Leben und Lieben im Mittelalter - Prof. Dr. Walter Schild - E-Book

Leben und Lieben im Mittelalter E-Book

Prof. Dr. Walter Schild

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Beschreibung

Stichwort Mittelalter. Wie lebten die Menschen damals? Schilds Erzählungen möchten Orte, Menschen und Situationen dieser alten Zeit verlebendigen und das ferne Alltagsleben wieder nachvollziehbar machen. Die Epoche selbst umfasst einige Jahrhunderte, und so sind auch die einzelnen Geschichten auf verschiedene Zeiten verteilt. Sie spielen im Früh-, Hoch- und Spätmittelalter: Ursprüngliche Szenen der Leibeigenschaft und heldenhafter Territorialkämpfe auf dem Lande wechseln ab mit Abenteuern in der Blütezeit des ritterlichen Minnesangs und der letzten Kreuzzüge, bevor zum Ausklang Einblicke in die beginnende städtische Welt des Handwerks und der Kaufleute gewährt werden. Wie aus dem Titel des Buches hervorgeht, liegt der Akzent der Erzählungen auf dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Obwohl im Mittelalter die Männer das Sagen hatten, gewann die Stellung der Frauen zunehmend an Bedeutung, wie ein Vergleich der erzählten Geschichten verdeutlicht.

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Table of Contents

Einleitende Vorbemerkungen

Auf dem Lande

Ohnmächtig

Rüdiger und Margret

Unterwegs

I

II

IV

V

VII

IX

X

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

IXX

XX

XXI

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

Angekommen

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

Walter Schild

Leben und Lieben im Mittelalter

Erzählungen

Weimarer Schiller-Presse

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2017 FRANKFURTER LITERATURVERLAG FRANKFURT AM MAIN

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE

AKTIENGESELLSCHAFT

Mainstraße 143

D-63065 Offenbach

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

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Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorgehende schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und werden auch strafrechtlich verfolgt.

Lektorat: Dr. Annette Debold

ISBN 978-3-8372-2043-8

Einleitende Vorbemerkungen

Viele mögliche Leser(innen) denken beim Stichwort „Mittelalter“ an eine weit zurückliegende dunkle Zeit, von der man wenig konkrete Vorstellungen hat. Vom Schulwissen her erinnert sich manche(r) vielleicht noch an Karl den Großen, an Kaiser Barbarossa oder die Kreuzzüge in das Heilige Land. Möglicherweise wohnt man auch in einer Stadt, deren älteste Kirchen, Kaufmannshäuser oder eine Burg noch aus dem Mittelalter stammen. Doch wie lebten die Menschen damals?

Die Erzählungen möchten einige Orte, Menschen und Situationen aus dieser alten Zeit verlebendigen und das Alltagsleben von damals nachvollziehbar machen. Da das Mittelalter einige Jahrhunderte umfasst, sind auch die Geschichten auf verschiedene Zeiten verteilt. „Auf dem Lande“ sind wir in der Frühzeit des Fränkischen Reiches. „Ohnmächtig“ beschreibt die Folgen eines Konflikts in der frühen deutschen Kaiserzeit. „Rüdiger und Margret“, die zentrale Geschichte, handelt im Hochmittelalter, in der Zeit Kaiser Friedrichs II. und der letzten Kreuzzüge. „Die Tochter des Bäckers“ lebt in einem deutschen Städtchen des Spätmittelalters; ebenso „Der Handelsherr“ und seine Familie.

Wie aus dem Titel des Buches hervorgeht, liegt der Akzent in allen Erzählungen auf dem Verhältnis von Männern zu den Frauen und umgekehrt. Obwohl im Mittelalter die Männer das Sagen hatten, gewann die Stellung der Frauen an Bedeutung; das wird sehr anschaulich, wenn man etwa die erste mit der letzten Geschichte vergleicht.

Auf dem Lande

Das Gehöft lag auf einem Hügel, zu dem Helindis nun, eher als sonst, zurückkehrte. Jetzt erreichte sie die Einfriedung des Gehöfts aus Brombeerhecken. Sie musste eine Weile daran entlanggehen, um zu der schmalen Durchfahrt, die hineinführte, zu kommen. Sie hasste diese Brombeerranken, die die Haut zerkratzten und sich an ihrem Kleid festhakten. Wenn man barfuß auf eine Ranke trat, war es noch schmerzhafter. Sie fände eine Einfriedung aus Haselnuss und Weißdorn, wie sie der entfernte Nachbar hatte, besser. Am Backhäuschen und kleineren Speichergebäuden vorbei, ging sie zuerst zu einem Pferch, in dem die Gänse über Nacht gesichert wurden. Als Feldmagd und Gänsehirtin war sie für die Tiere verantwortlich. Sie wollte sehen, ob der junge Abbo, der sie heute vertrat, ordentlich für sie gesorgt hatte. Sie zählte die Tiere und fand alles in Ordnung.

Sie hatte den Tag damit verbracht, Stauden und sonstiges Unkraut, das zwischen dem Dinkel unten im Feld am Bach wuchs, herauszureißen und neben dem Feld auf einen Haufen zu werfen. Auch hatte der Bach, als er vor Kurzem über die Ufer getreten war, Äste, Steine und Erde angeschwemmt und einen Teil der Saat damit überdeckt. Hier hatte sie freilich nichts anderes tun können, als die Äste wieder in den Bach zu werfen. In den Pausen verzehrte sie die mitgebrachten Fladen und schöpfte zum Trinken Wasser aus dem Bach. Dabei hatte sie daran denken müssen, dass in dieser vorher römisch beherrschten Gegend die Mägde jetzt Sklavinnen genannt wurden. Ob das etwas Besseres war? Bereits ihre Mutter war Magd gewesen und vom Vater des jetzigen Herrn geschwängert worden. Beide, ihre Mutter und der damalige Herr lebten inzwischen nicht mehr. Der jetzige Bauer hatte für heute Abend ein Festmahl für den König angeordnet, auf das sie sich schon freute.

Der Boden war vom Regen immer noch sehr aufgeweicht und die Trittsteine waren zum Teil gekippt, sodass man sie besser umging. Zwischen den Ritzen des Dachs der Haupthütte stieg bereits Rauch der Feuerstellen zum Himmel. Sie musste noch den Mistlachen ausweichen und bog dann in den Trampelpfad entlang des großen Binsendachs ein, das hier bis zur Erde reichte. Aus der offenen Tür drangen Gemurmel und einzelne Rufe. Sie wischte sich die Waden und Füße mit einer Handvoll Stroh ab, das zu diesem Zweck neben der Türe lag. Von den wenigen, die schon um die große Feuerstelle hockten, nahm niemand von ihr Notiz. Im Hintergrund machte sich der Bauer an den Krügen mit dem Bier zu schaffen. Sie ging zu der kleinen Feuerstelle und begrüßte Meginswid, die kurz lächelte, als sie von ihr gesehen wurde. „Hilf rühren, ich muss mal.“ Damit war sie unbeabsichtigt in die Essensvorbereitungen geraten. Der Boden der geräumigen Hütte war heute gefegt, und Büschel frischer Zweige verschönerten die tragenden Balken.

Bald saßen oder hockten sie alle, der Herr, sein Weib und das Gesinde, um die Feuerstelle. Der Bauer dankte den Göttern für Speisen und Trank. Dankbar gedachte er der Siege Chlodwigs, die es den Franken ermöglicht hätten, hier auf gutem Land zu siedeln. Sie säßen heute zu Ehren dieses großen Herrschers und seines Hauses zusammen, und nun könne angefangen werden. Gebackenes wurde verteilt und die Fleischbrühe aus dem Kessel in der Mitte in die irdenen Schalen, die jeder bei sich hatte, geschöpft. Helindis ließ es sich, nach einem arbeitsamen Tag, gut schmecken. Dazwischen bediente sie zusammen mit den älteren Mägden die Runde. Der Bauer ließ Krüge mit Bier kreisen: getrunken wurde auf das Herrscherhaus. Die Kessel wurden ausgetauscht, und es wurde gekochtes Schweinefleisch serviert, gewürzt mit Knoblauch, Zwiebeln und Kerbel; dazu gab es Gemüse aus Kohl und weißen Rüben. Da von allem reichlich da war, aß jeder, bis er nicht mehr konnte. Weitere Runden Bier wurden ausgeschenkt. Helindis war froh, dass sich Frauen und Kinder nicht an den Trinkspielen beteiligen mussten, die die Männer immer wieder zwangen, den Krug auf einen Zug zu leeren. Das Gebräu tat inzwischen seine Wirkung, die sich durch anhaltendes Rülpsen und dem Schwanken zur Tür bemerkbar machte. Auch sie spürte ein leichtes Drehen im Kopf. Sie hatte sich inzwischen an Meginswid, die neben ihr saß, angelehnt. Was würde passieren, wenn sie später um das langsam erlöschende Feuer liegen würden, um zu schlafen? Würde auch heute der Bauer zu ihr kommen? Obwohl ihr das meist lästig war, heute hätte sie nichts dagegen. Durch seine Vorliebe für sie als Jüngste war sie vor den Knechten geschützt; denen blieben die älteren Mägde. Aus ihren schon müden Augen beobachtete sie, wie die Bäuerin sie böse fixierte und dann die heranwachsende Tochter schalt, doch ihren sicheren Platz zwischen Tante und Großmutter einzunehmen. Auch Helindis wusste, dass es im Finstern zu Verwechslungen kam, war sie sich doch selbst nicht immer sicher, wer sie besuchte. Sie massierte ihren Bauch, der vom vielen Essen spannte. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie dabei: Heute wäre ihr alles egal. Leider war das Bier noch immer nicht zur Neige gegangen, und einige Trinkfeste saßen noch aufrecht. Sie gähnte laut und hätte gern geschlafen. Doch es würde, das sah sie voraus, eine kurze Nacht werden.

Ohnmächtig

Nach dem Kampf war er von seinen Leuten, die ihn als Leblosen in den Sattel gezogen hatten, in sein festes Haus zurückgebracht worden. Das war nur gegangen, weil sich einer hinter ihn gesetzt und ihn festgehalten hatte. Immer wieder hatte er mit seinem Blut, das an ihm herabrann, auch sein Bewusstsein verloren. Die Unebenheiten des Geländes waren ihm als Stöße durch Mark und Bein gegangen. Aus einer dieser kurzen Ohnmachten erwachend, hatte er aufgeregtes Stimmengewirr und die Stimme seines Weibes gehört: „Lebt er noch?“ Nach überstandenem Ritt nun bei den Seinen, hatte er sich entspannt und wieder das Bewusstsein verloren.

Schneidender Schmerz holte ihn aus dem wohltätigen Dunkel, dem er sich am liebsten ganz überlassen hätte. Zwei Diener zerrten sein Lederwams von der Wunde.

„Er blutet noch immer wie ein Schwein“, hörte er Egbert, seinen Leibdiener sagen.

„Es ist aus mit ihm“, entgegnete eine andere Stimme.

Markulf wollte auffahren, um die Unverschämten zu züchtigen. Doch zu seinem Erschrecken konnte er nicht einmal sein Augenlid heben, sosehr er sich dazu zwang.

„Da liegt er nun, der große Held, der mich wegen jedem Mist geschlagen hat – da hast du eins zurück.“ Der Hieb mit etwas Hartem auf seinen wunden Leib stürzte ihn in die nächste Ohnmacht.

Als er wieder zu sich kam, fröstelte ihn, in seinem Leibe wütete der Schmerz. Sehr still war es hier und kalt. Sein Kopf stak in etwas Festem, und seine Hand war um etwas gebogen, was sich wie ein Griff anfühlte. Lag er etwa bewaffnet und aufgebahrt in seiner Eigenkirche? Was nahm sich sein Weib, sein Gefolge heraus, ihn zum Toten zu machen?! Das wollte er ihnen heimzahlen! Wieder versuchte er mit aller Kraft, sich zu bewegen. Vergebens. Musste er sich damit abfinden, lebendig begraben zu werden? Was war zu tun, um es zu verhindern? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Ihm fiel nichts ein: nichts, gar nichts! Hätte Hinkmar ihm doch den Rest gegeben. Aber er hatte dies wohl nicht mehr für nötig gehalten. Zu dem Kampf an der Grenze ihrer Territorien war er durch eine Beleidigung Hinkmars gezwungen worden, die ihm zu Ohren kam. Der Nachbar hatte öffentlich behauptet, er, Markulf, hätte sich einen Diener angeeignet, der dem Nachbarn entlaufen war. Das war reine Bosheit gewesen. Doch das alles war nun unwichtig, versank im Nebel der Vergangenheit, ging ihn nichts mehr an.

Er spürte einen Luftzug, und es war ihm, als ob nun jemand im Raume sei.

„Steckt die Fackeln in die Halter, und lasst mich allein!“, hörte er sein Weib anordnen. Dann spürte er ihre Finger an seiner Wange.

„Er ist noch kaum ausgekühlt“, hörte er sie sagen.

Verfluchtes Weib, dachte er, als ob sie auf meinen Tod gewartet hätte. Wo waren eigentlich Reinmar, Bodo und die anderen Getreuen, die er mit Gunstbeweisen überhäuft hatte? Waren auch sie erschlagen worden, oder gehorchten sie nun seiner rechtmäßigen Gattin, die ihn offenbar hasste? Warum glaubten alle, dass er tot sei? Musste man nicht sehen, was in seinem Kopfe vorging?

„Da liegst du nun also allein, du, der du mich nachts in den letzten Jahren so oft hast allein liegen lassen, mich, deine Gattin, die dir den Sohn und Erben geschenkt hat. Du hast die Schamlosigkeit besessen, mir Dodana als ‚zweite Gattin‘ vor die Nase zu setzen und vorzuziehen, bis dich die Brunichild verblendet hat und du sie als Dritte ins Haus brachtest. Immer weniger hast du mich geehrt und mich, wenn ich dich zur Rede stellte, geschlagen. Du hast mir schlecht vergolten, was ich für die Sippe getan habe und tue. Hast du dich zwischendrin einmal besonnen und bist bei mir geblieben, hat Dodana dich mit ihren Zaubertränken wieder herumgekriegt und Brunichild mit Beschwörungen und ihrer Liebesspeise. Pfui Teufel, wenn du gewusst hättest, was du da getrunken und gegessen hast! Brunichild hat den köstlichen Fisch in ihrer … – ach, mich graust es. Ekelhafte Zauberei! Leider hat sie gewirkt. Doch das ist vorbei. Diese feinen Gattinnen sind nun in meiner Hand und werden sich ihres Lebens nicht mehr freuen – das kann ich dir versichern.“

Sie hatte ihn während dieser bitteren Rede mit ihren Blicken fixiert und sich gewünscht, dass er es noch hören könnte. Wie tief erschrak sie nun, als sie wahrzunehmen glaubte, dass es um seinen Mund herum zuckte, und er tatsächlich eines der Augen öffnete.

Sein Gesicht verzerrte sich, wie in ungeheurer Anstrengung, und er stieß hervor:

„Weib …!“ Gleichzeitig schien es ihr, dass sich das Schwert, das er umfasst hielt, bewegte. In Panik wich sie weit zurück. Mit schreckhaft geweiteten Augen sah sie, wie ein Zucken durch seinen Körper lief und sein Kopf zur Seite sank.

Lange stand sie da, unfähig einen Gedanken zu fassen. Sie sah auf den nun Leblosen, der einmal ihr Gatte war. Sein Gesicht erschien ihr noch jetzt männlich schön. Neben dem Bitteren, das sich in ihr angehäuft hatte, meldeten sich nun auch die süßen Augenblicke, seine Werbung um sie und die ersten guten Jahre. Sie erinnerte sich seines Stolzes auf ihren gemeinsamen Sohn.

Sie würde nun die Geschicke dieses großen Hauses in die Hand nehmen müssen, bis Leubard, der Sohn, erwachsen sein würde. Wichtiger als alles war jetzt, ihm seine Herrschaft zu sichern. Dies würde ihr nur mit Klugheit gelingen. War es klug, sich an den Frauen zu rächen? Vieles ging ihr nun durch den Kopf.

Bevor sie ging, legte sie ihre Hand auf die Stirn des Gatten und drückte ihm sanft die Augen zu.

Rüdiger und Margret

Unterwegs

I

Drohend standen die Berge des Alpenpasses hinter ihm, den er gerade überquert hatte. In der Ferne baute sich vor ihm eine weitere Felsbarriere auf, von der er allerdings wusste, dass er sie umgehen würde, wenn er dem Inn in seinem Lauf folgte. Er durchritt das Tal, das zu diesem Fluss hinunterführte. An der lauen Luft, den bereits aufgebrochenen Knospen der Sträucher am Wege und am jungen Grün der Matten erkannte er den beginnenden Frühling, der schließlich auch diese Gebirgsgegend erreicht hatte. Seine Gedanken eilten voraus in seine Waldheimat, der er zustrebte. Auf seinem Ritt würde er an Städtchen am Fluss und festen Häusern auf den Höhen vorbei zuerst in das freundliche Voralpenland kommen. Dort feierte die Natur sicher schon ein erstes Fest. In seinem heimatlichen Waldgebirge dagegen dauerten die schneereichen Winter besonders lange. Deswegen wurde der Frühling besonders freudig begrüßt.

Er hatte die kalte Jahreszeit in Apulien und Sizilien verbracht und war mit seinen Balladen und Liedern in den reichen Häusern jener Gegenden freundlich aufgenommen worden. Seine Gastgeber hatten seinen Gesang geschätzt und seine blonden Locken und blauen Augen bestaunt. Nicht wenige lockende Blicke der streng bewachten, südlichen Schönheiten waren ihm zuteilgeworden, ohne dass ihm freilich der nähere Umgang mit ihnen gewährt worden war. Er hatte bald bemerkt, dass die jungen Damen der herrschenden Häuser seit Kindheitstagen versprochen waren. Heißblütige Kavaliere ließen es auch in geringeren Familien nicht ratsam erscheinen, sich den Schönen zu nähern. So fand seine Liebeslyrik, der er mit seinen Liedern Ausdruck gegeben hatte, keine Erfüllung in der Wirklichkeit, so wie er es sich erträumt hatte. Wurde die Spannung zu groß, war er auf die käuflichen Frauen angewiesen gewesen. Auch diese hatte er sich nicht immer leisten können.

Allerdings gab es auch Ausnahmen. Auf seinem langen Ritt durch die südlichen Städte und Landschaften zurück hatte er mit Vorliebe in Landgütern übernachtet. Obwohl er sich bewusst für unauffällige grüne und rote Kleidung entschieden hatte, die zu seinem Ritterstand passte und sich vom bunten Äußeren des fahrenden Volkes abhob, war er doch mit seiner mitgeführten Laute als fahrender Sänger zu erkennen gewesen. Wenn er dann von seinen Gastgebern gebeten wurde, zu musizieren oder wenn er für die Jugend zum Tanz aufgespielt hatte, war es nicht selten vorgekommen, dass ihn eine der Mägde nachts auf seinem Strohlager aufgesucht hatte. Dann war des Küssens kein Ende gewesen. Er spürte noch jetzt das Piksen der spitzen Halme auf der Haut. Morgens war er dann früh aufgebrochen, um eventuellen Unannehmlichkeiten zu entgehen. Der Nachklang solcher Nächte hatte seinen Ritt jeweils beflügelt: Er sang dann seine Lieder auch unterwegs. Seine Rast in der Mittagszeit benutzte er auch dazu, das, was er im Süden dazugelernt hatte: die arabischen Verzierungen der Musikstücke und die Tanzweisen des Volkes, die er sich angeeignet hatte, in seine Musik einzufügen und sein Spiel damit zu bereichern. Mit diesen Neuerungen hoffte er in seiner Heimat Eindruck machen zu können.

Als er in die ersen Alpentäler eingebogen war, kam er bald zu der Bischofsstadt Trient, in der er vereinzelt bereits Worte und Sätze in seiner Muttersprache hörte. Hier nächtigte er in einer Herberge außerhalb der Mauern, um sein Geldsäckel zu schonen. In jener Herberge hatte auch ein blinder Sänger Quartier genommen, der mit seiner Tochter über Land zog. Die Tochter begleitete ihren Vater auf einem Saiteninstrument. Er hatte dem Vortrag der alten Lieder auch aus seiner Heimat mit Rührung gelauscht und mit einer für seine Verhältnisse großzügigen Spende belohnt. Danach war er mit den beiden ins Gespräch gekommen und hatte dabei erfahren, dass der ältere Mann aus einer Familie des niederen Adels stammte und sich – wie er selbst auch – geweigert hatte, als nicht erbberechtigter Sohn ins Kloster zu gehen. Nachdem er sich als Kaufmann versucht und geheiratet hatte, waren es Schicksalsschläge gewesen, die ihn ruiniert und zu seiner jetzigen Lebensweise gezwungen hatten, in der er die Reste seiner adeligen Erziehung für seinen und der Tochter Unterhalt einsetzte. Er bedauerte diesen Landsmann von Herzen und hoffte inständig, dass ihm selbst ein besseres Los bestimmt sein möchte. Diese Begegnung und die Gespräche hatten ihn länger in Trient gehalten, als er vorgehabt hatte. Als er bemerkte, dass sich Loretta, die Tochter, in ihn verliebte, war er, aus Verantwortungsgefühl ihrem Vater gegenüber, schnell aufgebrochen. Der herzzerreißende Blick des Mädchens beim Abschied hatte ihn noch lange auf seinem Ritt an der Etsch aufwärts begleitet.

II

Als der Saumpfad übers Gebirge immer schmäler, die Bauernhütten kleiner und ärmer geworden waren und der Schnee auf den Berggipfeln immer weiter herabgereicht hatte, war sein Herz beklommen gewesen, da das Donnern des abrutschenden Schnees oder Gerölls den Weg, aber auch ihn selbst, bedroht hatten. So wie die Menschen, die hier lebten, alles der harten Natur abringen mussten – das spiegelte sich in ihren ernsten, harten Gesichtern –, so war es auch ihm ergangen, als er seine Kräfte anspannen musste, um den beschwerlichen Weg zu bewältigen. Wie froh war er gewesen, als er das Hospiz auf der Passhöhe erreicht hatte und – nach einer verdienten Rast – abwärtsreiten konnte! Nach jeder Wegbiegung wurden die Wiesen grüner, und auch die Wünsche und Sehnsüchte, die in Schnee und Fels wie erstarrt gewesen waren, lebten in ihm wieder auf. Nun ritt er bereits in den breiten, fruchtbaren Talgrund hinein, und seine Gedanken waren bei Burgherrinnen, deren Gunst er mit seinem Minnegesang zu erringen hoffte.

Da sah er auf einem nahen Acker, in den Furchen gezogen waren, eine junge Magd, die ihm den Rücken zukehrte und ihn offenbar nicht bemerkte. Er hielt sein Pferd an. Ein Kopftuch schützte sie vor der Sonne, und ihre Röcke hatte sie gerafft, um durch sie bei der Arbeit nicht behindert zu werden. Die nackten Beine in die Nachbarfurchen gespreizt, ging sie gebückt rückwärts und vergrub dabei irgendwelche Samen in die mittlere Furche. Da sie ihn nicht bemerkte, kam sie auf ihn zu. Da konnte er nicht widerstehen, stieg langsam vom Pferd, stellte sich ans Ende der Furchen und wartete, bis sie an ihn anstoßen würde. Als das geschah, schrie sie vor Schreck auf. Das gefiel ihm, hatte er sich diesen Spaß doch so vorgestellt. Doch statt sich ihr nun zu zeigen, fasste er im Übermut ihre gerafften Röcke und warf sie ihr über den Kopf. Darunter kam ihr blanker Hintern zum Vorschein. Dieser nun leuchtete so verführerisch, dass er ihn ansah und dann an sich presste. Sie wehrte sich heftig. Mit seinem nach oben gedrückten Knie verhinderte er, dass sie ihre Haltung aufgeben konnte. Er öffnete seinen Hosenlatz und wies seinem Pflanzstab den Weg zu ihrer Furche. Da das Mädchen noch immer schrie, versuchte er, das Schreien mit ihren Röcken zu ersticken. Er presste diese so lange gegen ihren Mund, bis sie verstummte. Nun zwang er ihren Oberkörper nach unten, alles an ihr widersetzte sich jedoch seinem Eindringen. Wie im Rausch versuchte er diese Hemmung zu durchbrechen. Schließlich gelang es ihm und er drang in ihren weichen, warmen Leib. Als er hinunterblickte, gewahrte er an den Beinen des Mädchens ein blutiges Rinnsal, das ihn noch mehr erregte. Wie unter Zwang wiederholte er sein Eindringen, spürte nun auch ihre rhythmischen Kontraktionen, genoss es und ergoss sich in sie. Das Mädchen war still geworden und hing schlaff in seinem harten Griff; ab und zu seufzte sie. Als sich seine Liebeswut abkühlte, begann sie herzerweichend zu weinen. Jetzt erst hörte er sein Gewissen und empfand Mitleid mit seinem Opfer. Er zog sie zu sich herauf und streichelte ihren Leib sehr zart. Da sie niederzusinken drohte, bettete er sie auf den Wiesenrain und legte sich zu ihr.

Er erschrak, als er ihr Gesicht betrachtete. Er hatte eine grobe Bauerndirne erwartet, doch nun sah er ein Antlitz mit edlen, feinen Zügen. Sie hielt die Augen fest verschlossen, so, als wolle sie ihren Überwältiger nicht wahrhaben, alles Zugestoßene lieber als schmerzhaften und beschämenden Albtraum begreifen. Sein Pferd war inzwischen herangekommen und weidete das frische Gras in ihrer Nähe ab. Als sie die Augen ein wenig öffnete und den riesigen braunen Kopf neben sich sah, schrie sie noch einmal auf. War sie in der Gewalt dieser Bestie? Ganz langsam nur bahnten sich die beruhigenden Worte des Mannes den Weg in ihr verstörtes Gemüt. Als sie sich wendete, sah sie neben sich einen hübschen Jüngling mit blonden Locken. Das Erlebte konnte sie mit ihm nicht in Verbindung bringen. Wie um bei ihm Schutz zu suchen, drängte sie sich an ihn. Doch als er sie umfasste, stieg die gewaltsame Umarmung, die sie erlitten hatte, überwältigend in ihr auf. Unwillkürlich stieß sie sich von ihm ab. War er ein Mensch oder doch ein böser Geist, der diese freundliche Gestalt angenommen hatte? Sie bekreuzigte sich und schlug ein Kreuz auch über ihn. Nur langsam stellte sich in ihr der wahre Zusammenhang her.

„Wie konntet Ihr mir das antun? Seid Ihr ein Christenmensch?“

„Du, … du standest so aufreizend im Feld, … ich konnte nicht widerstehen.“

„Ach Gott, jetzt bin ich geschändet. Warum nur habt Ihr mir das angetan?!“ Sie wollte von ihm keine Antwort hören und drehte sich von ihm weg. Er nannte ihr seinen Namen und erzählte ihr, dass er vom Pass heruntergekommen und auf dem Weg in seine Heimat sei, die im Grenzgebirge nach Böhmen hin liege. Noch manches erzählte er ihr, um sie zu beruhigen. Als sie nicht reagierte, berührte er sie sacht.

„Rührt mich nicht an!“, rief sie und sprang auf; dabei verzog sich ihr Gesicht schmerzhaft. Das Gehen fiel ihr schwer. Sie drückte ihre Hand auf ihr Geschlecht und lief stolpernd und schwankend auf ein Gehölz zu, hinter dem sich ein Gehöft oder ein Weiler befinden mochte.

Da er annehmen musste, dass der Zustand des Mädchens dort nicht verborgen bleiben würde und er verfolgt werden könnte, schwang er sich auf sein Pferd und brachte, der Straße folgend, eine größere Wegstrecke zwischen sich und den Ort des Geschehens – und seines Vergehens.

III

Unterwegs hatte er versucht, sich zu beruhigen. „Es war doch nur eine Magd. Ein Wunder, dass ihr Herr sie noch nicht entjungfert hatte. Konnte ich das wissen? So war es doch ein Edler, der sie zuerst genommen hat. … Ein Edler? … Bin ich einer, der alles, was sich am Wege anbietet, mitnimmt? … Von Anbieten konnte hier freilich keine Rede sein. Ich bin über sie hergefallen wie ein Tier. Schlimmer als ein Tier. Noch nie war ich so außer mir … fühlte ich mich so mächtig … und so  unersättlich. … Wie wäre es, so ein Mädchen immer bei mir zu haben? Diesen jungen, schlanken Körper, die kleinen festen Brüste. Sie hatte ein so liebreizendes Gesicht, wie kaum ein Edelfräulein irgendwo – trotz aller Tränen. … Freilich würde sie mich nicht mehr mögen, nach alledem … unnütze Gedanken!“ So schalt er sich selbst, doch das Geschehene ging ihm nicht aus dem Kopf. Sein Gewissen meldete sich, sein besserer Teil, der wusste, dass diese Vergewaltigung eine verwerfliche Tat war, seiner nicht würdig. Wie hing denn das alles mit der hohen, fast körperlosen Minne zusammen, deren Sänger er war? Er war verstört und geknickt, dann wieder trotzig und ohne Reue, letzten Endes aber beschämt.

Da er sehr müde war, wurde es ihm fast gleichgültig, ob er verfolgt würde oder nicht. So bog er vom Wege in eine kleine Lichtung, sattelte sein Pferd ab, fesselte ihm die Vorderbeine, wickelte sich in seine Decken, legte den Kopf auf den Sattel und versuchte zu schlafen. Irgendwann schlief er auch wirklich ein. In dem Traum, der ihn heimsuchte, war er auf der Flucht und entkam stets erst im allerletzten Moment seinen Verfolgern. Schweißüberströmt wachte er auf. Es war inzwischen Nacht; in der Ferne rauschte der Fluss, und ein klarer Sternenhimmel spannte sich über ihn aus. Auf der Straße, auf der er gekommen war, sah er Fackeln hin und her schwanken und hörte Männerstimmen, die sich näherten. Träumte er weiter, oder war es Wirklichkeit: diese beiden Reiter und der Trupp bewaffneter Männer, der die Wegränder ableuchtete und die ihn nun entdeckten.

Er sprang auf und griff zu seinem Schwert.

„Lasst es stecken, es wird Euch nichts nützen“, rief man ihm zu. Sie kamen näher und leuchteten ihm ins Gesicht.

„Ist er es?“, so fragten sie nach hinten, wo er nun ein Weib im Damensitz auf einem Pferd erkannte. Als sie herankam, war es das Mädchen vom Felde, die jetzt, nach deutlichem Zögern, die Frage bejahte.

„Packt ihn!“, befahl der Anführer, ein älterer Mann. Er wurde umringt und entwaffnet.

„Habt Ihr Euch an ihr vergangen?“, fragte ihn der Anführer, indem er mit dem Kopf auf das Mädchen wies.

„Ich bin ein Edelmann! Lasst mich meines Weges ziehen!“, versuchte er sie einzuschüchtern.

Der Ältere antwortete: „Und wir sind freie Männer, die unsere Rechte und die unserer Frauen und Töchter zu schützen wissen. Ein Edelmann wollt Ihr sein? Ihr seid mit einer Laute unterwegs und überfallt wehrlose Frauen! Also: Gebt Ihr es zu?“

„Das Geschehene tut mir leid. Ich entschuldige mich bei dem Mädchen. Bitte nehmt als Wiedergutmachung mein Geld an“, er nahm den Beutel von seinem Gürtel, „es ist alles, was ich bei mir habe.“

„Wie sollte Silbergeld hier etwas wiedergutmachen! Die Ehre einer Tochter unseres Sprengels ist verletzt worden, da ist nichts wiedergutzumachen! Ihr werdet sehen, wie eine solche Tat nach unserem Recht geahndet wird. Zieht ihn aus.“

Die Männer packten ihn und zogen ihm – obwohl er sich nach Kräften wehrte – die Kleider vom Leibe, bis er nackt und bloß vor ihrem Anführer stand. Wütend und geschockt fuhr er diesen an:

„Was fällt euch ein! Was tut ihr? Vergreift euch nicht an einem Wehrlosen.“

„War nicht auch sie wehrlos?“

„Habt Erbarmen!“

„Habt Ihr Erbarmen gehabt? Ihr habt das Recht verwirkt, ein Mann zu heißen!“ Damit zog der Anführer ein Messer aus seinem Gürtel und gab es einem seiner Begleiter in die Hand. Der ordnete an, dass man den Delinquenten auf den Boden legen solle. Dann fasste er dessen Geschlecht und schickte sich an, es wegzuschneiden.

„Haltet ein, um Christi willen! Gibt es keinen anderen Weg, euch Genugtuung zu geben?“

„Nach den Regeln unseres Schutzbundes ist diese Strafe festgelegt – es sei denn, ihr heiratet das beleidigte Mädchen, wenn dieses zustimmt.“ Blitzartig gingen ihm sowohl das Verlockende als auch die Unmöglichkeit dieses Auswegs durch den Kopf. Wäre er dann nicht zeitlebens an ein alpenländisches Kuhdorf gefesselt? Und wovon sollte er dann leben? Und doch schien es der einzige Weg, seine Männlichkeit zu retten. Wie würde das Mädchen entscheiden?

Es war ein Überlebensreflex, der ihn ausrufen ließ:

„Wenn das Mädchen zustimmt, heirate ich sie!“ Der Wortführer runzelte die Brauen.

„Das sagt sich so leicht dahin. Wer seid Ihr denn, dass wir Euren Worten trauen können.“

„Mein Name ist Rüdiger vom Waldstein.“ Und er berichtete den Männern von seinem Herkommen und seinem Beruf.

„Von was wollt Ihr eine Frau, eine Familie ernähren? Ihr kommt vielleicht aus gutem Hause, doch seid Ihr bisher ein loser Vogel. Ich würde jedem Mädchen abraten, sich an Euch zu binden.“

„Ich bin ein ritterlicher Sänger, überall gern gesehen.“

„Das soll ein Beruf sein?! Die Art Eures Lebens ist nicht weit entfernt vom fahrenden Volk.“ Aus dem Hintergrund ließ sich nun das Mädchen vernehmen.

„Gebt mich mit ihm zusammen, und gemeinsam mit ihm verlasse ich das Dorf. Welcher Mann, außer ihm, wird mich noch freien? Keiner, ich weiß es. Morgen soll der Pater aus dem Kloster uns trauen.“

Der würdige ältere Mann schien überrascht und bekümmert:

„Hast du dir das gut überlegt, liebe Tochter? Wo wirst du mit ihm leben? Womit wird er dich kleiden? Wie werden eure Kinder aufwachsen?“

„Lasst mich mit ihm leben. Er soll an mir gutmachen, was er getan.“ Noch immer spürte Rüdiger die scharfe Klinge an seinem Geschlecht.

„Aus dir spricht Verzweiflung, mein Kind. Überschlaf deinen Entschluss. Wenn du morgen oder übermorgen noch derselben Meinung bist wie heute, soll es so geschehen. Bis dahin“, wandte er sich an Rüdiger, „seid Ihr unser Gefangener. Ändert sie ihre Meinung, wird die Strafe an Euch vollzogen.“

Der Wortführer drängte nun zum Aufbruch. Rüdiger zog sich an, nahm seine Laute auf und ging in ihrer Mitte den weiten Weg zurück in das Dorf des Mädchens.

IV

Untergebracht wurde er in einem steinernen Haus, das sie Ansitz nannten, in einem Raum ohne Fenster. In eine Ecke schüttete man Stroh auf, und eine ältere Frau brachte ihm einen Krug mit Wasser. In der restlichen Nacht fand er kaum Schlaf. Es ging ihm durch den Kopf, wie frei und ohne Verantwortung er bisher gelebt hatte. Musste er nun heiraten, würde er seine bisherige Lebensweise aufgeben müssen; sie war für eine Ehegattin auch unzumutbar. Er würde sich seiner Gattin, sobald es ginge, ganz entledigen müssen, um wieder so frei zu leben wie vorher. Doch widerstrebte es seinem im Grunde gutartigen Charakter, die erste böse Tat mit einer noch schlimmeren aus der Welt zu schaffen. Es würde ihm nichts übrig bleiben, als sich einem mächtigen Herrn zu unterstellen, bei dem er ein gesichertes Auskommen haben würde. Er dachte an das Anerbieten des Bischofs von Passau, ihn als Ritter in seinen Dienst zu verpflichten. Die Gebiete des Bistums boten viele Schutzaufgaben für einen Ritter. Damals hatte er das Anerbieten stolz zugunsten seiner Kunst ausgeschlagen. Würde der kirchliche Fürst sich seiner noch erinnern? Würde er ihm Kampfesstärke zutrauen? Er musste es versuchen! Mit diesem Vorsatz im Sinn, schlief er zuletzt ein.

Als er erwachte, stand vor ihm die alte Frau von gestern mit einer Laterne und hatte ihn offenbar schon länger betrachtet.

„Wie jung Ihr seid!“ sagte sie und reichte ihm eine Schüssel mit Brei hin, über den er sich heißhungrig hermachte.

„Wo bin ich hier?“, fragte er die Alte.

„Im festen Hause des Edlen von Imhof. Er hat gestern die Männer des Trutzbundes zusammengerufen, um die Freveltat an Euch zu sühnen.“

„Und wer ist das Mädchen?“

„Die Tochter eines Freien. Ihre Eltern sind bei einem Bergunglück ums Leben gekommen. Seitdem lebt sie im Hause der Imhofs.“

„Warum arbeitete sie allein auf dem Feld?“

„Alle im Dorf arbeiten. Margret bestellte eines ihrer elterlichen Felder. Sie lehnte besonderen Schutz immer ab, auch wenn auf der Straße zum Pass viel Gesindel vorbeizieht.“

Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er sich in diese Nachbarschaft gerückt sah. Der Wächter an der Tür gab ihr ein Zeichen, auf das hin die Frau den Raum verließ. Der Anführer von gestern nahm dem Weib die Laterne ab und trat ein.

„Imhof“, stellte er sich knapp vor.„Margret hat ihren Willen, Euch zu ehelichen, heute bekräftigt. Allerdings mit der Bedingung, dass Ihr bei der Heiligen Jungfrau schwört, ihr künftig keinerlei Gewalt mehr anzutun.“

„Ich werde das beschwören.“

„Sie sagt, dass die Scham es ihr verbiete, weiter in unserer Gemeinschaft zu leben. Deshalb will sie mit Euch gehen. Sie hat in meinem Hause wie eine Tochter gelebt. Es schmerzt mich, sie mit Euch ziehen zu lassen, doch will ich mich ihrem Begehren nicht in den Weg stellen. Ich verwalte hier ihr Erbe weiter, sodass sie notfalls zurückkehren kann. Für die Reise habe ich sie gut ausstatten lassen. Achtet sie mehr, als Ihr es bisher getan habt: Sie ist ein wertvoller Mensch. Wir alle lieben sie. Sorgt für sie nach Euren Kräften.“ Er gab Rüdiger sein Schwert zurück. „Und nun kommt; der Priester wird schon warten.“

Er ging voraus und sie traten ins Freie. Die Bauern standen vor ihren Häusern, um sich dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen. Auf der anderen Seite des Dorfplatzes, dem stattlichen Hause Imhofs gegenüber, befand sich eine Kapelle, ebenfalls aus Steinen errichtet. An deren Schwelle wartete ein Priester in einem Mönchshabit. Im Kapellenraum sah Rüdiger Margret in einem Reisekleid, wie es die freien Frauen dieser Gegend trugen, auf einem Stuhle sitzen. Über ihrem Hut trug sie einen Schleier, der auf ihre Schultern reichte. Sie sah zu Boden. Der Priester belehrte sie beide nun über das Wesen und die Pflichten in einer Ehe. Auf sein gestriges Fehlverhalten eingehend, forderte er Rüdiger auf, künftig aller Gewalt gegen Margret abzuschwören. Dazu forderte er ihn auf, vor den Marienaltar zu treten, seine rechte Hand auf den Altartisch zu legen und diesen Schwur zu tun.

Während der anschließenden Trauung waren alle Imhofs anwesend und viele der Dorfbewohner, die Margret gern mochten, drängten sich in dem hinteren Teil der Kapelle und auf dem Platze davor. Nach der Zeremonie wurde ihr die unter dem Kinn gebundene Haube der verheirateten Frau aufgesetzt. Dann wurde sie umringt von allen, die sich von ihr verabschieden wollten. Der Abschied von ihrer Familie, in der sie als Tochter gelebt hatte, war tränenreich und bewegend. Rüdiger stand als Schuldiger an dieser überstürzten Abreise abseits und seine Tat lastete schwer auf ihm. Er wünschte inständig, dass die Verabschiedung bald ein Ende nähme und er der Folter der vielen vorwurfsvollen oder hasserfüllten Blicke entrinnen könnte. Sein Ross wurde herbeigeführt und auch ein Pferd für Margret, auf das wohlgefüllte Satteltaschen geschnallt waren. Imhof trat noch einmal zu Rüdiger, um ihm die Hand zu geben.

„Bewährt Euch als Edelmann. Als solcher seid Ihr in meinem Hause willkommen.“ Margret wurde in den Damensitz auf ihrem Pferd geholfen und mit Winken und unter Tränen nahm sie von ihrem Heimatort Abschied.

V

Als sie auf der Landstraße nebeneinanderritten, waren sie beide noch lange mit diesem Erleben innerlich beschäftigt. An der Stelle, an der Rüdiger gestern gestellt und gedemütigt worden war, wandte er sich an seine Begleiterin.

„Euch habe ich meine unversehrte Mannheit zu verdanken und werde Euch das nie vergessen. Ich werde Euch als meine Gattin ehren.“ Nach einer Weile fuhr er fort:

„Als wir so schweigend nebeneinanderritten, ging mir durch den Kopf, dass wohl kein Ehepaar auf der Erde einen schlechteren Anfang hatte als wir. Mein Unrecht an Euch, Eure Verletzungen, der schmerzliche Abschied von allem, was Euch bisher lieb war, die für uns beide unfreiwillige Heirat, für Euch mit einem Menschen, den ihr hassen müsstet. Kann das alles gut gehen?“ Sie antwortete lange nicht.

„Ich hasse Euch nicht und kenne Euch noch zu wenig, um Euch gernzuhaben. Die Zukunft, auch die unsere, liegt in Gottes Hand.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu:

„Lasst uns heute nicht weit reiten, es tut mir weh.“

Am Nachmittag sahen sie einen stattlichen Gasthof, in dem sie zu bleiben beschlossen. Ihnen wurde ein abgetrenntes Zimmer zugewiesen. Nachdem die Pferde versorgt und das Gepäck nach oben gebracht worden war, legte Margret ihre Haube ab, und eine Fülle dunkler Haare fiel auf ihre Schultern. Sie legte sich in den Kleidern auf ihr Lager, um ein wenig zu ruhen. Noch immer wirkte sie angespannt; das Lächeln schien sie verlernt zu haben.

„Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Mann allein bin.“ Rüdiger, der am Fenster stand und zu ihr hinübersah, ging darauf ein:

„Ihr habt von mir nichts zu befürchten.“

„Ich weiß es, dennoch ist es für mich so – ungewohnt.“

„Ihr habt keine Brüder?“

„Keine leiblichen, aber zwei ‚imhofische‘. Außerdem ist das unter Geschwistern anders.“

„Ich habe drei Schwestern und vier Brüder.“

„Erzählt mir später von Eurer Familie. Lasst mich zuerst ausruhen.“

So ging der Nachmittag hin. Nach einem Abendbrot, das ihren Hunger stillte, gingen sie wieder in ihr Zimmer.

„Damit Ihr ungestört zur Ruhe gehen könnt, will ich nach draußen gehen, vielleicht zum Fluss“, erklärte Rüdiger und entfernte sich. Als er später zurückkam, schien Margret bereits zu schlafen.

VI

Auch am nächsten Tag war Margret sehr in sich gekehrt. Rüdiger achtete ihr Schweigen und sorgte lediglich für regelmäßige Ruhepausen. Sie aßen von den Essensvorräten, mit denen man Margret versorgt hatte. Auch die Sonne und der Gesang der Vögel schienen es nicht zu schaffen, in Margrets innere Zurückgezogenheit vorzudringen. Sie machte sich Gedanken, wie es ihr geschehen konnte, das wertvollste Gut eines Mädchens, ihre Jungfräulichkeit, so schmachvoll zu verlieren. War sie kokett gewesen? Nein, das konnte sie sich nicht vorwerfen. Hatte sie sich nicht genügend gewehrt? Auch das glaubte sie verneinen zu können. Wenn es einen Fehler gab, den sie sich vorzuwerfen hatte, war es wohl ihr Stolz gewesen, allein auf sich aufpassen zu können und keines fremden Schutzes zu bedürfen. Dieser ihr Stolz war geknickt worden und war es noch immer. … Sollte fremde Gewalt wirklich erreichen können, dass sie nun nicht nur körperlich geschändet war, sondern sich überhaupt als herabgewürdigt ansehen musste? Zumindest war das in ihrer Umgebung die allgemeine Auffassung, das wusste sie. Und wahrscheinlich hatte es auch Schadenfreude gegeben: „Warum hat die ihren Kopf immer so hoch getragen?“ Blicke dieser Art glaubte sie am Morgen danach gesehen zu haben. Wäre sie eine Magd gewesen, als die Rüdiger sie wohl gesehen hatte, wäre ihr Fall nicht so tief gewesen. Mädchen aus dem Gesinde verzieh man so etwas eher, obwohl es auch für eine Magd ein schlimmes Erlebnis gewesen wäre. … Und doch: Auch in ihrer Beschämung hatte sie sich nicht nur schwach, sondern auch selbstgewiss gefühlt. War es doch ihre eigene Entscheidung gewesen, den Weg mit dem Gewalttäter in eine ungewisse Zukunft zu gehen. Mit einer Bestimmtheit, die sie selbst überrascht hatte, hatte sie gewusst, dass dieser Schritt für sie der richtige war. Sie verstand selbst nicht recht, warum sie so und nicht anders entschieden hatte. Naheliegender wäre gewesen, entweder den Vorfall zu vertuschen oder in ein Kloster zu gehen. Warum war für sie weder das eine noch das andere infrage gekommen? War es ihr Stolz, der nicht klein beigeben wollte? Jedenfalls hatte dieser Stolz es ihr verboten, in ihrer Familie oder in ihrem Dorf zu bleiben. Hatte sie zu dem, was Rüdiger versprach, Vertrauen gefasst? Oder hatte sein Verhalten in ihr die Zuversicht geweckt, dass in ihm – trotz oder sogar wegen allem – ein ganzer Mann steckte? Das freilich würde er noch beweisen müssen.

Am Abend, als sie sich in ihr Zimmer begeben hatten, wurde sie von Rüdiger fast schüchtern gefragt, ob sie ihm den Versuch erlaube, sie mit seinen Liedern zu gewinnen.

„Mögt Ihr sie anhören?“ Margret nickte und machte es sich auf dem Bett bequem. Rüdiger holte seine Laute aus dem Futteral.

„Sie ist sicher verstimmt, weil ich sie im Gebirge vernachlässigt habe.“

„Dann seid nur jetzt lieb zu ihr.“ Rüdiger stimmte das Instrument und begann sein Spiel mit leisen, schmucklosen Weisen. Margret hörte aufmerksam zu. Die folgenden Lieder besangen die Werbung um Liebe, die Ungewissheit, ob man geliebt werde, oder die Klage, nicht erhört worden zu sein. Rüdiger hatte eine schöne, ausdrucksvolle Stimme und ergänzte – wo es ging – seinen Gesang mimisch und mit sprechenden Gesten. Margret ging mit den erzählten Episoden innerlich mit und seufzte nun:

„Oh, wie schön traurig.“

Da klopfte es an der Tür, und man sah, als Rüdiger sie öffnete, eine Anzahl andächtig lauschender Menschen. Man bat den Sänger, mit seinen Liedern in der Gaststube unten alle zu erfreuen. Rüdiger sah zu Margret hinüber, die ihm zunickte. Dann stand sie auf und hakte sich bei ihm ein. Sie wurden in die Mitte genommen und nach unten geleitet. In der Gaststube suchte Rüdiger sich einen Platz, von dem aus er alle Zuhörer im Blick hatte und schlug nach anfänglich verhaltenen auch fröhlichere Töne an. Scherzlieder und Tanzweisen wechselten einander ab. Mit Beifall bewegten ihn die Gästezu immer weiteren Zugaben. Mit einem frommen Gutenachtlied beschloss er diese Abendmusik schließlich unter großem Beifall.

Immer wieder hatte er Margret angeschaut, wie um ihr zu sagen, dass er alle diese Lieder ihr zueignete. Als sie wieder oben in ihrem Zimmer standen, fasste sie zögernd in die Verschnürung seines braunen, wattierten Wamses und zog ihn ein wenig zu sich heran.

„Ihr habt schön gesungen, seid ein wahrer Künstler. Ich danke Euch! Und nun will ich zu Bett gehen.“

VII

Als sie sich wieder auf den Weg machten, hatten sie bereits die drängenden Bitten des Wirts abgewiesen, der sie zu einem weiteren Aufenthalt auf seine Kosten einlud, wenn Rüdiger die Gäste, die ihn dringend darum gebeten hätten, wieder unterhalte. Rüdiger war solchem Anerbieten bisher gern nachgekommen. Doch die vergangenen Tage hatten vieles in seinem Leben verändert. Auf seinem Musikantentum würde er eine solide Existenz nicht begründen können; deshalb wollte er sich des Gesanges entwöhnen. Als Margret ihn nach einer Weile fragte, warum er den Wirt so brüsk abgefertigt habe, berichtete er ihr von seinen Plänen, die im Keller des imhofischen Hauses in ihm gereift waren. Er wolle seine Kunst ihr und sich zuliebe aufgeben, um als Dienstmann eines mächtigen Fürsten ein eigenes Haus begründen zu können – wenn es am Anfang auch ein kleines sein würde. Margret erkannte in diesen Worten sein ernsthaftes Bemühen, ihr und der neuen Situation gerecht zu werden und bemerkte, dass Rüdiger ihr damit innerlich ein Stück näher rückte. Gleichzeitig ahnte sie, wie schwer ihm der Verzicht auf die Musik fallen würde und sie äußerte diese Befürchtung. Rüdiger erwiderte wahrheitsgemäß, dass er sich das auch noch nicht vorstellen könne, dennoch sei es unabweisbar und notwendig. Anders als bei den Muslimen, die Dichter und Sänger ehrten – davon habe er in Sizilien gehört –, zollten im Abendland weder die Kirche noch auch die weltlichen Herren kunstvoller Musik und erzählendem Gesang viel Anerkennung. Das habe er zuletzt bei Herrn Imhof gespürt, der sein Künstlertum in die Nähe der Spielleute und Vaganten gerückt habe – jedenfalls als eines Edelmannes nicht würdig. Deshalb heiße es für ihn, Abschied zu nehmen von der Laute und dafür wieder Lanze und Schwert in die Faust zu nehmen.

Danach ritten sie schweigend nebeneinander. Beiden wurde der Umfang der Verluste klar, die sie sich am Beginn ihrer Zusammengehörigkeit auferlegt hatten.

Da sie gerade durch einen lichten Wald mit sonnigen Moospolstern ritten, schlug Rüdiger vor, hier eine Rast einzulegen, der sie gern zustimmte. Während Margret aus ihren Satteltaschen Essbares holte, ging er mit einem Krug zu dem nahen Bach, dessen Lauf sie seit einer Weile gefolgt waren. Die Imhofs hatten sie reichlich mit Speck und kleinen Fladenbroten versorgt. Zusammen mit dem klaren Wasser schmeckte das Mitgebrachte in dieser lieblichen Umgebung köstlich. Eine Mönchsgrasmücke ließ ihr erstaunlich kräftiges Lied erklingen und andere Vögel fielen in ihren Gesang ein. Sie saßen sich gegenüber. Rüdiger bemerkte, dass seine Blicke, die wohlgefällig auf ihr ruhten, sie am unbefangenen Essen hinderten. Er erhob sich deshalb, um, wie er sagte, die Pferde zum Bach zu führen, um sie zu tränken und eine Lichtung mit Gras für sie ausfindig zu machen. Als er wieder zurückkam, sah er, dass sich seine Gattin – wie eigenartig sich das anhörte! – hingelegt hatte und schlief. Nun konnte er sie ungeniert betrachten. Auch in dieser Haltung fand er sie sehr reizend, und er musste sich streng zur Ordnung rufen, um sie nicht zu küssen. Annährungen hatte er sich bis auf Weiteres verboten, doch träumen durfte er davon. Auch er legte sich hin und genoss die angenehme Kühle des Mooses.

Da flussabwärts weite Täler in das ihre einbogen, belebte sich die Straße mit Fuhrwerken, welche verschiedenste Güter transportierten; mit Fußgängern, die ihre Lasten in Körben auf dem Rücken trugen und mit einzelnen Reitern. Sie ritten deshalb nun hintereinander. Margret sah, wie selbstsicher Rüdiger, die Laute über seinen Rücken gehängt, in seinem Sattel saß, geschickt die tiefen Fahrrinnen umging und auch ihr Pferd an der langen Leine führte. Sie sah seine blonden Locken unter seiner grünen Kappe gelegentlich aufblitzen. Er gefiel ihr, doch durfte sie ihm trauen? War seine Gewaltsamkeit nur vorübergehend und notgedrungen zurückgedämmt? Wie sicher durfte sie sich fühlen? Noch immer schoben sich die Bilder ihres tödlichen Erschreckens, ihrer Erniedrigung und Ohnmacht, ihrer Schmerzen und der Lust, die sie nicht hatte empfinden wollen, vor den Rüdiger, wie sie ihn jetzt erlebte, mit all den liebenswerten Seiten seiner Person. Noch wusste sie nicht, ob sie ihn je würde lieben können. Hätte er um sie geworben, sie hätte sicher nicht Nein gesagt. Warum nur hatte er durch sein impulsives Begehren für sich und für sie so viel verdorben?!

VIII

Nach dem Abendbrot ruhten sie sich in der nächsten Herberge von ihrem Tagesritt aus. Die Verletzungen Margrets hatten sich etwas gebessert, sodass sie beschlossen, einen kleinen gemeinsamen Abendspaziergang zu machen. Sie bogen in einen Pfad ein, der in ein Wäldchen führte. Als sich dieses lichtete, kam ihnen mit wütendem Gebell ein großer Köter entgegen, der offenbar zu einem nahen Hof gehörte. Margret suchte hinter Rüdiger Schutz, der den Angreifer zunächst abzuwehren versuchte. Als das Tier ihn mit offenem Rachen immer wütender attackierte, erlegte er es mit einem gezielten Schwertstreich und warf es in die Büsche. Nach diesem Abenteuer kehrten sie um. So gut beschützt sich Margret gefühlt hatte, so irritierend war für sie das Erleben der Kaltblütigkeit des kämpfenden Rüdiger gewesen und sein Töten, wenn auch eines gefährlichen Tieres. Wie verschieden waren doch Männer und Frauen! Sie konnte seine hier gezeigte Stärke nicht ganz von der trennen, der sie selbst als Opfer unterlegen war. Sie verbot sich diesen Vergleich und wollte Rüdiger gerecht werden. Freilich spürte sie ihre Empfindlichkeit gegenüber jeder Form von Gewalt.

Zurück in ihrem Zimmer, setzte sich Margret auf einen Stuhl am Fenster. Sie wollte mehr von dem sanften, sensiblen Rüdiger kennenlernen. Deshalb bat sie ihn, zu singen, aber leiser, nur für sie bestimmt. Rüdiger freute sich über diesen Wunsch und – ohne seine Laute – sang er ihr Lieder, wie sie das Volk in seiner Heimat sang: von den Waldbergen, ihren Freuden und Gefahren, von Aussaat und Ernte, von Liebe, Tod und vom Frühling. Er fragte sie, ob es in ihrer Heimat auch solche Lieder gebe. Natürlich gebe es die, doch sie habe eine zu schlechte Stimme, um sie zu singen. Dennoch bat er sie, für ihn wenigstens eine Strophe ihres Lieblingslieds zu singen. Sie wehrte sich lange und wollte es ihm nicht gewähren. Doch da, als er schon aufgeben wollte, sang sie mit einer fast noch kindlich anmutenden, klaren Stimme ein Lied in ihrer Mundart, das die Schönheit des Tals besang. Als er aufsprang, um ihren Arm zu ergreifen und ihr zu danken, zuckte sie zurück.

„Verzeiht, ich habe Euch mit meiner impulsiven Art wieder erschreckt. Eure Stimme ist wunderschön, wie kühle Milch.“

„Wie Milch?“ Sie war überrascht und musste lachen. Es war das erste Lachen, das er an ihr sah.

„Manches kann ich eben nur mit einem Bild ausdrücken“, erklärte er ihr.

Er regte an, nach Liedern zu suchen, die ihnen beiden vertraut wären. Doch trotz eifriger gemeinsamer Suche fand sich keines.

„Jede Landschaft hat eben ihre eigenen Lieder. Das ist auch gut so, weil diese Lieder ein Stück Heimat sind. Gleichzeitig ist es schade, weil wir sie nicht zusammen singen können.“

Schließlich fanden sie doch noch ein kirchliches Osterlied, mit vielen Hallelujas. Das probten sie so lange, bis es wirklich schön klang: Sie sang mit ihrer klaren Stimme die Melodie, und er umspielte und verzierte diese mit der seinen. Wieder wurde er mit einem Lächeln belohnt.

Er erzählte ihr noch von den großen Vorbildern des ritterlichen Gesangs, den Troubadours in der Provence. Diese gäben in Liedern ihre Stimmungen wieder und ihre Verehrung für unerreichbare, schöne Frauen.

„Ich habe von dieser ‚hohen Minne‘ gehört“, entgegnete Margret, „und finde sie sehr überspannt. Weder Frauen noch Männer sind Engel, aber auch keine Teufel. So sieht man es wenigstens in unserem Tal.“

„Ihr habt wahrscheinlich recht. Ich bewundere an diesen Troubadours die Übereinstimmung von Text und Melodie und dass sie ihren Gefühlen Ausdruck geben.“

„Wollt Ihr nicht versuchen, selbst eine solche Kanzone zu dichten und zu singen, die Eure Stimmung wiedergibt?“

„Das ist ehrenvoll, doch bin ich von der Kunst dieser Meister weit entfernt. Aber Euch zuliebe will ich morgen, während unseres Rittes, gern darüber nachsinnen.“

IX

Am Abend des nächsten Tages erreichten sie den Ort Kufstein, am Talausgang gelegen und von einer Burg beherrscht. Als sie Quartier bezogen hatten und am Abend wieder allein waren, gestand Rüdiger Margret, dass es ihm nicht gelungen sei, sein Gefühl der Schuld und seine Sehnsucht in einer durchgehend gereimten Kanzone auszudrücken.

„Ich muss Euch das Bild, das mir durch den Kopf ging auf eine andere Art erzählen.“ Rüdiger griff nach der Laute. Er begann mit einem melodischen Vorspiel, das Ruhe verbreitete und einzelne Naturgeräusch nachahmte. Dann erzählte er: „

Stellt Euch einen großen und tiefen Bergsee vor, von Wäldern und Buchten umrahmt, dessen grünliches Wasser in der Sonne glitzert. Wir sehen ein Boot in der Mitte des Sees dahintreiben, ein junges Paar sitzt darin.“ Dann sang er:

„Beide fuhren sie in dem Kahn,

die schöne Maid und er, der Mann,

es leuchtet der See wie ein Spiegel,

eines glücklichen Tages Siegel.“

Ein Zwischenspiel der Laute bekräftigte dieses friedliche Bild, doch fast unmerklich wurde die Musik angespannter, schließlich erregt. Er sang:

„Das Bild, es blieb ein kurzer Traum,

das Weitre zu sagen, wag ich kaum:

denn Übermut erfasst den Mann,

um sie zu necken – stürzt er den Kahn.

Sie wirft ein Strudel am Strande aus,

kaum traut sie sich ins Elternhaus.

Er ergreift das treibende Ruder,

sich rettend ans andere Ufer.“

Die begleitende Musik wurde stockend, traurig. Rüdiger erzählte weiter:

„Unglücklich sind sie nun getrennt, der Kahn ist gesunken, die Entfernung zwischen ihnen ist groß. Auch wenn sie sich bemühen und ihre Hände zu einem Trichter formen, um hinüberzurufen: Der See ist zu breit. Sie hat allen Grund, auf ihn böse zu sein, und seine Bitte um Verzeihung dringt nicht zu ihr.“ Die traurige Musik, die diese Trennung untermalte, griff ans Herz. Wieder sang er:

„Der Herrgott sieht das Paar entzweit.

Doch da er gütig, war er bereit,

beide wieder zusammenzubringen –

doch wie könnte das gelingen?“

Er erzählte weiter: „Der Herrgott überlegt hin und her; schließlich hat er eine Idee. Und da er allmächtig ist, ist es eine kleine Sache für ihn. Ob jedoch das Mädchen und der Mann seine Hilfestellung bemerken?“

„Nachts drückte er den See zusammen,

und die Fische, die hier schwammen,

machte er zu seinen Boten,

um ihre Treue auszuloten.“