Linkshänder - Geschick und Geschichte einer besonderen Begabung - Rik Smits - E-Book

Linkshänder - Geschick und Geschichte einer besonderen Begabung E-Book

Rik Smits

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Linkshänder hat man es nicht immer leicht, z. B. weil fast alle Geräte für Rechtshänder entworfen sind, vom Kartoffelschäler über Scheren bis zur Handkreissäge. Aber lebt man als Linkshänder tatsächlich so schlecht? Wie ungeschickt sind Linkshänder wirklich und sind sie mehr oder weniger erfolgreich als Rechtshänder? Sind sie gar mit einem erstaunlichen Geschick ausgestattet wie etwa Leonardo da Vinci, Albert Einstein oder Ludwig van Beethoven? Unterhaltsam und spannend beleuchtet Rik Smits die geschichtlichen, kulturellen und psychologischen Aspekte einer außergewöhnlichen Begabung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 459

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rik Smits

Linkshänder

Geschick und Geschichte einer besonderen Begabung

Aus dem Niederländischen von Birgit van der Avoort

Anaconda

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten

Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b

UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Titel der niederländischen Originalausgabe:

Het raadsel van linkshandigheid. Hoe handvoorkeur de wereld kleurt,

Nieuw Amsterdam publishers, Amsterdam 2010

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung

© Rik Smits 2010

Foto hier: Charlie Chaplin spielt linkshändig Cello,

um 1915 (U.S. Library of Congress)

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2017, 2023 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Jonathan Wolstenholme (*1950), »The Illustrator« (2005), Private Collection, © Jonathan Wolstenholme.

All Rights Reserved 2023 / Bridgeman Images

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: Andreas Paqué, www.paque.de

ISBN 978-3-6413-1137-7V001

www.anacondaverlag.de

Inhalt

1Mutwille und Missverständnis

2Der linkshändige Picador

3Gegenpole und Widersprüche

4Tabus, Sex und Handarbeit

5Liebe mit links

6Magie und Aberglaube

7Das wahre Wesen von links und rechts

8Seltsame Figuren im unheimlichen Tal

9Hexerei und Pogrome

10Ein Richtungsstreit

11Der ideale Soldat

12Die vielen Formen der Einseitigkeit

13Des Pudels Kern

14Die große Macht des kleinen Unterschieds

15Wie Freud seine rechte Seite wiederfand und Pu nicht

16Warum ein hoppelndes Kaninchen nicht wie ein Irrer rennt

17Das Gesetz von Tim und Struppi

18Tote Männer und wollüstige Frauen

19Marias kleine Nervensäge und andere Porträts

20Hänschen weint links, Hänschen lacht links

21Der Alphabet-Reigen

22Das Gewicht der Leber

23Die übellaunigen Ansichten des Abram Blau

24Die werfende Madonna

25Nachdenken über das Gehirn

26Allerhand Tierisches

27Andere Asymmetrien und Vorlieben

28Zählarbeit

29Linkshändig durch Gene

30Linkshändig durch Hormone

31Wie ungünstige Eigenschaften weiterleben

32Linkshänder als verkappte Zwillinge

33Die Folgen: Trotz, Perversität und Krankheit

34Zwei linke Hände: die Ford-Skala

35Der Zwang der Dinge

36Schreiben und nützliche Handarbeiten

37Der Mythos vom aussterbenden Linkshänder

38Kreativ, musikalisch, genial und berühmt!

 

Literaturverzeichnis

Register

1

Mutwille und Missverständnis

»Mein Mann ist Linkshänder«, sagte die junge Frau besorgt. »Wird er früher sterben?« Ich musste lachen, es war doch immer das Gleiche. Die Geschichte, dass Linkshänder eher sterben, kursiert seit Jahrzehnten. Es ist ein finsteres Märchen, das nicht totzukriegen ist – aus zweierlei Gründen. Immer wieder hauchen Wissenschaftler dieser These neues Leben ein, um eine Sensationsmeldung verbreiten zu können. Und die große Mehrheit der Rechtshänder saugt diese Geschichte begierig auf: Was gibt es Schöneres, als sich mal gepflegt zu gruseln? Ob die Behauptung stimmt, tut nichts zur Sache, bietet sie doch Anlass zu unschuldiger Schadenfreude.

Doch schon die Beiläufigkeit, mit der solche Geschichten verbreitet werden, lässt erkennen, dass keiner so recht an sie glauben mag. Linkshänder sollen im Schnitt neun Jahre früher sterben als Rechtshänder, wobei viele nicht das vierzigste Lebensjahr erreichen. Wenn dem so wäre, müsste Linkshändigkeit als schwere Krankheit eingestuft werden, die viele junge Menschen trifft. Sie wäre eine Krankheit, über die man nur hinter vorgehaltener Hand und in Andeutungen spricht:

»Hast du schon gehört? Caroline hat LH!«

»Was? Sie jetzt auch schon?«

»Ja, von mir weißt du es aber nicht …«

»Ach Gott … der Familie bleibt auch nichts erspart.«

Dabei ist alles ganz anders.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1992, als ein kanadischer Psychologieprofessor namens Stanley Coren ein Buch veröffentlichte, in dem er die verwegene These aufstellte, Linkshänder würden im Schnitt neun Jahre früher sterben. The Left-Hander Syndrome lautete der Titel, Das Linkshänder-Syndrom. Sinn für Dramatik war Coren nicht abzusprechen; mit seinem Buch erlangte er eine gewisse Bekanntheit, und er verdiente nicht schlecht daran. Bald ging die Öffentlichkeit wieder zur Tagesordnung über. Kein Politiker stellte Anträge im Parlament, kein Experte sah sich bemüßigt, in den Medien etwas zum Thema zu sagen. Es gab keine beunruhigten Linkshänder, die sich in Aktionsgruppen zusammenschlossen, und auch keine angehenden Eltern, die forderten, während der Schwangerschaft auf diese fatale Erkrankung getestet zu werden. Der frühe Tod von Linkshändern war reine Volksbelustigung – und das ist bei echten Krankheiten keineswegs der Fall.

So wie mit Corens Buch läuft es häufig ab, wenn Linkshändigkeit zum Thema wird: Das Interesse flackert kurz auf, kommt über ein Strohfeuer aber nicht hinaus. Selbst Linkshänder äußern sich nicht zum Thema. Genau das übersehen Rechtshänder immer wieder. 1998 wollte der australische Biologe und Journalist Geoff Burchfield während eines Fernsehinterviews vom Psychologen Michael Corballis wissen: »Warum ruft das Thema Händigkeit derart starke Reaktionen hervor, vor allem bei Linkshändern?« Corballis setzte zu einer umständlichen Antwort an, verlor sich aber schnell in nichtssagenden Floskeln. Corballis ist kein Dummkopf, ganz im Gegenteil, doch hier war die Frage an sich verfehlt. Linkshändigkeit ist etwas, über das sich besonders Rechtshänder gern wundern und Gedanken machen. Die Linkshänder, auf die sie gelegentlich stoßen, erscheinen ihnen merkwürdig, aber auch interessant und ein wenig unheimlich. Für Linkshänder ist es die normalste Sache der Welt, Linkshänder zu sein. Sie halten sich selbst nicht für etwas Besonderes, sind jedoch völlig vertraut mit der Welt der Rechtshänder, in der sie sich bewegen. Auch die seltsame Faszination der Rechtshänder für ihre abweichende Händigkeit sind sie von klein auf gewöhnt.

Eigentlich schade, denn während Rechtshänder sich über vermeintliche Probleme ereifern und Linkshänder darüber nur die Schultern zucken, bleiben viele echte Rätsel ungelöst. Neben der Zubereitung von Speisen und der Sprache ist unsere deutliche Präferenz für die rechte Hand eine der wenigen die Menschen einenden Eigenschaften. Die Präferenz für eine Hand ist an sich nichts Außergewöhnliches; sie findet sich auch bei verschiedenen Tierarten, sogar bei Mäusen. Doch die Ungleichverteilung zwischen Links- und Rechtshändern ist schon bemerkenswert: Gerade einmal jeder Zehnte bezeichnet sich selbst als Linkshänder, während im Tierreich das Verhältnis von Links- und Rechtsfüßern in etwa ausgeglichen ist.

Noch hat niemand belegen können, warum man zum Linkshänder oder Rechtshänder wird. Genauso rätselhaft sind die Ursachen für die Ausprägung der Linkshändigkeit. Die Ursprünge sind in ferner Vergangenheit zu suchen, denn es gilt noch ein Rätsel zu lösen: Wie erklärt es sich, dass durch alle Jahrhunderte hindurch und überall auf der Welt, sofern nachvollziehbar, der Anteil der Linkshänder konstant bei zehn Prozent geblieben ist? Zudem verweist die Präferenz für eine Hand auf eine tiefere, allesbestimmende Eigenart des Menschen, nämlich, dass beide Gehirnhälften auf je eigene Weise spezialisiert sind. Allerdings unterscheidet sich die Gehirnanlage bei Links- und Rechtshändern kaum oder gar nicht.

Wem das nicht verwirrend genug ist, der sollte wissen, dass allein die Begriffe links und rechts nicht wirklich hilfreich sind. Sie werden mühsam erlernt und ziemlich leicht verwechselt, auch von Erwachsenen – Fahrschullehrer wissen nur allzu gut, wie leicht nervöse Fahrschüler trotz klarer Ansage falsch abbiegen. Gleichzeitig bestimmt die Unterscheidung in links und rechts auf vielerlei Weise, wie wir die Welt um uns herum einrichten, erleben und verstehen. Fotos, Zeichnungen und Gemälde folgen diesem Richtungsgesetz ebenso unbewusst wie Filme und Comics.

Gleich, wie erfolgreich oder unauffällig Linkshänder sind, Linkshändigkeit wird seit jeher mit Ungeschick und negativen Eigenschaften wie Unzuverlässigkeit und Unehrlichkeit in Verbindung gebracht. Das lateinische Wort für links, sinister, hat nicht umsonst in buchstäblich allen verwandten Sprachen die Bedeutung von düster, unheimlich und bedrohlich. Auch die Wissenschaft hat immer wieder ins selbe Horn geblasen. So wusste der berüchtigte Schädelvermesser Cesare Lombroso um 1900 zu berichten, Linkshändigkeit lasse auf einen frevelhaften Charakter schließen. Mitte des 20. Jahrhunderts verkündete der amerikanische Psychoanalytiker Abram Blau, Linkshändigkeit stehe auf einer Stufe mit »infantilem Negativismus« (etwa der Weigerung, den Teller leerzuessen). Die beiden Männer hatten keinerlei Belege für ihre harschen Urteile, was das Vergnügen nicht schmälerte.

Am Auftreten eines Mannes wie Stanley Coren wird deutlich, dass sich in Bezug auf das Fällen leichtfertiger Urteile noch nicht viel verändert hat. Linkshändigkeit wurde und wird mit den unterschiedlichsten echten und vermeintlichen Leiden in Verbindung gebracht, darunter Alkoholismus, Asthma, Diabetes, Schwachsinn, Heuschnupfen, Homosexualität, Krebs, Kriminalität, Schlaflosigkeit und Selbstmordneigung. Zwar gibt es dafür meist keine Grundlage, wenngleich in manchen Gruppen mit höherem Anteil an Linkshändern die Menschen überdurchschnittlich häufig an Heuschnupfen leiden, Brustkrebs haben oder straffällig werden. Einen erhöhten Anteil an Linkshändern findet man auch in Kunstakademien und Architekturstudiengängen sowie unter Hochbegabten. Dem steht gegenüber, dass nachweislich in einer willkürlich zusammengestellten Gruppe von Menschen in Bezug auf Charaktereigenschaften oder Unzulänglichkeiten kein einziger Unterschied festzustellen ist, der mit der Verteilung von Links- und Rechtshändigkeit in Zusammenhang gebracht werden kann.

Der berüchtigte italienische »Schädelvermesser« Cesare Lombroso, der schließlich sogar an Geisteserscheinungen glaubte.

Und wieder haben wir es mit allerhand Rätseln und Widersprüchen zu tun: Was zuletzt gesagt wurde, deutet darauf hin, dass Linkshänder jenseits ihrer Händigkeit ganz normale Menschen sind. Doch wie passt dazu die Aufregung um das Schreiben mit der linken Hand? Viel wird darüber philosophiert und theoretisiert. Das Schreiben mit links sei unnatürlich, sagen jene, die auf die »großen Probleme« eines Sechsjährigen verweisen, der »die rechtshändige Schrift mit der linken Hand imitiert«, wie es der niederländische Schriftdidaktiker Van Engen formulierte. Trotz mancherlei Sorge beschäftigt sich die Lehrerausbildung noch immer nicht ernsthaft mit dem Thema Linkshändigkeit. Es läuft meist darauf hinaus, dass sich Sechs- und Siebenjährige die Grundfertigkeit des Schreibens mehr oder weniger selbst beibringen müssen, und zwar am umgekehrten Vorbild. Zur großen Überraschung gelingt dies den Kindern trotz aller unterstellten Probleme so gut, dass sie offenkundig sehr bald genauso schnell schreiben können wie ihre rechtshändigen Klassenkameraden.

Schon wieder ein Paradox. Und diesmal direkt vor unseren Augen, denn was ist einfacher zu beobachten als ein schreibendes Kind in einer Schulklasse? Wer nicht an Wunder glaubt, kann nur einen Schluss daraus ziehen: Das Bild, das wir von Linkshändern haben, beruht nur zu einem kleinen Teil auf dem tatsächlichen Verhalten der Linkshänder. Entscheidend sind andere, offensichtlich tief in unserem Denken verankerte mythische, althergebrachte Vorstellungen zu links und rechts. Wollen wir das Rätsel der Linkshändigkeit lösen, müssen wir zuallererst bei kulturell geprägten Vorstellungen ansetzen. Dazu begeben wir uns in die Carrer dels Escudellers Blancs in Barcelona, wo der junge, hitzköpfige Pablo Picasso zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Atelier hatte.

2

Der linkshändige Picador

1899 versuchte sich der achtzehnjährige Pablo Picasso, damals am Anfang seiner künstlerischen Karriere, zum ersten Mal an einem Kupferstich: das Porträt eines aufrecht stehenden Picadors, dem Mann, der beim Stierkampf vom Pferd aus mit der Lanze auf den Stier einsticht. Das Ergebnis enttäuschte, vor allem, weil der Picador unbeabsichtigt seine Lanze in der linken Hand führt. Picasso hatte mit großer Sorgfalt einen rechtshändigen Picador graviert, doch dabei nicht beachtet, dass der gedruckte Stich spiegelverkehrt ausfällt. Schlau, wie er war, machte Picasso aus der Not eine Tugend und schrieb groß El Zurdo, der Linkshändige, in die obere Bildecke. Er war gerettet, doch an Kupferstiche wagte Picasso sich erst fünf Jahre später wieder heran.

Picassos Frust lässt erkennen, wie tief die Unterscheidung von links und rechts in uns verwurzelt ist, wie wichtig wir die gute Seite nehmen. Wie sehr wir uns alle, eigenwillige Künstler nicht ausgenommen, der Norm unterwerfen, und die ist rechtshändig.

Wie bedeutungsvoll es im wahrsten Sinn des Wortes ist, sich für die richtige Seite zu entscheiden, wird an den Worten deutlich, die der amerikanische Präsident George W. Bush am 20. September 2001 vor dem US-Kongress an die Weltgemeinschaft richtete, also kurz nach dem Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York, bei dem fast 3.000 Menschen ihr Leben verloren. »Jede Nation«, sagte er, »in jeder Region muss nun eine Entscheidung treffen. Entweder sind sie auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen.« Am 6. November 2002, noch vor dem Einmarsch in den Irak mit der sogenannten Koalition der Willigen im März 2003, machte Bush noch einmal deutlich, wie die Dinge für ihn lagen: »Auf lange Sicht müssen Länder damit rechnen, für ihr fehlendes Engagement zu bezahlen. Sie sind für uns oder gegen uns im Kampf gegen den Terror.«

Bush erhielt zu Recht viel Kritik für diese Schwarzweißsicht auf die Weltpolitik. Wer kühlen Kopf behält und seinen Verstand gebraucht, wird gute Gründe erkennen, warum ein Land ohne jegliche Sympathie für einen Feind Amerikas sich von Bushs Strafaktion fernhält. Doch in seiner intellektuellen Einfalt ließ der Präsident erkennen, wie gern Menschen im Allgemeinen denken: in Schwarzweißmustern. Ein ganzes Arsenal an Redensarten unterstreicht diesen Eindruck: Es ist immer eins von beiden, oben oder unten, Biegen oder Brechen, Fressen oder Gefressen werden, Himmel oder Hölle. Gern stellen wir Unterschiede möglichst extrem dar. Eine klare Trennung in Schwarz und Weiß will uns Sicherheit und das Gefühl vermittelt, die Wirklichkeit unter Kontrolle zu haben, anders als die abgestuften, nuancierenden Grautöne.

George W. Bush war keineswegs der erste Staatenlenker, der sich derart äußerte. Wenngleich es ihm an Charisma und Rednertalent mangelt, reiht er sich mit seinen undifferenzierten Aussagen ein in die illustre Schar von Demagogen, die mindestens bis zum Athener Alkibiades zurückreicht. Schon etwa 450 Jahre vor unserer Zeitrechnung verstand er wie die späteren französischen Revolutionäre Danton und Marat, wie Lenin, Hitler und Mussolini und all die populistischen starken Männer von heute ganz genau, wie sich die Massen steuern lassen: durch die Reduzierung von komplexen Sachverhalten auf einfache Gegensätze. Die Geschichte ist voller Variationen zum Thema »Wir sind gut, also sind alle anderen schlecht«. Proletarier waren rechtschaffen, arm und unterdrückt, folglich waren alle Nicht-Proletarier Handlager eines verlogenen, reichen und unterdrückenden Kapitalismus. Auf gleiche Art halten die meisten Religionen, vor allem die monotheistischen, ihre Schäfchen beisammen: »Wir« glauben an den einzig wahren Gott, alle anderen sind verdammt oder zumindest weniger wert. So ist es im Judentum wie im Islam. Und auch das Christentum, das Nächstenliebe und Gnade zu Geboten erhoben hat, kennt den Tag des Jüngsten Gerichts, an dem die Böcke unwiderruflich von den Schafen geschieden werden.

Wie selbstverständlich diese Art der Polarisierung ist, zeigt die Jagd auf vermeintlich linke Sympathisanten in den 1950er-Jahren in den Vereinigten Staaten. Diese Zeit wurde als McCarthyÄra bekannt, doch eigentlich war Senator Joseph McCarthy nicht mehr als ein nützlicher Helfer, der zu Beginn der 1950er-Jahre die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stetig wachsende Angst vor dem Kommunismus geschickt zu nutzen wusste. Stalins Sowjetunion hatte im Krieg ihre militärische Macht unter Beweis gestellt. Die Amerikaner erinnerten sich noch gut an die revolutionäre Rhetorik der 1920- und 1930er-Jahre und fürchteten einen kommunistischen Staatsstreich oder gar eine Invasion. Überall schienen Spitzel zu lauern, sodass die Regierung 1947 die »Loyalitätsprüfungen« einführte. Da wollte der Kongress nicht zurückstehen, der daraufhin eine eigene Kommission einrichtete, um landesverräterische Elemente aufzuspüren. Eifrigstes Mitglied war ein junger, ehrgeiziger Politiker namens Richard M. Nixon, der viele Jahre später als US-Präsident über seinen Argwohn zu Fall kommen sollte. Die Kommission trug den vielsagenden Namen House Committee on Un-American Activities – Kommission für unamerikanische Aktivitäten. Der Kongress sprach nicht von »antiamerikanisch« oder »prokommunistisch«, sondern begnügte sich mit der Formel »unamerikanisch«. Dies ist die primitivste und zugleich höchste Form der Schwarzweißmalerei: Setze einfach ein »un« vor dein Ideal, dann weißt du genau, wogegen du zu kämpfen hast.

Das alles belegt, dass der Sinn fürs Differenzieren dem Menschen nicht in die Wiege gelegt wurde. Stattdessen fußt unsere Weltsicht auf dem Dualismus, der Zweiteilung. Vielleicht liegt es daran, dass es zwei Geschlechter gibt, vielleicht an der Unterscheidung zwischen dem »Ich« und dem Rest der Welt oder an etwas ganz anderem. Unstrittig ist, dass wir alles, was uns komplex erscheint, zuerst auf einen Unterschied innerhalb einer Dimension reduzieren möchten, die wir uns als eine Linie vorstellen können. Wir wählen ein Kriterium aus und teilen die Linie dann in zwei Teile. So behandeln wir jedes Phänomen und jede Eigenschaft in der Natur: Die Vertikale wird in hoch und tief oder lang und kurz unterteilt, der Umfang in dick und dünn und die Zeit in früh und spät. Mit Kategorien, die in der Natur unbekannt sind, verfahren wir nicht anders. Dinge sind entweder gut oder schlecht, schön oder hässlich, angenehm oder unangenehm, wahr oder unwahr.

Dreiteilungen kennen wir nicht, und neben den Gegensätzen wahr und unwahr, hoch und tief gibt es keinen selbstverständlichen dritten Begriff der gleichen Ordnung. Selbst ein System mit zwei Dimensionen wie etwa Breite und Tiefe ist uns schon zu kompliziert. Was meinen wir, wenn wir sagen, dass ein Balkon anderthalb Meter breit ist? Es kann sich um eine Fläche handeln, die üppige anderthalb Meter aus der Fassade des Hauses ragt, oder um ein mickriges Brett, das nur anderthalb Meter am Giebel entlangläuft. Wir lernen den Umgang mit derartigen Ungenauigkeiten, sollten uns dessen stets bewusst sein und werden trotzdem Fehler machen. Makler machen nur allzu gern davon Gebrauch – oder wissen, wie man damit Missbrauch treibt.

Natürlich kommen wir nicht allzu weit, wenn wir stets nur in derart groben Zweiteilungen denken. Wir können unser Weltbild weiter verfeinern, indem wir ein geteiltes Stück nochmals teilen. Haben wir beispielsweise eine Unterscheidung in »essbar« und »nicht essbar« vorgenommen, dann lässt sich die erste Gruppe nochmals in »schmackhaft« und »eklig« unterteilen. Die Zweiteilung beschreibt einen rekursiven Prozess: Das Resultat jeder Teilung kann wiederum geteilt werden. Durch die Rekursivität sind wir glücklicherweise in der Lage, mit dem primitiven Mittel der Zweiteilung doch noch überaus nuanciert auf die Welt zu blicken.

Nicht alle Zweiteilungen sind gleich gewichtet, überwiegend wird in unterschiedlich große Stücke geteilt. So gibt es für die meisten Menschen in der Kategorie »essbar« wesentlich weniger schmackhafte als nicht schmackhafte Lebensmittel. Diese Art der Zweiteilung sagt auch nichts über den Inhalt der Teile aus: Der eine findet geschmorten Schweinedarm lecker und bekommt einen Brechreiz, wenn er an Hamburger denkt, während für einen anderen das genaue Gegenteil gilt. Einem Vegetarier hingegen graust es vor beidem. Wer eine derartige Zweiteilung vornimmt, bestimmt selbst, wie viel und was zur einen und was zur anderen Seite gehört.

Außer diesen willkürlich vorgenommenen Zweiteilungen bestehen auch symmetrische Zweiteilungen. Dabei werden immer zwei etwa gleich große Gruppen oder Teile gebildet, wobei zusätzlich bestimmte Anforderungen an die Charakteristika beider Hälften gestellt werden, die unabhängig von demjenigen gelten, der die Verteilung vornimmt. Beispiele dafür sind vorn/hinten und unten/oben. Die obere Hälfte eines Menschen reicht ungefähr vom Scheitel bis zum Nabel und nicht vom Scheitel bis zu den Knien. Der untere Teil eines Hundes umfasst alles von den Zähnen entlang einer imaginierten Linie vom Brustbein bis zum Anus. Der Schwanz gehört typischerweise nicht zum Unterteil des Hundes, auch nicht, wenn er herunterhängt. Für Vorder- und Rückseite gilt Ähnliches, und auch damit teilen wir Menschen, Tiere oder Gegenstände in zwei Hälften ungefähr gleichen Umfangs ein.

Bei den meisten symmetrischen Zweiteilungen muss sich der Inhalt der einer Hälfte deutlich und entscheidend vom Inhalt der anderen Hälfte unterscheiden. Ein Ball an sich hat keine Unterseite und auch keine Rückseite; wenn wir dennoch von der Rückseite eines Balles sprechen, dann meinen wir damit keinen bestimmten Teil, sondern den Teil, der von uns aus betrachtet gerade nicht zu sehen ist. Bei einem Baum dagegen können wir unten und oben eindeutig bestimmen. Selbst wenn wir ihn auf den Kopf stellten, würden Wurzelwerk oder Stamm immer den unteren Teil des Baumes bilden. Eine klar definierte Vorder- und Rückseite hat ein Baum aber ebenso wenig wie ein Ball.

Das Paar links/rechts ist ein besonderer Fall symmetrischer Zweiteilung. In der sichtbaren Natur besitzen die meisten Lebewesen eine durch ihre Funktionen wie ihr Aussehen deutlich unterscheidbare Ober- und Unterseite. Bei den meisten Tieren, so bei fast allen Wirbeltieren, lassen sich auch Vorder- und Rückseite klar unterscheiden. Die zwei Dimensionen lassen sich an einem deutlichen Kriterium ausmachen. Die Schwerkraft definiert die vertikale Dimension, während wir vorn und hinten mit »zu uns hin« und »von uns weg« in Verbindung bringen. Bei unbeweglichen Gegenständen ist das die Seite, die wir gewöhnlich sehen, wenn wir uns darauf zubewegen. Darum ist die Vorderseite eines Hauses für uns die zur Straße gehende Seite, an der wir als Besucher klingeln. Die Vorderseite eines Hundes oder Schiffes ist das, was wir sehen, wenn diese sich auf uns zu bewegen, die Rückseite einer Bohrmaschine ist das, was wir sehen, wenn wir sie von uns weg in ein Brett oder eine Mauer drücken.

Derartige Kriterien gelten in Bezug auf links und rechts nicht, sodass wir uns mit dem Begriffspaar immer etwas schwertun. Hinsichtlich ihrer Links-Rechts-Achse sind Tiere und Pflanzen mehrheitlich symmetrisch (das ist nicht dasselbe wie die monotone Gleichheit ohne Eigenschaften bei den verschiedenen Teilen eines Balles, wo linke und rechte Hälfte in der Regel einander entgegengesetzt und doch haargenau gleich sind). Und doch ist unsere Händigkeit ein unumstößlicher Beweis dafür, dass Gleichförmigkeit noch keine Gleichwertigkeit bedeutet. Kein Wunder also, dass dies den Menschen, diesem geborenen Zweiteiler, schon lange beschäftigt und dass links, rechts und Symmetrie eine wichtige Rolle in menschlichen Hervorbringungen wie der Kunst, der Schrift und der weltanschaulichen Symbole spielten.

3

Gegenpole und Widersprüche

Tief im Nebel der Zeit, vor mehr als dreitausend Jahren, muss Griechenland von einem Bauernvolk bewohnt gewesen sein, das Erdgötter verehrte. Zuoberst stand dabei die Erde selbst, die fruchtbare Mutter, aus der alles Leben entspringt. Daher wird vermutet, dass es sich um ein matriarchalisches Volk handelte, in dem eng mit Mutter Erde verbundene Frauen das Sagen hatten. Wie dem auch sei, eines unseligen Tages fielen indoeuropäische Nomaden in Griechenland ein. Dieses kriegerische Volk, das ein ganz anderes Weltbild hatte, brachte mühelos die alteingesessene Bevölkerung unter seine Herrschaft. Die Erde spielte in ihrer Vorstellung nur eine untergeordnete Rolle; die weite Ferne, Reisen, Jagd und Kämpfe waren ihnen weitaus wichtiger. In ihrer Gesellschaft hatten die Männer das Sagen. Wie immer und überall, so war auch bei den Indoeuropäern die Götterwelt ein Abbild ihrer eigenen Welt. Ihre Götter waren vornehmlich Männer, die Kräfte wie Sonne, Licht und Wind personifizierten. Sie saßen nicht in der warmen Finsternis der Erde, sondern hoch oben im Himmel.

Die Eroberer ließen sich dauerhaft nieder und vermischten sich nach und nach mit der einheimischen Bevölkerung. Nach einiger Zeit erinnerten nur noch Geschichten an die so dramatischen Ereignisse von einst, Geschichten, von denen irgendwann niemand mehr sagen konnte, ob sie der Wahrheit entsprachen oder erfunden waren. So verwandelte sich Geschichte mit der Zeit in Mythen. Menschen wurden zu Helden, und Helden nahmen immer stärker göttliche Züge an.

Etwas Ähnliches geschah mit den Götterwelten. Religion ist zäh, und statt zu verschwinden, vermischten sich viele Elemente des alten Erdkults mit denen der neuen indoeuropäischen Götterwelt. In der klassischen Mythologie ist dieser Prozess noch zu erkennen an den wunderlichen und teilweise widersprüchlichen Familienverhältnissen zwischen einigen Göttern und Halbgöttern.

Das Ergebnis ist eine zweipolige Götterwelt, beherrscht von den olympischen Himmelsgöttern unter Führung von Zeus. Darin spielen alte Gottheiten wie Poseidon, der die Erde erbeben lassen kann, die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, was wörtlich übersetzt »Mutter Erde« bedeutet, und der über die Unterwelt herrschende Hades eine wichtige Rolle. Zahlreiche andere Kulte wie die Verehrung der Mondgöttin Kybele erlangten keinen derart herausragenden Platz in der »offiziellen« Religion. Sie nahmen den Charakter von Mysterienkulten an, die man mit Argwohn betrachtete und die ausgerottet werden mussten, auch wenn dies irgendwann niemand mehr recht begründen konnte. In der Folge wurden Dunkelheit, Weiblichkeit, Erde und Fruchtbarkeit wie selbstverständlich mit Heimlichkeit, Bedrohung, Schlechtigkeit und Magie in Verbindung gebracht.

Die aus Asien stammenden Indoeuropäer kamen nicht nur bis Griechenland, sie breiteten sich über ganz Europa und Richtung Westasien bis nach Indien aus, wo sie ihre Normen und Wertvorstellungen durchsetzten. Diese mischten sich wiederum mit Elementen der von ihnen eroberten Kulturen. So entstanden in diesem riesigen Gebiet Mythologien und Religionen, die sich im Grunde stark ähnelten. Ob er nun wie im Griechischen Zeus hieß oder wie im Sanskrit den Namen Dyar Pitar erhielt – dem wir im Lateinischen als Jupiter begegnen – oder Tiu, wie ihn die Germanen nannten –, der höchste Gott ist immer ein Mann. Es ist ein Vater, der hoch im Himmel thronend mit Sonne, Blitz und Donner und anderen Himmelsphänomenen in Verbindung steht. Ihm gegenüber stehen die unterirdischen Kräfte der Dunkelheit. Sie sind meist suspekt und stehen immer an zweiter Stelle, sind gleichwohl nicht unbedeutend.

Die Apostel und Missionare, die später das Christentum nach Europa brachten, hatten ihre Freude daran, denn auch sie hatten schließlich Gott Vater, der im Himmel saß, im Gepäck. Und auch er sendet keine zufälligen Blitze aus. Das Fundament, eine verständliche Symbolik, in der Begriffe wie Mann, Herrscher, gut, Licht und Himmel wie im Christentum eine Einheit bildeten, war für sie schon bereitet. Aus dem irdischen, finsteren Gegenpol konnte sich mühelos das Bild vom Teufel entwickeln. Bis heute lebt die Symbolik in westlichen Kulturen auf verschiedene Art und Weise fort, etwa bei der Babykleidung. Jungen werden blau gekleidet, in der Farbe des Firmaments, Mädchen dagegen rosa, das dem Blut und der Erde verwandt ist.

Als die ersten Denker, die Wissenschaftler des Altertums, die Erscheinungen in ihrer Welt zu deuten versuchten, konnten sie auf keine bestehende Tradition zurückgreifen. Alles musste im wahrsten Sinne des Wortes neu gedacht werden, und das, obwohl ihnen dafür kaum Begriffe zur Verfügung standen. Sie konnten lediglich auf die bestehenden religiösen Symbolsysteme und ihr eigenes, dualistisch geprägtes Denken zurückgreifen, das Vermögen zur Zweiteilung und Polarisierung. Daraus bildeten sich neue Systeme der Gegensätze, aber es wurden auch Zusammenhänge sichtbar, die ihnen zeigten, wie die Welt aufgebaut ist.

Einer der führenden frühen Gelehrten war Pythagoras, der um 530 v. Chr. in Kroton, einer griechischen Kolonie an der Ostküste des italienischen Stiefelabsatzes eine philosophische Schule gründete. Heute ist Crotone ein abgelegenes Provinznest, damals jedoch war es eine vor Kreativität und Erfindungskraft strotzende, hochmoderne Stadt. Sie war so modern und reich, dass man von überall her professionelle Läufer und Ringer engagierte, mit denen die Stadt Mal um Mal bei den Olympischen Spielen Triumphe feierte. Der Sport spielte eine so bedeutende Rolle, dass die Stadt deswegen sogar mit dem Rivalen Sybaris Krieg führte. Pythagoras und seine Schüler stellten unter anderem mathematische Grundsätze auf und formulierten Prinzipien für das, was wir heute Musiklehre nennen würden. Für Pythagoras drehte sich in der Welt alles um Zahlen und zahlenmäßige Verhältnisse zwischen ganzen Zahlen. Saitenlängen korrespondierten mit Tonhöhen und »schöne« Verhältnisse zwischen den Saitenlängen mit dem harmonischen Zusammenspiel von Tönen, die sie erzeugten. Ausgehend von dieser Idee wurde das Wesen weiterer Dinge in Zahlenverhältnisse gebracht. Die Zahl 5 etwa stand für die Ehe; sie war die Verschmelzung der kleinsten geraden und der kleinsten ungeraden Zahl größer als 1. Die Eheschließung verband 3 mit 2, Mann mit Frau und ungerade mit gerade.

Später mussten Pythagoras und die Seinen aus der Stadt Kroton fliehen. Viele Jahre nach seinem Tod wurden auch seine Schüler verfolgt. Dass seine Arbeit tradiert wurde, ist nicht antiken italienischen Sportfans zu verdanken, sondern Leuten wie dem großen griechischen Philosophen Aristoteles. Er übernahm in seiner Metaphysik die von Pythagoras aufgestellte Tafel der Gegensätze. Dort finden sich unter anderem folgende Gegensatzpaare:

gerade

ungerade

weiblich

männlich

dunkel

hell

schlecht

gut

kalt

warm

krumm

gerade

links

rechts

Hieraus lässt sich deutlich die männliche Dominanz ablesen, Pythagoras assoziiert sie mit »gut«. Der weibliche Gegenpol, die Frau, wird mit dem Gegenpol von »gut« assoziiert, wodurch die Verbindung von Weiblichkeit mit Schlechtigkeit endgültig zur Tatsache wird. Licht, Sonne und Himmel sind eng mit den dominanten männlichen Gottheiten in den indoeuropäischen Kulturen verbunden, Finsternis und Erde werden traditionell der weiblichen Seite zugerechnet. Die uralte Verbindung des nächtlichen Mondes mit dem weiblichen Menstruationszyklus und dem Rhythmus des Landbaus erscheint da ganz natürlich.

Nachvollziehbar ist auch, warum »kalt« mit dem Weiblichen assoziiert wird, »Licht« und »Sonne« und damit auch »Wärme« hingegen mit dem Männlichen, sodass der Gegenpol automatisch der Damenseite zugerechnet wird. Etwas schwieriger ist die Zuordnung von »gerade« und »krumm«. Als mögliche Erklärung mag gelten, dass in der Natur mit bloßem Auge kaum eine gerade Linie auszumachen ist. Gerade Linien sind typisch für vom Menschen gefertigte Dinge. Somit war es ein Stück harte Arbeit, Dinge mit geraden Formen zu schaffen, und wenn etwas schiefging, wurde das Werkstück auch noch krumm. Folglich musste etwas, das gerade war, auch gut sein, sonst würde der Mensch sich nicht so viel Mühe damit geben. »Gerade« gehört also in dieselbe Kategorie wie »gut«, also auf die männliche Seite, während »krumm« der weiblichen Gruppe zugerechnet wird.

Schon in diesem frühen Symbolsystem steht »rechts« in derselben Gruppe wie »gut«. Lange ging man davon aus, dass dies der Sonnenverehrung geschuldet sei. Viele frühere Völker orientierten sich nach Osten, wo die Sonne aufgeht. In der arabischen Welt ist das noch heute so. Wenn der Osten oben auf der Landkarte liegt, dann ist Süden, dort, wo die Sonne Wärme und Leben spendet, auf der rechten Seite. Folglich könnte diese Seite zur guten Seite geworden sein und wurde mit Licht, Wärme, Leben, göttlichem Beistand und vielem mehr assoziiert. Die Polarisierung sorgte für den Rest.

Doch diese Erklärung kann nicht stimmen, da auf der südlichen Erdhalbkugel die Sonne ebenfalls von Osten nach Westen wandert, doch statt durch den Süden führt ihr Weg durch den Norden. Auf der Südhalbkugel müsste demnach links als die gute Seite gelten, doch davon kann keine Rede sein. Links und rechts werden dort genau wie bei uns eingeordnet.

Dass Völker überall auf der Welt mehrheitlich dieselbe Einteilung nutzen – links gleich »schlecht« und »weiblich«, rechts gleich »gut« und »männlich« –, legt eine andere Erklärung nahe, nämlich die Dominanz der Rechtshänder und der Männer. Rechtshänder sind in allen Völkern in der Mehrheit. Es ist also fast unvermeidlich, dass rechts eher mit »gut« in Verbindung gebracht wird als links. Auf diese Weise wähnen sich die meisten Menschen auf der guten Seite. Außerdem sind fast alle Völker patriarchal aufgebaut. Wenn »rechts« sich also mit »gut« verband, dann musste es folglich dem Männlichen zugeordnet werden. Oder eben den guten Göttern. Oder, wie im Fall der Juden, mit einem namenlosen Gott, der keinen anderen neben sich duldet. Der Name, mit dem wir noch immer Gottes größten Widersacher bezeichnen, Satan, ist eine Verballhornung des talmudischen Samael. Und dieser Name wiederum leitet sich aus dem Wort se’mol ab, was links bedeutet.*

Paradoxerweise wurde »links« nicht nur mit Schlechtigkeit, sondern gleich auch mit dem Weiblichen assoziiert, obwohl Linkshändigkeit bei Männern häufiger als bei Frauen zu finden ist, sodass es eigentlich als männliche Eigenschaft gelten muss. Dies scheint nie jemandem aufgefallen zu sein, und daran zeigt sich, dass es egal ist, ob sich ein auf Symbolen gründendes Weltbild mit unseren Erfahrungen deckt. Es geht mehr um die Illusion, die Welt zu verstehen und zu beherrschen, als um ihre getreue Abbildung. Ein solches Wertesystem darf die abstrusesten Widersprüche enthalten. Die Tabelle von Pythagoras verbindet »Frau« mit »kalt« und »Finsternis«, typische Merkmale des Todes, während die Frau noch immer als Symbol der Fruchtbarkeit und Quelle neuen Lebens gilt. Symbolische Wertesysteme schaffen Ordnung im Chaos der Welt, ohne dass damit echte Konsequenzen verknüpft sein müssen.

Durch die Jahrhunderte hinweg hatten diese symbolischen Wertesysteme großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Welt und haben ihn noch immer. Sie bildeten die Grundlage tief verwurzelter Normen und Traditionen. Frauen haben stark darunter gelitten, in geringerem Maße auch die Linkshänder. In einigen Kulturen ist links, und vor allem die linke Hand, tabu. Während in großen Teilen Europas jemand, der mit der linken Hand isst, höchstens etwas seltsam beäugt wird, gilt Essen mit der linken Hand unter anderem in der Welt des Islams als völlig unakzeptabel.

*Das lateinische Wort sinister erfuhr erst später seine düstere Nebenbedeutung. Es wurde von sinus abgeleitet, einer Falte auf der linken Seite der römischen Toga, die als Tasche dient. Sinister bedeutete also anfänglich nur »an der Taschenseite«.

4

Tabus, Sex und Handarbeit

In arabischen Ländern haben die linke und die rechte Hand verschiedene Funktionen. Auch dort ist die Mehrheit der Bevölkerung rechtshändig, sodass mit der rechten Hand traditionell die wichtigsten Dinge wie Essen, Schreiben und Grüßen ausgeführt werden. Die linke Hand ist den schmutzigen Arbeiten vorbehalten, etwa dem Säubern des Anus. In einer Kultur, in der häufig mit den Händen gegessen wird, ist diese Trennung durchaus sinnvoll, vor allem in warmen Klimazonen, in denen der Islam seinen Ursprung und seine größte Verbreitung hat. Doch Menschen sind nun einmal Menschen, ein Verbot selbst aufgrund rationaler Gründe hält sie nicht von einer Übertretung von Normen ab. Viel besser ist da ein Tabu, ein Verbot, das auf undefinierbarer Angst beruht. Und ein Tabu ist genau das, was dort entstand: Die linke Hand wurde tabu, sie galt fortan als unrein.

Manche behaupten, dass in der islamischen Welt die unreine linke Hand auch die Hand fürs Liebesspiel sei. Verlässliche Informationen darüber gibt es kaum, aber vermutlich stimmt das nicht. Zunächst einmal sind die Regeln für den Gebrauch der Hand eine Frage der Etikette: Was nicht mit der bevorzugten Hand ausgeführt werden darf, muss anerzogen werden. Doch für Europa wie in islamischen Ländern gilt, dass Sex umso stärker geleugnet wird, je traditioneller das Moralempfinden ist. Wo Jungen die Mädchen nicht einmal richtig anschauen dürfen, wird ihnen erst recht nicht gesagt, mit welcher Hand sie ihrer Frau oder Freundin unter den Rock greifen dürfen. Umgekehrt ist es nicht besser. Ein anständiges Mädchen fasst keinen Jungen an, weder mit der linken noch mit der rechten Hand. Auf diese Weise macht das eine Tabu das andere unwirksam.

Natürlich geben sich die meisten Menschen dem Liebesspiel hin, doch dessen Regeln müssen sie selbst entdecken, in aller Heimlichkeit. Dabei spielen Verhaltensregeln eine wesentlich geringere Rolle als unsere körperlichen Möglichkeiten und Grenzen. Viel hängt dabei von der Stellung des Partners ab; schließlich muss man mit der linken Hand auch an die gewünschte Stelle kommen, und das gelingt nicht immer.

Ich habe dazu eine Umfrage gemacht, aus der kein direkter Zusammenhang zwischen Lieblingshand (beim Sex zu zweit als auch beim Masturbieren) und Schreibhand hervorging. Wer mit links schreibt, bevorzugt auch in der Liebe die linke Hand, aber nicht zwingend. Allerdings zeigen Menschen insbesondere beim Masturbieren genau wie beim Schreiben eine deutliche Vorliebe für eine bestimmte Hand: mit der anderen geht es einfach nicht. Wenn also die Präferenz so stark und so unabhängig ist, dann fällt es schwer zu glauben, dass Menschen, aus welcher Kultur auch immer, diese negieren, wo ihnen doch gerade auf sexuellem Gebiet niemand ausdrückliche Anweisungen gibt.

Auf den ersten Blick eine Ausnahme bilden die Kaguru, ein Volksstamm in Tansania. Dort können junge Männer anscheinend offen über Sex sprechen. Sie prahlen damit, wie gut es ihnen im Bett gelingt, die linke Hand zu benutzen, während die Frau ihre rechte nutzt. So kann der Mann die Frau nach Herzenslust befingern, ohne seine reine rechte Hand zu benutzen. Eine solche Geschichte wirft die Frage auf, ob es allein um die unreine linke Hand oder vielmehr um eine Machtdemonstration gegenüber der Partnerin geht. Jedenfalls muss sie, im Umkehrschluss, ihn mit ihrer sauberen rechten Hand berühren, ob es ihr nun gefällt oder nicht. In jedem Fall verbirgt sich darin eine Erniedrigung. Die Vermutung, dass es mehr um reines Machogehabe als um strenge Auffassungen zu Reinheit und Unreinheit geht, wird bestätigt, wenn man hört, dass dieselben jungen Männer unumwunden zugeben, dass es um ein recht vages Ideal geht, für das sie sich in der Praxis nicht besonders anstrengen müssen.

Tabus und Verhaltensregeln haben nicht überall das gleiche Gewicht. Allgemein kann man sagen: Je formeller die Situation, umso strenger die Regeln. Das ist einleuchtend, denn je offizieller und formeller die Umstände sind, desto weniger sind die Teilnehmer untereinander vertraut und desto schwieriger fällt es, ein Missverständnis aus der Welt zu schaffen. Deutlichkeit und Vorhersehbarkeit sind in heiklen Situationen von großer Bedeutung, und so halten wir uns an ein strenges Protokoll von Ritualen und Symbolen. Wer diese Regeln missachtet, bringt das gesamte Kartenhaus zum Einsturz. So lässt sich erklären, dass ein hoher Würdenträger zu Hause ungeniert Winde lässt, in der Nase popelt und sich ordentlich am Kopf kratzt, in seiner gesellschaftlichen oder beruflichen Funktion jedoch niemals ein derartiges Benehmen an den Tag legen würde.

Was fürs Nasebohren gilt, gilt auch für das Tabu der linken Hand, was zu ihrer Schande auch die britische Regierung im Zweiten Weltkrieg erleben musste. Als Premierminister Churchill und der amerikanische Präsident Roosevelt zu Beratungen mit König Ibn Saud nach Saudi-Arabien reisten, mussten natürlich auch Geschenke getauscht werden. Churchill versprach seinem Gastgeber einen gepanzerten Rolls-Royce, damit er sich endlich geschützt und modern fortbewegen konnte. König Saud war höchst erfreut, wenn auch aus einem anderen Grund: Das Auto würde sich vorzüglich für die Jagd eignen. Doch als der Wagen geliefert wurde, stellte sich heraus, dass er für Ibn Saud nicht in Frage kam. Wie bei allen englischen Wagen war das Steuer rechts, sodass der König beim Jagen links neben seinem Chauffeur hätte sitzen müssen – völlig undenkbar für den König einer Welt, in der wie bei uns der Ehrenplatz immer rechts ist. Der enttäuschte Saud schenkte das Prunkstück seinem Bruder Abdullah, dem solche Überlegungen weniger Kopfzerbrechen bereiteten.

Der Rolls-Royce von Ibn Saud war ein diplomatischer Fauxpas ersten Ranges, der hätte vermieden werden können, wenn man im britischen Außenministerium kurz nachgedacht hätte. Aber manchmal verbirgt sich eine Beleidigung dort, wo man sie kaum vermutet. So reiste 1762/63 eine vom dänischen König Frederik V. entsandte Expedition aus vier Wissenschaftlern und einem Maler durch den Südwesten der arabischen Halbinsel, dem Gebiet, das auf Arabisch Jemen, wörtlich »das Land des Südens«, jedoch in Europa Arabia Felix, das Glückliche Arabien, genannt wurde. Die Gruppe sollte die Region kartieren, neue Kontakte knüpfen und möglichst viele Informationen über Land und Leute sammeln.

Eine Karte der Arabischen Halbinsel um etwa 1800. Darauf abgebildet das Gebiet, das heute Saudi-Arabien sowie die Emirate im Südosten umfasst und damals »Ayman« bzw. der »Arabia Felix« zugerechnet wurde. Eigentlich bezeichnet dieser Name nur das Gebiet in der linken unteren Ecke, das heutige Jemen.

Die Expedition endete in einer Katastrophe, der Geograf Carsten Niebuhr kehrte nach vielen Irrfahrten als einziger Überlebender wieder nach Hause zurück und beschrieb in seinem 1776 erschienenen Buch Eine Reise nach Arabien und in andere umliegende Länder seine Erlebnisse. Niebuhr äußerte sich darin sehr positiv über die Araber. Wer sich ihnen gegenüber respektvoll zeige, könne mit ihrem Respekt rechnen, schrieb er. Spätere Expeditionen waren daher sehr überrascht von der spröden, unfreundlichen Art, mit der man ihnen begegnete. Wie sich herausstellte, lag der Grund dafür in den von Niebuhr angefertigten Karten, die, wie in Europa üblich, nach Norden ausgerichtet waren, sodass Jemen links von Arabien lag. Die Jemeniten fassten das als Beleidigung auf. Ein rechtschaffender Araber orientiert sich nach Osten, sodass Jemen, im Südwesten liegend, auf der besseren rechten Seite der Karte zu liegen hat. Genau deshalb hieß das Land in der lateinischen Welt Arabia Felix. Auf Niebuhrs Karten lag es nun an der vermaledeiten linken Seite.

Zum Namen Jemen gibt es übrigens ein Pendant. Das arabische Wort für Syrien ist Sam, ein Name, der mit simâl (was für Norden oder links steht) und mit dem Verb sa’ama verwandt ist, das so viel wie »Unglück bringen« oder »links abbiegen« bedeutet, doch im Laufe der Zeit eine dritte Bedeutung erfahren hat: »nach Syrien gehen«. Der Zusammenhang mit Unglück findet sich auch in verschiedenen Ausdrücken und Redewendungen, wenn es um die unangenehmen Wüstenwinde aus dem Norden geht.

Die arabische Kultur ist nicht die einzige, in der ein großes Tabu über links und Linkshändigkeit liegt. Japan, nicht gerade als Vorbild für Flexibilität und Toleranz bekannt, ist wahrscheinlich am schlimmsten. Linkshändigkeit war und ist dort völlig unakzeptabel. Frauen verbargen ihre »Abweichung« vor ihren Ehemännern, da Linkshändigkeit ein Grund sein konnte, verstoßen zu werden. Eine unlängst erfolgte Befragung unter japanischen Schülern ergab, dass nur zwei Prozent mit der linken Hand schreiben, während überall sonst der Anteil der Linkshänder bei etwa zehn Prozent liegt. Die japanischen Wissenschaftler waren überzeugt, dass die niedrige Zahl dem besonderen Charakter der japanischen Schriftzeichen zuzuschreiben ist, die nur mit der rechten Hand geschrieben werden können. Das mag zutreffen, aber vermutlich liegt die Ursache auch an dem repressiven japanischen Schulsystem, das das Schreiben mit der linken Hand nicht toleriert. Womit daran erinnert sei, dass früher auch in Europa und den Vereinigten Staaten viel weniger Menschen mit links schrieben als heute, nämlich wie in Japan nur etwa zwei Prozent. Erst seit Schulen nicht mehr derart streng auf die »richtige« Hand achteten, stieg die Zahl der Linksschreiber, um sich schließlich bei den magischen zehn Prozent einzupendeln.

Einige afrikanische Völker haben für links und Linkshändigkeit nicht viel übrig. Oftmals hängt das mit dem Einfluss des Islams zusammen, allerdings nicht immer. Bei Stämmen am Unterlauf des Nigers dürfen Frauen zum Kochen nur die rechte Hand benutzen, es sei denn, sie müssen beide gebrauchen. Die Ovambo in Namibia würden nie mit links auf etwas zeigen und fassen einen Gruß mit der linken Hand als Beleidigung auf. Der Stamm der Chagga schließt linkshändige Männer sogar von der Jagd und Kriegsführung aus; sie würden Unglück bringen, heißt es. Doch von der übelsten Geschichte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Runde machte, ist der Ursprung nicht zu ermitteln. Völker in Afrika sollen Kindern die Linkshändigkeit austreiben, indem sie die linke Hand in eine Kuhle eingraben und kochendes Wasser darüber gießen. Das so zugerichtete Kind kann sich fortan nur noch rechtshändig betätigen.

Dieser Geschichte ist mit Misstrauen zu begegnen, nicht nur, weil der Ursprung im Dunkeln liegt. Es lässt sich auch argumentieren, dass ein Naturvolk, das so fahrlässig mit den ihm zur Verfügung stehenden Händen umgeht, seine Überlebenschancen nicht gerade erhöht. Skepsis ist angebracht, wenn es um Geschichten aus unzugänglichen Gebieten geht. Häufig stammen die Informationen von einem einzigen Missionar, Abenteurer oder Anthropologen, dessen Aussagen nicht überprüft werden können. Vor allem während der Kolonialzeit betrachten diese Menschen die Welt zumeist durch eine stark europäisch-christlich gefärbte Brille und interpretierten vieles von dem, was sie sahen, vermutlich völlig falsch. Häufig sprachen sie nicht die Sprache der besuchten Völker. Wahrscheinlich haben diese einsamen Gold- und Ruhmsüchtigen, diese Diener des Herrn vieles gemutmaßt, romantisiert, übertrieben und oder auch nur erfunden. Zweifelsohne hielten sie einige zufällige Vorfälle für alltägliche Bräuche.

Ab und an haben Völker die sie untersuchenden Forscher auch bewusst und in bester Absicht in die Irre geführt. Die Fremden brachten Leben und Abwechslung mit, spannende Dinge und neue Bräuche. Solchen Leuten war man gern zu Diensten, denn dann blieben sie länger und gaben mehr. Wenn die Fremden Interesse an etwas zeigten, sollten sie auch etwas für ihr Geld bekommen. Es handelt sich gewissermaßen um eine Urform der modernen Tourismusindustrie, in der sich »Eingeborene« mit »traditionellen« Handwerken, Tänzen und Musikvorführungen präsentieren, die in dieser Form in ihrer Kultur nie eine Rolle gespielt haben.

Wie dem auch sei, von den zahlreichen beschriebenen Sitten und Bräuchen fehlte nach der Erschließung des afrikanischen Kontinents und anderer Länder jede Spur.

Beim Stamm der Ovimbundu in Südangola fühlt man sich durch eine Geste mit dem linken Arm schwer beleidigt. Der linke Arm wird mit geballter Faust nach oben gereckt. Die rechte Hand umfasst das linke Handgelenk und der linke Arm wird hin und her geschüttelt. Was soll diese Bewegung ausdrücken? Die Faust kann als Kopf desjenigen gesehen werden, der beleidigt werden soll, das Handgelenk ist dann sein Hals. Die andere Hand umfasst das Handgelenk mit ganzer Kraft, während das Schütteln zum Ausdruck bringt, dass der andere sich wehrt. In diesem Sinne ergibt sich eine eindeutige Aussage: Ich würde dich am liebsten erwürgen! Dass der linke Arm das Opfer darstellt, mag nicht weiter überraschen. Wie die meisten anderen Völker sind auch die Ovimbundu mehrheitlich Rechtshänder. Die rechte Hand übernimmt also das Würgen. Mit der Links-Rechts-Symbolik hat das Ganze daher nur am Rande zu tun und sollte nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten.

5

Liebe mit links

Der Zusammenhang von rechts und gut sowie links und schlecht mag sich überall auf der Welt finden, doch gibt es immer wieder Ausnahmen. Man findet sie vor allem in China, dem ältesten ohne Unterbrechung bestehenden Staatsgefüge der Welt.

Auf den ersten Blick scheint es im Reich der Mitte nicht anders zu sein als sonst wo auf der Welt. Auch am Gelben Fluss sind etwa neunzig Prozent der Bevölkerung Rechtshänder und zehn Prozent Linkshänder. Wie andernorts werden hier Linkshänder gezwungen, mit rechts zu essen und zu schreiben, doch im Unterschied zu uns hat das nichts mit einer negativen Einstellung zur linken Seite im Allgemeinen zu tun. Im Gegenteil, in vielerlei Hinsicht gilt links traditionell als die günstigere Seite. Im Prinzip werden Linkshänder nicht weniger geachtet als Rechtshänder, gleichwohl gibt es besondere, auf Traditionen beruhende Gründe, warum bestimmte Handlungen mit der rechten Hand ausgeführt werden müssen.

Ihr traditionelles Weltbild ermöglicht es den Chinesen, mit allen historisch bedingten Unvereinbarkeiten in ihrem Land gut umzugehen. Unsere eigene Symbolik fußt auf der statischen Unterscheidung von Gut und Böse, die gleichzeitig eine Beurteilung ist: Was zu Gut gehört, ist gut, was zu Böse gehört, ist bereits als schlecht definiert. Es sind zwei Pole, die sich gegenseitig abstoßen. Bei den Chinesen ist das völlig anders. Ihre Symbolik basiert nicht auf einem statischen Unterschied, sondern auf dem Gleichgewicht von Yin und Yang. Yin und Yang sind in gewissem Sinne zwar auch Gegenpole, münden aber nicht automatisch in ein Urteil: Yin ist nicht von vornherein gut und Yang schlecht oder umgekehrt. Wichtig ist, dass sie sich zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen.

Die Reihe von Symbolen, die mit Yin und Yang assoziiert werden, sieht verdächtig bekannt aus: Yang ist das Männliche. Dazu gehören Autorität, Luft, Atem, Licht und Sonne. Yin verkörpert unter anderem das Weibliche, Unterordnung, Blut und Erde. Doch damit enden die Parallelen. Denn überraschenderweise ist Yang mit der linken und Yin mit der rechten Seite verbunden – also genau anders herum als in westlichen Kulturen.

Ein Grund dafür ist, dass die Chinesen sich traditionell nach Süden orientierten. Kaiser, Könige und Edelleute empfingen ihre Vasallen auf einem Podium mit dem Gesicht nach Süden, um ihre enge Verbundenheit mit Sonne, Autorität und Yang zu zeigen. Die Seite des Sonnenaufgangs, der Osten, liegt dann links von ihnen, sodass damit auch der Osten und links zu Yang gehören.

Links ist in China auch der Ehrenplatz. Seinen Ursprung hat dies in der militärischen Tradition. Heerführer waren im alten China Bogenschützen, die ihre Soldaten von einem Streitwagen aus kommandierten. Die Führer mussten mit dem Gesicht nach Süden stehen, und so mussten alle Heere stets nach Süden marschieren. Das war nicht immer praktikabel, sodass ersatzweise auch vorn in der Kolonne eine rote Fahne gehisst werden konnte, die die Sonne symbolisierte. Und wo auf dem Streitwagen steht wohl der Kommandant?

Die Besatzung eines Streitwagens aus der Terrakotta-Armee von Kaiser Qin Shi Huang hinter ihrem Dreigespann. Wagen und Deichsel sind komplett zerfallen, ebenso die Lederzügel, die der mittlere Mann in Händen hielt. Rechts steht der Speerwerfer, seine linke Hand umfasst den nicht mehr existenten Speer, links der Kommandant, ein Bogenschütze. Da er seine Waffe abstützt, so wie ein moderner Soldat den Lauf seines Gewehres anlegen würde, war er vermutlich mit einer Armbrust ausgerüstet.

1974 fanden Bauern beim Pflügen unter einem Feld ganz in der Nähe von Xi’an in der Provinz Shaanxi zufällig die mehr als 7.000 Mann starke Terrakotta-Armee von Kaiser Qin Shi Huang, die gut 21 Jahrhunderte unter der Erde gewacht hatte, stets bereit, jeden Angriff auf das Grab des Kaisers abzuwehren. Neben Infanterie und einem vollständigen Kommandoposten umfasste das Heer mehr als hundert Streitwagen. Die Wagen aus Holz waren längst zerfallen, doch die lebensgroße Besatzung aus Ton hatte teils unbeschadet überlebt. Deutlich war zu erkennen, wie die dreiköpfige Besatzung eines Wagens gearbeitet hatte.

In der Mitte stand der Wagenlenker. Rechts von ihm war der Speerwerfer ideal positioniert, um auf seiner Seite Tod und Verderben zu bringen. Der Kommandant des Wagens stand auf der linken Seite. Das war für ihn als – meist – rechtshändigen Bogenschützen nicht der ideale Platz. Mit seinem rechten Ellbogen war er dem Wagenlenker im Weg, und er konnte nicht so gut seitlich heraushängend an den Pferden entlang nach vorn schießen. Doch die linke Seite ist die Yang-Seite. Und da vor dem Wagen der symbolische Süden liegt, fällt links praktischerweise mit dem symbolischen Osten zusammen, der ebenfalls Yang zugeordnet wird. Selbst bei einer zweiköpfigen Bemannung ohne Speerwerfer stand der Kommandant links vom Wagenlenker.

Aber wenn links so beliebt ist, warum werden Linkshänder in China dann nicht regelrecht verehrt? Warum wird Kindern beigebracht, konsequent mit der rechten Hand zu essen und zu schreiben? Um das zu klären, müssen wir uns in mythische Zeiten zurückversetzen und mit der Geschichte des chinesischen Pendants von Luzifer beschäftigen.

Einstmals, als die Welt noch jung und kaum bewohnt war, durfte China sich zu Recht als Land der Mitte betrachten. Es bildete das Zentrum, außerhalb davon war nicht viel. Es war eine übersichtliche Welt, ein ausbalanciertes und solide gebautes Haus. Die Erde bildete den Boden, genau darüber lag das Dach, der Himmel mit der Sonne in der Mitte und um sie herum die Sterne. Der Himmel wurde getragen von vier riesigen Säulen, eine im Nordwesten, eine im Südosten und je eine auf den zwei anderen Ecken. Der Kaiserthron lag im Zentrum des Universums, sodass die Sonne genau senkrecht über dem Palast stand und keinen Schatten warf. Von diesem prächtigen, sonnenbeschienenen Thron aus regierte der Kaiser das Reich mit Hilfe treuer und fähiger Minister.

Eines Tages probte einer der Minister, der böse Hong Kong, den Aufstand gegen den Kaiser. Er wurde gerade noch rechtzeitig bezwungen, die Weltordnung hatte er da jedoch bereits ernsthaft aus den Fugen gebracht, indem er die nordwestliche Himmelssäule, den Berg Pou-Tchou, in Stücke geschlagen hatte. Die Folgen waren gewaltig. Durch die fehlende Säule sackte der Himmel an der Westseite ab und die Erde neigte sich nach Osten, da im Nordwesten der Druck des Himmels weggefallen war. Und so kam es, dass Sonne und Sterne seitdem tagein, tagaus von Ost nach West wandern und Chinas Flüsse von West nach Ost strömen, wo aus den zusammenfließenden Wassern die Seen entstanden.

Außerdem hatte sich durch die unheimliche Gewalt die ganze Konstruktion verschoben – der Himmel nach Westen und die Erde nach Nordosten. So kommt es, dass der kaiserliche Palast seit der Zeit nicht mehr an seinem angestammten Platz steht, dem Äquator, gleichsam Mittelpunkt des Universums.

Fortan lag die Welt wie ein halb eingefallenes Haus da. Das Dach hing schief über dem Fußboden, im Westen ragte der Himmel ein Stück über die Erde hinaus, im Osten war er zu kurz, um die Erde zu bedecken. Kurzum: Das Universum ist im Westen am oberen Ende und im Osten an der unteren Seite zu kurz. In einem Weltbild, in dem alles, das Große wie das Kleine, letztlich eine Einheit bildet, hat das weitreichende Folgen, etwa für den menschlichen Körper, der nach traditioneller chinesischer Auffassung ein Abbild des Universums im Kleinen ist: Der runde Kopf entspricht der roten Sonne und die viereckigen Füße der viereckigen Erde. Wie ernst dieser Gedanke verfolgt wurde, wird an der Tatsache deutlich, dass es Tänzern am chinesischen Hof lange Zeit verboten war, einen Handstand zu machen: Damit hätten sie die Weltordnung im Wortsinn auf den Kopf gestellt, und das wäre das Letzte, was ein Kaiser dulden konnte.

Was für das Universum gilt, gilt auch für den Menschen. So fehlt auch ihm im oberen Teil ein Stück der Westseite. Aufgrund der Orientierung Richtung Süden ist das die rechte Seite. Im unteren Teil fehlt ihm entsprechend ein Stück des Ostens, also von der linken Seite. Da die Grenze zwischen oben und unten etwa auf Bauchnabelhöhe verläuft, werden Augen und Ohren der oberen Seite zugerechnet, Füße, Beine und auch Hände der unteren. In Ruhestellung hängen die Hände etwa auf Höhe der Schamgegend. Da das fehlende Stück rechts an der Oberseite sitzt, schätzen die Chinesen das linke Auge und das linke Ohr höher als die jeweiligen Gegenstücke auf der rechten Seite. Für Hände und Füße gilt genau das Umgekehrte: Der rechte Fuß und die rechte Hand sind besser angesehen als ihre Pendants, und mit der rechten Hand werden schwierigere Aufgaben wie Essen und Schreiben erledigt. Diese komplizierte Argumentation macht deutlich, dass die Chinesen zwar eine philosophische Ader haben, doch tief im Herzen pragmatisch bleiben. Denn so kann die linke Seite die Lieblingsseite sein, während die rechte Hand die Lieblingshand bleibt. Und das kommt den meisten Menschen sehr gelegen!

Dass die Bevorzugung der rechten Hand keinen moralischen, sondern eher einen praktischen Hintergrund hat, wird beim Blick auf die chinesische Version des Triumphzuges deutlich. Während des Rituals musste der siegreiche General in der rechten Hand ein Schwert und in der linken eine Flöte halten. Krieg ist ein Handwerk, ein blutiges, trauriges und Unglück bringendes. Krieg ist Yin. Die geschickte rechte Hand – ebenfalls Yin – darf diese Arbeit tun und wird entsprechend gewürdigt. Doch die wirkliche Hauptrolle übernimmt die linke Hand, die Yang ist. Triumphzüge markieren das Ende des Krieges, und ein gutes Ende noch dazu. Sie sind Symbol des beginnenden Friedens, und die linke Hand trägt sein Symbol: die Musik erzeugende, gewaltlose, Freude und Ruhe verbreitende Flöte.

Auch außerhalb Chinas werden die linke Seite und die linke Hand nicht immer negativ gesehen. In Ostafrika gibt es einen Stamm, die Wageia-Kavirondo, bei dem die linke Seite die glückbringende ist und die rechte diejenige, die Unglück herbeiführt. Wer sich vor Antritt einer Reise zweimal seinen rechten Fuß stößt, dem sei geraten, zu Hause zu bleiben. Geschieht dies mit dem linken, dann wird die Reise erfolgreich sein. Die bereits erwähnten Chagga, die Linkshänder von der Jagd und Kriegsführung ausschließen, sind etwas pragmatischer, wenn es um Füße geht. Stößt ein Chagga sich vor einer Reise den linken Fuß, dann verheißt das wenig Gutes, da der rechte Fuß als Glücksfuß gilt. Geht er trotzdem weiter und verläuft die Reise gut, dann ist bewiesen, dass doch sein linker Fuß sein Glücksfuß ist.

Die Massai, die berühmten Viehhüter der ostafrikanischen Savanne, glauben, dass die linke Hand mit Gesundheit verbunden ist, ein Aberglaube, der übrigens häufiger zu beobachten ist. Bei Neumond werfen die Massai einen Stein oder Stock mit der linken Hand weg und rufen dabei »Gib mir ein langes Leben« oder »Gib mir Kraft«. Sie haben auch eine besondere Farbsymbolik. Wie Pythagoras auf seiner Liste der Gegensätze assoziieren die meisten afrikanischen Völker rechts mit Licht und Weiß und links mit Dunkelheit und Rot. Bei den Massai ist es genau umgekehrt: Wer im Krieg einen Feind getötet hat, erwirbt das Recht auf eine Körperbemalung: links weiß, rechts rot.

Selbst im jüdisch-christlichen Denken war die Linkshändigkeit lange Zeit nicht negativ besetzt. Die Bibel erweckt zwar den Eindruck, sich eher rechts zu orientieren, doch das liegt vor allem daran, dass rechte Hand und rechte Seite so häufig Erwähnung finden und dass am Tag des Jüngsten Gerichts die Verdammten links in der Hölle verschwinden. Linkshändigkeit wird nur zweimal explizit erwähnt, beide Male im Buch der Richter und beide Male positiv. Ironischerweise handeln beide Stellen von Angehörigen des Stammes Benjamin, ein Name, der wörtlich übersetzt »Söhne des Südens« oder »Söhne der rechten Hand« bedeutet. Der Stamm verdankt seinen Namen dem Umstand, dass das Stammesgebiet, also das Gebiet um Jerusalem und Jericho, direkt südlich vom Land des Hauptstammes Ephraim lag und die alten Israeliten sich, wie im Nahen Osten üblich, nach Osten orientierten.