Letzte Spur Algarve - Carolina Conrad - E-Book

Letzte Spur Algarve E-Book

Carolina Conrad

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Beschreibung

Ein rätselhafter Tod, eine neugierige Journalistin - und ein verliebter Kommissar Auf einem abgelegenen Gehöft in der Algarve wird die Leiche einer Tierschützerin gefunden - unter den Hufen ihres eigenen Pferdes. Ein Unfall? Nein, meint Kommissar João Almeida. Doch mit seiner Mordtheorie ist er allein. Er bittet die deutsche Journalistin Anabela Silva, die vor einigen Wochen ins Dorf ihrer Eltern gezogen ist, verdeckt unter den Tierschützern zu recherchieren, zu denen viele Deutsche gehören. Anabela lässt sich darauf ein. Denn erstens fühlt sie sich zu Almeida hingezogen, und zweitens braucht sie seine Hilfe. Sie sucht die Spur eines Kindes, das während eines finsteren Kapitels portugiesischer Geschichte verschwunden ist …

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Seitenzahl: 353

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Carolina Conrad

Letzte Spur Algarve

Anabela Silva ermittelt

Kriminalroman

Über dieses Buch

Auf einem abgelegenen Gehöft in der Algarve wird die Leiche einer Tierschützerin gefunden – unter den Hufen ihres eigenen Pferdes. Ein Unfall? Nein, meint Kommissar João Almeida. Doch mit seiner Mordtheorie ist er allein. Er bittet die deutsche Journalistin Anabela Silva, die vor einigen Wochen ins Dorf ihrer Eltern gezogen ist, verdeckt unter den Tierschützern zu recherchieren, zu denen viele Deutsche gehören. Anabela lässt sich darauf ein. Denn erstens fühlt sie sich zu Almeida hingezogen, und zweitens braucht sie seine Hilfe. Sie sucht die Spur eines Kindes, das während eines finsteren Kapitels portugiesischer Geschichte verschwunden ist.

Vita

Carolina Conrad ist das Pseudonym der aus dem niedersächsischen Oldenburg stammenden Autorin Bettina Haskamp. Die gelernte Journalistin hat ihre Basis in Hamburg, lebt aber seit mehr als zwölf Jahren in Portugal. Anfangs auf einem selbstgebauten Segelboot, inzwischen in einem kleinen Holzhaus im Hinterland der Ostalgarve. In der zweiten Heimat entstanden Bestseller wie «Alles wegen Werner» und «Hart aber Hilde». Nach «Mord an der Algarve» legt sie hier den zweiten Fall der Portugal-Krimireihe um Journalistin Anabela Silva vor.

Vorab

Korrekt müsste es «der» und nicht «die» Algarve heißen. Aber im Deutschen hat sich die weibliche Variante durchgesetzt, die auch ich in diesem Roman benutze.

Die Geschichte ist ebenso erfunden wie ihre Figuren. Die meisten Schauplätze dagegen sind es nicht. Allerdings müssten Sie zum Beispiel ein bestimmtes Kloster in Spanien deutlich weiter nördlich suchen – mit anderen Worten: Künstlerische Freiheit ist etwas Feines …

1

Der Stall war klein. Zwei Pferdeboxen linker Hand, rechts Strohballen, hoch gestapelt bis fast unter das Dach. Eine Schubkarre mit Pferdemist. Inspektor Paulo Pinto musterte die Strohballen, als wolle er sie zählen. Er vermied jeden Blick auf den großen schwarzen Kopf, der durch eine Öffnung zwischen den Eisenstäben im oberen Teil der Tür ragte. In der schmalen Stallgasse hielt er sich so weit rechts wie möglich. Chefinspektor João Almeida verkniff sich das Grinsen. Kann vor Muskeln kaum laufen, aber hat Angst vor einem Pferd. «Das sind unberechenbare Wesen. Gemeingefährlich», hatte Pinto eben im Auto auf der Fahrt zu diesem Hof gesagt. «Die Frau wurde vom eigenen Gaul totgetreten, welchen Beweis brauchst du noch?»

Almeida selbst trat jetzt direkt an die Box und streichelte die Nüstern des Rappen. «Na, Schöner, warum bist du ausgeflippt, was ist passiert?»

«Bist du unter die Pferdeflüsterer gegangen?» Pinto stand inzwischen an der zweiten Box. Sie war leer, die Tür offen. Almeida ging zu ihm. Blutgetränktes Stroh zeugte von dem Drama, das sich an diesem Morgen hier abgespielt hatte. Der leicht metallische Geruch des noch frischen Blutes mischte sich mit dem von Dung und Urin. Almeida schnupperte. War da noch die Spur eines anderen Geruchs? «Schöner Freund, der dich umbringt», knurrte Pinto und zeigte auf ein Holzschild an der Schiebetür, auf dem der Name des Pferdes eingebrannt war: Amigo.

«Was genau hat der Arzt gesagt?», fragte Almeida. Pinto sah in seine Notizen.

«Anscheinend mehrere Huftritte auf den Brustkorb und einer an den Kopf. Muss ziemlich übel ausgesehen haben.» Eine Freundin hatte die bewusstlose Frau gefunden, die auf dem Weg ins Krankenhaus im Rettungswagen ihren Verletzungen erlegen war. Liv Steen, gebürtige Dänin. Dreiundfünfzig Jahre alt. Den Tod hatte ein Arzt in Vila Real de Santo António festgestellt. Inzwischen war die Leiche auf Anweisung des Staatsanwaltes auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Das normale Vorgehen bei unnatürlicher Todesursache.

«Wo ist die Frau, die sie gefunden hat?»

«Vorn auf dem Hof, bei den Kollegen von der GNR.»

«Gehen wir.»

Der von Zypressen gesäumte Hof war mit weiß-gelben Flatterbändern abgesperrt, zwei Streifenwagen der GNR, der Guarda Nacional Republicana, standen vor der Absperrung. Die Türen des einen waren offen, im Fond sahen sie eine grauhaarige Frau sitzen, die regungslos auf die Hände in ihrem Schoß starrte. Almeida und Pinto gingen auf den Wagen zu. Auf dem Fahrersitz beschäftigte sich ein Beamter der GNR mit seinem Smartphone.

Pinto blätterte auf der Suche nach dem Namen der Zeugin in seinen Notizen. «Sie heißt Renate Cabral.»

«Renate? Nicht Renata?»

«So hat’s der Kollege gesagt.»

Almeida sprach sie an. «Dona Renate? Boa tarde.»

Die Frau hob den Kopf. Gerötete Augen unter dünnen Brauen, tiefe Falten zwischen Nase und Mund, ein blasses Gesicht. «Die haben sie umgebracht.» Sie sprach mit leiser, zittriger Stimme. Nur diesen einen Satz. Dann nichts mehr.

Der Agente drehte sich zu ihnen um. «Das sagt sie alle paar Minuten. Und immer in diesem komischen monotonen Ton. Wie ein verdammter Automat. Richtig unheimlich.»

«Kommen Sie bitte.»

Pinto half der Frau aus dem Wagen. Sie bewegte sich wie eine Greisin, dabei schätzte Almeida sie auf Mitte, Ende fünfzig. Offensichtlich stand sie noch unter Schock.

Sie führten Renate Cabral zu einer breiten Holzbank, die unter einer Korkeiche stand. Weiß hob sich die Zahl 4 vom geschälten rötlich braunen Stamm ab. Almeidas Blick wurde von der Zahl angezogen, er blieb stehen. Die 4 stand für das Jahr 2014, das Jahr der jüngsten Ernte an diesem Baum. Seine Gedanken schweiften ab in das Dorf, aus dem seine Familie stammte. Kork war die Haupteinnahmequelle seines Großvaters gewesen, eines Meisters im Schälen mit der Axt. Aber nicht das war der Grund, warum Almeida jetzt an den Alten denken musste. Von seinem Großvater hatte er die Liebe zu Pferden geerbt.

Pinto räusperte sich vernehmlich. Er saß schon auf der Bank neben der blassen Zeugin, die in ihrem beigefarbenen Trenchcoat fast zu verschwinden schien. Almeida setzte sich auf ihre andere Seite. «Renate?», fragte er. «Habe ich das richtig verstanden? Eine ungewöhnliche Schreibweise.» Vielleicht half es der Frau, wenn er nicht gleich auf das Unglück zu sprechen kam.

«Meine Mutter kommt aus Deutschland.»

Aus Deutschland. Das Bild einer anderen deutschen Frau blitzte in João Almeida auf, er musste sich zusammenreißen, um nicht schon wieder mit den Gedanken abzuschweifen. Und um in diesem Gespräch mit einer traumatisierten Zeugin nicht zu lächeln.

«Sie wohnen …?»

«In Castro Marim.» Der Hof, auf dem sie sich befanden, lag keine fünf Kilometer von dem Ort entfernt auf einem Hügel. Am Horizont waren eben noch die Silhouetten des Castelos und der Festung von Castro Marim auszumachen, auch die Spitzen der Brücke, die über den Grenzfluss Guadiana nach Spanien führte, waren zu sehen. Plötzlich kam Leben in das blasse Gesicht der Frau. «Das ist doch völlig unwichtig! Fragen Sie lieber, wer Liv umgebracht hat!»

«Wie kommen Sie darauf, dass sie umgebracht wurde?»

«Weil Amigo das Gemüt einer Butterblume hat. Und weil Liv bedroht wurde.»

«Von wem?» Die Frage kam von Pinto, der seinen Notizblock auf den Oberschenkel gelegt und den Kugelschreiber in die Hand genommen hatte. «Und warum?»

«Weil sie sich für all die misshandelten Kreaturen eingesetzt und kein Blatt vor den Mund genommen hat. Darum.» Laut Renate Cabral hatte die Tote ihre beiden nächsten Nachbarn wegen Tierquälerei angezeigt. Einen Jäger, der sein Hunderudel an einem heißen Tag in einem kleinen Anhänger stundenlang ohne Wasser in der prallen Sonne habe stehen lassen und einen Bauern, weil er seinen alten Esel schlecht halte und zu schwer arbeiten lasse. Beide seien von der Polizei ermahnt worden und hätten Liv Steen kurz darauf auf das Übelste beschimpft.

«Beschimpft oder bedroht?»

«Sie hat anonyme Briefe bekommen.»

«Von …?»

«Von diesen widerlichen Tierquälern. Von wem denn sonst?»

«Haben Sie diese Briefe gesehen?»

«Nein. Sie hat sie gleich verbrannt.»

«Und Sie? In welcher Beziehung standen Sie zu der Verstorbenen?»

«Wir waren befreundet.»

«Soweit wir wissen, hat Dona Steen noch nicht sehr lange hier gelebt. Woher kannten Sie sich?»

«Aus dem Tierschutzverein.»

Sie sprachen noch eine Viertelstunde mit Renate Cabral.

«Soll der Kollege Sie nach Hause fahren?», fragte Almeida.

«Nein, nicht nötig, danke. Ich kann selbst fahren. Mein Wagen steht da hinten.»

«Was hältst du davon?», fragte er Pinto, nachdem die Frau gegangen war.

«Ich halte das für einen Haufen Schwachsinn.» Er verstellte die Stimme. «‹Amigo hat das Gemüt einer Butterblume.› Pffft. Die Frau hat doch einen Schaden. Tierschützer. Wenn ich das schon höre.»

Almeida schmunzelte. «Vorurteile hast du aber keine, wie? Willst du den Bauern oder den Jäger?»

Pinto seufzte. «Den Jäger, wenn es sein muss.»

«Muss es.»

«Du bist der Chef.»

 

Zwei Tage später saß Almeida in Faro dem Staatsanwalt gegenüber. «Ich kann beim besten Willen nicht sehen, warum Sie hier weiterermitteln wollen. Die beiden Leute, die von dieser Cabral beschuldigt wurden, haben Alibis, an denen nicht zu rütteln ist. Und die Cabral selbst, die nehmen Sie ja wohl nicht ernst. Wie viele Verleumdungsklagen liegen gegen die Dame an, drei? Also bitte.»

«Aber …»

«Ich weiß Ihre Erfahrung zu schätzen, Almeida. Aber ich sehe hier kein Motiv für einen Mord. Eine Anzeige wegen Tierquälerei? Das ist doch lächerlich. Außerdem geht auch die Rechtsmedizinerin von einem Unfall aus. Tragisch, keine Frage. Aber ein Unfall. Für alles andere gibt es keinerlei Hinweis.»

«Ein Pferd dreht nicht einfach so durch.»

«Nichts für ungut, Chefinspektor. Aber Ihr Glaube an das Gute im Pferd rechtfertigt wohl kaum die Verschwendung von Ressourcen.» Der Staatsanwalt schlug die Akte zu. «Sonst noch was?»

«Nein.»

2

Entremeado. Durchwachsener Speck. Den ganzen Tag schon hing dieses Wort in meinem Kopf fest, in dem ganz andere Worte hätten kreisen sollen. Fortsetzungsfeststellungsverfahren zum Beispiel. Oder Zeugnisverweigerungsrecht. Begriffe, die sich beharrlich weigerten, Teil meines portugiesischen Sprachschatzes zu werden, wie es für meine Onlineausbildung zur Übersetzerin nötig gewesen wäre. Fachrichtung Jura. Stattdessen also: durchwachsener Speck. Die perfekte Beschreibung für meine Gefühlslage. Seit sechs Wochen war ich wieder in Portugal. Diesmal für immer. Oder zumindest für die nächsten Jahre. Ich schwankte zwischen einem fetten Glücksgefühl und einer mageren Schicht Angst. Obenauf eine Kruste aus Beklemmung, der ich besser nicht genauer nachfühlte.

Womöglich war mein Umzug aus Hannover ins Dorf meiner Eltern ein Fehler gewesen. Wie sollte ich je gut bezahlte Arbeit finden, wenn ich die Prüfung nicht schaffte? Wie sollte ich unabhängig von meinen Eltern werden, die schon die Renovierung des Hauses bezahlten? Das Haus, das meinen verstorbenen Großeltern gehört hatte. Eigentlich bin ich Journalistin, um genau zu sein Kolumnistin. Aber die Frauenzeitschriften, für die ich bisher geschrieben hatte, waren nicht an Kolumnen einer Autorin interessiert, die im Ausland lebte. In Portugal fehlten mir die Kontakte. Mit zweiundvierzig Jahren stand ich vor einem Neuanfang, der alles andere als leicht werden würde. Im Moment lebte ich von meinem Ersparten. Und das war nicht mehr viel. Trotz alledem saß ich morgens mit Jubel im Herzen auf meiner Terrasse und badete im wunderbaren Licht der Algarve.

«Filha, du bist ja immer noch nicht weiter mit den Kisten!»

Meine Mutter war durch die offene Tür in mein kleines Heim gekommen, in dessen breitem Flur sich ebenso wie im Schlafzimmer noch Kartons stapelten. Ich saß in dem Raum, den ich zu meinem Wohn- und Arbeitszimmer auserkoren hatte. Hier war es schon wohnlich. Meine Bücher standen alphabetisch geordnet in raumhohen Regalen, gegenüber vom nagelneuen Holzofen hatte ich ein rotes Ecksofa mit bunten Kissen platziert, und am Fenster zur Wiese stand der Schreibtisch, an dem ich zu lernen versuchte.

«Die Wäschetruhen und die Nachttische sind doch noch nicht fertig, Mãe!», rief ich in den Flur. Ein Teil der alten Möbel meiner Großeltern war für meinen Geschmack zu dunkel und wirkte zu schwer, deshalb ließ ich sie in verschiedenen Pastelltönen lackieren. Die Truhen waren nicht das einzig Unfertige im Haus. Es gab noch ein fensterloses Zimmer, das mein begehbarer Kleiderschrank werden sollte. Vorausgesetzt, ich kam je dazu, es auszuräumen. Noch immer lagerten darin andere Hinterlassenschaften meiner Großeltern, von denen ich bisher nur den kleinsten Teil gesichtet hatte. Nachdem erst meine Großmutter und dann mein Großvater gestorben waren, hatten meine Eltern das Haus unverändert gelassen. Bis ich vor sechs Monaten versprochen hatte, hier einzuziehen.

Jetzt war es an mir, die letzten ihrer Habseligkeiten zu sortieren. Vielleicht konnte ich ein paar der Sachen bei OLX verkaufen, dem portugiesischen eBay-Pendant. Das meiste würde wohl auf dem Müll landen. Eines Tages.

«Warum du die Möbel überhaupt streichen lässt, ist mir ein Rätsel. Eine Sünde ist das, wenn du mich fragst. Das schöne Holz. Und schade ums Geld. Aber du musst es ja wissen.»

«Genau.» Tal mãe, tal filha. Wie die Mutter, so die Tochter. Von wegen. Wer diesen Satz in die Welt gebracht hat, ist definitiv nicht in meiner Familie aufgewachsen. Meine Mutter und ich sind uns in etwa so ähnlich wie – ich sah aus dem Fenster auf eine Herde, die dort weidete, und dachte: wie Schaf und Ziege. Sie kam ins Zimmer. «Ich habe für dich …», setzte sie an. Was sie für mich hatte, sollte ich an diesem Tag jedoch nicht mehr erfahren. Mein Telefon klingelte. Ohne auch nur auf das Display zu sehen, nahm ich den Anruf an. Im Moment war mir alles lieber, als weitere Kritik oder Ratschläge von ihr zu hören – selbst der Telefonanbieter, der mir mindestens dreimal pro Woche einen neuen Vertrag andrehen wollte und dessen Anrufe ich inzwischen normalerweise ignorierte.

«Silva.»

«Boa tarde, Dona Anabela.»

Mit dem Telefon am Ohr starrte ich noch immer auf die Viecher vor dem Fenster und hing geistig bei der wichtigen Frage fest, ob Schafe und Ziegen überhaupt biologisch verwandt sind. Womit erklärt wäre, dass ich erst in dem Moment realisierte, wer der Anrufer war, als er seinen Namen nannte.

«Hier spricht João Almeida.»

Meine Mutter behauptete später, ich hätte plötzlich einen roten Kopf bekommen. Aber das halte ich für übertrieben. In den vergangenen Monaten hatte ich das ein oder andere Mal an den Mann von der Kripo gedacht, für den ich im Mai während einer Mordermittlung als Aushilfsdolmetscherin gearbeitet hatte. Dieser Job hatte mich überhaupt erst auf die Idee mit der Onlineausbildung gebracht. War ja klar, dass ich da gelegentlich an ihn dachte. Schließlich musste ich mich mit einem Vokabular befassen, das durchaus polizeiliche Belange berührte. Na gut, das war nur die halbe Wahrheit. Ich hatte mich gern an Almeidas kleines Lächeln erinnert. Und an die letzte Frage, die er mir mit warmer Stimme gestellt hatte, ehe ich nach Deutschland flog, um dort meine Wohnung aufzulösen und mich scheiden zu lassen. «Sie kommen doch wieder, Anabela Silva?»

Und jetzt rief er an. Die Frage des Tages hieß: Warum?

«Sie! Das nenne ich eine Überraschung.»

«Eine angenehme, hoffe ich.»

«Äh, natürlich. Wie geht es Ihnen?»

«Danke, gut. Und selbst? Ich war mir nicht sicher, ob Sie tatsächlich wieder in Portugal sind.»

Während wir uns durch das höfliche Vorgeplänkel arbeiteten, das in Portugal zum guten Ton gehört, stieg meine innere Spannung. Rief er mich an, mich, Anabela Silva, die Frau? Oder Anabela Silva, die Gelegenheitsdolmetscherin? Letzteres hätte mir lieber sein sollen, schon aus Gründen der Vernunft. Aber um meine Vernunft ist es grundsätzlich nicht allzu gut bestellt.

«Ich würde Sie gern treffen», sagte er schließlich. Aus seinem Ton war beim besten Willen nichts herauszuhören. Ich gab mir einen Ruck.

«Worum geht es denn?»

«Das möchte ich gern persönlich mit Ihnen besprechen. Vielleicht könnten Sie in den nächsten Tagen nach Castro Marim kommen?»

Nach Castro Marim? Der Dienstort des Chefinspektors ist normalerweise Faro. Aber unsere erste Zusammenarbeit hatte zu großen Teilen auf der Polizeiwache in Alcoutim stattgefunden, nicht weit von meinem Dorf entfernt, im Hinterland der Ostalgarve. Dort, wo seinerzeit das Mordopfer gefunden worden war. Wieso also Castro Marim? Den Ort mit seinen beeindruckenden alten Gemäuern kannte ich nur vom Vorbeifahren auf dem Weg zur Küste.

«Anabela? Sind Sie noch dran?»

«Ja. Ja, ich bin noch dran. Einen Augenblick bitte.»

Ich öffnete schnell den Kalender in meinem Laptop. Der nächste Tag war komplett verplant. Der darauffolgende nicht. Dennoch zögerte ich. Wollte ich wirklich wissen, was João Almeida mir zu sagen hatte? Ihn wiedersehen? Aber sicher.

«Wäre Freitag früh genug, also übermorgen?»

«Ja, kein Problem.»

«Soll ich zur Polizeistation kommen?» Ich nahm an, dass es in Castro Marim ebenfalls eine gab.

«Nein, wir treffen uns bei Corvo.»

«Beim Corvo?» Beim Raben?

«Entschuldigen Sie, ich habe einen Moment lang vergessen, dass Sie ja nicht von hier sind. Corvo ist ein Supermarkt. Am besten parken Sie auf dem großen Parkplatz gegenüber dem Fußballstadion. Sagen wir, um ein Uhr?»

«Ja, in Ordnung, ich werde da sein.»

Ein Treffen im Supermarkt. Sonderbar. Das passte weder zu Dienstlichem noch zu Zwischenmenschlichem, und ich konnte mir keinen Reim darauf machen.

«Wer war denn das, Filha?»

Ach Gott, meine Mutter war ja auch noch da. Filha ist übrigens nicht mein zweiter Vorname, sondern das portugiesische Wort für Tochter.

«Ein Bekannter.»

Ganz sicher würde ich ihr nicht auf die Nase binden, wer gerade angerufen hatte. Ich selbst bin ausgesprochen neugierig, was für mich als Journalistin sozusagen Berufsvoraussetzung ist. Meine Mutter aber schlägt mich in Sachen Neugier um Längen, und das ganz ohne Entschuldigung. Hätte ich ihr gesagt, dass Chefinspektor Almeida am Telefon gewesen war, ihre Fragerei hätte in den nächsten Tagen kein Ende genommen.

«Ein Bekannter? Was für ein Bekannter? Du bist ganz rot geworden. Was ist mit der Polizei?»

Jetzt half nur Ablenkung.

«Da hast du was falsch verstanden. Du wolltest mir eben erzählen, du hättest etwas für mich?»

«Ich?»

«Ja, das hast du gerade gesagt, als das Telefon geklingelt hat.»

«Weiß ich nicht mehr. Hoffentlich geht es bei mir jetzt nicht auch los.»

«Ach Mãe, ich vergesse auch schnell was, deshalb hast du nicht gleich Alzheimer. Komm, ich mach uns einen Kaffee.»

Bei meinem Vater war vor einigen Monaten Alzheimer im Anfangsstadium diagnostiziert worden. Vor allem deshalb hatte ich mich auf ein Leben in diesem abgelegenen portugiesischen Dorf eingelassen. Ich wollte für meine Eltern da sein. Meinem Vater ermöglichen, zu Hause zu leben, solange es eben möglich war. Der Gedanke, ihn in ein Heim zu geben, behagte mir nicht.

Der andere Grund hieß Justus und war mein Exmann, der mich gegen eine kirgisische Studentin im zarten Alter von einundzwanzig Jahren ausgetauscht und so mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. In Hannover, dort, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Meine Eltern sind Ende der 60er Jahre nach Deutschland ausgewandert und kurz vor meinem Abitur nach Portugal zurückgegangen. Ich selbst bin damals bei einer Tante geblieben und habe ein paar Jahre später geheiratet. Portugal war das Land meiner Familie, meines musste es erst noch werden.

Mãe und ich gingen in die Küche, die ich bis auf einen frischen Anstrich, neue Geräte und einen modernen Schrank unverändert gelassen hatte. Omas Töpfe hingen über dem Rauchabzug, und den alten Küchentisch bedeckte eine noch von ihr selbst mit einem Hohlsaum umstickte Leinendecke.

Nachdem meine Mutter gegangen war, versuchte ich mich wieder auf mein Lernprogramm zu konzentrieren. Zwecklos. Dann konnte ich genauso gut im Internet nach einem Mordfall in oder bei Castro Marim suchen.

Als Erstes fiel mir eine Schlagzeile ins Auge, in der es um eine Wasserleiche ging. Der Mann war in einem Seitenarm des Guadiana nahe der Salinen von Castro Marim angeschwemmt worden. Auch das Salz in meiner Küche stammte von dort, und ich fragte mich kurz, wie nah genau die Leiche wohl den Becken zur Salzgewinnung gekommen war. Ekliger Gedanke. Mein Blick fiel auf das Datum. Das war zwei Monate her, also kaum ein Fall, um den Almeida sich jetzt kümmerte.

Deutlich aktueller war der Bericht über den Mord an einem Cousin des berühmten Gitarristen Paco de Lucía. Mir war völlig neu, dass die Mutter des Musikers von der Ostalgarve stammte. Zunächst war die Polizei von einem Herztod ausgegangen, nichts hatte auf Mord hingewiesen. Keine Ermittlungen, keine Obduktion. Dann aber hatte sich ein Mann gestellt und den Mord gestanden. Schnell klickte ich den Bericht weg. Ich wollte nicht daran denken, was ich selbst vor Monaten über andere angeblich natürliche Todesfälle herausgefunden hatte, die keine gewesen waren. Nein. Wenn ich daran dachte, nahm die Beklemmung, die ich immer noch in mir trug, wieder überhand. Dann würden auch fröhliche Farben nicht reichen, um die düsteren Erinnerungen zu vertreiben, die nicht zuletzt mit dem Haus verbunden waren, in dem ich am Schreibtisch saß.

Ich trennte die Verbindung zum Internet und wollte mit dem nächsten Tastendruck zurück zu meinem Fachvokabel-Lernprogramm. Doch als führe meine Hand ein Eigenleben, landete der Mauszeiger stattdessen auf dem Schreibprogramm und öffnete eine Datei.

Desaperecido. Vermisst.

Hier stand alles, was ich über ein Kind wusste, das vor mehr als fünfzig Jahren verschwunden war. Das Kind meiner toten Tante. Das Kind, das ich finden, dessen Schicksal ich klären wollte. Meinem Seelenfrieden zuliebe. Viel stand da nicht.

3

Ich sah ihn schon von weitem. Als er gemächlichen Schrittes vom Parkplatz auf den Eingang des Supermarktes zukam, an dem ich seit einigen Minuten wartete, überragte er fast alle anderen Menschen. Jedenfalls die dunkelhaarigen. Bei Corvo kauften nicht nur die Einheimischen, sondern auch viele Urlauber ein. Nicht wenige von ihnen standen mit imposanten Wohnmobilen auf dem Parkplatz, auf dem ich auch geparkt hatte. In der kurzen Zeit hatte ich bereits Niederländisch, Englisch und Französisch gehört. Mit seiner Größe, dem silberweißen Haar und der dunklen Brille hätte João Almeida als einer dieser Urlauber durchgehen können. Aber nicht mit seiner Kleidung. In kurzen Hosen und T-Shirt konnte ich ihn mir auch schlecht vorstellen. Schon gar nicht im November. Er trug Jeans und ein helles Jackett. Keinen der Anzüge, in denen ich ihn kannte. Und – silberweißes Haar oder nicht – für einen Wohnmobilbesitzer war er entschieden zu jung, die hatten anscheinend samt und sonders das Rentenalter erreicht. Wenn ich mich nicht irrte, war er schlanker als noch vor ein paar Monaten.

«Anabela.» Er gab mir die Hand. Sehr förmlich. Wie immer eigentlich. Es war mir nur nicht mehr bewusst gewesen.

«Chefinspektor.»

«João bitte. Gut sehen Sie aus.» Er lächelte. Ich freute mich. Auch darüber, dass ich mich sorgfältig geschminkt und mir die Haare hochgesteckt hatte.

«Wollen wir hineingehen?»

Inzwischen war mir klar, dass der Chefinspektor im Corvo nicht seinen Lebensmitteleinkauf erledigen wollte. Zu dem Supermarkt gehörte eine Cafeteria, in die jetzt, zur Mittagszeit, beständig Leute strömten. Ich folgte Almeida zum letzten freien Tisch in der Mitte des großflächigen, hauptsächlich in Weiß gehaltenen Raumes – und wäre am liebsten gleich wieder gegangen. Der Lärmpegel war höllisch. Wer auch immer diesen Neubau geplant hatte, von Schallisolierung verstand der nichts. Außer mir schien der Krach allerdings niemanden zu stören. Um uns herum saßen die Menschen und aßen, lachten, redeten. Im Grunde genommen schrien sie sich an.

Dicht an meinem Ohr fragte Almeida, was ich essen wolle. «Hier gar nichts», hätte ich am liebsten geantwortet, bestellte aber ein Käsesandwich und ein Mineralwasser. Almeida konnte es nicht wissen, aber er sammelte für die Auswahl dieses Lokals gerade mächtig Minuspunkte. Ich sah ihm nach, als er zur Theke ging, an der die Bestellungen aufgenommen wurden, beobachtete, wie er eine Nummer zog, sich in die Schlange der Wartenden einreihte, und setzte mich. Was hätte ich sonst tun sollen?

Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, warum er mich ausgerechnet an diesem Ort hatte treffen wollen, kam aber zu keinem Ergebnis. Endlich erschien Almeida mit einem Tablett, stellte es auf den Tisch und setzte sich neben mich. Hätte er sich mir gegenübergesetzt, hätten auch wir uns nur schreiend unterhalten können. Allerdings sagte er außer «Bom apetite!» erst einmal nichts.

Eben pickte ich die letzten Salatblätter auf, mit denen mein Sandwich garniert gewesen war, als er plötzlich fragte: «Mögen Sie Tiere?»

«Wie bitte?» Gut, er hatte schon am Telefon danach gefragt, wie es mir nach meinem Umzug ging, und ich kann auch gar nicht sagen, welche Gesprächseröffnung ich erwartet hatte. Diese jedenfalls nicht. Aber von mir aus. Vielleicht hatte seine Katze Junge.

«Kommt auf das Tier an, denke ich. Grundsätzlich schon. Warum fragen Sie?»

«Hören Sie, Anabela» – er rückte sehr dicht an mich heran und senkte die Stimme, obwohl in dieser Umgebung wie gesagt auch bei normaler Lautstärke niemand sonst hätte hören können, was er mir zu sagen hatte – «ich habe eine Bitte an Sie. Und ich möchte, dass Sie mit niemandem darüber sprechen. Ganz unabhängig davon, ob Sie meiner Bitte entsprechen werden oder nicht.»

Ich war dermaßen überrascht, dass ich ihn nur gebannt ansehen und abwarten konnte, was jetzt kam. War das hier ein konspiratives Treffen? Also deshalb der Lärm um uns herum.

Und dann erzählte mir Chefinspektor João Almeida von einer toten Frau und ihrem Pferd. Von einer Frau, die möglicherweise ermordet worden war. Wenn er auch nicht wusste, wie. Noch nicht. Oder warum. Noch nicht. «Aber dieser Idiot von Staatsanwalt lässt mich nicht weiterermitteln.» Seine Augen wurden mindestens drei Nuancen dunkler, als er über diesen Staatsanwalt sprach, und seine Pupillen waren nur noch Punkte. Wenn die Augen das Tor zur Seele eines Menschen sind, dann brannte in Almeidas Seele gerade ein mächtiges Feuer. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Der «Ehrgeizling und Ignorant» der Anklage war offenbar noch recht jung und erst kurz in seinem Amt. Aber lange genug, um den Fall mit dem Vermerk «Unfalltod» zu schließen. «Nach nur zwei Tagen», schäumte Almeida. «Ohne auch nur ein Spurensicherungsteam zu genehmigen.»

«Und was hat das alles mit mir zu tun?», fragte ich angesichts seiner wütenden Miene etwas zaghaft. Er atmete tief durch, beruhigte sich ein wenig.

«Dazu komme ich noch. Ich habe versucht, die Sache auf sich beruhen zu lassen, die Entscheidung des Idioten zu respektieren. Aber dieser angebliche Unfall geht mir nicht mehr aus dem Kopf.»

«Warum sind Sie eigentlich so überzeugt davon, dass es kein Unfall war?»

«Tja. Da ist zum einen das Pferd. Wissen Sie, Anabela, ich bin mit Pferden aufgewachsen. Mein Großvater … egal, das führt jetzt zu weit. Kurz gesagt, geraten Pferde nach meiner Erfahrung – und auch nach allem, was ich inzwischen gelesen habe – nicht einfach so in ihrer Box in Panik und treten um sich. Und welcher Pferdehalter wäre so dumm, sein Pferd ausgerechnet auf engem Raum zu erschrecken? Jedenfalls keine Frau, die sich mit Tieren sehr gut auskennt. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen.»

Er blickte mich fragend an, wartete auf eine Reaktion. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen.

«Sie gucken genauso wie Pinto. Den konnte ich auch nicht überzeugen.»

Inspektor Paulo Pinto. Kollege und Freund von Almeida. Für mich: Macho, Unsympath, Blödmann. So wie Pinto kann ich gar nicht gucken.

«Wenn der wüsste, was ich hier … Aber es ist nicht nur das. Mit der Frau, die umgekommen ist, übrigens eine Dänin, stimmt irgendetwas nicht.»

«Wieso?»

«Ihre nächsten Nachbarn haben diese Frau gehasst, weil sie sie ständig der Tierquälerei bezichtigt und schließlich angezeigt hat. Offenbar war sie eine engagierte Tierschützerin, und die Tiere waren ihr wichtiger als ein gutes Verhältnis zum Bauern von nebenan. Aber alle anderen, mit denen wir in den zwei Tagen gesprochen haben, zeichnen sie mit einem Heiligenschein. Vor allem die Leute im Tierheim. Es ist das offizielle Tierheim von Castro Marim und Vila Real, aber betrieben wird es von einem Verein. Und den hat sie in ihrem Testament bedacht. Ihr gehörte ein ziemlich großer Hof hier in der Nähe.»

«Sie meinen, deswegen könnte sie umgebracht worden sein – wie auch immer das dann vonstattengegangen wäre?» Tierschützer als Mörder, um an Geld zu kommen? Das erschien mir dann doch sehr weit hergeholt. Almeida zuckte mit den Schultern und glaubte offensichtlich selbst nicht daran.

«Vielleicht sehe ich einen Wald, wo nur ein paar Bäume sind. Ich habe einfach ein ungutes Gefühl, weil die Akte für meinen Geschmack zu früh geschlossen wurde. Damit ja keine ‹Ressourcen verschwendet› werden.» Den letzten Satz sagte er in bitterem Ton.

A incerteza é uma febre da alma, sagt ein portugiesisches Sprichwort. Die Ungewissheit ist ein Fieber der Seele. Wenn das jemand verstand, dann ich. Almeida hätte ich dagegen eher nicht als jemanden eingeschätzt, der sich bei der Arbeit von Gefühlen leiten ließ. Er war mehr der sachliche Typ.

«Und jetzt kommen Sie ins Spiel. Möchten Sie übrigens noch etwas trinken?»

«Nein, danke. Ich möchte gerne wissen, worum Sie mich bitten wollen.»

«Natürlich.» Er räusperte sich. «Offiziell kann ich nichts machen. Es gibt keinen Fall.»

Ja, so viel hatte ich schon verstanden.

«Das hier ist also rein privater Natur.»

«Sagen Sie es einfach.»

«Ich hatte die Idee, also ich meine, worum ich Sie bitten möchte, äh, warum ich gefragt habe, ob Sie Tiere mögen …»

«Sie wollen, dass ich mich in diesem Tierheim umsehe.»

«Umsehen trifft es nicht ganz. Meine Idee ist eher, dass Sie dort eine Weile ehrenamtlich mitarbeiten und sich umhören.» Er hatte den Anstand, rot anzulaufen.

Unbezahlt Hundescheiße schaufeln, dachte ich. Wie verlockend.

«Dort sind viele Ausländer aktiv. Vor allem Deutsche.»

Es war wie ein Schlag ins Gesicht.

«Wenn es Ihre Zeit überhaupt zulässt …?»

Deshalb also wollte er mich. Nicht wegen meiner schönen Augen. Nicht wegen meiner überbordenden Intelligenz oder wegen meines Instinktes, den er mal gelobt hatte. Nicht aus Sympathie. Ich heftete meinen Blick auf die Theke, hörte kaum, was er noch sagte. João Almeida hatte an mir als Person kein Interesse. Nur an meinen Sprachkenntnissen. Die ich noch dazu gratis zur Verfügung stellen sollte. Im Dienst der guten Sache. Nein, im Dienst gegen den bösen Staatsanwalt.

«Anabela. Was sagen Sie dazu?»

Ich tauchte aus meinen Gedanken auf und sah ihn an. Sah ihm direkt in die Augen, deren Farbe sich wieder zu ihrem ursprünglichen Mittelbraun normalisiert hatte. Möglicherweise waren dafür meine eigenen Augen gerade dunkler als normalerweise.

Ich sagte erst einmal gar nichts. Zählte still bis drei. Schalt mich eine gefallsüchtige Kuh. Es nützte nicht viel. Ich war enttäuscht. Immerhin schaffte ich es, mir nichts anmerken zu lassen.

«Kann ich darüber in Ruhe nachdenken?»

«Selbstverständlich.»

«Dann würde ich jetzt gern gehen.»

4

Ich musste laufen. Laufen beruhigt. Vor allem am Strand. Ich fuhr nach Vila Real de Santo António. Auf der Mole, die den Rio Guadiana vom Meer trennt, stellte ich meinen kleinen goldfarbenen Renault ab und lief los in Richtung des Ortes Monte Gordo, dessen Hochhäuser rechter Hand in einiger Ferne aufragten. Das Auto hatten meine Eltern vor vier Wochen für mich gekauft. Es war zwanzig Jahre alt, und ich konnte nur hoffen, dass es noch ein paar Jahre ohne größere Reparaturen durchhielt.

Am Wasser blies mir kräftiger Westwind ins Gesicht, feiner Sand peitschte gegen meine Hosenbeine, und ich fröstelte in meiner leichten Bluse. Bei uns im Dorf, knapp dreißig Kilometer weiter nördlich, ist es oft zwei oder drei Grad wärmer als an der Küste – was mir meist erst dann wieder einfällt, wenn ich schon an der Küste bin und eine Jacke vermisse. Außer im Sommer natürlich. Jetzt hatten wir vielleicht zwanzig Grad. Der Atlantik zu meiner Linken war vom Wind aufgewühlt, weiße Schaumkämme tanzten auf blaugrauem Wasser. Immer wieder schoben sich graue Wolken vor die blasse Novembersonne. Welch passendes Wetter. Ein bisschen Regen wäre noch schön gewesen. Regen wäre überhaupt schön gewesen. Dieser Herbst war bisher deutlich zu trocken.

Worüber regst du dich eigentlich auf, Anabela Silva? Und woher nimmst du bitte schön die Idee, João Almeida hätte Interesse an dir? Aus deiner Einbildung? Aus einer einzigen Frage? Habt ihr jemals auch nur ein wirklich persönliches Gespräch geführt? Also. Jetzt sei mal nicht so empfindlich, sondern sachlich. Tu, was du versprochen hast: Denk nach. Und zwar nicht über den Mann, sondern über seine Bitte.

Laufen hilft wirklich immer. Langsam regte ich mich ab. Er hatte mich um Hilfe gebeten, um einen Gefallen. Das war ein Vertrauensbeweis. Immerhin. Es ging um so etwas wie eine verdeckte Ermittlung. Bela Silva undercover. Jetzt musste ich schon grinsen, wurde aber gleich wieder ernst. Nur einmal angenommen, ich würde mich auf Almeidas schrägen Vorschlag einlassen – was würde das für mich bedeuten?

Zunächst einmal die Mitarbeit im Tierheim, Hunde und Katzen vermutlich. Damit käme ich klar. Jedenfalls solange die Hunde klein und freundlich waren. So wie die lockige Promenadenmischung, die fünfzig Meter weiter gerade durch die Brandung tobte und aufgeregt bellte. Ich blieb stehen und sah dem Hund zu, bis ein schriller Pfiff ertönte und das Tier zu seinem Besitzer rannte, der in einiger Entfernung von mir am Wasser entlangjoggte.

Inzwischen war mir vom Laufen warm geworden. Zeit, umzudrehen. Gemäßigten Schrittes machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Wagen und überlegte weiter. Ob ich nun den Hühnerstall bei meinen Eltern ausmistete oder einen Hundezwinger, machte keinen großen Unterschied. Die Arbeit selbst sollte also kein Problem sein. Nebenbei müsste ich die Leute aushorchen. Auch das würde mir nicht schwerfallen. Schließlich bin ich Journalistin. Okay. Theoretisch wäre es denkbar.

Aber praktisch? Die Fahrten nach Castro Marim würden Geld kosten. Und vor allem Zeit. Gerade Zeit war ein knappes Gut. Da waren die Arztbesuche und Physiotherapietermine mit Pai, meinem Vater. Die Stunden, in denen ich mit ihm Übungen machte, um sein Gedächtnis zu trainieren. Dann Mãe, die ich auch unterstützen musste, vor allem seelisch. Nicht zu vergessen meine Ausbildung und der geplante begehbare Kleiderschrank. Und mit der Suche nach dem Sohn meiner Tante hatte ich noch nicht mal angefangen. Ein zeitfressendes Ehrenamt brauchte ich so dringend wie einen zusätzlichen Zeh.

Wie diese Dänin wohl wirklich gewesen war? Zicke oder Heilige? Wäre schon interessant zu hören, was die Leute, die sie gekannt hatten, über sie sagten. Totgetreten vom eigenen Pferd, schreckliche Vorstellung. Die arme Frau. Und wenn sie gar nicht so eine tolle Tierfreundin gewesen war? Also außen hui und innen pfui? Die Nachbarn anzeigen und das eigene Tier quälen? Wäre doch denkbar. War nicht vor ein paar Jahren so ein Fall durch die deutsche Presse gegangen? Wenn ich mich richtig erinnerte, ging es um eine Dressurreiterin, die wegen Tierquälerei verurteilt und später auch von ihrem eigenen Pferd mit den Hufen erwischt worden war. Sozusagen die Rache der geschundenen Kreatur. Aber kein Mord.

Stopp. Was auch immer der Dänin passiert war und warum – es ging mich nichts an. Durfte mich nichts angehen. Meinen Kopf und meine Zeit brauchte ich für andere Dinge. Wieder dachte ich an die magere Datei in meinem Laptop. Als meine Tante in meinen Armen gestorben war, hatte ich ihr geschworen, die Spur ihres Kindes zu finden. Das war mir fast wichtiger als alles andere. Auf jeden Fall wichtiger als die schlechten Gefühle von João Almeida wegen dieses Pferdefalles.

Es sei denn … der Gedanke war plötzlich da. Wie vom Westwind angeweht. Was, wenn wir uns gegenseitig helfen konnten? Er war Polizist, er kam garantiert an alle möglichen Datenbanken heran, konnte auf Informationen zugreifen, die für mich unerreichbar waren. Ihm stand ein ganzer Polizeiapparat zur Verfügung. Na gut, das war vermutlich übertrieben. Schließlich würde es um eine Privatsache gehen. Sei’s drum. Er konnte garantiert mehr herausfinden als ich. Auch mehr als Luís, einer meiner Cousins. Er war bei der GNR, hatte aber nur einen niedrigen Dienstgrad. Außerdem war er nicht gerade mein bester Freund, und ich war mir keineswegs sicher, ob ich je mit ihm über das Schicksal meiner Tante reden wollte. Almeida war auf jeden Fall die bessere Wahl.

Ich konnte ihm eine Art Geschäft vorschlagen. Meine Sprachkenntnisse gegen seine Verbindungen. Warum nicht?

 

Meine Handtasche mit dem Telefon hatte ich im Auto gelassen. Mist. Plötzlich konnte es mir gar nicht schnell genug gehen. Ich fing wieder an zu laufen.

Almeida ging nach dem ersten Klingeln dran.

«João? Sind Sie noch in der Nähe? Ich müsste noch einmal mit Ihnen reden.»

Er war schon fast in Tavira, auf halber Strecke nach Faro.

Ich überlegte. Bis Tavira würde ich von hier etwa eine halbe Stunde brauchen, wenn ich gut durchkam.

«Könnten Sie in Tavira anhalten? Dann komme ich dorthin.»

Immerhin wollte er was von mir, dann konnte er auch warten.

«Nein, am Telefon möchte ich das nicht besprechen.»

Er zögerte kurz, schlug dann ein Café an der N125 kurz vor der Stadt vor.

Ich brauchte exakt achtunddreißig Minuten.

 

Almeida stand auf, als ich das Café betrat.

«Anabela. Sie sehen mich überrascht. So bald hatte ich nicht damit gerechnet, wieder von Ihnen zu hören. Wenn ich mich nicht irre, waren Sie über meine Bitte ziemlich verärgert. Was mir sehr leidtäte, das war nicht meine Absicht.»

Soviel dazu, dass ich mir nichts hatte anmerken lassen.

Ich ging nicht auf seine Bemerkung ein, sondern bestellte bei der Kellnerin des winzigen Cafés einen Galão, einen Espresso mit aufgeschäumter Milch. Vor Almeida stand schon eine Tasse mit grünem Tee. Er suchte meinen Blick, wartete. Und bekam nichts als einen Blick zurück. Ich kann ziemlich stur sein, wenn ich will. Und ein Teil von mir war immer noch beleidigt. Die Kellnerin, eine zarte Blondine mit starkem Akzent, brachte meinen Kaffee und verschwand in einem Raum hinter der Theke. Wir waren die einzigen Gäste.

«Hören Sie, João. Vielleicht haben Sie recht, und diese Frau hat verdient, dass ihr Tod genauer untersucht wird. Ich würde Ihnen also unter Umständen helfen.»

«Unter Umständen?» Er hob eine Augenbraue und schien amüsiert. In seinem Mundwinkel hing jenes irritierende Lächeln, von dem ich nie wusste, ob es wirklich eins war. Ich ließ mich nicht davon ablenken.

«Ich habe ebenfalls eine Bitte. Und es ist mir damit genauso ernst wie Ihnen.»

Der amüsierte Ausdruck verschwand. «Erzählen Sie.»

Auf der Fahrt hatte ich überlegt, was ich ihm sagen wollte. Und was nicht.

«Ich möchte einen Jungen finden, der vor mehr als fünfzig Jahren verschwunden ist. Im Norden. Genauer gesagt in Trás-os-Montes, in der Nähe von Chaves.»

Offiziell gibt es die Bezeichnung Trás-os-Montes, hinter den Bergen, nicht mehr. Der Bezirk, in dem meine Tante ihr Kind geboren hat, heißt inzwischen Vila Real. Nicht zu verwechseln mit Vila Real de Santo António. Aber der alte Name Trás-os-Montes ist den meisten Portugiesen noch immer ein Begriff.

«Inzwischen ist das Kind natürlich ein Mann. Wenn er noch lebt.»

«Ich nehme an, Sie haben bereits versucht, ihn über das Internet zu finden?»

«Ich kenne den Namen nicht. Nicht mal das genaue Geburtsdatum.»

«Wie wollen Sie ihn dann ausfindig machen?»

«Mit Ihrer Hilfe.»

Er trank von seinem Tee und überlegte offensichtlich, was er sagen sollte.

«Anabela. Es ist ja sehr schmeichelhaft, dass Sie mir viel zutrauen. Aber ich bin Polizist, kein Zauberkünstler. Um ehrlich zu sein, wüsste ich auch mit diesen Angaben nicht, was ich da tun könnte. Aber ohne? Das ist völlig aussichtslos.»

«Das glaube ich nicht.»

Das wollte ich nicht glauben.

«Was ist das überhaupt für ein Kind, vom dem Sie sprechen?»

«Mein Cousin. Das uneheliche Kind einer meiner Tanten. Ihr Sohn ist ihr nach der Geburt weggenommen worden. Sie hat später nach ihm gesucht, ihn aber nie gefunden.»

«Und nun glauben Sie, das zu können?»

«Ich muss es zumindest versuchen.»

«Warum?»

«Das ist meine Sache.»

Ganz sicher würde ich nicht über meine Schuldgefühle sprechen. Nicht mit ihm und auch mit niemandem sonst.

Almeida spielte mit dem Serviettenständer auf dem Tisch, drehte ihn in seinen großen Händen wie einen Würfel.

«Ich würde Ihnen ja gerne helfen, Anabela. Aber, wie gesagt …»

«Ich vermute, dass das Kind damals adoptiert wurde. So was müssten Sie doch überprüfen können. Seit ein paar Jahren haben adoptierte Kinder in Portugal das Recht zu erfahren, wer ihre biologischen Eltern sind. Also muss es Unterlagen geben, die man einsehen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Januar 1964 in der Gegend allzu viele Adoptionen von Neugeborenen gegeben hat.»

Er seufzte tief.

«Ich kann mich bei Kollegen von anderen Behörden umhören, wenn Ihnen damit geholfen ist.»

«Gut.»

Ich nannte ihm den Namen des Dorfes, in dem ein Teil meiner Familie damals gelebt hatte, und fragte nach der Anschrift des Tierheims sowie dem Namen der Dänin. Liv Steen, notierte ich, dreiundfünfzig Jahre alt. Er nannte mir außerdem den Kontakt der Vereinsvorsitzenden, einer gewissen Amália Mendes, und seine eigene Mailadresse. «Aber bitte wirklich nur umhören, Anabela.» Ich nickte und gab ihm eine meiner alten Visitenkarten. «Die Mailadresse stimmt noch.» Er steckte die Karte ein, rief nach der Bedienung und zahlte.

«Sie melden sich, wenn Sie etwas Interessantes erfahren?», fragte Almeida auf dem Weg zu den Autos, die auf dem Parkplatz vor dem Café standen. Mein kleiner verbeulter Twingo neben seinem glänzenden schwarzen Mittelklasse-Audi.

Ich suchte in der Handtasche nach meinem Schlüssel. «Ja, sicher.»

«Anabela …»

«Ja?» Ich sah auf. Almeida stand an der schon offenen Tür seines Wagens.

«Schön, dass Sie wieder da sind.»

In der nächsten Minute fuhr er vom Parkplatz.

5

Kleine, freundliche Hunde. In überschaubarer Zahl. So hatte ich mir das vorgestellt. Eine Deutsche Dogge, die mir aufrecht stehend die Pfoten auf die Schultern legte und quer übers Gesicht leckte, war in meinem Bild vom Tierheim nicht vorgekommen. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Wo bitte waren die Leute vom Verein? Und wieso lief dieses Riesentier hier frei rum, während sich unzählige andere Köter in schön verschlossenen Zwingern die Kehlen wundbellten?

«Beethoven, para baixo!»

Endlich eine menschliche Stimme. Aus dem Augenwinkel sah ich einen jungen Mann in weißem Kittel auf mich zukommen. Die Dogge ließ tatsächlich von mir ab, trottete zu einem sonnigen Plätzchen und legte sich hin. «Er ist völlig harmlos», schrie der Weißkittel gegen das Hundegebell an. «Kommen Sie hier rein, da ist es ruhiger.» Er führte mich in einen mintgrün gestrichenen Raum, der nur mit einer Bank und Regalschränken möbliert war. Ein großes Fenster über der Bank war auf Kipp gestellt. Er schloss es, und der Hundelärm ließ etwas nach. In den Regalen lagen Hundeleinen, Spielzeug und Decken, auf dem Boden standen Tiertransportkisten in allen Größen.

«Beethoven liebt Menschen über alle Maßen. Nur mit anderen Hunden kann er nicht. Deshalb konnten wir ihn bisher nicht vermitteln. Suchen Sie ein Tier?»

«Nein, ich bin mit Amália Mendes verabredet. Anabela Silva.» Ich gab ihm die Hand. Draußen hörten die Hunde auf zu bellen.

«Hugo Rodrigues, ich bin der Tierarzt. Amália kommt sicher gleich. Sie entschuldigen mich?»

Er ging durch eine Tür in der hinteren Wand. Neben der Tür hing eine Pinnwand. Ich schaute mir Postkarten an, mit denen sich Hundebesitzer für die Vermittlung von Tieren bedankt hatten. Die meisten stammten aus Deutschland. Daneben hingen ein Spendenaufruf und ein drei Jahre alter, schon leicht vergilbter Zeitungsartikel, der die Arbeit des Vereins und seiner Helfer lobte. Ich las, wie schwierig es sei, die Einstellung von Menschen zu verändern, die glaubten, dass Tiere keine Rechte hätten und misshandelt werden dürften. Der Verein trug sich hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge und durch Spenden. Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels waren dreihundert Tiere hier gewesen, etwa zur Hälfte Hunde und Katzen. So viele! Und keines würde getötet, hieß es. Da mussten aber eine Menge Spenden zusammenkommen, wenn man die alle füttern und versorgen wollte.

Ein Blick auf die Uhr. Die Frau Vereinsvorsitzende war bereits zwanzig Minuten zu spät. Also ganz im Rahmen für eine Portugiesin. Gerade hatte ich das gedacht und mich auf die Bank gesetzt, als die Hunde draußen wieder zu kläffen anfingen. Kurz darauf drückte eine kleine, zarte Frau mit hochrotem, verschwitztem Gesicht und den Armen voller Tüten die Eingangstür auf. Sie begrüßte mich mit einem Nicken und «Moment noch». Vor den Regalen stellte sie die Tüten ab und wischte sich über die Stirn.

«Dona Anabela?»

Ich nickte und gab ihr die Hand. «Boa tarde.»

«Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles. Ich bin heute ziemlich in Eile, tut mir leid.»