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Vorwort zur deutschen Ausgabe Meine erste Begegnung mit Leanne Payne hatte ich 1986 während einer Schulung in England. Sie war die einzige Gastreferentin, für deren Lektionen wir ein ganzes Blatt mit Begriffsdefinitionen erhielten. Nach einer unvergesslichen Woche, gefüllt mit Vorträgen und Gebet, klangen „incarnational reality“ oder „gender identity“ auch für die Briten noch immer ein wenig fremd. In unseren Herzen war jedoch klar: Gottes heilende Gegenwart hatte uns berührt und den eigenen Lebenshorizont weit geöffnet. Die Geschichte von Leanne Payne gibt allen Lesern die seltene Gelegenheit, die Entwicklung eines ganzen Seelsorgedienstes zu verfolgen. Der Einfluss ihrer Bücher (die bis auf das erste, Real Presence, alle in Deutsch vorliegen) und Konferenzen hat nicht nur in den USA sondern auch in Deutschland nachhaltige Wirkung gezeigt. So ist etwa ein „Netzwerk Inkarnation und Seelsorge“ entstanden, das Seelsorger, Therapeuten und Werke verbindet, die in ihrem Dienst den Ansatz von Leanne Payne aufnehmen und weiterführen. Auch aus dieser Sicht ist das Erscheinen der Biografie in deutscher Sprache ein wichtiger Schritt. Das vorliegende Buch vermittelt neue Einsichten über die Anfänge der „Inneren Heilung“ als einer Bewegung, die das ganze Spektrum von den traditionellen Kirchen bis hin zu den neuen Gemeinden erfasst hat. Leser, die Leanne Payne noch nicht kennen, begegnen hier einer Person, die bei allem intellektuellen Anspruch und geistlicher Dimension nie die menschliche Seite vernachlässigt und immer vom Kleinen zum Großen hinweist. Besonders Menschen, die nach einem verheißungsvollen Start als Christ/in auf die eine oder andere Weise gescheitert sind, werden durch ihr Beispiel neue Hoffnung bekommen. Sie lässt uns in diesem Buch daran teilhaben, wie sie es gelernt hat, auf Gott zu hören, ihm zu gehorchen und zu der Person zu werden, durch die Christus so sehr wirken kann. „Wenn Gott mich heilen kann, kann er jeden heilen“, sagt Leanne. Bemerkenswert an Leannes Lebensweg ist zudem ihre Beheimatung in unterschiedlichen kirchlichen Traditionen, von denen sie viel gelernt hat und deren Schätze ihre Theologie und Psychologie prägen. Mit ihrer tiefen Gotteserfahrung bringt sie den Reichtum charismatischer, evangelischer und liturgisch-sakramentaler Spiritualität für das Leben mit Gott zum Leuchten. Ihr Ansatz ist so wahrhaft konfessionsübergreifend. Lassen Sie sich faszinieren von der Sprache, von der Breite und Tiefe ihrer Geschichte. So ungewohnt für den einen oder anderen manches erscheinen mag, die Botschaft von der Wahrheit und Liebe Gottes dringt durch und bleibt „kompatibel“ für Menschen unterschiedlichster Herkunft und Prägung. Wir wünschen allen Lesern, dass sie das heilende Wort empfangen können, das in diesem Buch zu entdecken ist. Christiane Mack Netzwerk Inkarnation und Seelsorge
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Copyright © 2008 by Leanne Payne
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Heaven’s Calling bei Baker Books, a Division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, MI, 49516, USA.
Alle Rechte vorbehalten.
Aus dem Englischen übersetzt von Dorothea Appel
Bibelstellen wurden, wenn nicht anders angegeben, nach der Einheitsübersetzung zitiert.
1. Auflage 2009
Copyright © der deutschen Auflage 2009 Asaph-Verlag
eBook: ISBN 978-3-95459-512-9 (Best.-Nr. 148512)
Print: ISBN 978-3-940188-15-1 (Best.-Nr. 147415)
Titelgestaltung: joussenkarliczek, D-Schorndorf
Satz: Jens Wirth
Druck: CPI Moravia Books, CZ-Pohořelice
Printed in the EC
Informationen über unser umfangreiches Lieferprogramm an Büchern, Musik usw. finden Sie unter www.asaph.de, oder Sie wenden sich an:
ASAPH, D-58478 Lüdenscheid, E-Mail: [email protected]
Der Erinnerung an Mutter und den Familienmitgliedern früherer Generationen gewidmet, die vor mir gelebt und den goldenen Samen des Evangeliums ausgebracht haben.
***
Darum, ihr gottgeweihten Brüder, Mitteilhaber der himmlischen Berufung, schaut hin auf Jesus, den Gottgesandten und Hohenpriester, zu dem wir uns bekennen!
Hebräer 3,1, Bruns
Wer aufsteigt, hört nie auf, durch endlose Anfänge von Anfang zu Anfang zu schreiten. Wer aufsteigt, hört nie auf, zu ersehnen, was er schon kennt.
Gregor von Nyssa
Eigentümerhinweis
Impressum
Widmung
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vorwort
Teil 1 - 1932–1958
1 - Harte Zeiten
2 - Gott, unsere Quelle und unser Sein
3 - Meine große Heldin: Mutter
4 - Ein Heim führt uns wieder zusammen
5 - Grandma
6 - Der Einfluss meiner Verwandtschaft
7 - Der schicksalhafte Umzug
8 - Auf dem Weg zur Heilung
Teil 2 - 1958–1965
9 - Heim zum Vater
10 - Der erleuchtete Weg „Der Geist und die Gaben sind unser“
11 - Durch geistlichen Kampf lernen
12 - Grundlegende Lektionen
13 - Unerwartete Perspektiven
14 - An der Wheaton Academy
15 - Der Geburtsort der Erneuerung
Teil 3 - 1965–1976
16 - Ein Ziel wählen
17 - Die Freuden der akademischen Welt
18 - Moderne Mythologie mit Professor Kilby
19 - Erweckung!
20 - „Auch mahnt mich mein Herz in der Nacht“
Teil 4 - 1976–
21 - Die Suche nach einem Zuhause
22 - Schönheit und Wahrheit mitten im geistlichen Kampf
23 - Reiche Aussaat
24 - Das Jahr in Yale
25 - Intermezzo: Henri Nouwen
26 - Freude in der Gründungsphase
27 - „Wegen einer Zeit wie dieser“
28 - Jubilieren
Danksagungen
Bildteil
Heilwerden in Gottes Gegenwart - „Netzwerk Inkarnation und Seelsorge“ (NIS)
Meine erste Begegnung mit Leanne Payne hatte ich 1986 während einer Schulung in England. Sie war die einzige Gastreferentin, für deren Lektionen wir ein ganzes Blatt mit Begriffsdefinitionen erhielten. Nach einer unvergesslichen Woche, gefüllt mit Vorträgen und Gebet, klangen „incarnational reality“ oder „gender identity“ auch für die Briten noch immer ein wenig fremd. In unseren Herzen war jedoch klar: Gottes heilende Gegenwart hatte uns berührt und den eigenen Lebenshorizont weit geöffnet.
Die Geschichte von Leanne Payne gibt allen Lesern die seltene Gelegenheit, die Entwicklung eines ganzen Seelsorgedienstes zu verfolgen. Der Einfluss ihrer Bücher (die bis auf das erste, Real Presence, alle in Deutsch vorliegen) und Konferenzen hat nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland nachhaltige Wirkung gezeigt. So ist etwa ein „Netzwerk Inkarnation und Seelsorge“ entstanden, das Seelsorger, Therapeuten und Werke verbindet, die in ihrem Dienst den Ansatz von Leanne Payne aufnehmen und weiterführen. Auch aus dieser Sicht ist das Erscheinen der Biografie in deutscher Sprache ein wichtiger Schritt.
Das vorliegende Buch vermittelt neue Einsichten über die Anfänge der „Inneren Heilung“ als einer Bewegung, die das ganze Spektrum von den traditionellen Kirchen bis hin zu den neuen Gemeinden erfasst hat. Leser, die Leanne Payne noch nicht kennen, begegnen hier einer Person, die bei allem intellektuellen Anspruch und geistlicher Dimension nie die menschliche Seite vernachlässigt und immer vom Kleinen zum Großen hinweist. Besonders Menschen, die nach einem verheißungsvollen Start als Christ/in auf die eine oder andere Weise gescheitert sind, werden durch ihr Beispiel neue Hoffnung bekommen. Sie lässt uns in diesem Buch daran teilhaben, wie sie es gelernt hat, auf Gott zu hören, ihm zu gehorchen und zu der Person zu werden, durch die Christus so sehr wirken kann. „Wenn Gott mich heilen kann, kann er jeden heilen“, sagt Leanne.
Bemerkenswert an Leannes Lebensweg ist zudem ihre Beheimatung in unterschiedlichen kirchlichen Traditionen, von denen sie viel gelernt hat und deren Schätze ihre Theologie und Psychologie prägen. Mit ihrer tiefen Gotteserfahrung bringt sie den Reichtum charismatischer, evangelischer und liturgisch-sakramentaler Spiritualität für das Leben mit Gott zum Leuchten. Ihr Ansatz ist so wahrhaft konfessionsübergreifend.
Lassen Sie sich faszinieren von der Sprache, von der Breite und Tiefe ihrer Geschichte. So ungewohnt für den einen oder anderen manches erscheinen mag, die Botschaft von der Wahrheit und Liebe Gottes dringt durch und bleibt „kompatibel“ für Menschen unterschiedlichster Herkunft und Prägung. Wir wünschen allen Lesern, dass sie das heilende Wort empfangen können, das in diesem Buch zu entdecken ist.
Christiane Mack
Netzwerk Inkarnation und Seelsorge
Ob dein Weg nach rechts oder links führt, wird eine Stimme hinter dir herrufen und dir ansagen: „Das ist der richtige Weg, den geh!“
Jesaja 30,21 NL
Den Ruf des Herrn hören heißt, wie Gregor von Nyssa vor Jahrhunderten sagte, „von Anfang zu Anfang“ zu schreiten, „durch endlose Anfänge“. Ins Elend geboren, sind wir doch auch geboren, um genau hinzuhören, um zu hören, wie Gott uns ruft, den steilen Weg zu ihm zurückzukommen, in den Himmel, unser Zuhause. Dieses Buch beschreibt das Bemühen eines Menschen, seine Taubheit zu überwinden und dann zu lernen, wie er durch Gebet anderen helfen könne, die ihre zu überwinden. Übernatürlich und voller Wunder, ist dies doch nichts anderes als das Ausleben unserer Taufe in Christus.
Es war nicht leicht, die Geschichte meines Lebens und Dienstes zu schreiben. Viele Ebenen kommen ins Spiel: die äußere und die innere Geschichte, das Körperliche, das Emotionale und das Geistliche, dazu, beinah ebenso wichtig, der vielfältige Einfluss anderer Menschen auf mein Leben.
Nicht nur, dass ich damit eine komplexe Aufgabe angehen musste, ich hatte dieses Buch auch so niemals schreiben wollen. Obwohl ich wusste, dass es einmal nötig werden würde (denn ich hatte erlebt, wie Frauen, und zwar besonders alleinstehende Frauen, die christliche Werke gegründet haben, ihre eigenen Berichte schreiben mussten, um die Dinge ins rechte Licht zu rücken), fürchtete ich, es wäre eine übermäßig subjektive Übung, mein eigenes Leben und meine Erfahrungen zu betrachten, beständig auf mich selbst gerichtet zu sein, was schon lange vor Beendigung einer solchen zeitintensiven Arbeit überaus unangenehm werden würde. Doch als ich dieses Buch dann schrieb, erlebte ich immer wieder neue Überraschungen. Vor Beginn wurde für mich gebetet, ich möge mich so auf Christus ausrichten können, dass ich meine Geschichte aus wahrheitsgetreuer Erinnerung erzählen könnte. Nach diesem Gebet fühlte ich mich, als wären die Augen meines Herzens riesengroß und ganz und gar auf Christus gerichtet. In einer öffentlichen Betrachtung meines Lebens wirkt sich das sowohl herrlich wie auch furchtbar aus! Gewiss ist es ein demütigender Vorgeschmack auf jenen letzten Tag, an dem wir noch einmal mit all unseren Worten und Taten konfrontiert werden.
Und statt dass das Schreiben einfach nur bedeutete, mich in verschiedenen Stufen meines Lebens zu betrachten oder zu versuchen, mich an die Vergangenheit zu erinnern, wurde es zu einer überraschenden Erfahrung, gewissermaßen wieder in die Kindheitsjahre zurückzugehen und sie noch einmal zu durchleben. Ich staunte, wie tief die Erinnerungen und wie lebendig die Emotionen, Gefühle und Einsichten waren, die dieses neuerliche Durchleben begleiteten – und wurde desto dankbarer für die Perspektive und Reife, die die Jahre mit sich gebracht haben.
Es gab noch weitere Überraschungen. Ziemlich zu Beginn musste ich mir Mühe geben, dass ich nicht ein Buch über das Leben meiner Mutter schrieb statt über mein eigenes, weil es so schön ist, „aufzutreten und sie glücklich zu preisen“ (siehe Sprüche 31,28). Sie war wirklich der leuchtende Stern meiner Jugend, und würde ich meine Geschichte erzählen, ohne auch auf Mutter einzugehen, dann könnte ich sie niemals wahrheitsgemäß erzählen, und sie könnte nie richtig verstanden werden. Dies gilt in geringerem Umfang auch für den Einfluss anderer, denn wie es John Donne auf so unsterbliche Weise ausdrückt: „Niemand ist eine Insel“: Wir leben nicht nur uns selbst. Wie die Geschichte jedes Menschen, wurde auch die meine in einzigartiger Weise von anderen Menschen beeinflusst.
Gewisse andere Dinge zu schreiben zögerte ich, Dinge, die für die Geschichte wichtig sind, die zu erzählen mir aber schwerfiel, und zwar aufgrund von Familien- oder anderweitiger Loyalität. Doch losgelöst von unseren Familien und Vorfahren können wir nicht verstanden werden, deren Gene uns vererbt wurden und deren Lebensgeschichten uns so zum Guten oder zum Schlechten beeinflussen, dass wir ihren Gesichtsausdruck in unserem Spiegel erkennen, ihre Verhaltensmuster in den unseren. Ich war überrascht, wie sehr es mir widerstrebte, gewisse Dinge zu schreiben, was mir neu vor Augen führte, warum negative Muster so lange in Familien verbleiben – man neigt dazu, sie immer weiter zu leugnen: sie nie laut auszusprechen und somit ans Licht zu holen, noch nicht einmal vor sich selbst.
Es ist mein Gebet, dass das Erzählen meiner Geschichte dazu beiträgt, dass sich andere Menschen wo nötig für ihre eigene öffnen, und dass es ganz besonders viele stärkt in dem Verstehen von Gottes Berufung, seiner Treue, mit der er uns zur Beziehung und Fülle in ihm selbst und so in seinen Dienst beruft.
Ich schließe dieses Vorwort mit den tiefgründigen Worten des schottischen Theologen aus dem zwanzigsten Jahrhundert, William Barclay:
Den Christen erreicht ein Ruf mit doppelter Richtung. Es ist ein Ruf vom Himmel und es ist ein Ruf zum Himmel. Es ist eine Stimme, die von Gott kommt und uns zu Gott ruft. Es ist ein Ruf, der konzentrierte Aufmerksamkeit erfordert, sowohl wegen seines Ursprungs als auch wegen seiner Bestimmung. Wagen wir nicht, auf eine Einladung zu Gott von Gott nur einen desinteressierten Blick zu werfen.[1]
[1]William Barclay,Brief an die Hebräer, Neukirchen-Vluyn: Aussaat 1991, Kommentar zu Hebräer 3,1.
Shades of the prison-house begin to close
Upon the growing Boy
But he
Beholds the light, and whence it flows,
He sees it in his joy. …
Die Schatten des Gefängnisses sich langsam schließen,
sobald der Junge wächst heran,
noch nimmt er wahr das Licht und sieht’s vom Ursprung fließen
in seiner Freude Überschwang.
William Wordsworth
„Ode: Intimations of Immortality
from Recollections of Early Childhood“
Alle Tage meines Lebens hast du in dein Buch geschrieben – noch bevor einer von ihnen begann!
Psalm 139,16 (Hfa)
Die Tragödie traf meine kleine Familie schon früh. Lebhaft ist mir der Anblick meines jungen Vaters in Erinnerung, der, neunundzwanzigjährig, in seinem Sarg lag; damals war ich gerade drei Jahre und acht Wochen alt. Mutter, noch nicht einmal fünfundzwanzig, hielt mich im Arm, und wir sahen auf das Gesicht und den Oberkörper meines Vaters hinunter (der Unterleib war, wie in den meisten Särgen, bedeckt). Ich erinnere mich genau, wie ich fragte: „Wo sind Papas Füße?“ Dann wandte sich meine Mutter ab und wurde ohnmächtig, während mich jemand aus ihren Armen hob.
Nie wieder war das Leben unserer Familie wie vor dem 22. August 1935, dem Tag, an dem mein Vater plötzlich an Gehirnentzündung starb. Er hatte sich im städtischen Schwimmbad in Omaha, Nebraska, angesteckt. Nicht nur mein Vater fiel dem Erreger zum Opfer, sondern noch mehrere Menschen, die an einem brütend heißen Augusttag Erfrischung gesucht hatten. Ich erinnere mich daran, an jenem schicksalhaften Tag auf seinem Rücken „geschwommen“ zu sein, und Mutter verwahrte ihr Leben lang den kleinen Badeanzug, den ich getragen hatte.
Überwältigt von Trauer, zog meine Mutter zurück nach Little Rock, Arkansas, ihrer Heimat, aus der meine Eltern in der Weltwirtschaftskrise geflohen waren. Wie viele im Süden der Vereinigten Staaten waren sie nordwärts gezogen in der Hoffnung, genug für ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. So wurde ich am 26. Juni 1932 meinem Vater Robert Hugh Mabrey und meiner Mutter Forrest Mabrey, geborene Forrest Irene Williamson, in Omaha, Nebraska, geboren, wo mein Vater zwei Teilzeitstellen gefunden hatte – er arbeitete als Apotheker und Koch.
Als Säugling machte ich es meinen Eltern nicht leicht, und ich war auch später nur schwer zu erziehen. Schon sehr früh versetzte ich meine Eltern und später meine ganze Familie in Panik. Ich hatte eine merkwürdige Art von Frühreife, die auf jeder Entwicklungsstufe die natürliche Vorsicht überwand. Als ich erst einige Monate alt war, konnte man mich nicht in ein Bett ohne Gitterstäbe legen, weil ich herausfallen würde – etwas ganz Unerklärliches bei einem so kleinen Baby. In der Annahme, seine Frau habe einfach noch nicht gelernt, für einen Säugling zu sorgen, legte mich mein Vater eines Tages auf ihr Bett und sagte: „Forrest, du brauchst dich doch nur um dieses Baby zu kümmern, sonst nichts.“ Genau in dem Moment glitt ich ihm aus der Hand und fiel auf den Boden, woraufhin wir einen hastigen Ausflug ins Krankenhaus unternahmen – einen, dem etliche weitere folgen sollten. Nie wieder wies mein Vater Mutter für etwas zurecht, was er selbst auch nicht besser konnte als sie.
Ich war noch keine neun Monate alt, da musste mein Vater eine Art Gitter über dem Babybett anbringen, damit ich nicht herausklettern konnte, obwohl es die üblichen hohen Seitenwände hatte. Mit achtzehn Monaten schaffte ich es, einer Büroangestellten wegzulaufen, die auf mich achten sollte, während meine Mutter unsere Versicherung bezahlte. Ich entwischte aus einem Fenster im siebten Stock und kletterte schnurstracks auf eine Feuertreppe. Das war alles so schnell geschehen, dass keiner wusste, wo ich war, bis aus dem Bürogebäude nebenan Schreie laut wurden: „Um Himmels willen, holt das Baby von der Feuertreppe!“ Dazu waren mehrere Trupps der Feuerwehr und Polizei von Omaha nötig, und in der Zwischenzeit musste meine Mutter wiederbelebt werden – nur wenige Tage vor der Geburt meiner Schwester Nancy.
Schon vor diesem Ereignis und ganz bestimmt danach erzogen mich meine Eltern mit fester Hand. Aber das stellte sich als nicht ausreichend heraus, und so entschied mein Vater (mitten in der Weltwirtschaftskrise ein großes finanzielles Opfer), mich in einem Kindergarten mit richtigen Erzieherinnen anzumelden. An diesen Ort kann ich mich erinnern, was merkwürdig und erstaunlich ist. Noch heute sehe ich vor meinem inneren Auge den großen Raum und die anderen kleinen Kinder und Erwachsenen – alle als eine Art buntes Gemisch, zu dem ich mich, wie ich mich deutlich erinnere, absolut nicht zugehörig fühlte. Und mir ist der weitläufige Spielplatz draußen noch vor Augen; dort wollte ich sein. Auf diesem Hof gab es zwei Dinge, auf die ich fixiert war; eines war ein Spielhaus (wie eine große Hundehütte) mit einem spitzen Dach, auf das ich klettern konnte, wobei ich nicht auch nur das mindeste Interesse an dem Inneren des Häuschens hatte, das andere die große Schaukel – und zwar die ohne Gitterstäbe, die die größeren Kinder benutzten. Ich erinnere mich an den starken Drang, auf die Schaukel zu klettern, und daran, wie ich es einmal unter großer Anstrengung schaffte, als die letzte weiß gekleidete Erzieherin im Gebäude verschwunden war. Sobald ich mein Ziel erreicht hatte, stürzte ich und schlug mit dem Kopf auf. Mein Vater kam und holte mich rasch wieder nach Hause in eine sicherere Umgebung.
Anscheinend konnte ich auf einfach alles hinaufklettern, und ich erinnere mich, wie ich bei einer Tante auf einen Küchenschrank stieg. Mutter war mit dem Zug von Omaha nach St. Louis gereist, wo ihre älteste Schwester mit ihrer Familie inzwischen wohnte. Diesen Verwandten wollte sie unbedingt ihre beiden kleinen Kinder vorstellen, und wahrscheinlich hoffte sie auf etwas mehr Erkenntnisse, wie sie mich lenken sollte. Es muss eine Weile gedauert haben, bis Mutters Schwestern das Ausmaß meines „Problems“ erkannten, aber dieser Besuch machte es ihnen nur allzu deutlich. Zum Beispiel versuchte meine Tante Ellie, Schokoladenmilch außer meiner Reichweite zu halten, indem sie sie ganz oben auf einen altmodischen, hohen Küchenschrank stellte, einem Küchenschrank mit Regalen im oberen Aufbau und eingebautem Mehlsieb. Ich erinnere mich, wie ich es ganz bis oben hin schaffte und wie sich der Kakao auf den Fußboden ergoss – in einen gepackten, offenen Koffer.
Mein Vater war in seiner Kindheit ähnlich körperlich frühreif gewesen, aber anscheinend hatte er damit nicht so viele Schwierigkeiten verursacht wie ich. Später erzählte man in der Familie die Geschichten über mich eher hinter vorgehaltener Hand – keiner wusste damit richtig umzugehen. Aber alle stimmten Mutter zu, als sie sagte: „Leanne wird nie verstehen, was es heißt, ein solches Kind aufzuziehen“, was natürlich heißen sollte, dass ich vermutlich selber nie ein Kind bekommen und somit auch nie solche Schwierigkeiten erleben würde.
Anscheinend hatte ich nur vor einem Angst, und das waren Federn. Darum klebten seit diesem Besuch in St. Louis an allen Fenstern und allen hochgelegenen Stellen, auf die zu klettern ich versucht sein könnte, abschreckende Gänsefedern. Ich erinnere mich, wie mich ein Onkel ganz hoch hielt, damit ich die Stellen sehen könnte, auf die ich vielleicht klettern wollte, und gewarnt wäre, weil ich dort Federn angeklebt sah. Die Warnung half natürlich nicht wirklich: Nun hatte es mir die Decke angetan. Damals hatte man hohe Räume, aber in Tante Ellies Haus waren meine Handabdrücke noch Jahre später an den Zimmerdecken zu sehen.
***
Später verfolgte mich eine wirklich nennenswerte Angst. Ich erinnere mich, in meiner gesamten Kindheit immer wieder miterlebt zu haben, dass Mutter, wenn sie krank war, das Bewusstsein verlor, und die Hauptangst meiner Jugend war, dass auch meine zerbrechliche Mutter sterben könnte. Als achtes und letztes Kind ihrer Eltern hatte sie 1910 bei ihrer Geburt keine drei Pfund gewogen, und das war in einer Zeit, als man noch keine Brutkästen kannte. Wir lauschten beklommen, wenn Großmutter uns erzählte, wie sie es kaum geschafft hatte, Mutter mithilfe eines alten Ofens am Leben zu halten. Sie formte ihre Hände zu einer Schale und sagte: „Eure Mutter war so klein, dass sie in diese Hände passte, und in eine einzige Hand eures Großvaters!“
Bei einem so wenig verheißungsvollen Start überrascht es nicht, dass Mutter sehr unter Kinderkrankheiten zu leiden hatte. Nach einem heftigen Anfall von rheumatischem Fieber blieb sie ihr Leben lang körperlich zart und war manchmal sehr krank. Aber sie war unser einziger Ernährer. Die Tatsache, dass sie im Süden als Witwe während der Weltwirtschaftskrise zwei Töchter großzog, ist bemerkenswert.
Während all der Jahre pflegten wir das Grab meines Vaters und schmückten es zu besonderen Anlässen mit Blumen. Während der ersten paar Jahre nach seinem Tod unternahmen Mutter und ich den langen, mühsamen Weg zum Friedhof gemeinsam. Ich war sehr klein für so einen weiten Fußmarsch und kann mich erinnern, wie ich sie anflehte, mich mitzunehmen; ich versprach ihr, nicht zu jammern, wenn ich müde würde. Und das tat ich auch nicht. Der Wunsch, mit Mutter zusammen zu sein, zu wissen, dass es ihr gut ging, und auf keinen Fall bei Grandma zu Hause bleiben zu müssen, war stark genug, dass sich alles Klagen von selbst verbot.
Still saßen wir dann am Grab und ruhten uns aus. Mutter sprach kein Wort, außer dem, was sie auf meine Fragen über meinen Vater antwortete. Oft wusste ich ihre Antwort schon auswendig. Sie betete, wobei sie nicht nur zu Gott sprach, sondern nach der Gewohnheit vieler Witwen im Stillen auch zu meinem Vater. Seiner liebenden Stärke und Weisheit beraubt, suchte sie sehr angelegentlich Hilfe und Leitung in unseren äußerst schwierigen Umständen. Dies war, wie ich jetzt weiß, eine der Weisen, auf die Mutter ihren tiefen inneren Schmerz verarbeitete. Weil sie nie weinte und nie darüber sprach, wusste sie nicht, dass ich ihren Kummer sehr intensiv mitempfand und zusammen mit meinem eigenen verinnerlichte. Einmal fragte ich sie, warum sie nie weine. „Manche Dinge“, antwortete sie in ihrer knappen, ruhigen Art, „sind zu tief für Tränen.“
Meine Liebe zu Mutter, mein Bedürfnis, sie zu schützen, gehörte schon seit früher Kindheit zu den wesentlichen Bestandteilen meines Bewusstseins. Jede drohende Kränkung oder Gefahr nahm ich sofort wahr und versuchte ich abzuwenden. Es dauerte Jahre, bis sich diese Anspannung löste. Sie war aber unnötig, denn genau diese Tragödie, der Tod meines Vaters, verhalf Mutter zu einem ungewöhnlichen Gottvertrauen. Dieser Verlust, unersetzlich in seiner Tragweite und Intensität (wie es nur durch die Endgültigkeit des Todes sein kann), machte Mutter geistlich stark. Vom menschlichen Standpunkt aus war der Tod meines Vaters das sinnlose Ende eines verheißungsvollen, jungen Lebens. Für Mutter war er der tragische Umstand, der sie zu einem bemerkenswerten Leben mit Christus führte, einem Leben, das für viele segensreich war.
***
Meine frühe Kindheit fiel in eine in jeder Hinsicht schwere Zeit für die Vereinigten Staaten und deren Bürger, und unermesslich viel schwerer noch für uns, die wir so verwundet und überwältigt waren von unserem Verlust. Dennoch waren meine Mutter, meine Schwester und ich nicht ohne Trost. Wir hatten den Zuspruch und die Hoffnung, die nur Christen haben können. Mutters tiefer Bekehrung lagen die treuen Gebete und das Leben ihrer sehr hingegebenen, christlichen Vorfahren zugrunde, frommer Männer und Frauen mit starkem Glauben. Unsere Vorfahren, hauptsächlich Schotten und Engländer, waren auf der Suche nach Freiheit von politischer und religiöser Unterdrückung in dieses Land gekommen, und als sie kamen, predigten und lebten sie ihre Freiheit in Christus. Manche waren tatsächlich Reiterprediger, die das Evangelium über die Grenzen unseres wachsenden Staates hinaus brachten, als die Einwanderer westwärts vordrangen. In unserer großen Not erlebten wir Gottes Segen, der durch diese frommen Männer und Frauen auf uns kam.
Außerdem hatten wir die Tröstung der großen, fröhlichen und weitgehend wesensverwandten Familie meiner Mutter um uns, selber Nutznießer genau dieses christlichen Erbes. Obwohl Mutters Geschwister mit einer Ausnahme ihre tiefe geistliche Erweckung noch nicht erlebt hatten, profitierten sie alle, wie ihre Familien, sehr von dem moralischen Kapital unserer Vorfahren. Mutter hatte fünf Schwestern und zwei Brüder, und diese und ihre Kinder pflegten enge familiäre Bindungen – sie empfanden sich als ein schottischer Clan. Das waren wir auch weitgehend. Der Einfluss unserer MacFarlane- und Campbell-Vorfahren auf unsere Gene und in unseren Charakterzügen scheint tief zu sein. Wir liebten es, zusammenzukommen und uns an köstlichem, auf Südstaatenart zubereitetem Fisch und Wild zu laben, wenn meine Onkel bei der Jagd oder beim Angeln Erfolg hatten, und in magereren Zeiten einfach an heißem Kaffee, dampfenden Zimtwecken und vielen guten Gesprächen und herzhaftem Lachen.
Wenn die Gespräche sich ernsten Themen zuwandten, ging es meistens um Politik und Religion. Ersteres war ziemlich sicherer Boden, weil man sich in politischen Fragen weitgehend einig war, aber wenn religiöse Themen aufkamen – und das geschah fast immer –, dann wurden die Gespräche hitzig und spannungsgeladen. Diese Diskussionen hatten starke Auswirkungen auf mich, nicht unbedingt heilsame. Dennoch war es unser Glück, besonders da wir keine Transportmöglichkeiten hatten und ansonsten isoliert gewesen wären, dass unser Haus der Treffpunkt für diese lebhaften Familienzusammenkünfte war. Grandma,[2] die liebevolle Mutter dieses Clans, war nämlich zu uns gezogen, als wir nach dem Tod unseres Vaters in den Süden zurückkehrten.
Erst viele Jahre später verstand ich die Tiefe der emotionalen Wunde, die der Tod meines Vaters in mir geschlagen hatte. Sie verband sich mit meiner Achillesferse (Impulsivität, Unbesonnenheit) und verstärkte sie vielleicht sogar noch, was zu lebensverändernden, zerstörerischen Entscheidungen führen sollte. Doch damit greife ich meiner Geschichte vor.
[2]Mary Nancy Williamson (geb. Townsend)
„Warum hast du mich so gemacht?“, möchte der Topf den Töpfer fragen. Warum war ich ein so schwer aufzuziehendes Kind? Als ich beim Schreiben dieses Buches über diese und andere Fragen nachdachte, bat ich Gott eindringlich, meine frühen Kindheitsjahre wie mit einem Scheinwerfer zu beleuchten. Dabei kamen mir mehrere tiefe Erkenntnisse. Die erste betrifft Gott, aus dem wir sind.
Warum diese körperliche Frühreife in ganz jungen Jahren? Diesen Zügen lag gewiss ein unbezähmbarer Wunsch zugrunde, die weite, wunderbare Welt außerhalb meiner selbst zu erobern, was zu jenem starken Drang nach Wissen und Verstehen gehört, den jeder gesunde Mensch in der Entwicklung mehr oder weniger ausgeprägt verspürt. Aber warum hatte ich dieses Bedürfnis schon so früh und so heftig?
Mehrere Ursachen wären zu nennen. Die erste, die ich im vorigen Kapitel erwähnte, ist die genetische. Auch mein Vater wies in jungen Jahren diese starken Wesenszüge auf, und wie sie sich später in mir als Teenager und jungem Erwachsenen zeigten, erkannte ich sie in wenigstens zwei anderen aus seiner Familie. Vielleicht lag es auch daran, dass ich mit Lebensmittel- und Umweltallergien geboren wurde, die Hyperaktivität auslösen können.
Eine Erklärung, die mit meinem Wissen über mich selbst übereinstimmt, ist, dass ich mich neben solchen vererbbaren Neigungen im Mutterleib furchtbar eingeschränkt gefühlt haben musste. Mutter, die zu Beginn ihrer Schwangerschaft keine fünfzig Kilo wog, brachte ein ausgewachsenes Baby von fast acht Pfund zur Welt, und es war, als käme ich außergewöhnlich begierig aus dem Mutterleib, mich dieser physischen Einschränkungen zu entledigen. Später manifestierten sich diese starken vorgeburtlichen Impulse auch in anderer Weise.
Ich glaube, dass alles oben Genannte etwas mit meinen frühen, heftigen Reaktionen zu tun hatte, aber erst, seit ich diese Autobiografie zu schreiben begann, frage ich mich, ob dahinter nicht noch etwas anderes – etwas Fundamentaleres und Tieferes – liegt. Wenn ja, dann gilt das für alle Menschen, unabhängig von genetischen und körperlichen Gegebenheiten. Ich weiß natürlich schon lange, dass Gott unsere Quelle ist: „Und der Staub kehrt zur Erde zurück, so wie er gewesen, und der Geist kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat“ (Prediger 12,7 REÜ).[3] Aber erst, als ich meine frühesten Jahre im eindringlichen Gebet vor dem Herrn ausbreitete, verstand ich dies in tieferer und buchstäblicherer Weise: dass meine Entstehung sozusagen nicht unbedingt im Moment der Empfängnis, und dass ich vor Grundlegung der Welt vielleicht mehr als ein Gedanke des Schöpfers war.
Diese Inspirationen ließen mich unmittelbar fragen, ob hinter meinen frühen, heftigen Reaktionen vielleicht nicht eigentlich etwas Tieferes steckte als, sagen wir, das Gefühl, im Mutterleib eingeengt zu sein. Einfach ausgedrückt: Es fühlt sich wohl hinderlich an, die Begrenzung von Zeit, Raum und Sterblichkeit anzunehmen.
Konnte ich mich möglicherweise an eine Zeit erinnern, in der ich nicht so eingeschränkt gewesen war? Spekulation – nur Spekulation –, aber dass wir von Gott kommen, wissen wir sicher. Auf der körperlichen Ebene ist die Vereinigung von Samen- und Eizelle der biologische Grund für unsere Existenz, aber als lebendige Seelen kommen wir von Gott (siehe Johannes 6,38). Ein großer Teil unseres Reifeprozesses ist das Lernen, zwei konkurrierende Tatsachen in Einklang zu bringen – dass wir in einem tönernen Haus wohnen, nicht nur körperlich, sondern auch intellektuell und psychisch („Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück“ [1. Mose 3,19]), während wir gleichzeitig wissen, dass wir als Geist/Seele nicht endlich, sondern ewig sind. Wir kommen, von dem Imago Dei gezeichnet, dem Bild unserer Quelle, und wir wissen, dass es Bande abzuwerfen[4] und Hindernisse zu überwinden gilt. Zwar ins Elend geboren, sind wir doch auch hier, um genau hinzuhören, um zu hören, wie Gott uns ruft, den steilen Weg zu ihm zurückzukommen, in den Himmel, unser Zuhause.
Ich finde es ausgesprochen interessant, dass sich William Wordsworth an seine frühe Kindheit ebenso erinnert, dass für ihn dieselbe Wortwörtlichkeit heraussticht, wie man in diesen wunderschönen Zeilen erkennt:
Our birth is but a sleep and a forgetting:
The Soul that rises with us, our life’s Star
Hath had elsewhere its setting,
and cometh from afar:
Not in entire forgetfulness,
And not in utter nakedness,
But trailing clouds of glory do we come
From God, who is our home:
Heaven lies about us in our infancy![5]
Geburt, das ist nur Schlaf und ein Vergessen:
Die Seele, die mit aufgeht uns, die unsres Lebens Stern,
ein anderes Zuhaus hat sie besessen
und kommt daher von fern:
Nicht alles sie vergessen hat,
nicht gleicht sie unbeschriebnem Blatt:
Nach uns ziehend Wolkenglanz und Glorienschein,
von Gott wir kommen, er ist unser Heim:
Der Himmel uns umgibt in Kindertagen!
Während diese tiefen Wahrheiten meine Gedanken beschäftigen, entdecke ich immer mehr das großartige Denken und Fühlen Josef Piepers, eines christlichen Philosophen, dessen Werke aus dem Deutschen ins Englische übersetzt wurden.[6] Hier spricht er über eben dieses Thema:
Der ursprüngliche Zustand [d. h. vor der Empfängnis], zugleich das eigentliche Ziel und das Ende der menschlichen Existenz, bildet ebenso das Objekt der Erinnerung des Menschen wie sein Verlangen. Jedoch können sich sowohl Erinnerung als auch Sehnsucht nur entfalten, wenn der Mensch, und sei es für eine noch so kurze Zeit, seine Geschäftigkeit aufgibt und aus den Sorgen des Alltags heraustritt.[7]
A. W. Tozer spricht so über dasselbe Wissen: „Tiefe ruft Tiefe. Obwohl die Seele von der großen Katastrophe, die die Theologen den Sündenfall nennen, befleckt und umfangen ist, fühlt sie ihren Ursprung und sehnt sich nach ihm zurück.“[8]
Denke ich auf menschlicher Ebene über diese Dinge nach, dann schwindelt es mich, wenn ich sie auf Jesus anwende. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie behindernd es für den Schöpfer war, durch den Schoß Marias in seine eigene Schöpfung hinabzusteigen, einen menschlichen Körper anzunehmen und darauf beschränkt zu sein. Kaum ein größeres Wunder gibt es zu betrachten als die Menschwerdung Gottes! Wie in allem ist Jesus hier unser Vorbild, und auch wir, seine geschaffenen Brüder und Schwestern, kommen sozusagen, in geringerer Weise, mit „Wolkenglanz und Glorienschein“ im Schlepptau daher. Sobald wir uns in diesem riesigen Universum wiederfinden, haben wir größtes Interesse, es zu erkunden. Doch dabei sind wir auch behindert und gefährdet.
***
Darum, heilige Brüder, die ihr an der himmlischen Berufung teilhabt, schaut auf den Apostel und Hohenpriester, dem unser Bekenntnis gilt: auf Jesus …
Hebräer 3,1
Das Nachdenken über unsere Entstehung in Gott und durch Gott, unsere Quelle, führte mich dazu, die andere Sache zu bedenken, die solchen Eindruck auf mich gemacht hatte, als ich anfing, diese Memoiren zu schreiben. Ich sprach im Vorwort davon; es ist die Realität von Gottes Berufung an uns schlechthin. Er ruft uns wirklich immer wieder, aus jeglichem Zustand heraus, der unser Werden in ihm, oder, wie Pieper sagt, unser „auf die Erfüllung Ausgerichtetsein“ einschränkt.[9]
Nur der größte der christlichen philosophischen Theologen könnte unseren Kampf zwischen Nichtsein auf der einen Seite (jenem furchtbaren Ort der Entfremdung von Gott und damit von unserem eigenen ewigen Selbst in ihm) und dem ewigen Sein und Werden auf der anderen Seite korrekt zum Ausdruck bringen. Aus nichts sind wir geschaffen, und zu nichts werden wir zurückkehren, wenn wir nicht auf den liebenden Gott eingehen, der uns beständig zu sich zurückruft.
Und wenn wir auf ihn eingehen, finden wir uns selbst und erkennen nicht nur unseren finsteren, gefallenen Zustand, sondern wissen auch, wie vollkommen abhängig wir sind von unserer Quelle. Die heilende, rettende Tugend der Demut wird in denen geboren, die sich selbst – ihre Wirklichkeit – jeden Augenblick in der Gemeinschaft mit Gott, dem Wirklichen, finden. Der Ruf ist himmelwärts, zu einem steilen Aufstieg, der nur durch Gnade möglich ist.
Wenn wir die Wahrheit beständig lieben und ehren, wird der Geist uns ein Leben lang, und zwar auf jeder Stufe unseres Werdens, umfassende Erkenntnis schenken, wenn auch nur dunkel, wie in einem Spiegel. Ich meine damit jene Dinge, von denen der heilige Paulus wünschte, sie würden im Leben der Epheser fest eingepflanzt werden, als er für sie betete:
In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt.
Epheser 3,17–19
Dem modernen Menschen fällt es besonders schwer zu glauben, dass uns diese Fähigkeit zur Verfügung steht, das Unermessliche zu ermessen. Nichtsdestoweniger ist es die Wahrheit. Wenn wir auf Gottes Ruf eingehen, werden wir in jene Güte und Wirklichkeit geleitet, die transzendiert und dennoch die ganze Natur, wie wir sie kennen, erfüllt.
***
Gottes individueller Ruf an mich, sein Ruf, in ihm zu werden, umfasste auch das Überwinden meines festsitzenden Charakterfehlers und meiner Sünde, als welche ich die Impulsivität inzwischen erkannte. Wie in meinem Buch Dich will ich hören, Herr[10] erzählt, ging es bei manchem der flehendsten Gebete in meinen frühen Gebetstagebüchern um Weisheit, denn ich war dahin gekommen, meine unbesonnenen Reaktionen auf das Bedürfnis, die Welt außerhalb meiner selbst zu kennen und zu erforschen, als Sünde zu erkennen. Beengt und eingeschränkt sein ist eine Sache, die falsche Reaktion darauf ist eine ganz andere.
Mutter, die kein bisschen impulsiv war, hatte mir von Kindheit an oft gesagt: „Mädchen, du musst lernen, erst zu gucken und dann zu springen.“ Aber in meiner Ungeduld zu leben machte ich es oft gerade umgekehrt und musste auf die harte Tour lernen. Ich erinnere mich, wie ich über diesen Charakterfehler fast verzweifelte, weil er so tief unbewusst war, und mich fragte, ob Gott meinen blinden Fleck entfernen könnte oder würde. Ich musste aus vielem einfach herauswachsen, bis ich reif genug war, vor Gott darauf zu warten, dass er mich ganz frei machte.
In vielerlei Hinsicht sind wir alle das Ergebnis dessen, was biologisch und genetisch in uns steckt, aber wir haben einen himmlischen Vater, der unserer Seele seinen Stempel aufdrückt. In seinem Bild geschaffen, können wir ihn hören und ihm folgen, losgelöst von jeglichem Determinismus, biologischem oder sonstigem. Genau hier setzt Gottes Berufung ein: Wenn wir ihm gehorchen, bringt er uns aus dem heraus, was uns in Unreife festhielt oder uns in falscher Weise bestimmte. Das war gewiss bei mir der Fall.
Was meine Fähigkeit oder meinen Drang zu klettern angeht: Als älteres Kind, zwischen fünf und zwölf, war ich, vielleicht aufgrund strenger Disziplin oder wenigstens, weil eine gewisse natürliche Vorsicht anfing zu wirken, mehr oder weniger normal in diesem Bereich. Ich wollte auch unbedingt meiner Mutter gehorchen. Aber es fiel mir sehr schwer, besonders eines ihrer Gebote zu halten, und das betraf „meinen Baum“, wie ich ihn nannte.
Er eignete sich großartig zum Klettern, ein riesengroßer und wunderschöner alter Baum mitten im Wald in der Nähe unseres Hauses. Hoch oben in seinen Ästen war genau die richtige Stelle, um sich zurückzulegen und den Himmel anzusehen. Da oben konnte ich besser denken und beten als an den meisten anderen Orten, schlechtes Gewissen hin oder her. Etwas in mir musste immer wieder dort hinaufklettern, musste in den Himmel sehen und mich irgendwie selbst finden oder ich selbst sein und dann Großes zu Gott beten.
Im Rückblick ist es leicht zu erkennen, was da geschah – ich kletterte an einen Ort, wo ich meine eigenen Gedanken denken konnte, meine eigenen Träume träumen, mich ausklinken und über das Familien-Ethos hinaus erheben konnte – etwas, was jeder von uns machen muss, um sich selbst zu finden. Ich grenzte mich von meiner Mutter, Schwester, Großmutter und meinen Verwandten ab, und genau dazu berief mich Gott.
Das ist überhaupt nichts Außergewöhnliches, wenn man darüber nachdenkt. In diesem Dienst, zu dem Gott mich berufen hat, kommt es oft vor, dass ich Menschen in die Gegenwart Gottes rufe. Denn genau hier kommt das wahre Ich zum Vorschein, wie wir es auszudrücken gelernt haben. Der schottische Theologe P. T. Forsyth drückt es so aus: „Durch Gebet erreichen wir unser wahres Selbst“[11], und als Kind, durch vieles verwirrt und eingeschränkt, musste ich von Zeit zu Zeit hoch hinaufklettern, um eine neue Perspektive zu bekommen, um „Großes zu beten“.
Bis auf den heutigen Tag meide ich enge Räume. Nicht so sehr, dass man es zwanghaft nennen könnte oder auch nur annähernd neurotisch, soweit ich sehe; ich liebe nur einfach Geräumigkeit und Licht und strebe danach, wann immer möglich. Eines der ersten Dinge, die ich bemerke, wenn ich irgendwo neu bin, ist, ob ich meine Lungen weiten und tief durchatmen kann und ob gutes, natürliches Licht hereinflutet. Ich habe sogar mein Haus umgebaut, um den Himmel hereinzulassen. Ich habe die Decke aus dem Wohnzimmer im ersten Stock entfernt und elf große Fenster ins Dach eingebaut. Auch im Erdgeschoss wurde eine Wand eingerissen, um einen zum Himmel offenen Raum zu schaffen, der als Bibliothek und Wohnzimmer dient. So sind Erdgeschoss und erster Stock zum großen Teil weitläufig und lichtdurchflutet.
Wenn ich über meine frühe Kindheit nachdenke, kommt mir der Kuckuck in den Sinn, der seine riesigen Eier in die Nester kleinerer Vögel legt. Diese winzigen Eltern sind dann in der gefährlichen Lage, eine auf sie bestimmt monströs wirkende Art von Nachkommenschaft aufzuziehen. Ich war bestürzt, als ich zum ersten Mal davon hörte – ich dachte: „Wie furchtbar, dass die Natur uns ein Wesen wie die leibliche Mutter des Kuckucks gibt, und was für eine schreckliche Situation für die winzigen Adoptiveltern-Vögel!“ Mein Mitleid gilt ganz den letzteren und ihrem eigenen Nachwuchs.
Aber ehrlich gesagt ist es das Kuckucksbaby, mit dem ich mich identifiziere. Mutter, die so anders war als ich, muss sich ja gewundert haben, wie sie an solch ein Kind wie mich geraten war. Aber sie zog mich groß, und ich würde sie um nichts in der Welt tauschen wollen (ebenso wenig die Umstände, in die ich geboren wurde). Ich habe nicht einmal im Leben gewünscht, jemand anderer zu sein. Nein, mir war tatsächlich immer schleierhaft, wie man überhaupt den Wunsch haben könnte, eine andere Person zu sein. Wir sind doch alle so einzigartig und haben alle von Anfang an das Bedürfnis, auf die Wahrheit zu reagieren, wer wir sind, woher wir kommen und mit welchem Lebensziel und welcher Aufgabe wir geboren wurden. Viele verweigern die Auseinandersetzung damit. Vielleicht ist unsere größte Herausforderung und eine, die wir zu unserem Schaden ignorieren, genau die, die überaus große Gabe zu finden, die oft genau in unseren Schwächen oder unserer Schuld liegt. So war es auch in meinem Fall, wie ich später herausfinden sollte.
[3]Judenchristen scheinen mehr Freiheit zu haben, diesen Zusammenhang eher wörtlich zu übersetzen, so etwa bei Hebräer 2,11, eine Stelle, die David H. Stern in seinemJüdischen Neuen Testament(Holzgerlingen: Hänssler 1994) so wiedergibt: „Denn Jeschua, der die Menschen für Gott aussondert, und die, die ausgesondert werden, haben einengemeinsamen Ursprung– deshalb schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen“; Hervorhebung LP.
[4]Damit meine ich nicht den Leib. Nach dem jüdisch-christlichen Verständnis lehnen wir unseren Körper nicht ab, sondern haben ihn zu achten und zu pflegen. Im Gegensatz zum gnostischen Verständnis sehen wir die ganze Schöpfung als gut an. Für die Gnostiker galt dasGeistliche, Immaterielle als nur gut (es gibt aber auch böse Geister!), die stoffliche Welt hingegen als ausschließlich böse, das heißt, allesMaterielle, das Gott doch geschaffen und als gut bezeichnet hatte, als hassens- und ablehnenswert.
[5]William Wordsworth,Ode: Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood, Bd. 2, New York: W. W. Norton 1962, S. 15.
[6]Die Entdeckung von Josef Piepers Schriften war für mich eine dieser seltenen Segnungen, die Herz und Geist sofort und nachhaltig erfreuen. Dreißig Jahre lang hatte ich nach einem christlichen Philosophen gesucht, der, ähnlich wie C. S. Lewis, die (christlichen und heidnischen) großen Geister versteht, der zugleich etwas von derinkarnatorischen Realitätweiß, dem Einfließen von Gottes Heiligem Geist in unser Leben, und der dann als Philosoph die Tugenden und Laster studiert, die doch das menschliche Herz so lenken.
[7]Josef Pieper,Divine Madness: Plato’s Case against Secular Humanism, San Francisco: Ignatius Press 1989, S. 42.
[8]Aiden W. Tozer,Das Wesen Gottes, Holzgerlingen 1996, S. 18.
[9]Josef Pieper,On Hope, San Francisco 1986, S. 14.
[10]Leanne Payne,Dich will ich hören, Herr, Lüdenscheid: Asaph 2009, S. 82.
[11]P. T. Forsyth,The Soul of Prayer,London: Independent Press 1916, 1960, S. 20.
Der Tod meines Vaters nahm unserem Leben alles, was in irgendeiner Form Sicherheit oder Schutz bedeutete. C. S. Lewis, der schon früh seine Mutter verlor, schrieb: „Mit dem Tod meiner Mutter verschwand alles gefestigte Glück, alles Ruhige und Verlässliche aus meinem Leben. Spaß, Vergnügen und viele Stiche der Freude sollten noch kommen; aber die alte Geborgenheit war dahin. Es gab nur noch Meer und Inseln; der große Kontinent war versunken wie Atlantis.“[12] Der Verlust meines Vaters zog uns den Boden unter den Füßen weg, und zunächst waren wir sehr nah daran, mit unterzugehen. Selbst wenn es noch irgendwelche Inseln gab, Mutter konnte sie nicht sehen.
Unsere kleine Familie, die es in der Wahlheimat, der Stadt Omaha, kaum geschafft hatte zu überleben, war plötzlich wieder im Süden, genau dort, wo die Wirtschaftskrise dieses Landes am schlimmsten zu spüren war, ohne Zuhause, ohne Einkommen – ohne alles. Meine Onkel hatten oft keine Arbeit, und wenn sie einmal eine finden konnten, reichte der Verdienst kaum zum Allernötigsten. In jenen Tagen gab es selbst bei einer so großen Verwandtschaft wie der unseren kaum die Mittel zu helfen. Wir erlebten eine Zeit, in der häufig die notwendigsten Dinge fehlten, und zunächst konnten wir noch nicht einmal zusammenbleiben. Mutter und ich wurden in das Haus eines Verwandten gepfercht und meine Schwester mit meiner Großmutter, die sich um sie kümmerte, in ein anderes.
Während dieser verzweifelten Phase wurde Mutter, absolut am Ende ihrer eigenen Kraft, in Christus wiedergeboren. Und indem sie von ihm gefunden wurde, fand sie sich auch selbst. Es war wirklich außergewöhnlich, heranzuwachsen und dabei diese zerbrechliche, kleine Mutter die schlimmsten Widrigkeiten überwinden zu sehen. Für meine Schwester und mich war Mutter schlicht Held und Heldin zugleich. Aber bevor sie diese hohe Position bei uns erlangte, durchlebte sie ein oder zwei extrem dunkle Jahre.
Gramgebeugt, nicht in der Lage, ihre Kinder zusammenzuhalten, und unter dem Eindruck, ohne sie ginge es ihnen besser, stand Mutter sehr kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Das ist nichts, was sie mir je erzählt hätte, aber Jahre später tat das Tante Maude, ihre zweitälteste Schwester. Maude war die eine Person in der Familie, die in ihrer Beziehung zu Christus eine tiefe Erweckung erlebt hatte. Deshalb konnte sie mit der einen Hand Gott festhalten und mit der anderen Hand Mutter, bis diese aus ihrer Verzweiflung herausfand. Tante Maude wurde wie ein Rettungsring für Mutter. Als der Sturm erst vorüber war, wurde sie Mutters Erzieherin im Glauben und auch ihre engste Freundin und Gebetspartnerin.
Mutters Verzweiflung hätte tiefer nicht sein können. Sie brachte sie vollkommen ans Ende ihrer selbst und zerstörte jegliche Illusion, dass sie es allein schaffen könnte. Oberflächlich zu glauben war ihr unmöglich; nur ein realer und präsenter Jesus konnte sie erretten. Es gab keinen materiellen Komfort, kein Vertrauen auf einen Ehemann, auf irdische Unterstützung, auf Hilfe beim Aufziehen ihrer Kinder. Der Kontinent, auf dem sie gestanden hatte, war für immer verschwunden. Aber im Mituntergehen, wenigstens insofern sie auf den Grund ihres eigenen Kummers und ihrer Verzweiflung stieß, fand sie ihre Füße auf festem Fels stehend. Unter sich fand sie den „Seinsgrund“, von dem Philosophen und Theologen sprechen, und er hielt sie und hob sie hoch hinauf ins Licht eines neuen Tages. Sie war auferstanden in Christus und war eine neue Person geworden, eine Person im Besitz ihrer Seele – ein wahres Selbst. Sie kam aus ihrer dunkelsten Stunde, in der sie ihrem alten Ich und Willen gestorben war, bis hin zu allen ihren alten Hoffnungen und Träumen, und erlebte sich unmittelbar als eine, die auserwählt war, „das Evangelium Gottes zu verkündigen“ (Römer 1,1). Jesus war ihr so gegenwärtig und real, wie er in seinem Erdenleben je dem Blinden, dem Lahmen, dem Tauben, dem Verletzten gewesen war. Von nun an verkündete sie ihn und seine Wahrheit.
Seit ihrem Neuanfang wuchs sie rasch in Weisheit und ging aus dieser Zeit aufrecht und stark hervor als die neue Frau, die sie war. Jetzt setzte sie ihr Vertrauen völlig auf Gott, und an ihrem Vertrauen war nichts Abstraktes. Es war jeden Augenblick vorhanden, Tag für Tag, und es brachte wunderbare Ergebnisse. Nichts hätte je besseren Einfluss auf mein Leben haben können als Mutters tiefe Bekehrung zu Christus.
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Ich schreibe nicht nur deshalb relativ detailliert über meine Mutter, weil sie mir in der Welt meiner Jugend sowohl Held als auch Heldin war und die Geschichte meines Lebens nicht getrennt von der ihren erzählt werden kann, sondern auch, weil so viele Menschen, wenn ich über Mutter schreibe oder spreche, danach verlangen, mehr zu hören. Heute haben viele keine Ahnung, was eine gottesfürchtige Mutter ist, und sie hängen an jedem Wort und erinnern sich an alles, was ich über meine erzähle.
Wie C. S. Lewis es ausdrücken würde, war Mutter eine Christin schlechthin, aber nun leben wir in einer Zeit, wo das Eigentliche erklärt werden muss. Sie war, zunächst einmal, eine Frau des Gebets. „Gebet“, sagt P. T. Forsyth in seinem tiefsinnigen Buch The Soul of Prayer, ist „das Mittel, Dinge so anzunehmen, wie sie sind.“[13] Mutter, in Kontakt mit dem Wahren, erkannte immer sofort, wo dieses ersetzt wurde. Wenn Falschheit, Heuchelei oder Sentimentalität in ein Gespräch oder eine Situation eindrangen, wusste sie es, und wo angemessen, hielt sie in knapper und überraschend objektiver Weise die Wahrheit dagegen.
Sie war nie jemand, der Worte verschwendet hätte, und wenn sie es nicht für richtig hielt etwas zu sagen, merkte ich das schnell und fragte sie später nach dem Grund. Sie respektierte meine Fragen immer und benutzte diese Gelegenheiten, mich zu belehren. Dass sie kein „Schwätzer“ war, trug auch zu ihrer Begabung als Erzieherin bei – normalerweise reichte schon ein einziges Wort von ihr. Wir wussten, dass alle ihre Worte Gewicht hatten.
Ja, ich wurde von dem Wort Gottes geformt, wie es durch meine Mutter sprach. Sie nahm das Wort der Wahrheit tief in sich auf, lebte es mir vor und war ein Experte darin, es weiterzugeben. Sie zeigte mir den Weg der Besonnenheit und göttlichen Weisheit und inspirierte in mir die Liebe zur Wahrheit, weil sie sie selbst ausstrahlte. So wurde ich gebildet im Glauben und bekam einen unersättlichen Appetit auf die Lektionen aller meiner großartigen Lehrer seitdem, die, wie Mutter, Christus liebten und in ihm wandelten als dem einzigartigen Weg, der Wahrheit und dem Leben. Ich kann mich nicht an viel Großartiges im Theologiestudium erinnern, dessen Grundlagen ich nicht schon vorher und besser von meiner Mutter gelernt hätte.
Sie war besonders zum Lehren begabt, und diese Gabe kam sowohl innerhalb wie außerhalb des Hauses effektiv zum Einsatz. Als wir heranwuchsen, unterrichtete sie meine Schwester und mich täglich aus der Bibel und leitete uns im Gebet, in Danksagung, Lobpreis und Bitte vor Gott. Und wenn sie lehrte, sei es meine Schwester und mich, die Kinder in der Sonntagsschule oder ihre Bibelgruppe für Erwachsene, war das Wort der Wahrheit kreativ und bewirkte Dinge.[14] Die Botschaft, die sie übermittelte, war nie trübe oder in irgendeiner Form durch überflüssige Worte behindert, niemals hart oder zwingend oder freudlos. Auch gab es daran nichts Gesetzliches, und so weit ich weiß, war ihr nicht bewusst, wie angenehm und kraftvoll sie lehrte. Ich habe das Gefühl, dass auch anderen dieses Merkmal meiner Mutter nicht bewusst war, und dass sie sie einfach als still und zurückgezogen empfanden. Tatsächlich liebte sie die Wahrheit auf ungekünstelte Weise, besonders wie sie in und durch die Schrift zu uns kommt, und sie ehrte das gesprochene oder geschriebene Wort, das ihr konkrete Form gibt und sie übermittelt. In solch einer Seele werden die Worte, die die Wahrheit gleichzeitig darstellen und übermitteln, wirklich lebendig, und die, die Augen haben zu sehen und Ohren zu hören, bewegen sie immer wieder in ihrem Herzen.
Mutter hatte einen wachen, scharfen Verstand und las ständig die großen Bibelkommentatoren. Die vollständige Sammlung der Adam-Clarke-Kommentare war ein bemerkenswerter Schatz in unserem bescheidenen Zuhause, und durch Herz und Verstand dieses und anderer großer Christen erlangte Mutter ein freimachendes Wissen über andere Zeiten, Orte und Menschen.
Sie lehrte das, was gut, was schön, was wahr ist – das, was gerecht und vernünftig, das, was mutig und maßvoll ist, das, was zu Glaube, Hoffnung und Liebe gehört. Und doch nannte sie das Böse nur dann beim Namen, wenn wir damit konfrontiert wurden. Sie wusste, es war wichtig, die Laster richtig zu benennen, und lebte dabei vor, wie die entgegengesetzte Tugend in einer Seele aussieht.
Kein Thema schien Mutter zu groß oder zu hoch, als dass sie ihre Kinder darüber nicht belehrt hätte, und so brachte sie uns die grundlegenden Dinge nahe – früh, in einfacher und überhaupt nicht verstiegener Weise. Die Hoffnung auf den Himmel, das Verständnis der ewigen (ontologischen) Dimensionen des Seins, die Tatsache, dass wir nach Gottes Bild und ewiger Ähnlichkeit geschaffen wurden: All dies wurde uns in Worten und Bildern beigebracht, die wir uns einprägen konnten. Sie hatte die Mahnung des heiligen Paulus an Timotheus befolgt: „Ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist“ (1. Timotheus 6,12), und konnte deshalb das Wissen davon in Geschichtenform weitergeben, und damit auch die Sache selbst. Sie war ein heiliger Kanal der Gegenwart Gottes und hatte höchst wertvollen Glauben und Hoffnung.
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Kein Bericht über Mutters Leben wäre vollständig ohne eine Beschreibung der Fürbitte, wie sie sie praktizierte, oder ihrer großen Liebe zum Singen. Eine alte Rabbinerweisheit sagt: „Wer in seinem Haus betet, umgibt es mit einer Mauer, die stärker ist als Eisen“, und ihr Gebet und ihre Lieder haben mit Sicherheit einen göttlichen Schutzwall um unser extrem angreifbares Häuschen und Leben aufgeschüttet.
Außer wenn sie krank war, sang Mutter jeden Tag, und wir liebten es. Nicht dass sie eine besonders schöne Stimme gehabt hätte – das hatte sie nicht –, aber ihr Herz war randvoll mit Dank und Lobpreis, was sie im Lied ausdrückte. „Ein Vogel im Wald, der im Morgengrauen singt, weckt die ganze Lichtung mit Musik“[15] – so war es mit Mutter; ihr dankbares Herz schuf eine helle Atmosphäre. Sie verbreitete die Hoffnung des Christen und hatte Freude, unabhängig von den Umständen.
Nachdem sie ihren Lobpreis und Dank gesungen hatte, wandte sich Mutter Kirchenliedern zu, die das Kreuz und die Hoffnung auf den Himmel feierten. Zwar musste sie den größten Teil des Tages außer Haus Geld verdienen, doch wenn sie zu Hause war, klang das Haus wider von Liedern über die Erlösung Christi von unseren Sünden und seine gnädige und liebevolle Einladung an Sünder: „When I see the blood … I will pass over you“; „There is a fountain filled with blood drawn from Immanuel’s veins“, „The Old Rugged Cross“; „Jesus paid it all, all to Him I owe“. Ihre ungeschulte Stimme erhob sich in höchste Höhen, wenn sie das alte Lieblingslied sang: „When we all get to heaven, what a day of rejoicing that will be!“ Wenn sie sang, wurde die jenseitige Welt ein wenig realer, und meine kleine Schwester und ich stimmten gerne ein.
Auch Gebet gehörte zum regelmäßigen Tagesablauf; zum Beten schloss sich Mutter ein. An Samstagvormittagen betete sie für den Gottesdienst am nächsten Tag und für die Sonntagsschulklasse, die sie unterrichtete. Wenn Mutter sich mehr und mehr in der Fürbitte für andere Menschen verlor, vergaß sie sich und wurde immer lauter. Dann flehte sie Gott mit erhobener Stimme für die Gemeinde und die Nation an.
Es gab nicht den mindesten Hinweis, dass ihr Beten gesetzlich oder strapaziös wäre. Meistens war Gottes Gegenwart im Haus ganz besonders zu spüren, wenn Mutters Fürbitte anschwoll, und als Kind erfasste auch mich ein Geist des Gebets. Obwohl ich nicht mit ihr in ihrem Gebetskämmerchen war, schloss ich mich ihrem Beten an. Manchmal machten Spielkameraden, die zu Besuch waren, das ebenso – etwas, was ihre Eltern nicht unbedingt verstanden.
Mutter schätzte die Schriften von Andrew Murray über Gebet sehr. Was er schrieb, lebte sie vor meinen Augen aus. Wie jede berufstätige Mutter, die ohne Unterlass sowohl zu Hause wie außer Haus arbeitete, hatte sie wenig bis keine Freizeit. Wenn jemand eine Entschuldigung dafür gehabt hätte, aufgrund von Müdigkeit oder Zeitmangel nicht zu beten, dann Mutter. Aber sie wusste, dass es eben aus diesen Gründen die reine Dummheit gewesen wäre, das Gebet zu vernachlässigen. Und wirkliches Beten ist harte Arbeit, weil es schöpferisch ist – durch das Gebet bringen wir gewissermaßen Gottes Willen und Wirken zur Geburt.
Neben der Tatsache, dass Mutter Fürbitte nicht für eine Nebensächlichkeit hielt, wusste sie, welch ein Geschenk sie war – auch für sie selbst. Sie vertraute ganz und gar auf Gott, selbst für die einfachsten Grundbedürfnisse. Sie kannte und erlebte die Tatsache, dass, in Forsyth’ Worten, „wie Essen, so auch Gebet neue Kraft und Gesundheit mit sich bringt“, dass Gebet uns zu wirklichen Persönlichkeiten macht. Mutter hätte zwar das Folgende nicht mit Forsyth’ Endgültigkeit und Autorität sagen können, aber sie hätte seinen Worten ohne Weiteres ein überzeugtes „Amen“ hinzugefügt:
Jeder Erfolg im Gebet ist Antwort auf Gebet – auf unser eigenes oder das von jemand anderem. Und jedes wahre Gebet treibt seinen eigenen Fortschritt voran und verstärkt unsere Kraft zu beten. Die schlimmste Sünde ist, nicht zu beten. Offenes Fehlverhalten, Verbrechen oder die krassen Widersprüchlichkeiten, die uns so oft in Christenmenschen überraschen, sind Auswirkung davon oder Strafe dafür. Wir werden von Gott verlassen, weil wir ihn nicht suchen. Nicht beten zu wollen ist also die Sünde hinter der Sünde. Und es endet damit, nicht mehr beten zu können. Das ist Strafe – Taubheit, oder zumindest Sprachverlust, und Verhungern im Geistlichen.[16]
In ihrer Fürbitte für andere erfuhr Mutter, was Liebe wirklich ist, und die Herrlichkeit der wahren, ja, schrecklichen Liebe Gottes zu seinem Volk. Liebe zu Menschen, der Gemeinde oder Nation brachte sie nie durcheinander mit den entsprechenden Gefühlen der Liebe; sie wandte sich nicht von den Gegenständen ihrer Gebete ab, um ihre Gefühle zu überprüfen. Diese Untugend war ihr in ganz außergewöhnlichem Maße fremd, ebenso die Sentimentalität, eine dunkle und gefährliche Untugend, die die organisierte Kirche heute beutelt und die sich erfolgreich für Liebe ausgibt.
Als meine Mutter in den Dienst der Fürbitte einstieg und auf diese Weise andere Menschen liebte, erlebte sie, dass sich die Schleusen des Himmels auch über ihr selber öffneten. Neben erstaunlichsten Gebetserhörungen für andere empfing sie von Zeit zu Zeit Gaben der reinen Gnade. Zum Beispiel bekam Mutter eine Gebetssprache, ohne danach gefragt zu haben – ja, ohne irgendwen zu kennen, der diese Gabe auch hatte. Sie sagte es nicht einmal meiner Schwester und mir, als wir selber noch nicht die Gaben des Heiligen Geistes empfangen hatten. Natürlich war ihre Gebetssprache eine große Hilfe in der Fürbitte.
Und es war während des Betens für andere, da erfuhr sie die Liebe Gottes in einer Weise, dass sie für immer verändert und gestärkt war. Sie nannte dieses Geschehen eine „Taufe in Gottes Liebe“ und beschrieb es als flüssige Liebe, die Welle für Welle über sie spülte. Jede Welle kam in lebendigen Farben, die sie nicht beschreiben konnte. Die wirklich eigentliche Liebe schien über und in sie gespült zu werden, wie die Schechina-Herrlichkeit, sagte sie, und es war fast mehr, als sie ertragen und überleben konnte. Sehr weise erzählte sie erst gegen Ende ihres Lebens nur ganz wenigen Menschen davon. Solch eine Freude, besonders wenn sie von den Zuhörern überhaupt nicht verstanden wird, kann sich auflösen, wenn sie willkürlich weitererzählt wird. Aber sie vermehrt sich in ihren heilenden Auswirkungen für einen selbst und andere, wenn sie in rechter Weise verwahrt und verwaltet wird. All dies wusste Mutter, weil sie eine Frau des Gebets war, eine Frau, die Weisheit von oben empfing.
Quasi ohne Schutz und ohne Sicherheit außer dem, was sich durch Hoffnung und Glauben des Christen ergibt, war Mutter gewiss beispielhaft für das, was eine gottesfürchtige, alleinerziehende Mutter nur sein kann. Natürlich war sie Mensch und hatte folglich Grenzen und Schwächen. Aber indem sie „schlechthin“, aber durch und durch Christin war, hörte sie nicht auf zu lernen und zu wachsen. Wirklich, mit und in Christus hat sie „die Welt überwunden“ (Johannes 16,33).
Mutters Jahr, das in schwarzer Verzweiflung begonnen hatte, endete im vollen Licht geistlichen Wachsens und geistlicher Hoffnung. Sie schien sehr schnell zu der eben beschriebenen Reife gekommen zu sein. Ich erinnere mich an Mutter nur als an die Frau, zu der sie in Wahrheit die ganze Zeit wurde.
[12]Clive Staples Lewis,Überrascht von Freude, Gießen: Brunnen 2007, S. 32.
[13]Forsyth,The Soul of Prayer, a.a.O., S. 19.
[14]Zum Thema „Wort Gottes als kreative Macht“ siehe zunächst Psalm 33,6, 107,20, Jesaja 55,11. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, wie sich das, was hier über das in Lehre und normaler Kommunikation gesprochene Wort gesagt wird, von gewissen, heute verbreiteten Praktiken und Lehren unterscheidet, die eine unausgewogene und/oder tatsächlich irrige Betonung auf das Aussprechen eines Wortes im Gebet legen, mit dem man das „nennt und beansprucht“, was man von Gott erbittet oder fordert. Diese extreme „Glaubenstheologie“, die auf E. W. Kenyon zurückgeht, lässt eine überaus wichtige Tatsache unbeachtet, die Charles Spurgeon beschreibt: „Worte sind nicht das wesentliche, sondern nur das Kleid des Gebets.“ So liegt die Betonung auf der richtigen Stelle, auf demGeistdes Gebets, im Unterschied zu der Art und Weise, in welcher es gesprochen wird.
[15]Es tut mir leid, dass ich die Quellenangabe für diesen Spruch verloren habe; ich glaube, er wurde von F. B. Meyer zitiert.
[16]Forsyth,The Soul of Prayer, a.a.O., S. 11–12.
Etwa ein Jahr nach unserer Rückkehr nach Little Rock kam meine Familie wieder zusammen, denn wir zogen in ein Haus ein, das Mutters ältester Schwester und ihrem Mann gehörte. In der Hoffnung, ihre Familie nach den Jahren der Depression wieder von St. Louis zurück nach Little Rock bringen zu können, hatte Tante Ellie eisern an dem Besitz des Hauses festgehalten, in dem ihre Kinder geboren worden und aufgewachsen waren. Als die Mieter es verließen, zogen wir zusammen mit Grandma in dieses Haus ein, das von schönen Erinnerungen und Familiengeschichte erfüllt war.
Es gab nur ein weiteres Haus in der Nähe; das lag nach Westen, durch einen, wie auf dem Lande üblich, großen Hof getrennt. Nach Osten hin standen mehrere Morgen Waldland, durch welches ein prächtiger Bach voller Flusskrebse und Schwärme von Kaulquappen verlief. Unser Haus zeigte hinten nach Süden und hatte hellen Sonnenschein, wo wir einen Garten in guter Größe hatten. Für diesen sorgte ein freundlicher Riese, ein älterer afro-amerikanischer Mann, den wir sehr gern mochten. Sein Name war John, aber er wurde von allen respektvoll „Ole John“ genannt. Das köstliche Gemüse, das er in unserem Garten anbaute, teilte mit uns.
Meine Schwester und ich freuten uns, wenn er, was selten vorkam, seine Enkelkinder mitbrachte. Wir hätten liebend gern mit ihnen gespielt, aber Grandma hielt uns zurück, und so beschränkte sich unser Spaß darauf, uns gegenseitig anzugucken. Ich kann sie immer noch vor mir sehen, wie sie hinter einem großen, alten Baum hervorlugten und uns breit angrinsten. Festgehalten hinter Grandmas Röcken, strahlten meine Schwester und ich zurück.
In und um unser Haus gab es so gut wie keine Lärmverschmutzung. Ich erinnere mich nur an zwei oder drei Male, wo unser quäkendes, altes Radio lief – es gehörte sicher zu den ersten, die je hergestellt wurden. Dabei ging es dann um weltbewegende Ereignisse; am deutlichsten erinnere ich mich an den 7. Dezember 1941, als die Japaner Pearl Harbor bombardierten. Fernsehen musste erst noch erfunden werden. Ein Fernseher wäre aber sowieso nicht in unser Haus gekommen, aus dem gleichen Grund, weshalb wir keine Filme ansahen. Selbst wenn wir uns den Kinobesuch hätten erlauben können, hätte Mutter uns wegen der unmoralischen und antifamiliären Einflüsse, die von Hollywood ausgingen, aus Prinzip nicht gehen lassen. Deshalb waren unsere Tage still und wir konnten die Vögel singen hören, die Bienen summen, die Frösche quaken und all die anderen wunderbaren Geräusche der Wälder, des Bachs und Gartens. Während meiner ganzen Grundschulzeit wohnten wir in diesem ruhigen Umfeld.