Letztes Bad auf Norderney - Antje Friedrichs - E-Book

Letztes Bad auf Norderney E-Book

Antje Friedrichs

4,5

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Ein Kommissar ist immer Kommissar. Auch wenn er zur Kur nach Norderney fährt, wie Onno Tjaden. Verbrechen machen selbst vor beschaulichen ostfriesischen Inseln nicht halt. Das musste er schon auf Langeoog feststellen. Nun wird ausgerechnet seine Kurklinik Schauplatz eines Mordes. Kur hin, Dienst her - Onno Tjaden lässt seinen Kollegen aus Norden zwar gern die Arbeit,. aber sein Ermittlerinstinkt lässt ihn nicht ruhen. Zuviel Merkwürdiges passiert in der Klinik. Schließlich bringt er die Kollegen auf die entscheidende Spur.

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Seitenzahl: 262

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Antje Friedrichs

Letztes Bad auf Norderney

Norderney Krimi

Prolibris Verlag

Alle Personen in diesem Roman sind ebenso frei erfunden wie der Ort der Handlung, die »Klinik Nord«. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Für Karl Heinrich,

ohne den nichts geworden wäre.

Prolog

Kurz vor Sonnenuntergang. Noch schwebte der glutrote Ball über dem Horizont, gleich würde er ins Meer tauchen. Sanddornsträucher und Heckenrosen warfen lange Schatten. Langsam zog die Dunkelheit herauf. Die Dünen leuchteten nicht mehr. Eine Möwe stieg schreiend in den Himmel, Kaninchen huschten zur Seite. Drei Jungen und ein Mädchen stapften durch den Sand, bahnten sich einen Weg durch Gesträuch, das an ihren nackten Beinen kratzte.

Sie stiegen in eine Senke hinunter. Der Große mit dem Piratentuch um den Kopf holte eine Schaufel unter dem Gebüsch hervor und drückte sie einem anderen wortlos in die Hand. Der fing an zu graben. Das Mädchen setzte sich ins Dünengras, zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz achtlos weg. Nach ein paar Zügen hielt es dem Großen die Zigarette hin.

Er inhalierte tief. „Wahnsinn. Das hab’ ich gebraucht. So, und jetzt noch...“

„Ruhe mal! Was ist denn da los?“

Sie duckten sich und horchten.

Da waren welche, ganz in ihrer Nähe. Ein Pärchen. Aber von Liebe war nicht die Rede, im Gegenteil, die stritten sich, dass die Fetzen flogen!

„Das wird dir noch Leid tun!“, schrillte die Stimme einer jungen Frau.

„Nun hör doch mal zu, Silvia“, versuchte der Mann sie zu beruhigen. „Das hast du total in die falsche Kehle gekriegt ...“

„Das läuft mit mir nicht. Mit mir nicht, kapiert?“

„Mensch, Silvia, irgendwo muss doch mal Schluss sein! Aber du kannst den Hals nicht voll kriegen, was?“ Der Mann hatte Stress, das war unüberhörbar. Seine Stimme klang jetzt aggressiv und böse.

„Du hältst dich wohl für Superman persönlich!“, schrie sie ihn an. „Bild’ dir bloß nichts ein. Das ist doch alles Fassade. Wenn ich das vorher gewusst hätte!“

„Nun rück’ schon raus damit“, zischte der Mann. „Was willst du noch von mir?“

„Entweder machst du Schluss oder ...“

„Oder?“

„Oder du bist erledigt. Du weißt, was ich meine.“

„Blödsinn. Was denn?“

„Ein Wort von mir an die Behörden, und du bist weg vom Fenster.“

„Die Behörden? Jetzt drehst du total durch. Das bringst du doch nicht.“

„Wetten, dass?“

Plötzlich war es still. Beängstigend still.

Dann schrie die Frau: „Lass mich los! Du sollst loslassen, du Scheißkerl!“

Vorsichtig robbten die vier hinter einen Rosenbusch. Jetzt konnten sie die beiden sehen. Der Mann hatte die Frau an den Armen gepackt und schüttelte sie. Er schien außer sich vor Wut. Der tickte aus!

Sie sprangen auf.

Aber da hatte die Frau sich schon losgerissen und lief weg, tiefer in die Dünen hinein.

Der Mann vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans und stand regungslos da. Endlich drehte er sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon, zum Strand hinunter.

„Voll der Psycho“, sagte der Pirat. „Los macht das Zeug klar! “

Die Sonne war verschwunden. Von Osten her breitete sich schwere Dunkelheit über der Insel aus. Die weißen Finger des Leuchtturms tasteten unablässig den Himmel ab.

Aus der Haut gefahren

Tjaden stand an Deck. Die Frisia VIII pflügte durchs Wattenmeer. Der Kapitän hatte den Passagieren eine angenehme Überfahrt gewünscht, im Kielwasser glänzte die Gischt. Die Möwen, die das Schiff begleiteten, schrien heiser.

Ein Mädchen warf ihnen Brocken seines Käsebrötchens zu. „Nich füttern!“, rief eine Frau im knallroten Anorak. Die großen Vögel schienen in der Luft still zu stehen. Durch leichte Korrekturen ihres Flugs gelang es ihnen jedes Mal, mit ihren gelben Schnäbeln das Futter zu schnappen.

„Voll geil!“, juchzte das Mädchen.

„Nun lass das doch sein!“, schimpfte die Mutter. „Oder willste, dass dir die Biester auf den Kopf scheißen?“

Plötzlich kreischte das Mädchen los. Eine Möwe war auf seine Hand herabgestoßen und hatte ihm frech den ganzen Brötchenrest weggerissen. „Mein schönes Brötchen!“

„Sei froh, dass dich das Vieh nich gebissen hat“, sagte die Mutter zufrieden und rückte ihr Stirnband zurecht.

„Bitte nicht die Möwen füttern, die haben eine besondere Art, sich zu bedanken!“, tönte eine tiefe Stimme aus dem Bordlautsprecher. Das kam wohl direkt von der Brücke. Fast im gleichen Augenblick schrie das Mädchen schon wieder los. „Mein Top, mein bestes Top, so’ne Sauerei! Iii, so’n Scheißvieh!“

Über sein schwarzes knappes Oberteil – „Ganz schön scharf“, dachte Tjaden, „wenn auch etwas unpassend für die Reise übers Meer.“– zog sich eine eindeutige weiße Spur.

„Siehste, Denise“, sagte die Mutter befriedigt, „was hab’ ich dir gesagt!“ So musste Kassandra sich gefühlt haben, als Troja endlich in Flammen aufging. „Aber nun bleib’ doch mal sitzen, wir sind ja auch bald da.“

Das Mädchen Denise starrte Tjaden an. Er hatte sich in die Sonne gesetzt, sein Schweizer Taschenmesser mit den achtzehn verschiedenen Werkzeugen – ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau Maria – aufgeklappt und schälte sich einen Apfel.

„Was hat der denn an den Händen?“, flüsterte Denise so laut ihrer Mutter zu, dass diese ebenso laut zurückzischte: „Nun kuck da nich so hin, das gehört sich nich!“

Sie wich Tjadens Blick aus.

Dafür lächelte die Frau, die Tjaden schräg gegenüber saß, ihn an. Sie hatte sehr blaue Augen und ihre Haut sah rosig und weich aus. Der sie umhüllende Poncho war so blau, als hätte Nolde ihn gemalt. In ihre gepflegte Frisur – kurzgelockt und getönt – griff der Seewind. Und sie war dick, ziemlich dick sogar, aber auf eine sympathische Art, so weich und einladend, darin zu versinken wie in einem hoch aufgetürmten Federbett.

Wie alt mochte die Frau sein? Die Vierzig hatte sie wohl längst überschritten. An den Händen trug sie zwei, nein, drei Brillantringe, dezent zwar, aber doch gut sichtbar. Die Ringe hatten sich in das rosige Fleisch der Finger eingegraben. Ihre Haut war makellos. Richtig proper wirkte die Dame, die sich da, ins Noldeblau gewickelt, dem Wind entgegenstemmte. Ihr Poncho sah exquisit aus, wie geschaffen für den Kuraufenthalt nicht auf irgendeiner Insel, sondern auf Norderney.

Onno Tjaden war auf Langeoog aufgewachsen. Inzwischen wohnte er auf dem Festland, in Wittmund. Langeoog blieb seine Heimatinsel, aber Norderney war „unterhaltlicher“, wie schon Theodor Fontane bemerkt hatte. Die königlichen und kaiserlichen Herrschaften, die zur Erholung auf Norderney weilten, wussten schon, was sie wollten. Es war nicht allein die Strandpromenade, es gab auch einen Kurpark mit Kurkonzerten, ein Theater wie für eine königliche Sommerresidenz gebaut und sogar ein Spielcasino.

„Aber da sind Autos!“, hörte Tjaden seine Mutter auftrumpfen. Langeoog dagegen war autofrei und behauptete, die bessere Luft zu haben. Seine Mutter ließ nichts auf ihr Langeoog kommen, und das war ihr gutes Recht. Irgendwo muss der Mensch zu Hause sein.

Dass ihn der Amtsarzt zur Kur nach Norderney geschickt hatte, war Tjaden gerade recht. Kur, das hieß ja auch, einmal ganz zu sich selbst zu kommen. Auf Norderney würde er nicht den lieben Sohn spielen müssen, der nachmittags zum Tee mit Sahne und Kluntjes den geballten Inselklatsch serviert bekam. Er würde sich nicht die Klagen seiner Mutter über ihre Zipperlein anhören und auch nicht selber ständig berichten müssen, was es denn „so Neues gab“. Den Butterkuchen würde er sich selber kaufen und ihn so mampfen, wie er wollte, ohne dieses ewige „Nun erzähl doch mal!“ und dann wieder „Red nicht mit vollem Mund!“ Und während er auf Norderney war, würde er sich auch nicht ständig fragen lassen müssen, wann denn der kleine Onno ein Brüderchen oder Schwesterchen bekäme, weil es ja nun höchste Zeit werde. Ja, er musste wirklich einmal ganz zur Ruhe kommen.

„Sie sind wohl ganz schön dünnhäutig geworden, Tjaden. Sie fahren ja aus der Haut!“, hatte sein Vorgesetzter, Kriminalrat Ebbo Geerken, gesagt. Tjadens Haut schälte und schuppte sich, an den Händen vor allem, aber auch an Füßen und Knien, was zum Glück nicht auffiel, weil es unter Hosenbeinen und Schuhen verborgen war, aber an den Händen war es unübersehbar. „Sie hinterlassen ja Tonnen von DNS-Material, da dürfen Sie aber nicht kriminell werden“, hatte der Kriminalrat jovial gescherzt.

Tjadens Haut war eingerissen und blutete. Kein Wunder, dass Mädchen, die Denise, Tamara oder Chantal hießen, ganz ungeniert fragten: „Was hat der denn an den Händen?“

„Die Haut ist der Spiegel der Seele“, hatte die Heilpraktikerin gesagt, zu der Maria ihn geschleppt hatte. Er müsse sich einlassen auf das, was mit ihm geschehen werde. Aber als diese dann begonnen hatte, aus allerlei Salben, Tinkturen und Kügelchen die für ihn richtige Medizin auszupendeln, war er gegangen. Sie hatte ihm auch geraten, er solle seine Seele erleichtern. Katholiken gingen zur Beichte, das war ihm ja nun nicht möglich. Immer häufiger war im Gespräch mit allen, die es gut mit ihm meinten, das Wort „Psychotherapie“ gefallen. Er interessierte sich durchaus für Psychologie, sie war hilfreich bei Verhören. Auch Amtsarzt Dr. Boje hatte bei der Auswahl der Kurklinik darauf geachtet, dass dort „therapeutische Gespräche“ angeboten wurden. Autogenes Training, Yoga und andere alternative Behandlungsmethoden sowieso, alles inklusive.

„Sie müssen auch mal an sich denken, Herr Tjaden“, hatte der Amtsarzt gesagt. „Irgendwann muss der Akku wieder aufgeladen werden.“ Und während er ihn über seine halbe Brille hinweg prüfend anschaute, hatte er hinzugefügt. „Das Klimakterium virile kommt nämlich auch noch!“

Der spinnt wohl, hatte Tjaden gedacht.

Was die eigentliche Diagnose anging, hielt Dr. Boje sich ebenso bedeckt wie Tjadens Hausarzt Dr. Cassen, und auch der Facharzt hatte etwas von „untypisch“ und „wahrscheinlich psychosomatisch bedingt“ gemurmelt.

„Du bist viel zu dünnhäutig“, sagte auch Maria immer. „Du bist ein komischer Polizist, du nimmst dir ja jeden Fall zu Herzen!“ Und seine Mutter erinnerte sich, dass er immer schon eine empfindliche Haut hatte. „Mein Gott, hattest du Milchschorf!“, sagte sie gern mit wehmütigem Behagen. „Über und über! Als Wilma von nebenan, du weißt doch, Wilma Goeken, in den Kinderwagen kuckte, da ist die richtig entsetzt zurückgeprallt. ‘Wie sieht denn der Junge aus!’, hat sie nur gerufen. So schockiert war die.“ Aber dafür, betonte seine Mutter immer, hatte er diese kleinen fuchsigen Löckchen auf dem Kopf, die machten ja vieles wett. Nur ziemlich spillerig war er immer geblieben. „Nun sieh doch mal zu, dass an den Jungen was drankommt“, habe Wilma ihr immer in den Ohren gelegen. Doch allen Fütterungsversuchen zum Trotz war Onno mager geblieben. Wenigstens musste er jetzt nicht abnehmen, eine Sorge weniger. Dr. Cassen allerdings meinte, die Kur sollte auch dazu dienen, ihm ein „normales Essverhalten“ beizubringen. Geregelte Mahlzeiten! Nicht nur ein Fischbrötchen zwischen zwei Verhören und schnell noch eine Cola vor dem nächsten Einsatz am Tatort, damit müsse nun Schluss sein. Richtig essen, kalorien- und nährstoffbewusst! Eine Ernährungsberaterin gebe es in der Klinik natürlich auch. Die Klinik genieße überhaupt einen ausgezeichneten Ruf, hatte Dr. Boje betont. Professor Schulte-Brosius sei als Koryphäe bekannt, ihm könne Tjaden sich guten Mutes anvertrauen.

Der Dampfer machte jetzt eine Kehre nach Osten und geriet, während er die Insel Juist im Westen liegen ließ, ins Schaukeln. Die Silhouette Norderneys rückte immer näher: unverkennbar mit einigen Hochhäusern und der Reihe stattlicher weißer Gebäude an der Promenade. Tjaden erkannte den Giebel der Villa Belvedere, wo einstmals hohe Politik betrieben worden war: Sommersitz des Reichskanzlers! Am Himmel standen bunte Flugdrachen. Auf der Promenade und am Strand gingen Menschen spazieren, einige schienen zu winken. Tjaden fühlte sich empfangen, als hätte man gerade ihn erwartet.

„Die Marienhöhe!“ Das klang entzückt. Die Frau im blauen Poncho hob ein zierliches Fernglas vor die Augen. „Da hat Heinrich Heine gesessen und gedichtet!“ Sie strahlte Tjaden an. „Und es soll dort einen phantastischen Ingwereisbecher geben!“

Das grüne achteckige Dach des weiß gestrichenen Pavillons auf der Düne leuchtete. Die Frisia VIII fuhr am Weststrand entlang und steuerte den Hafen an.

Norderney. Hier will ich sein.

Bevor man auf die Insel entlassen wurde, wurde man durch die Inselcard-Kontrolle geschleust. Die Inselcard war Fahrkarte und Kurkarte in einem. Praktisch, dieses Stückchen Plastik. Auf Tjadens Heimatinsel Langeoog hatte man sie inzwischen auch eingeführt. Die Kurdirektoren konnten zufrieden sein, endlich war das Problem mit der nicht „abgeführten“ Kurtaxe gelöst. Tjaden grinste verstohlen, während er in seinem Portemonnaie nach seiner Karte angelte. Schon komisch, dass Geld gern mit der menschlichen Ausscheidung verbunden wurde, rein sprachlich natürlich. Der dukatenschieternde Esel aus dem Märchen „Tischlein deck dich“ war ja auch ein Beispiel dafür. Und sollten nicht Menschen, die sich von ihrem Geld partout nicht trennen konnten, anal fixiert sein? Da fiel ihm Onno junior ein, der inzwischen schon recht willig aufs Töpfchen ging, aber gern stundenlang darauf herumhockte, ehe er seine erwartungsvoll zuschauenden Eltern mit seinem Produkt beglückte.

Verdammt, Tjaden hatte geschlafen. Schon war er am Kontrollpunkt gelandet, doch die Karte hatte er noch immer nicht gefunden. Der Posten ganz in Blau wartete höflich, aber bestimmt. Ohne Karte kein Einlass. Wo hatte er das Ding bloß hingesteckt?

„Warum geht’s denn hier nicht weiter?“, murrten sie hinter ihm, die Rentner und Pensionäre in ihren beigefarbenen Freizeitjacken und Sandalen, die Prinz-Heinrich-Mützen auf dem Kopf. Da hielt einer den Betrieb auf, den Kurbetrieb! Da nahm ihnen einer kostbare Sekunden ihres Inselurlaubs! Tjaden fühlte sich von Hitze übergossen. Lächerlich. Als Kriminalhauptkommissar war er schon mit ganz anderen Problemen fertig geworden. Von wegen Klimakterium virile. Und doch hatte er wieder die Stimme seiner Mutter im Ohr: „Lerne Ordnung, liebe sie!“ Bei Fenna, seiner kleinen Schwester, hörte sich das so an: „Manchmal checkste echt nicht richtig, was Sache ist!“ Die Kur fing ja gut an. Er trat einen Schritt beiseite, ließ die Schlange weiterrücken und tastete systematisch alle Taschen seines Anoraks ab. Innen und außen und innen – nichts! Er schwitzte stärker. Also noch einmal ins Portemonnaie gucken, obwohl – tatsächlich, da war sie ja, genau da, wo sie auch hingehörte! So war es meistens. Er reichte sie dem blau Uniformierten, der sie in irgendeinen Schlitz steckte und ihm automatenartig das kalte Stück Plastik wieder in die Hand drückte. Dann ging’s weiter.

Tjaden bewunderte diese Menschen, die so tätig waren, so praktisch, mitten im Leben. Herrgott, die sollten mal zwei Jahre bei der Mordkommission arbeiten, dann würden sie verstehen, was das heißt: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen... Wie kam er denn jetzt darauf? An so was wollte er ja nun gar nicht denken, und im Dienst war er auch nicht. Jetzt erst warf er einen Blick auf die Karte, die ihn drei hoffentlich heilsame Wochen begleiten würde. Norderney. Hier will ich sein, stand darauf. Ein leerer blauweiß gestreifter Strandkorb lachte den Betrachter an.

Auf dem Vorplatz standen drei Busse, die einem Peter Tjaden gehörten. Sicher ein Verwandter, weitläufig natürlich. Auch ein paar Taxis warteten auf Kundschaft. „Da gibt es ja Autos!“, hörte er wieder die verächtliche Stimme seiner Mutter. Was für ein Glück, dass es Autos gab, denn sein Koffer war verdammt schwer, und er hatte keine Lust, ihn kilometerweit über die Insel zu schleifen. Die Klinik lag ziemlich weit draußen am Ortsrand. An der Seeseite. Er würde jedenfalls nicht wie Theodor Fontane vor über hundert Jahren noch mit der Wattseite vorlieb nehmen müssen. Etwas anderes hatte sich der arme Kerl nicht leisten können. Dabei produzierte er doch Weltliteratur, während Kollege Friedrich Spielhagen, der viel Trivialeres verfasste, stolz in der Kaiserstraße mit Blick aufs Meer residieren durfte.

Die Septembersonne leuchtete. Ein paar Kumuluswolken türmten sich auf, doch der überwältigende Eindruck war Bläue und Wärme. Ein leichter Wind wehte. Schön!

Tjaden bugsierte seinen Koffer die Stufen des Bahnhofsvorplatzes hinunter und rollte ihn zum Bus hinüber, an dessen Windschutzscheibe das Schild Klinik Nord klebte. Vor ihm wogten der noldeblaue Poncho und im Farbton passende Flatterhosen. Der Fahrer verstaute das Gepäck. Mit Riemen verschnürte, voluminöse Koffer waren darunter. So viel Garderobe für drei Wochen Kur auf der „unterhaltlichen“ Insel? Wer es auf einen Kurschatten abgesehen hatte, musste auch etwas zu bieten haben. „Wie du kommst gegangen, so wirst du empfangen ...“ Tjaden hatte Maria nur zwei Paar Jeans und eine Cordhose einpacken lassen, dazu zwei Pullover für kühle Tage und ein paar Hemden. Aber Bücher hatte er mitgenommen. In der Kur, endlich einmal mit viel Zeit vor sich, wollte er das lesen, was er schon immer mal lesen wollte: ein paar Krimis von P. D. James, ein Buch über Traumdeutung, dazu Heines Gedichte und zum Wiederlesen Fontanes Effi Briest. Vielleicht hatte Maria ja Recht, vielleicht war er wirklich ein komischer Polizist.

Neben ihm nahm ein junger Bursche Platz, die Baseballkappe trug er mit dem Schirm nach vorn, das war wohl sein Zugeständnis an die bürgerliche Umgebung. Mit seinen Turnschuhen und dem dunkelblauen Jogginganzug hätte er gleich im Laufschritt die Kurklinik ansteuern können. Auf der Brust prangte der Spruch: „Abi macht sexy.“ Was mochte solch ein kräftiger junger Kerl in einer Kurklinik zu suchen haben? Vielleicht wollte er die Akne therapieren lassen, die auf seiner Stirn blühte. Die blondierten Haare trug er vorn kurz geschnitten, während sie sich im Nacken wellten. „Nackenspoiler sind mega-out“, hatte Tjadens junger Kollege Harm Eversmeier, mit dem er sich auf dem Wittmunder Polizeirevier sein Zimmer teilte, neulich gesagt. „Heute trägt der Mann von Halbwelt Glatze.“ Eversmeier hielt ihn sprachlich auf jugendlichem Niveau, wofür er ihm dankbar war. Man musste sich ja demnächst mit den eigenen Kindern verständigen können. Bisher allerdings sagte Onno junior nicht viel mehr als „Da!“, wenn er etwas haben wollte. Meistens bekam er dann auch, worauf er zeigte. Mit dem Sprechenlernen konnte er sich also getrost Zeit lassen.

Der Bus fuhr jetzt um den Ort herum, am Watt entlang. „Ganz schön weit draußen, woll?“, bemerkte der junge Kerl neben ihm. Eindeutig Ruhrpott und kein Abiturient. Was er wohl von Beruf war? Vielleicht war er Kumpel, litt unter Asthma und sollte auf Norderney wieder arbeitsfähig gemacht werden. In seinem Alter war die Kur sicher nicht die letzte – unvermeidliche – Station vor der Verrentung. Auch für Tjaden kam diese natürlich noch gar nicht in Frage, doch dass Amtsarzt Dr. Boje dieses Unwort überhaupt gebrauchte, hatte ihn gehörig erschreckt.

Er schaute auf etliche Hinterköpfe, auf denen sich das Haar schon lichtete. Auch weibliche Betonfrisuren waren sichtbar. Für alle Fälle vor der Kur noch mal zum Friseur, da weiß man doch, was man hat, die Inselfriseure waren sicher teuer. Und einem potentiellen Kurschatten musste man sich wohlfrisiert präsentieren. Tjaden grinste unwillkürlich. Freiwillig würde er diesen künstlichen Gebilden – Beton oder Zuckerwatte – nicht nahe kommen.

In einer kleinen Bucht neben der Straße kurvten die Surfer. Und jetzt fuhr der Bus sogar an einem Wäldchen vorbei. Das gab es auf Norderney.

Endlich waren sie da. Die Klinik lag nahe am Meer, Fontane hätte seine helle Freude gehabt. Hier war man nicht bei der Kapitänswitwe Warnkes in der Marienstraße, in jenem bescheidenen Häuschen mit niedriger Decke und Plumpsklo auf dem Hof. Hier war man Gast in einem hellen, weitläufigen und vielstöckigen Komplex, den der Seewind umwehte. Hoch oben am Mast flatterte eine Fahne, blau mit einem weißen Emblem. War es das Familienwappen des Professors oder das Logo der Versicherungsanstalt, die ihm Patienten zuführte? Der gepflasterte Weg zum Eingang führte durch Dünensand. Kurklinik Nord, Prof. Dr. Hartmut Schulte-Brosius stand auf dem Schild, das in einem Rasenstück steckte. Rund um das Gebäude wuchsen üppig rote und weiße Heckenrosen. Tjaden atmete tief durch. Doch er fühlte sich nicht völlig entspannt, irgend etwas beunruhigte ihn. Aber er wusste nicht, was. Das hatte er manchmal. Du mit deinen Ahnungen, sagte Maria immer. Sein siebter oder achter Sinn. Hoffentlich würde er am Ende den verlangten Kurerfolg – auch so ein Horrorwort – vorweisen können.

Willkommen auf der Pickelranch

An der Tür standen mittelalte weiß gekleidete Frauen, sie lächelten freundlich und stumm. Es roch dezent nach Essen. Nach einer undefinierbaren Tagessuppe, fade mehlig, vielleicht nach Spargelsuppe aus der Tüte? Überlagert von irgendeinem Reinigungsmittel. War das der Duft von Limonen? Desinfektionsmittel lagen nicht in der Luft, schließlich gab es hier keine ansteckenden Krankheiten. Auf den hellen Fliesen des Empfangsflurs stand eine Bodenvase mit einem Arrangement aus Sanddorn und Strandhafer. Nett. Aber dass dies kein Hotel war und kein Ferienaufenthalt die neuen Gäste erwartete, wurde sogleich deutlich, denn es sollte zunächst die „Einweisung“ erfolgen. „Bitte gehen Sie in den Speisesaal, der Klinikdirektor wird Sie einweisen“, forderte eine der Damen des Empfangspersonals die neuen Patienten auf.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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