. Ihre exzellenten Noten in Chemie kamen ihr da zugute. Sie stand nun im letzten Jahr vor dem Abi, das musste noch einmal besonders gut werden, schließlich hatte Mia vor, ein Studium in Richtung Medizin und Chemie zu beginnen.

Jetzt allerdings wollte sie die Gelegenheit nutzen, ihn zu treffen, schließlich war er nur bei Hochwasser am Strand, bei Niedrigwasser oder Ebbe gab es für ihn hier nichts zu tun.

Mia war groß, sportlich und sehr schlank. Das hübsche junge Mädchen sah trotz seiner siebzehn Jahre älter aus, wie eine sehr schöne junge Frau eben.

Ihre braun gebrannten Beine nahmen kein Ende und zogen so manchen, nicht nur männlichen Blick auf sich. Auch jetzt war das so, als sie in wilder Fahrt aus Carolinensiel hinaus in Richtung Harlesiel strampelte.

Rot war ihre Lieblingsfarbe, was auch heute wieder nicht zu übersehen war. Ob Kleidung, Schuhe, Schmuck, Taschen oder andere Accessoires, alles musste rot sein oder zumindest etwas Rotes in sich haben. Wenn man sie daraufhin ansprach, tippte Mia auf ihre feuerroten Haare und lachte: „Wenn schon rot, dann richtig!“

Der alte Arne Groothes kam ihr auf dem breiten Radweg mit seinem Dreirad schwer atmend entgegen, und obwohl er durch seinen grünen Star fast blind war, erkannte er das Mädchen sofort.

„Die rote Mia ist wieder unterwegs“, murmelte er schmunzelnd vor sich hin. Er war alt und krank, lebte alleine in seinem kleinen Kapitänshaus draußen in Harle. Das Fahrrad war sein einziges Stück Freiheit und somit sein Kontakt zur Außenwelt. Auch wenn es ihm schwerfiel, machte er jeden Tag, bei Wind und Wetter, seine Runde vor ins Dorf und wieder zurück. Selbst heute, bei dieser Hitze. Lieber tot vom Rad fallen, als im Bett zu sterben, war seine Devise. Als beide auf gleicher Höhe waren, rief er ihr atemlos zu: „Nicht so schnell, Deern, dat nimmt kein gutes Ende!“

„Schon gut, Onkel Arne, dat geit schon.“ Mia lachte laut auf und fuhr unbeirrt weiter.

Nach den letzten Häusern des Ortes führte der Radweg entlang der Straße vorbei an Getreidefeldern, die sich im sanften Sommerwind hin- und herbewegten und an deren Rändern noch immer knallroter Mohn blühte. Rot, wie Mias spärliche Kleidung.

Das Mädchen hatte weder hierfür noch für die in der Sonne glitzernde Harle einen Blick. Ihre Gedanken waren bei Mirko.

Das Signal der Concordia II allerdings, die auf ihrem Weg zurück in den Museumshafen war, hörte sie und winkte dem Kapitän freudig zu. Der zog noch zweimal am Horn und winkte dem jungen Mädchen zurück, das mit seinen roten Haaren schon von Weitem zu erkennen und im Ort bekannt und sehr beliebt war.

Kurz darauf setzte sich ein silberner Golf GTI hupend neben Mia. Aus dem Wageninneren drang laute Musik, die von den Auspufftöpfen jedoch noch übertroffen wurde. Das ganze Fahrzeug wummerte ohrenbetäubend. Die Insassen waren drei Jugendliche, Urlauber, wie Mia am ortsfremden Nummernschild erkennen konnte.

Sie pfiffen und johlten und schrien ihr zu, doch bei ihnen mitzufahren. Der Beifahrer hielt eine geöffnete Schnapsflasche aus dem Wagenfenster.

„He, du rote Hexe, komm, trink einen mit uns. Wir werden viel Spaß haben“, rief er aus dem Fenster. Die anderen fielen grölend ein. Den ganzen Weg bis nach Harlesiel fuhren sie neben ihr her. Der Fahrer, immer wieder den Blick auf Mia richtend, verlor plötzlich die Gewalt über sein Fahrzeug und kam nach rechts auf den Grünstreifen zwischen Straße und Radweg ab. Nur mit Mühe konnte er den Wagen abfangen, gegenlenken und schoss anschließend quer über die Fahrbahn auf den Gegenverkehr zu. Bremsen quietschten und lautes Hupen war zu hören, bevor das Fahrzeug auf dem gegenüberliegenden Fußweg zum Stehen kam. Erschrocken sah Mia zur Seite und bremste kurz ab. Beinahe hätte es einen Unfall gegeben. „Idioten“, murmelte sie und fuhr dann weiter. „Die sollen mir bloß vom Hals bleiben.“

Kurze Zeit später war der Golf wieder neben ihr.

„Hallo, Hexe“, schrie der Beifahrer, „du bist schuld, dass es fast gekracht hätte. Wir haben was gut bei dir. Halt an und lass uns Spaß haben.“

Er machte eine eindeutige Handbewegung. Mia tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn und trat weiter fest in die Pedale. Der Weg zum Strand, den sie so oft fuhr, kam ihr jetzt sehr lange vor. Wenn die Kerle doch nur verschwinden würden. Aber den Gefallen taten sie ihr nicht. Der Fahrer hupte immer wieder, gab Gas, bremste ab, dass die Reifen quietschten, um dann wieder mit aufheulendem Motor und röhrendem Auspuff Gas zu geben. Die beiden Mitfahrer streckten sich aus den heruntergelassenen Fenstern und brüllten ihr eindeutig-zweideutige Angebote zu.

„Ekelhafte Kerle“, Mia schüttelte sich. „Hoffentlich werde ich sie rechtzeitig los, bevor ich am Strand bin“, bangte sie. Doch als sie die Schleuse vor der Küste erreicht hatte, waren die Typen noch immer da, nun bedenklich nah, denn hier gab es keinen Radweg mit schützendem Grünstreifen mehr. Jetzt war es für Mia nicht mehr nur unangenehm, sondern auch gefährlich. Einer der beiden Mitfahrer griff immer wieder nach ihr und hätte fast den kurzen roten Rock zu fassen bekommen. Sie musste von der Straße!

Direkt nach der Schleuse sprang Mia von ihrem Rad, griff sich Lenker und Sattelstange und schob es den schmalen, gepflasterten Weg zum Deich hinauf. Hierhin konnte ihr das Auto nicht folgen. Der Fahrer hupte, blieb kurz stehen, musste dann aber weiterfahren, da es hinter ihm zu einem Stau gekommen war. Die jungen Männer riefen ihr noch etwas zu, was Mia als „Wir sehen uns wieder“ verstand. Mit klopfendem Herzen schaute sie dem silbernen Golf nach, der den Weg weiter hinunter zum Hafenparkplatz nahm und murmelte: „Hoffentlich nicht!“

Schnell stieg sie wieder auf ihr Rad, fuhr auf der Deichkrone entlang und dann nach links runter zum Strand.

„Ich hab die blöden Kerle abgehängt“, freute sie sich und vergaß das Geschehene sofort wieder. Gleich würde sie Mirko treffen.

Der silberne Golf hielt mit laufendem Motor und röhrendem Auspuff mitten auf dem Hafenparkplatz. Der Fahrer, wohl noch der Nüchternste von allen, stieg aus und sah von Weitem Mias roten Pferdeschwanz in Richtung Strand hinter dem Deich verschwinden.

Seine beiden Mitfahrer hatten das Mädchen in ihrem Alkoholrausch schon längst vergessen und torkelten aus dem Wagen. Er nicht, so schnell gab er nicht auf. „Na warte, du rote Hexe“, fauchte er böse und blickte ihr gierig nach.

Er war allerdings nicht der Einzige, der Mia beobachtete.

Ein anderes Fahrrad hielt oben auf dem Deich. Der Fahrer hatte dort einen guten Überblick und verfolgte das Geschehen aus der Ferne. Er sah Mia Richtung Strand fahren und auch, dass die Insassen des Golfs ihr Fahrzeug verließen und auf das Küstenrestaurant zuliefen.

„Von wegen schwimmen, ich weiß genau, was du vorhast“, murmelte er mit Blick auf Mia, „das muss ein Ende haben.“ Langsam rollte er den Gründeich hinunter zum Strand. Das war eine wackelige Angelegenheit, denn er konnte nur mit einer Hand lenken. Die andere sicherte den wertvollen Inhalt eines Koffers, der auf dem Gepäckträger befestigt war.

Wo bleibt Mia?

Als sie einen Schatten am Küchenfenster vorbeihuschen sah, atmete Elisabeth auf. „Gott sei Dank, da kommt das Kind, wird aber auch Zeit. Wenn jetzt der Jens endlich seinen Schuppen verlässt, können wir essen. Wird doch alles kalt.“ Kurz darauf hörte sie die Hintertür und rief: „Mia! Wo bleibst du nur? Du hast versprochen, pünktlich zum Essen zurück zu sein.“

„Is’ nich’ Mia, ich bin’s“, kam ihr Sohn maulend um die Ecke.

„Du? War das denn nicht die Mia, die ich eben am Fenster gesehen habe?“

„Nein, ich bin gekommen.“

„Warst du denn mit dem Rad weg? Ich dachte die ganze Zeit, du sitzt im Schuppen an deinem Motorenkram.“

„Mama, dieser Motorenkram, das sind hochtechnische, ferngesteuerte Flugzeuge, Drohnen und Schiffe. Aber das wirst du nie kapieren, weil es dich nicht interessiert, weil dich nichts interessiert, was ich mache.“ Wütend schlug Jens mit der flachen Hand gegen die Küchentür, dass sie aufflog und von der Wand wieder zurückgeworfen wurde. Die Tür traf ihn an der Schulter und seine Brille rutschte ihm von der Nase.

„Jens!“, schrie Elisabeth auf, „was soll das denn? So kenne ich dich gar nicht.“ Elisabeth war entsetzt. Jens hob seine Brille vom Küchenboden und nestelte ablenkend daran herum. So kannte er sich selbst nicht. „Mia, immer wieder Mia“, maulte er dann weiter und verließ die Küche. „Wenn sie kommt, essen wir, das kann nicht mehr lange dauern.“

„Ohne mich, mir ist der Appetit vergangen.“

Mit großen Schritten sprang er die Treppe ins Obergeschoss hoch, krachend fiel seine Stubentür ins Schloss. Das Theater um Mia nervte ihn – und außerdem: Auf Mia wirst du lange warten können, wusste er.

Schluchzend warf er die Hände vors Gesicht.

Elisabeth ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und wischte mit der Hand über ihr Gesicht. „Das ist die Hitze“, beruhigte sie sich selbst, „die macht wirklich alle verrückt.“

Wo die Deern nur blieb?

Ein Blick auf die Küchenuhr neben dem Schrank zeigte ihr, dass das junge Mädchen nun schon über eine Stunde überfällig war. Sie war sonst immer pünktlich, da musste etwas passiert sein. Den Gedanken, Mia auf ihrem Handy anzurufen, verwarf Elisabeth gleich wieder. An den Strand nahm sie es nie mit. Worin denn auch? Schließlich trug sie nicht viel mehr als das Badezeug, und eine Tasche mitzunehmen, war ihr einfach zu umständlich. „Jens“, rief sie nach ihrem Sohn, „kannst du nicht mal ...“, brach dann aber ab. Nein, ich fahr selbst, entschied sie sich energisch, und holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen. Elisabeth musste einfach sichergehen, dass Mia nichts passiert war.

Mirko

Mirko war genervt, es gab viel zu tun, vor allem heute am Sonntag. Ausgerechnet jetzt kam Mia durch den Sand auf ihn zugelaufen. Der Strand war voller Badegäste, die er dafür gewinnen wollte, eine der vielen Kunststoffinseln draußen auf dem Wasser zu buchen. Braun gebrannt mit dunklen kurzen Haaren, muskulös und nur mit einer legeren Badehose bekleidet – seine vierunddreißig Jahre sah man ihm wirklich nicht an –, stolzierte er durch die Reihen der Strandkörbe, immer auf der Suche nach potenziellen Kunden, besser noch Kundinnen. „Normalos“, gab er an seine Mitarbeiter ab. Ein „Normalo“ hatte er zu Hause. Ihn interessierten vor allem Frauen, gut gebaute Frauen. Und diese sich auch für ihn. Viele warfen ihm schmachtende Blicke zu, andere schauten ihm verstohlen nach. Hatte eine angebissen, überredete er sie dazu, für einige Zeit eine der Inseln draußen zu buchen. „Bräunen und entspannen, weit weg vom Strand und lauten Menschen. Erholung pur!“, so warb er für seine Idee. Er selbst oder einer seiner beiden Mitarbeiter brachte die Gäste dann mit dem Schlauchboot hinaus und holte sie nach der gebuchten Zeit wieder zurück zum Strand. Die Menschen fanden es aufregend, aber auch erholsam. Manche verbrachten dort ein oder zwei einsame Stunden, manche ein Schäferstündchen. Oft ergab sich dann auch für ihn später ein nettes „Nebenbei“. Aber nur einmal, ein zweites Mal ließ er sich nur sehr selten auf eine seiner Kundinnen ein. Anschließend war er gelangweilt und froh, die Frauen nicht mehr zu sehen. Wofür hatte er denn seine Mitarbeiter?

Mit Mia war das anders. Sie war keine Kundin, kein Badegast, sondern ein Mädchen von hier. Jung, hübsch, mit feuerroten Haaren und unschuldig. Und diese Unschuld hatte ihn für einige Zeit gereizt. Nun tauchte sie schon wieder hier am Strand auf und nervte. Das musste aufhören, sie störte. Wirklich landen konnte er bei ihr sowieso nicht, hatte er inzwischen festgestellt. In dieser Beziehung war Mia mittelalterlich eingestellt, wie er es nannte. Obwohl es Mirko schon sehr schmeichelte, dass ihm ein solch junges Mädchen nachlief und es ihn natürlich scharf machte, bei ihr vielleicht der „Erste“ zu sein. Inzwischen ging sie ihm gehörig auf die Nerven. Im Gegensatz zu ihr wollte er nicht nur knutschen. Andere Frauen, gestandene Frauen konnte er haben, also was sollte er sich mit der zugegeben toll aussehenden, aber prüden Mia abgeben?

Vor einigen Wochen hatte er Laura, eine Bekannte von Mia, ausprobiert. Das totale Gegenteil von Mia, griffig, wie ein Mann es zwischendurch mal liebt, mit großem Busen und willig, im Unterschied zu Mia. Aber nach einer kurzen Episode hatte er genug von ihr. Diese etwas derbe Laura konnte ein Mann wie er nur heimlich treffen, schließlich wollte man seinen Ruf nicht ruinieren. Nun kam sie angelaufen. Mia. Wieder einmal in reizvollem, leuchtendem Rot und sprang ihm an den Hals. „Mirko, ich habe mich so auf dich gefreut. Gehen wir schwimmen?“ Mirko machte sich von ihrer Umklammerung frei und stellte sie zurück in den heißen Sand.

„Süße, ich habe keine Zeit, und außerdem müssen wir mal reden, so ...“

„Ich habe auch nicht viel Zeit“, unterbrach sie ihn, „nur eine Stunde, die können wir doch zusammen verbringen. Heute ist Sonntag, da musst du sicher nicht arbeiten.“

„Ich muss immer arbeiten, Süße! Der Strand ist voll, wie du siehst.“

„Ach, nur eine Stunde, oder wenigstens eine halbe. Bitte, Mirko.“

Im Grunde war Mia eine kluge junge Frau. Durchorganisiert, eine, die genau wusste, was sie wollte. Sie war andererseits aber auch wild und in manchen Dingen ungestüm, vor allem wenn es galt, ihren Kopf durchzusetzen. Die Jungs in ihrem Alter interessierten sie nicht, außerdem war ihr die Schule wichtiger, als mit einem pubertierenden Pickelgesicht, wie sie sich auszudrücken pflegte, knutschend in der Ecke zu sitzen. Aber mit Mirko war das anders. Bei ihm setzte ihr cooler Verstand aus und die wilde Mia kam durch. Nur schlafen wollte sie mit ihm nicht. Noch nicht. Das hatte Zeit.

Mirko wehrte erneut ab.

„Nicht mal eine halbe Stunde, glaub mir, und überhaupt, du gehst mir so langsam ...“ Doch dann brach er ab und überlegte es sich anders.

„Komm“, meinte er plötzlich, „wir gehen zusammen kurz raus auf eine Insel“, er deutete auf das Wasser, „die rechte äußere ist noch frei. Der leichte Wind draußen auf dem Wasser wird uns guttun.“

Er schnappte sich eines der kleinen, weißen Schlauchboote und zog Mia zum Wasser. Auf der Insel würde er ihr erklären, dass sie ihn in Ruhe lassen müsse. Draußen war das besser als hier am Strand. Eine Szene dieser jungen Wildkatze konnte er beim besten Willen nicht brauchen. Die kleine, schwimmende Insel war weit genug weg und wie dafür gemacht. Auf dem Weg zur Wasserkante schlüpfte Mia aus ihrem roten Rock, zog das Top über den Kopf und warf beides achtlos in den Sand. Anschließend schnickte sie ihre Flipflops von den Füßen und lief freudig neben ihm her. Geschafft!

Einige Badegäste sahen dem ungleichen Paar nach, dem braun gebrannten Muskelpaket und diesem hübschen Mädchen mit dem feuerroten Haar, im knappen, roten Bikini, und vergaßen es sofort wieder. Einige, nicht alle ...

Hinter einem der vielen Strandkörbe versteckt, lugte Laura, Mias Mitschülerin, hervor. Beide befanden sich bald im letzten Jahr vor dem Abitur. Laura war ebenso jung, allerdings nicht so schlank und hübsch wie Mia. Eher stämmig und herb. Böse schaute sie ihrer Freundin nach, wie diese an der Hand von Mirko ins Wasser lief.

Auch sie trug nur einen knappen Bikini, der an ihr jedoch nicht sehr vorteilhaft wirkte. Um den Hals trug sie eine dünne lange Kette, deren Anhänger zwischen ihren üppigen Brüsten endete. Ihre langen Haare hatte sie in der Mitte gescheitelt und im Nacken fest zusammengebunden. Alles in allem: Haare, Figur, Schmuck und die pralle Figur der jungen Frau in dem knappen Bikini waren ein bizarrer Anblick. Das schien sie jedoch nicht zu stören.

„Mia!“, fauchte sie. „Immer die Beste, immer die Schönste ..., wie ich dich hasse. Ich weiß genau, wo ihr hinwollt. Dort war er mit mir auch.“ Laura ballte die Hände zu Fäusten, dass die Fingerknöchel weiß wurden.

„Sag mal“, hörte sie eine männliche Stimme hinter sich, die sie aus ihren Gedanken riss, „kennst du diese kleine rote Hexe?“

Laura drehte sich um und betrachtete den jungen, muskulösen Mann, der sich leise hinter sie gestellt hatte, mit abschätzendem Blick.

„Ja, das ist Mia, eine Freundin, klar kenne ich sie, warum? Was willst du von ihr?“, fragte sie schnippisch. Das Wort Freundin hatte sie abfällig ausgespuckt. Sie musterte ihn weiter von oben bis unten. An seinem rheinischen Dialekt erkannte sie sofort, dass er ein Tourist war. Sein gieriger Blick zeigte ihr, dass er scharf auf Mia war. Die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf, so sehr starrte er ihr nach.

„Mia heißt sie also. Meine Kumpels und ich haben sie ...“

„Was wollt ihr blöden Typen nur immer von Mia?“, fragte Laura trotzig, „hier gibt es schließlich noch andere ...“

„Nee, lass mal“, unterbrach er sie und lief langsam durch den Sand in Richtung Wasser, die Augen starr auf das Mädchen mit den roten Haaren gerichtet. Mit langen Schritten watete er durch das ansteigende Wasser und warf sich dann in die Fluten.

„Freundin“, stieß Laura durch die geschlossenen Zähne hervor, „von wegen!“ Lange schaute sie der roten Mia und Mirko nach, die auf ihrem weißen Boot immer kleiner wurden. Der Fremde kraulte mit starken Armschlägen davon.

„Hau bloß ab, blöder Kerl, ersaufen sollst du“, giftete sie hinter ihm her. Warum waren alle Typen nur hinter Mia her? Er, Jan, Mirko! Mirko, in den sie schon so lange verliebt war und mit dem sie nur eine einzige Nacht verbracht hatte. Bis letztes Jahr hatte er eine kleine Surfschule und sie extra einen Surfkurs persönlich bei Mirko gebucht, um ihm nah zu sein.

Und Jan, der letztes Jahr sein Abitur gemacht hatte und in dieser Saison hier bei Mirko einen Sommerjob machte. Auch er hatte nur versucht, sich an sie heranzumachen, um, wie sie feststellen musste, von ihr etwas über Mia zu erfahren, der Scheißkerl. Und jetzt noch dieser Touri. Alle wollten Mia, immer nur Mia, schrie es in ihr. Irgendwann zahle ich es euch heim, euch allen. Fest umklammerte sie die dünne Kette an ihrem Hals. „Irgendwann kommt meine Zeit!“, fauchte sie.

Laura kochte. Verdammte Saukerle. Verdammte Mia. Mia, immer nur Mia, schrie es in ihr. Na warte! Leise murmelte sie: „Ich muss wissen, was die da draußen treiben, Mia und Mirko.“ Ihr Blick fiel auf ein Surfbrett, das einsam gegen einen Strandkorb gelehnt war. Sie nahm es auf und stieg ebenfalls ins Wasser, obwohl sie keine geübte Surferin war.

Ein weiteres Augenpaar folgte dem kleinen weißen Punkt weit draußen auf der Nordsee, der immer kleiner wurde ... den Schwimmer und auch Laura nahm es nicht wahr.

Verschwunden

Als Elisabeth Bengels auf dem Deich ankam und Richtung Strand blickte, war ihr sofort klar, dass es ein fast aussichtsloses Unterfangen war, Mia unter diesen vielen Menschen zu finden. Sie hoffte allerdings auf die Farbe Rot. Sicher fiel das Kind durch ihr Aussehen unter den Menschen auf. Langsam fuhr sie durch die knapp bekleideten Strandbesucher. An der Strandkasse vorbei und über den schmalen Holzsteg Richtung Strand rollend, schweifte ihr Blick langsam über die Badegäste. Erhöht, auf dem Fahrrad, konnte sie den Strand einigermaßen überschauen. Trotzdem war es fast unmöglich, alles zu sehen, zu viele Menschen und vor allem Strandkörbe verbauten ihr die Sicht. Nein, das war unsinnig, so ging das nicht! Was sollte sie nur tun? Elisabeth war verzweifelt. Ein Blick nach rechts auf die Uhr am kleinen Meerwasserfreibad zeigte ihr, dass Mia nun schon mehr als zwei Stunden überfällig war. Das war nicht ihre Art, es musste etwas passiert sein. Auch wenn Mia in ihrem oft wilden und ungestümen Wesen sich nicht gerne etwas sagen ließ, ihren eigenen Kopf hatte, verlassen konnte man sich auf sie. Über zwei Stunden Verspätung waren nicht normal. Elisabeth stand der Schweiß auf der Stirn, ob bedingt durch die gnadenlose Hitze oder die Aufregung, war ihr egal. Sie musste Mia finden. „Sofort“, schrie es in ihr.

Plötzlich durchfuhr sie ein freudiger Schreck. Am Gründeich, unterhalb des Restaurants Wattkieker, lag ein rotes Fahrrad im Gras. Mias Fahrrad, das erkannte sie sofort. Also war sie hier. Hier am Strand. Aber wo?

*

Jens saß inzwischen wieder in seinem Schuppen. Hier war es angenehm kühl und gut auszuhalten bei dieser extremen Hitze, die draußen herrschte. Nachdem er sich kurz unter die Gartendusche gestellt hatte, nahm er den kleinen Videochip aus der Drohne, steckte ihn in seinen Laptop und blickte ungeduldig auf den Bildschirm. Er wollte das, was sich vorne am Strand und draußen auf dem Wasser abgespielt hatte, noch mal genauer anschauen. Die kleine Kamera in der gut ausgestatteten Drohne hatte ihm fantastische Bilder geliefert, aber dann war das Bild plötzlich abgebrochen. Kurz über der Wasseroberfiäche, kurz über diesem Idioten Mirko.

Schon die ersten Bilder ließen seinen Puls sofort wieder hochschnellen und er erlebte das Geschehene ein weiteres Mal hautnah, wie live.

Mia und dieser alte Kerl auf der weißen Kunststoffinsel! Sie gehörte zu einer Reihe von kleinen Inseln, die in größeren Abständen nebeneinander aufgereiht waren. In der Mitte ragte jeweils eine aufblasbare Palme hervor. Auf der nördlichen Seite war ein kleines Boot befestigt.

Mia und Mirko! Etwa zweihundert Meter außerhalb des bewachten Badebereiches, draußen, alleine auf dem Wasser. Nun saßen sie sich auf der knapp drei mal drei Meter großen Insel gegenüber. Mia im Schneidersitz, Mirko hatte seine Beine um Mias Hüften geschlungen. Zuerst knutschten und umarmten sie sich, dann fummelte der schmierige Typ an ihrem Bikini herum. Wie es aussah, wollte Mia das nicht, zuerst. Doch dann wurden ihre Bewegungen zarter und sie schmiegte sich an ihn. Jens überkam wieder ein Gefühl der Ohnmacht. Er sah es, beobachtete alles von oben und konnte nichts tun. Am liebsten hätte er dem Kerl eine in die Fresse gehauen. Die Kamera zoomte näher heran. Nun hatte er tatsächlich ihr Bikinioberteil gelöst und berührte ihre Brüste. Diese kleinen festen Brüste, die er so liebte. Oft schon hatte er sie gesehen, schließlich war er ihr Bruder ... ihr Bruder?

Jens wurde es ganz heiß. Mia, das war seine Mia. Er konnte erkennen, dass der Kerl sich nun auch an Mias Slip zu schaffen machte. „Nein!“, schrie es in ihm. „Nein! Nimm deine dreckigen Finger weg. Sie gehört mir! Warum darf er sie anfassen und ich nicht? Das ist schmutzig. Mia, warum lässt du das zu? Du bist schmutzig.“ Dann veränderte sich die Situation draußen auf dem Wasser plötzlich. Es schien Streit zu geben. Zwar konnte er nichts hören, aber an der Gestik der beiden war klar zu sehen, dass sie stritten.

Jens war stolz auf seine Ausrüstung. Es war einfach super, dass man alles so deutlich erkennen konnte. Ja, sie stritten, das hatte er vor einer guten Stunde auf seinem kleinen Monitor, live, vor Ort schon erkannt und er sah es jetzt wieder.

Der Kerl hielt mit beiden Händen Mias Oberarme umklammert und es sah aus, als redete er auf sie ein. Dann geschah es. Mia löste sich plötzlich aus seiner Umklammerung und schlug wie wild auf ihn ein, dass die Insel schwankte. Es war eindeutig, dass sie wütend war. Sehr wütend. Ihre Haare hatten sich gelöst und fiogen wild um den Kopf. Plötzlich geriet die Insel noch heftiger ins Schwanken, Mirko rutschte herunter und tauchte in der Nordsee unter. Als er wieder an die Oberfiäche kam, schwamm er heran und versuchte aufzusteigen. Doch Mia schrie etwas, trat und schlug nach ihm, gegen den Kopf, gegen die Schultern, wild wie eine Furie, sodass er es aufgab und mit einigen langen Zügen Richtung Strand schwamm. Dann stoppte er, blickte zurück, schwamm einige Zeit auf der Stelle und tauchte plötzlich ab.

Was führte dieser Mirko im Schilde?

Mia hatte sich hingelegt, die Haare leuchteten wie ein glühender Feuersturm auf dem weißen Untergrund. Ihr kleines, rotes Bikinioberteil lag quer über ihren Augen, sicher, um sie vor der Sonne zu schützen, eine Hand hing über den Rand der Insel und paddelte sanft im Wasser. Jens seufzte.

Plötzlich fuhr sie hoch. Die Augen mit der rechten Hand schützend, suchte sie den Himmel ab und machte dann mit der linken eine abwehrende Geste. Sie hatte ihn entdeckt, seine Drohne entdeckt. Jens zog näher heran. Sollte sie doch merken, dass er sie beobachtete. Mia tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn, er konnte es genau sehen, und legte sich dann wieder zurück auf die schwimmende Insel.

Dieser makellose, weiße Körper im knappen roten Bikinihöschen und ihre betörenden Haare ließen ihn einfach nicht los. Immer näher zoomte er das Bild heran und zuckte wieder zusammen, denn Mirko tauchte urplötzlich einige Meter hinter der Insel auf. Mit langsamen Bewegungen schwamm er darauf zu. Wieder stützte er sich am Rand auf, diesmal an der gegenüberliegenden Seite, und versuchte erneut, sich hochzuziehen.

Die Insel schwankte stark. Mia fuhr hoch und rief etwas, wie Jens erkennen konnte. „Verschwinde, Scheißkerl“, schrie er auf und steuerte die Drohne schwungvoll näher. Für Sekundenbruchteile glaubte er einen dunklen Punkt, etwas wie einen Schatten im Wasser, zu erkennen, doch plötzlich brach das Bild ab, nur noch schwarz-weiße Streifen und anschließend ein Schneegestöber waren zu sehen.

Was war denn nun los? Der kleine Monitor war dunkel. Aufgeregt betätigte Jens die Fernsteuerung, um das Flugobjekt zurück zum Strand zu lenken. Hoffentlich reagierte es noch so, wie er das wollte, und stürzte nicht ins Wasser. „Ruhig, ganz ruhig“, sprach er sich dann selbst zu. Er kannte die Drohne und ihre Steuerung aus dem Effeff und versuchte weiter, sie Richtung Strand zu lenken. Blind.

„Hoffentlich ist sie nicht ins Wasser gestürzt“, bangte er weiter.

Kurz darauf war in der Ferne ein leichtes Summen zu hören. Jens atmete auf und erkannte den kleinen Punkt am Himmel. Ganz sanft ließ er das Fluggerät neben sich auf dem Gründeich an den Salzwiesen landen.

„Mia“, stieß er nun mit einem Blick auf das Schneegestöber in seinem Laptop hervor, „Mia, meine Mia!“

Er stützte den Kopf in die Hände, schloss die Augen und kämpfte mit der Überlegung, ob er zurück zum Strand fahren solle. Was war nur weiter passiert? Konnte er Mia diesem Typen überlassen? Und war da tatsächlich noch jemand im Wasser? „Unwahrscheinlich“, überlegte Jens. „Mit dem Boot oder einem Surfbrett ja, aber ein Schwimmer würde sich doch sicher nicht so weit hinaus in die Nordsee wagen, oder?“

Vollkommen in seine Gedanken und die Bilder der kleinen Kamera vertieft, schreckte er hoch, als das Handy klingelte.

Es war seine Mutter.

„Ist Mia zu Hause?“, schrie sie in den Apparat, noch bevor er sich meldete.

„Nein, ist sie nicht!“, schrie er zurück, „sie ist ...“, brach aber ab, warf das Telefon wütend auf das Bett und ließ sich selbst schluchzend auf die kühle Seidendecke fallen.

„Komm und hilf mir suchen“, rief Elisabeth Bengels angstvoll in den Apparat. Aber das hatte er wohl nicht mehr gehört. Kurze Zeit später erhob sich Jens von seinem Bett und verließ das Haus.

Wo ist Mia?

Elisabeth war ratlos. Wo steckte das Kind nur? Sie hatte den Strandbereich mehrmals abgefahren. Mias Fahrrad lag drüben am Gründeich, also musste sie hier sein. Aber wo? Sie rannte zu den Toilettenhäuschen, klopfte an jede Tür und rief den Namen ihrer Tochter. Das gleiche wiederholte sie bei den Umkleidekabinen.

„Mia!“, schrie sie immer wieder. „Bist du da irgendwo? Mia!“

Aber sie bekam keine Antwort. Einige Strandbesucher schauten ihr kopfschüttelnd nach.

Mia war nicht da.

Inzwischen suchte sie schon über drei Stunden und war sich sicher, dass etwas passiert sein musste. Mia blieb nicht einfach weg, ohne etwas zu sagen. Nicht Mia!

Elisabeth hatte die Männer der DLRG, die den Badestrand beaufsichtigten, angesprochen und nach dem Mädchen mit den roten Haaren gefragt. „Ach, Mia?“, meinte einer, „nein, die hab ich heute noch nicht gesehen.“

Also kannte man sie hier. Jemandem musste sie doch aufgefallen sein. Elisabeth war verzweifelt.

Ihre letzte Hoffnung waren diese neuen Sommer-Event-Anbieter – was die genau machten, wusste Elisabeth Bengels nicht – an der linken, hinteren Seite des Strandes. Vielleicht hatte man ihre Tochter dort gesehen?

Entschlossen sprang sie auf ihr Rad und radelte die Steinküste entlang. Badegäste, denen sie fast über die Füße fuhr – manche riefen ihr wütende Beschimpfungen nach –, beachtete sie nicht.

Ein junger Mann, auf dessen Shirt „Insel der Ruhe“ aufgedruckt war, kam gerade aus dem Wasser.

„Jan, bist du nicht Jan Bergmanns, der mit Mia auf dem Gymnasium ist?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„War“, antwortete der, „ich hab das Abi schon. Warum?“, fragte er und blickte zur Seite.

„Ich suche Mia, die kennst du doch. Die mit den ...“,

„... roten Haaren, ich weiß. Klar kenne ich Mia. Warum?“, fragte er nochmals.

„Mia ist verschwunden. Hast du sie gesehen?“, wollte Elisabeth wissen. Nein, in den letzten Stunden nicht. In der Mittagszeit glaubte er ihre roten Haare am Strand gesehen zu haben, aber sicher sei er sich nicht, erklärte er achselzuckend. Er wandte sich ab. Mehr könne er nicht sagen, der Strand sei schließlich voll – und bei so vielen Menschen, klar. Außerdem müsse er sich nun wieder um die Gäste kümmern. Jan wandte sich zum Gehen und ließ die aufgeregte Frau einfach stehen.

Enttäuscht ließ Elisabeth sich in den Sand fallen, ihr Fahrrad lag unbeachtet mitten auf dem Steindamm.

*

Laura, die total erschöpft auf einer Bastmatte im heißen Sand zwischen den Badegästen lag und sich von der Sonne trocknen ließ, hatte Elisabeths Aufregung beobachtet und auch, dass diese sich erregt mit Jan, diesem Arsch, unterhalten hatte.

Langsam erhob sie sich, schlenderte zwischen Strandkörben und Badegästen hindurch, tippte Elisabeth Bengels von hinten auf die linke Schulter und setzte sich rechts neben Mias Mutter in den Sand.

Elisabeth fuhr herum.

„Laura, du bist das, ich dachte schon ...“

„Moin, Tant’ Lizzy, was machst du denn hier?“, tat sie ahnungslos, „Mann, ist das heiß heute!“ Sie spielte gedankenverloren mit der Kette in ihrer Hand und steckte sie sich dann zwischen ihre üppigen Brüste.

„Laura, Deern, weißt du, wo Mia ist?“, überhörte Elisabeth die Frage des jungen Mädchens.

„Nö, keine Ahnung“, gab sich diese unbekümmert. „Heute hab ich sie noch nicht gesehen. Warum?“

„Ich kann sie nirgendwo finden. Mia wollte schon vor drei Stunden zu Hause sein. Ihr Rad liegt vorne beim Schwimmbad am Deich, aber von ihr keine Spur. Ich mach mir solche Sorgen, hast du sie wirklich nicht gesehen?“

„Nö, keine Spur“, log Laura weiter. „Aber so ein komischer Typ, ein ‚Touri‘, hat vorhin auch schon nach ihr gefragt. Vielleicht ist sie ja mit ihm weg oder raus aufs Wasser“, setzte sie dem Ganzen noch die Krone auf.

Nun wurde Elisabeth panisch.

„Wer? Wo? Ist er hier am Strand? Kannst du ihn sehen? Oder ist sie mit ihm weg? Rede doch, Kind, ich mache mir solche Sorgen!“

Elisabeth war aufgesprungen und klopfte sich den Sand von der Kleidung.

„Wo hast du ihn denn gesehen?“

Laura rekelte sich kurz im heißen Sand, setzte sich aber gleich wieder auf – er war zu heiß – und tat unwissend.

„Weiß ich auch nicht, Tant’ Lizzy, heute Mittag irgendwann, da vorne, Richtung Wasserkante.“ Sie winkte mit der Hand zum Wasser, das sich nun schon wieder zurückgezogen hatte, meinte wie beiläufig: „Mehr kann ich dir nicht sagen, ich muss dann auch mal los, bin vollkommen platt“, und stand auf.

„Wo ist ihr Rad?“, wollte das junge Mädchen noch wissen und schlenderte davon.

Laura genoss es, Mias Mutter leiden zu sehen. Sollte sie doch, entschied sie. Immer drehte sich alles um die schlanke, schöne, schlaue Mia mit den roten Haaren. Immer die Schönste, immer die Beste. Was die nur dauernd alle haben. Und überhaupt, rote Haare! Geht’s noch? Das ist doch so was von out.

Elisabeth merkte, dass sie von Laura nichts mehr erwarten konnte. Sie hob ihr Fahrrad auf und fuhr langsam wieder den Steindamm entlang. Tränen liefen ihr über das Gesicht, immer wieder schluchzte sie auf. Die große Uhr am Schwimmbad zeigte nun schon nach 16 Uhr.

Ständig ging ihr Blick suchend über den Strand und dann wieder raus in das Watt, das inzwischen deutlich zu sehen war. Menschen liefen nach draußen, Kinder spielten im Matsch.

Urlauber, aber auch viele Menschen aus Carolinensiel, aus Harlesiel sowie aus dem Umland waren an diesem heißen Sommertag am Strand. Viele Gesichter kannte sie. Junge Leute, auch aus Mias Schule, aber auch ältere waren hier. Einige sprach sie noch an, aber niemand konnte etwas über Mia sagen. Kurz, im Vorbeigehen gesehen, ja, aber gesprochen hatte keiner mit ihr. Weder Jan noch Laura oder ein anderes junges Mädchen, dessen Namen sie nicht kannte. Auch keiner der anderen jungen Leute, in die sie so viel Hoffnung setzte, konnten ihr etwas sagen.

Müde und kraftlos ließ sie sich auf eine Bank am Strand fallen, zog das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von zu Hause. Niemand meldete sich. Anschließend tippte sie Jens’ Nummer ein, doch nur seine Mailbox sprang an.

Leer wanderte ihr Blick hinaus zum Horizont. Mia war weg und würde nie mehr wiederkommen, das sagte ihr ein inneres Gefühl, nein, das wusste sie. Irgendetwas Schreckliches war passiert, jemand hatte ihr etwas angetan!

Plötzlich kam Leben in die Frau.

„Ich werde ihr Fahrrad mitnehmen, nach Hause fahren und die Polizei anrufen“, beschloss Elisabeth.

Die Menschen, denen sie begegnete, schauten ihr verwundert nach. Was war denn das für eine rätselhafte Person, die da laut weinend und völlig aufgelöst durch die Gegend fuhr? Elisabeth bemerkte gar nicht, dass sie laut schluchzte, ihre Gedanken waren bei Mia.

Dann allerdings ging ein Ruck durch ihren Körper.

Das Fahrrad, das auffallende rote Rad, dass sie noch vor Stunden am Gründeich hatte liegen sehen, war weg, verschwunden. Und plötzlich wurde sie euphorisch. Wie wild trat sie in die Pedalen und fuhr die Straße zum Deich empor, raste Richtung Brücke – zum Glück war sie nicht geöffnet –, Autofahrer und Radler konnten die Straße ungehindert passieren.

„Sie ist zu Hause“, schoss es ihr in den Kopf. „Wir haben uns nur verpasst. Sie hat ihr Rad genommen und ist nach Hause gefahren. Sicher hat sie das Telefon nicht gehört.“

Jetzt waren es Freudentränen, die ihr über das Gesicht liefen. „Ich habe mir umsonst Sorgen gemacht.“

Solche Ängste hatte sie ausgestanden, die wünschte sie niemandem, solche fürchterlichen Ängste.

In wilder Hatz raste Elisabeth Bengels über den Radweg von Harlesiel in Richtung Carolinensiel. Nach der Friedrichschleuse ging es ein wenig bergab, hier konnte sie nachlassen und das Rad lief von alleine. Auf der Höhe der Deichstraße trat sie wieder kräftig weiter. Menschen kamen ihr entgegen, sie kannte niemanden, und selbst wenn, es wäre ihr nicht aufgefallen. Elisabeth ging es nicht schnell genug. Wenn sie doch nur schon zu Hause wäre!

Ein Pulk von Radfahrern kam auf die Raserin zu und so musste sie ein wenig abbremsen, um nicht in die Gruppe hineinzufahren. Sie kurvte um die Menschen herum, und in diesem Moment der langsamen Fahrt sah sie aus den Augenwinkeln etwas Rotes im Gebüsch vor dem Zaun eines Hauses links im Gras liegen.

Heftig trat sie die Rücktrittbremse und wäre fast gestürzt.

Rot! Die magische Farbe Rot!

An den Zaun gelehnt, halb verdeckt vom hohen Gras, lag Mias Fahrrad.

„Nein“, schrie Elisabeth angstvoll auf. „Nein!“

Sie warf ihr eigenes Rad zur Seite und lief darauf zu.

„Nein!“, schrie sie immer wieder und nun schon mit kratzender Stimme.

„Neeiin. Mia! Mia, Mia, wo bist du?“ Wild schaute sie sich um.

Wattwürmer