Leadership ohne Blabla - Christian Lagger - E-Book

Leadership ohne Blabla E-Book

Christian Lagger

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Beschreibung

Dieses Leadership-Buch ist anders als andere Leadership- Bücher. Es enthält Anregungen für (selbst)kritisches Nachdenken statt vermeintlicher Erfolgsrezepte. Es vermittelt Führungserfahrungen statt Führungstechniken. Und es beschreibt ein mögliches Werte-Fundament von Führung und verzichtet dafür auf das gängige Postulat von Führungsregeln. Denn wer mit Menschen arbeitet, nimmt zuallererst wahr und hört aufmerksam zu, bevor er oder sie entscheidet. Führungskräfte ohne Blabla verfügen neben der fachlichen auch über kognitive und emotionale Intelligenz, verknüpfen Führung mit Selbstführung, sind mutig und vor allem demütig. Denn echtes Leadership ist kein Selbstverwirklichungsprogramm, sondern dient einer sinnvollen Sache.

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CHRISTIAN LAGGER CLEMENS SEDMAK

LEADERSHIPOHNE BLABLA

WAHRNEHMEN ZUHÖREN ENTSCHEIDEN

Vorwort

I. FÜHRUNG

1. Selbstführung

2. Begleiten

3. Ans Ziel führen

II. ORGANISATION

1. Die anständige Organisation

2. Die verborgene Dimension

3. Transformation

III. GESPRÄCH

1. Zuhören

2. Von der Kunst des Gesprächs

3. Streitkultur und Konflikttransformation

Ausgewählte Literatur

VORWORT

In einer der ersten Szenen des legendären Films The Bridges of Madison County finden Michael und Carolyn, als sie nach dem Tod ihrer Mutter Francesca das Haus räumen, einige Briefe, die den beiden klar machen, dass ihre Mutter eine vor ihnen geheim gehaltene Liebe hatte. Um diese Briefe kreist der ganze Film.

So dramatisch wird es in diesem Buch nicht werden; wir haben keine Geheimnisse verraten und keine Geheimrezepte verpackt. Das ist sozusagen auch Teil der Botschaft dieses Buches, nämlich dass Führungsarbeit keine esoterische Kunst ist, die nur wenigen Auserwählten zugänglich wäre. Führungsarbeit hat zwar auch mit Kompetenz zu tun, steht und fällt aber vor allem mit Integrität. Wir behaupten nun nicht, dass wir beide ein Vorbild an Integrität sind, aber wir geben gerne unsere Erfahrungen und unser Bemühen weiter.

Briefe sind eine Form des Dialogs, durch die man sein Gegenüber besser kennenlernen kann. Wenn man die Briefe darüber hinaus zu einer bestimmten Thematik verfasst, können Briefe auch dazu dienen, mehr über eine Sache zu erfahren. Wir haben uns vor zwei Jahren entschieden, einander Briefe zu schreiben, in denen wir Themen wie Führung, Organisation und Kommunikation umkreisen. Dabei fließen unsere beruflichen Erfahrungen ein. Das Persönliche und das Sachliche greifen ineinander. Es war spannend, mehr voneinander und mehr über das Thema Führungsarbeit, das uns beide beruflich beschäftigt, zu erfahren. Es ging uns um eine Reflexion des gelebten Lebens in Führungsverantwortung und in Organisationen. Insofern spiegeln die Briefe unsere Herkunft und unseren Lebensweg wider.

Wir sind beide in unterschiedlichen Berufsfeldern mit Führungsverantwortung betraut. Was uns verbindet, ist die gemeinsame Arbeit im Internationalen Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen (ifz) in Salzburg. Das ifz bemüht sich um „Wissenschaft für Menschen“; es geht darum, benutzer/innenfreundliches Wissen zu bearbeiten. Das haben wir auch in diesen Briefen unternommen. Diese Briefe geben wir nun weiter.

Es geht uns um die Kraft der Persönlichkeit und nicht um die Darlegung von Methoden und etablierten Werkzeugen des Führens und Organisierens. Leadership ohne Blabla bezieht das Menschsein und unsere Erfahrungen mit ein.

Wir hoffen, dass die Briefe anregend sind und Anstoß geben können, über die eigenen Erfahrungen nachzudenken und auch einmal etwas Neues zu versuchen. Da man beim Briefeschreiben die ganze Hand braucht, sind sie ohne erhobenen Zeigefinger entstanden …

Wir danken dem Molden Verlag für die gute Zusammenarbeit und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ifz für ihre Kollegialität. Wir wollen dieses Buch mit Hochachtung und in freundschaftlicher Verbundenheit dem Erzbischof von Salzburg, Dr. Franz Lackner OFM, und dem emeritierten Bischof von Graz-Seckau, Dr. Egon Kapellari, widmen – mit ehrlichem Dank für ihr „Führen durch Klugheit und Aufrichtigkeit“.

Christian Lagger und Clemens Sedmak

Graz, Salzburg, South Bend im Februar 2023

I.

FÜHRUNG

1. SELBSTFÜHRUNG

LIEBER CLEMENS!

Wir hatten vereinbart das erste Kapitel zum Thema Führung mit einem Dialog über Selbstführung zu beginnen. Denn ohne Selbstführung kann eine Führungspersönlichkeit auf Dauer nicht erfolgreich sein. Die Wirtschaftspsychologen Charles C. Manz und Henry P. Sims haben seit den späten 1980er Jahren das Konzept der Selbstführung – niedergeschrieben in dem Buch SuperLeadership: Leading Others to lead Themselves – erarbeitet und stetig weiterentwickelt. Charles C. Manz hat es auf treffende Weise so formuliert: „Leadership is not an outward process; we can and do lead ourselves.“ Mitarbeitende sollen so geführt werden, dass sie befähigt werden, sich selbst zu führen. Manz und Sims haben mit ihren Überlegungen ein fundamentales Bedürfnis von Firmen und Unternehmen beantwortet, die sich im Sog wachsender Digitalisierung und Globalisierung befunden haben. Unter diesen Rahmenbedingungen funktionieren die klassischen hierarchischen Modelle von Führung nicht mehr, oder nur mehr bedingt. In einer sich rasch verändernden Welt braucht es ergänzend neue Formen von Führung. Heute wird diesbezüglich von einer sogenannten VUCA-Welt gesprochen. Volatilität (volatility), Unbeständigkeit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Mehrdeutigkeit (ambiguity) sind gegenwärtig die atmosphärischen Bedingungen, besonders auch von Unternehmen und Organisationen. In Produktion und Vertrieb, in Projekt- und Entwicklungsarbeit werden die Mitarbeitenden zunehmend mehr gefordert, selbstständig Entscheidungen zu treffen, Handlungen zu setzen und nicht auf Weisungen von der Spitze der Hierarchie zu warten. Aber gerade Selbstständigkeit erfordert auch die Fähigkeit zur Selbstführung. Führungskräfte, die ihre Mitarbeitenden zur Selbstführung anleiten, sollten selbst viel Erfahrung und Übung in Selbstführung haben.

Selbstführung setzt eine gute Kenntnis der eigenen Persönlichkeit, eigener Stärken und Schwächen sowie Prinzipien und Haltungen voraus. So gesehen sind Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis Grundvoraussetzung von Selbstführung. Neben kognitiver und fachlicher Intelligenz wird von Führungskräften ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz erwartet. Daniel Goleman, Professor für Psychologie in Harvard, hat in seinem Buch Emotionale Intelligenz besonders die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung hervorgehoben. Sich selbst wahrzunehmen und über sich nachzudenken ist meiner Erfahrung nach am besten in Zeiten der Zurückgezogenheit und des Alleinseins mit sich selbst möglich.

Als eine hilfreiche Methode der Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion habe ich für mich die sogenannten Ignatianischen Exerzitien entdeckt. Chris Lowney, ein ehemaliger Jesuit und jahrelang erfolgreicher Manager bei J. P. Morgan, hat in seinem Buch Heroic Leadership darauf hingewiesen, dass die Exerzitien eigentlich Ausbildungstool für jesuitisches Leadership und für Selbstführung waren – damit also jeder Jesuit quasi eine Führungskraft für sich sein kann. Was sind Ignatianische Exerzitien? Also: Man zieht sich mit professioneller Begleitung in die Stille zurück – das Format gibt es einwöchig bis vierwöchig – und lernt sich, seine Stärken und Schwächen und seine Berufung (sein Why?, bedeutet, warum man auf der Welt ist) in der nachdenklichen Auseinandersetzung mit Bibeltexten kennen. Dieser Erkenntnisprozess hat sein spirituelles Fundament in der Botschaft, dass Gott allen Menschen – also jedem von uns – durch Jesus gesagt hat, dass wir seine geliebten Geschöpfe sind und bleiben. Auch wenn wir uns vielleicht nicht mögen oder lieben können, Gott liebt uns. So lässt sich das Alleinsein vermutlich leichter aushalten.

Jede Führungskraft sollte für sich eine Form des Rückzugs und des mit sich Alleinseins – in einem Kloster oder an sonst einem schönen, stillen Ort – finden, die ein Nachdenken über sich selbst und über eigene Stärken und Schwächen, Prinzipien und Haltungen fördert und damit die Kompetenz der Selbstführung stärkt und vertieft.

Wer Führungsverantwortung trägt, wird manchmal auch Entscheidungen treffen müssen, die nicht allen gefallen. Es sind Entscheidungen, die jemand gemäß eigener Einsichten, Prinzipien und Haltungen treffen muss. Dabei geht es oft um strategische Fragen der Ausrichtung der Organisation und um Personalfragen bei der Trennung von Mitarbeitenden. Hier ist die Fähigkeit zu Selbstführung und die Fähigkeit, Dinge allein durchtragen zu können, besonders gefordert.

Meine Eltern haben mir erzählt, wie sie gebannt vor dem Fernseher gesessen sind, als in den Oktobertagen 1962 in der sogenannten Kubakrise die Gefahr eines Atomkrieges drohte. Die damalige Sowjetunion hatte auf Kuba Atomraketen positioniert. Die Verantwortlichen des US-Militärs haben den Präsidenten zu einem Angriff geraten. Er hat sich nicht unter Druck setzen lassen, sich zurückgezogen, nachgedacht und die Entscheidung für eine Seeblockade getroffen. John F. Kennedy verkündete in einer Fernsehansprache die „Quarantäne“ (= Seeblockade) Kubas. Die Folge war, dass die sowjetischen Raketen – auf Weisung von Nikita Chruschtschow – abgezogen wurden und ab 1963 ein Verhandlungsprozess zur atomaren Abrüstung eingeleitet wurde. Der Präsident äußerte sich über die ihn zu einem Angriff drängenden Militärs: „Wenn wir auf das hören, was sie von uns wollen, wird keiner von uns noch am Leben sein, um ihnen zu sagen, daß sie sich geirrt haben.“ (Robert Dallek, John F. Kennedy – Ein unvollendetes Leben) Nach seiner Entscheidung zur Seeblockade sagte John F. Kennedy zu General M. Taylor: „Ich weiß, Sie und Ihre Kollegen sind unglücklich über diese Entscheidung, aber ich verlasse mich darauf, daß Sie mich darin unterstützen.“ (Ebd.) Präsident John F. Kennedy hat bezogen auf die Frage: „Was ist der bessere Weg, einen Atomkrieg zu verhindern?“, seinen Prinzipien gemäß entschieden. Für mich ist dies ein herausragendes Beispiel für Leadership auf Basis von Selbstführung. Seine Fähigkeit, mit sich allein sein zu können und seine nachdenkende Selbstwahrnehmung waren Bedingungen dafür, seine Entscheidung als Präsident der Vereinigten Staaten durchzutragen.

Lieber Clemens, wenn für die Selbstführung die Kenntnis der eigenen Person wichtig ist, scheint mir neben der Selbstwahrnehmung auch die Fremdwahrnehmung bedeutsam zu sein. Fremdwahrnehmung hat in einer Führungsaufgabe zwei Dimensionen: Wie nehme ich andere Menschen wahr und wie nehmen diese Menschen mich wahr.

Eine Führungsperson hat per definitionem andere Menschen zu führen, um mit ihnen gemeinsam die Ziele der Organisation zu erreichen. Deshalb ist es wichtig, die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kennen und zu wissen, was ihre Stärken und Schwächen sind und was sie motiviert. Empathie ist für gelingendes Führen eine entscheidende Fähigkeit. Wer es nicht aushält, mit anderen Menschen zu sein und keinen positiven und offen wahrnehmenden Zugang zu anderen Menschen findet, ist für eine Führungsverantwortung nicht geeignet.

Genauso aussichtlos ist es, Mitarbeitende wirksam zu führen, wenn kein Gespür vorhanden ist, wie diese mich als Führungskraft wahrnehmen. Bereitschaft für Feedback und konstruktive Kritik der Mitarbeitenden zeichnet gute Führungskräfte aus.

Sir Alex Ferguson, der berühmte Trainer von Manchester United, hat eine Kantine bauen lassen, in der alle gemeinsam essen: Leute vom Reinigungsdienst und des Kartenverkaufs, genauso wie Trainer und Teammanager und berühmte Spieler wie Christiano Ronaldo und David Beckham. Auch Alex Ferguson speiste in dieser Kantine. Wie in seinem Buch Leading nachzulesen ist, wollte er wissen, was bei Manchester United los ist, was die Mitarbeitenden verschiedener Bereiche über Spieler und Trainer und auch ihn selbst dachten. Die Wahrnehmung der anderen Mitarbeitenden half ihm, einen guten Job als Trainer zu machen und die Mannschaft noch besser zu führen.

Lieber Clemens, Selbstführung ist Bedingung guter Führungsarbeit. Das geht ohne ehrliche Selbstwahrnehmung und empathische Fremdwahrnehmung nicht. Aber das ist längst nicht alles, was zum Thema Selbstführung zu sagen wäre. Ich freue mich schon auf Deinen Brief!

Herzliche Grüße

Christian

LIEBER CHRISTIAN,

danke für Deine Überlegungen zur Selbstführung. Diese „selbstführende Ermächtigung zur Selbstführung anderer“ scheint mir entscheidend, die Ermächtigung der Kolleginnen und Kollegen, gut mit sich selbst umgehen zu können. Das ist auch eine Frage von Selbsterkenntnis.

Ich halte es ja für eine gute Übung, an einer Gebrauchsanweisung für sich selbst zu arbeiten. Rein im Gedankenexperiment gesprochen: Angenommen, Du kommst in einen neuen Betrieb oder eine neue Organisationseinheit und man drückt Dir eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der Chefin in die Hand. Da erfährst Du dann, wie sie angesprochen werden möchte, wann ihre bevorzugten Arbeitsstunden sind, wie ihr Kommunikationsstil ist und welche Herzensthemen und Prioritäten sie hat. So eine Gebrauchsanweisung kann ja auf zweifache Weise hilfreich sein: Zum einen hilft sie den anderen. Manche Menschen wollen, dass man langsam mit ihnen spricht, andere bevorzugen das schnelle Wort. Manche lieben Details, andere brauchen das Bild des großen Ganzen. Es gibt Morgenmenschen und Nachteulen, es gibt Menschen, die Berufliches und Privates strikt trennen, andere, die das nicht wollen oder können. Die einen brauchen Ruhe im Büro, die anderen haben gerne eine Geräuschkulisse und Kontakte. Der erste Nutzen einer solchen Gebrauchsanweisung ist also die Orientierung für das Umfeld. Wer sich auf ein Treffen mit potenziellen Schwiegereltern vorbereitet, wäre für eine solche Gebrauchsanweisung dankbar. Welche Reizthemen sollen vermieden werden, welche Fragen sind delikat, welche Begriffe sind tabu?

Zum anderen kann eine solche Gebrauchsanweisung für den Leser selbst nützlich sein. Es ist doch eine anregende Reflexionsfrage: Wenn Du anderen erklären müsstest, was Du brauchst, um gut arbeiten zu können, was würdest Du sagen?

Als ich die Leitung eines Instituts hier an der Universität übernommen habe, hat mich ein Mitarbeiter zumindest indirekt nach einer solchen Gebrauchsanweisung gefragt: Kann man Dich im Büro stören, wenn die Türe geschlossen ist? Willst Du im Detail über Projekte Bescheid wissen oder reicht Dir der Blick auf das Resultat? Bevorzugst Du Email oder Telefon für den Kontakt außerhalb des Büros? Das sind auf der einen Seite Kleinigkeiten, auf der anderen Seite sagen sie aber viel über einen Menschen aus. Die bekannte Unterscheidung zwischen verschiedenen Arbeitsstilen (dominant, beeinflussend, gewissenhaft, stetig) zeigt ja auch mögliche Konfliktfelder auf. Menschen mit dominantem Arbeitsstil lieben den direkten Umgang und scheuen vor Entscheidungen nicht zurück. Menschen mit gewissenhaftem Arbeitsstil sind viel zurückhaltender.

Dieses Nachdenken über das, was Du zu einem guten Arbeiten und Leben brauchst, verlangt Formen der Selbstreflexion und der Selbsterkenntnis, die für unser Thema „Selbstführung“ wohl entscheidend sind.

Du hast in Deinem Brief auch auf den Zusammenhang von „Selbstführung“ und „Selbst(er)kenntnis“ aufmerksam gemacht. Sich selbst zu kennen ist eine wichtige Voraussetzung für den führenden Umgang mit anderen. Wie will jemand, der nicht gut mit sich selbst umgehen kann, andere führen?

Da kann man so viel von Ignatius von Loyola lernen. Nicht nur die Exerzitien, sondern auch die ignatianische Gewissenserforschung (das „Examen“) kann hier dienlich sein; zweimal am Tag, einmal um die Mittagszeit, einmal am Ende des Tages, je eine Viertelstunde innehalten und auf den Tag und das eigene Tun zu blicken, in Dankbarkeit und Demut.

Ignatius von Loyola ist aus Sicht der Führungsethik auch deswegen so bedeutsam, weil er im 16. Jahrhundert eine weltumspannende Gemeinschaft geschaffen hat (zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1556 gab es schon mehr als tausend Jesuiten in 17 Ländern), die nach wie vor besteht, ohne dass sich die ursprünglichen Strukturen wesentlich geändert hätten. Da hat sich also viel bewährt. Ignatius hat großen Wert auf den rechten Umgang mit sich selbst gelegt. In einem viel zitierten Brief an die junge Jesuitengemeinschaft in Coimbra (Portugal), dem Brief über die Vollkommenheit vom 7. Mai 1547, ermahnt Ignatius die zu extremer Lebensweise neigenden Mitbrüder: Eifer müsse vernünftig und maßvoll sein (B 145). Denn ähnlich wie ein Pferd nicht mehr als eine Tagesreise am Tag zurücklegen kann, kann man Gott nicht auf Dauer dienen, wenn man ständig den Bogen überspannt; weiters: „Was man mit zu großer Eile gewinnt, pflegt nicht erhalten zu werden.“ (B 145); drittens: Ein Schiff, das zu voll beladen ist, kann sich nicht mehr fortbewegen. So weist Ignatius auf den maßvollen, guten Umgang mit sich selbst hin. Zwei Jahre vor seinem Tod hatte Ignatius ähnliche Sorgen in Bezug auf den holländischen Jesuiten Caspar Berse; dieser war in Indien als Vizeprovinzial tätig und arbeitete ohne Rücksicht auf seine Gesundheit. Der Sekretär von Ignatius, Juan de Polanco, teilt ihm im Auftrag von Ignatius in einem Brief vom 24. Februar 1554 (B 551ff) mit, dass ein gesundheitsschädigender Lebensstil keine Dauer ermögliche. Es fehle die entsprechende Vernünftigkeit. Es gebe zwei Nachteile, wenn jemand zu hart zu sich selbst sei: Erstens wird der Dienst nicht auf Dauer verrichtet werden können; zweitens: „Wenn Sie so hart gegen sich selbst sind, könnten Sie leicht dazu kommen, es zu sehr gegenüber denen zu sein, für die Sie Verantwortung haben.“ (B 552f) Wiederum empfiehlt Ignatius Maßhalten und Mäßigung.

Ein guter Umgang mit sich selbst ermöglicht eine Ausrichtung „auf Dauer“. Das ist eine Frage der guten Gewohnheiten und damit auch eine Frage der guten Selbstführung, des guten Umgangs mit sich selbst.

Zwei Stichworte will ich hier noch nennen: Selbstführung hängt mit recht verstandener Autonomie zusammen. Der Begriff der „Autonomie“ meint, wie Du natürlich weißt, die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung; also die Fähigkeit, sich ein Gesetz zu geben, an das man sich auch unter widrigen Umständen hält. Autonomie ist gerade nicht „Willkür“ oder ein Leben nach „Lust und Laune“; ich entscheide mich für Bindungen und trage diese durch, so wie Du es von John F. Kennedy geschildert hast. Das ist auch das, was die oberste Stufe der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg ausmacht: die Fähigkeit, Prinzipien zu formulieren, sich für diese zu entscheiden und diese dann auch unter Widerständen durchzutragen – was freilich nicht in Starrsinn, Dickköpfigkeit und Mangel an Flexibilität münden möge. Die Fähigkeit, sich selbst ein auf Dauer angelegtes Gesetz zu geben, verlangt wiederum Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung.

Damit bin ich bei einem zweiten Stichwort, das ich, angeregt durch Deinen Brief, im Zusammenhang mit „Selbstführung“ nennen möchte: den Begriff der „Innerlichkeit“. Menschen, die gut mit sich allein sein können, schöpfen aus einem reichen und tiefen Inneren. Du hast mir einmal geschrieben: „Die Fähigkeit, mit sich allein zu sein, ist etwas Schönes. Menschen, die diese Fähigkeit besitzen, strahlen Ruhe und Zufriedenheit aus. Mit solchen Menschen ist man gerne zusammen. Denn niemand wird es lange mit sich aushalten, wenn er sich grundsätzliche nicht mag, also kein positives und liebevolles Selbstverhältnis hat. Sich mögen ist wichtig, denn nur so können auch die Tiefen des eigenen Inneren angeschaut und ausgehalten werden. Es ist ja nicht immer alles angenehm, was sich da so im eigenen Inneren abspielt. Aber gerade sich selbst aushalten zu können, mit allen Spannungen des eigenen Inneren, ist wertvoll, um auch in einer Führungsrolle Spannungen aushalten zu können. Und derer gibt es viele. Für den Umgang mit Spannungen im Führungsalltag ist es bedeutsam, unterscheiden zu können, was mein Anteil ist und was von außen kommt. Dazu hilft das Wissen um sich selbst und sein Inneres.“

In diesen Zeilen zeigt sich die Bedeutsamkeit eines geordneten Inneren. Augustinus hat in seinen Bekenntnissen einmal „Denken“ als die Fähigkeit charakterisiert, Zerstreutes zusammenzutragen. Damit ich das auch gut tun kann, darf es nicht zu weit verstreut sein; da hilft ein wohlgeordnetes Inneres. Der regelmäßige, achtsame Blick nach innen ist hier gefragt. Auch hier kann Ignatius von Loyola Wesentliches mitteilen. In den Satzungen legt Ignatius im neunten Hauptteil fest, dass der Generalobere der Jesuiten ein Mann des Gebets sein solle (723); wichtiger als Gelehrtheit freilich seien Klugheit und Erfahrung in den inneren Dingen, um die verschiedenen Geister unterscheiden zu können (730).

Dieser sorgsame Blick nach innen will kultiviert sein. Man kann wohl nicht verlangen, dass alle Menschen mit Führungsverantwortung Frauen und Männer des Gebets seien; aber man wird den Wunsch formulieren dürfen, dass sie gut mit sich allein sein können und ihr Inneres pflegen. Die frühchristliche Literatur hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Seele von bestimmten Quellen genährt wird, vor allem von Ruhe, Schönheit und Freundschaft. So wird das Innere gepflegt – durch Ruhe, Schönheit und Freundschaft.

Eine besondere Herausforderung viel beschäftigter Menschen ist das Zerrissensein in den vielen Dingen des Alltags; das Wort „verzetteln“ sagt im Bild, dass wir uns auf viele kleine einzelne Zettel stürzen, ohne das große Buch zu sehen. Ruhe, Schönheit, Freundschaft: Einer der schönsten Tagungsorte, an denen ich jemals war, ist die Villa La Collina am Comosee, die ehemalige Sommerresidenz Konrad Adenauers, in die er sich wochenlang zurückgezogen hat. Du ziehst Dich jeden Sommer auf eine Alm im Osttiroler Deferregental zurück. Ruhe und Schönheit. Und Freundschaft mit Dir selbst.

Alle guten Wünsche

Clemens

LIEBER CHRISTIAN,

nun ist es mein Part, Dir in Sachen „Selbstführung“ ein paar Gedanken zu schicken und Fragen zu stellen. Ich will dazu einen Schritt zurücktreten und allgemein fragen, wie wir es mit dem Begriff „Führungspersönlichkeit“ halten wollen. Ich bin mir nicht sicher, ob es hilfreich ist, die Menschheit in zwei Kategorien einzuteilen, in solche, die Führungspersönlichkeiten sind und in solche, die dafür nicht in Frage kommen. Ich sage nicht, dass es falsch ist, ich bin mir nur nicht sicher, weil dadurch auch ein gewisser Kult befördert wird, der durch die Management(beratungs)szene noch befeuert wird. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion mit einem durchaus sympathischen CEO eines großen Unternehmens, der volksnah gesagt hat: „Ich bin ein ganz normaler Mensch“, worauf mir die Entgegnung entschlüpfte: „Das wissen wir. Aber deswegen fragen wir uns auch, warum Sie so viel Geld verdienen.“

Ich persönlich spreche lieber von „Menschen mit Führungsverantwortung“ als von „Führungspersönlichkeiten“. Natürlich gibt es Menschen, die in Führungspositionen gehievt werden, für die sie nicht geeignet sind. Der Begriff der Überforderung fällt mir hier ein. Immer wieder nützlich scheint mir eine klassische Unterscheidung des polnischen Philosophen (auch Dominikanerpriesters, Sportwagenfahrers und Piloten) Joseph Maria Bochenski. Bochenski hat in einem schmalen Buch mit dem Titel Was ist Autorität? zwischen zwei Formen von Autorität unterschieden: Epistemische Autorität ist Autorität aufgrund von Kenntnis, Fähigkeit, Wissen; deontische Autorität ist Autorität aufgrund von Status in der Hierarchie. Im Idealfall haben wir hier ein Gleichgewicht. Freilich gibt es das Phänomen, dass Menschen viel wissen und können (also reiche epistemische Autorität haben), aber in der Hierarchie weit unten stehen; etwa der Fall der jungen begabten Assistentin, die unter einem überforderten Vorgesetzten arbeiten muss. Ein Überhang von epistemischer Autorität ist frustrierend für die betreffende Person. Ein Überhang an deontischer Autorität ist belastend für das ganze Umfeld. Ein trotteliger Chef, um es einmal so auszudrücken, der aber fest im Sattel der Institution sitzt, schadet dem ganzen Umfeld. Der „Happiness at Work“-Index der Beratungsfirma Chiumento hat in einer Umfrage unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die wichtigsten Faktoren für Zufriedenheit am Arbeitsplatz eruiert; als die drei wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zur Arbeitsplatzzufriedenheit („happiness at work“) haben sich herauskristallisiert: mangelnde Anerkennung, schlechte Vorgesetzte, schlechte Kommunikation. Schlechte Vorgesetzte machen unglücklich.

Es scheint dann, um auf die vorigen Briefe zurückzukommen, wieder eine Sache der rechten Selbstkenntnis zu sein, einschätzen zu können, wann und wie es zu einem Gleichgewicht von epistemischer und deontischer Autorität kommen kann und kommt.

Bochenski hat allerdings wohl noch eine dritte wichtige Form von Autorität außer Acht gelassen: moralische Autorität. Sie hängt mit Redlichkeit (Integrität) zusammen, die wiederum Vertrauen weckt. Vertrauenswürdigkeit ist zweifelsohne ein entscheidender Punkt guten Führens. Darauf werden wir im Laufe unseres Briefwechsels noch zurückkommen.

Unser Thema ist aber die „Selbstführung“: Hier möchte ich auf einen Zusammenhang aufmerksam machen, der für Ignatius von Loyola (ich verspreche, dass ich ihn nicht in jedem Brief erwähnen werde!) eine wichtige Rolle gespielt hat – der Zusammenhang zwischen Führungsfähigkeit und „Geführtwerdenfähigkeit“. Letzteres gibt es nicht als Wort, altmodisch ausgedrückt wäre es der Begriff der „Gehorsamsfähigkeit“. Eine Person, die für Führungsaufgaben in Frage kommt, wird nach Ignatius auch die Eigenschaft haben müssen, zu dienen, zu folgen, sich führen zu lassen. Über das Hören (das dem Wort „Gehorsam“ zugrunde liegt) werden wir noch ins Gespräch kommen. Jedenfalls ist der Zusammenhang zwischen „Führen“ und „Dienen“ interessant, gerade auch unter dem seit den 1970er Jahren so bedeutenden Stichwort „Servant Leadership“.

Du selbst warst jahrelang Sekretär des Diözesanbischofs und als solcher (neben aller Macht, die ein Sekretär natürlich hat!) vor allem auch ein Hörender, Folgender, Dienender, Gehorchender. Ich verwende bewusst diese etwas anachronistisch wirkenden Begriffe, um anzudeuten, dass Führen und Folgen sehr viel näher zusammengehören, als es oftmals dargestellt wird.

Die Autorität Jesu, die von den Zeitgenossen als bemerkenswert erfahren wurde, fußte wesentlich darauf, dass es Jesus darum ging, „den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat“. (Johannes 4,34) Hier tut sich eine interessante Spannung auf, zu der mich Deine Meinung interessieren würde: Nicht das Eigene suchen und doch das Eigene tun.

Lass mich erläutern: Die Kultur des „Servant Leadership“ besteht darin, dass die Person mit Führungsverantwortung nicht das Eigene sucht, nicht den eigenen Vorteil maximieren will. „Korruption“ ist ein Begriff, der andeutet, dass eine Person das Eigene sucht und die eigene Position dafür missbraucht. Gleichzeitig ist glaubwürdiges Führen das rechte „Bewohnen“ einer Rolle. Eine „unbewohnte Rolle“ ist wie das Tragen einer Rüstung, die zu groß ist. Das wird einmal im Alten Testament geschildert: Als der kleine David sich anschickt, gegen den großen Goliat zu kämpfen, überlässt ihm König Saul die königliche Rüstung, die allerdings viel zu schwer ist. Das Resultat: David kann nicht gehen. So beschreibt es die Bibel (1 Samuel 17, 39). Wenn wir sagen, „Diese Schuhe sind zu groß“, deuten wir an, dass ein Mensch einer Rolle nicht gewachsen ist, diese nicht „bewohnen“ kann. Es geht also auch darum, das Eigene zu tun und aus dem Eigenen zu schöpfen. Eine Rolle will „zu eigen gemacht“ werden; da hat jeder Mensch seinen eigenen Führungsstil.

Wie denkst Du über diese Spannung und wie gehst Du damit um: Nicht das Eigene suchen und doch das Eigene tun?

Meines Erachtens und meiner Erfahrung zufolge braucht gute Führungsarbeit gute Selbstführung und diese wiederum braucht eine gewisse Selbstvergessenheit. Die Fähigkeit zur Selbstvergessenheit scheint mir ein unterschätztes Gut in der Führungsethik zu sein. Dazu zwei Gedanken: Der langjährige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, hat in seinem privaten Notizbuch, das posthum unter dem Titel Wegmarken veröffentlicht wurde, viel über Führungsethik nachgedacht, und dabei ein schwedisches Märchen erwähnt; es erzählt von einem König, der eine Krone hatte, die so schwer war, dass er sie nur tragen konnte, wenn er vergaß, dass er sie trug. Das ist ein schönes Bild für die „natürliche Selbstverständlichkeit“, mit der eine Führungsrolle bewohnt und zu eigen gemacht wird. Der zweite Gedanke stammt von Iris Murdoch. Die englische Philosophin hat einmal das Lieben eines Menschen mit dem Erlernen einer Fremdsprache verglichen. Einen Menschen zu lieben, ist wie das Erlernen einer Fremdsprache; es bedürfe der Geduld, des Gehorsams (man muss sich den Regeln der Sprache beugen) und der Selbstvergessenheit. Selbstvergessenheit: Man erlernt keine Fremdsprache, wenn man sich bei jedem Vokabel zitternd fragt, was dieses Vokabel nun mit einem selbst macht.

Die Fähigkeit zur Selbstvergessenheit ist auch verbunden mit der Fähigkeit, in einer Situation präsent zu sein. Es ist eine besondere Gabe, dem Menschen, der gerade bei Dir ist, das Gefühl zu geben, jetzt der wichtigste Mensch für Dich zu sein. Auch das verlangt nach Selbstvergessenheit.

Die Fähigkeit zur Selbstvergessenheit scheint mir auch deswegen so wichtig zu sein, weil in der Führungsethikliteratur gerne der „great men“-Zugang gewählt wird, die Idee, dass Führungsarbeit die Arbeit von „Helden“ sei. Ich will nicht bestreiten, dass es Menschen mit außerordentlichen Fähigkeiten gibt, die auch in der Führungsarbeit wichtig sind. Aber wie immer gilt: Nur Gott sieht in das Herz.

Chris Argrys hat in einem klassischen Beitrag für die Harvard Business Review von erfolgreichen Frauen und Männern erzählt, die einen prestigereichen MBA-Titel tragen (so wie Du, lieber Christian); diese sind aber so erfolgsverwöhnt, dass sie nie gelernt haben, zu scheitern und sich im Falle ihres Scheiterns oder ihres Fehlers als „brittle personalities“ erweisen, als brüchige, zerbrechliche Persönlichkeiten (nicht so wie Du, lieber Christian!). Sie haben also ihre Rolle nur dann spielen können, wenn das Umfeld entsprechend funktionierte. Zäh sind ja nicht immer die Muskelprotze, die auf ein Fitness-Studio angewiesen sind, das die entsprechende Ausrüstung hat. Zäh kann die Hausmeisterin sein, die zum Teil enorme Führungsqualitäten haben muss, die Kindergartenpädagogin, die unter schwierigen Bedingungen Führungsarbeit leistet, die Eltern, die sich führend um ihre Kinder bemühen. Damit will ich auch den Blick auf diejenigen richten, die in der Führungsethikliteratur nicht oft vorkommen.

Zurück zum Scheitern. Die Fähigkeit zu scheitern ist die Fähigkeit, demütig, also realistisch und ohne Verleugnung, mit Versagen und Verfehlen, mit Fehlern und Mängeln umzugehen. Wir beide haben diese Erfahrung gemacht. Ich bin in meiner ersten Professur in Salzburg gescheitert, bin dann nach einer Fehlentscheidung nach London geflüchtet, wo ich nie heimisch wurde. Da war viel Lehrgeld zu zahlen und ich will nicht behaupten, dass ich die Fähigkeit zu scheitern habe. Aber ich habe zweifellos durch das Scheitern gelernt. Wer auf die Nase gefallen ist, kann sie nicht mehr so hoch tragen. Auch Du kennst das Scheitern und damit die bittere Schule des Lebens, die das Lehrbuch und der Hörsaal nicht leisten können.

Nicht das Eigene suchen, aber das Eigene tun; Selbstvergessenheit und die Fähigkeit, scheitern zu können.

Wie denkst Du darüber, lieber Christian?

Herzliche Grüße

Clemens

LIEBER CLEMENS!