Louise - Ursel Bäumer - E-Book

Louise E-Book

Ursel Bäumer

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Beschreibung

Das Leben der jungen Louise Bourgeois ist geprägt von Arbeit und Pflichterfüllung. Schon früh zeichnet sie Motive für die Tapisserien der elterlichen Werkstatt, pflegt die schwerkranke Mutter und kümmert sich um den Haushalt, während der despotische Vater sie mit allem allein lässt. Jahre später wird die Zerrissenheit der Kindheit in ihren Kunstwerken Gestalt annehmen. So wie in der Spinnenskulptur Maman, benannt nach ihrer Mutter, die zeitlebens verlässlich Beschädigtes reparierte und erneuerte.

Ein Roman, der behutsam ein Frauenleben mit seiner Zeit und der Kunst verwebt und ein Buch über weibliche Selbstermächtigung durch die Kraft der Kunst.

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Seitenzahl: 197

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Die Autorin dankt dem Senator für Kultur für die Unterstützung des Romans durch das Bremer Autor*innenstipendium 2021. Außerdem gilt ihr Dank der Landesvertretung Bremen beim Bund für die Unterbringung im Gästehaus während ihres Arbeitsaufenthalts in Berlin 2022.

© 2023 NAGEL UND KIMCHE in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von picture alliance / dpa | Launette Florian, © The Easton Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Coverabbildung von picture alliance / dpa | Launette Florian E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783312012817www.nagel-kimche.ch

Zitat

Der schöpferische Impuls für alle meine Arbeiten der letzten fünfzig Jahre, für alle meine Themen, ist in meiner Kindheit zu suchen. Meine Kindheit hat nie ihre Magie verloren, sie hat nie ihr Geheimnis verloren, und sie hat niemals ihr Drama verloren.

Louise Bourgeois

Prolog

Ich war eine Raupe, die so lange Seide aus ihrem Maul zog, um ihren Kokon zu bauen, bis sie aufgebraucht war und starb.

Ich bin der Kokon.

Ich habe kein Ich.

Ich bin mein Werk.

Ich bin Les Bienvenus, die Skulptur in den Bäumen von Choisy-le-Roi, die Figur in der Spirale, die nicht weiß, wo oben und unten ist.

Wo soll ich ansetzen? Am Rand oder im Zentrum?

Nähere ich mich von außen, verschwinde ich im Wirbel und versinke im Chaos.

Beginne ich in der Mitte, werde ich an den Rand getrieben und bin sichtbar.

Wie viele Bewegungsimpulse gibt es in dieser Spirale? Und kehren sie dann einander um?

Ich bin Maman, die neun Meter hohe Spinnenskulptur aus Stahl und Bronze mit sechsundzwanzig Eiern aus Marmor im Beutel. Die Fruchtbare. Die Nährende. Die Geduldige. Die Beschützerin. Die Reparateurin.

Ich bin Choisy, das marmorne Elternhaus in einem Metallkäfig unter einer überdimensional großen Guillotine; Fallbeil der Gegenwart, das die Vergangenheit von mir abschneidet.

Ich bin Portrait, der aus Stoffen zusammengenähte Kopf, der am Fleischerhaken von der Decke eines Käfigs baumelt, mit sichtbaren Narben notdürftig zusammengehalten, mit hohlen Augen und offenem Mund.

Ich bin Femme Maison, der weibliche Torso mit einem Haus anstelle des Kopfes, eingesperrt und schutzsuchend gleichermaßen.

Ich bin The Destruction of the Father, die rote fleischige Höhle mit Phallusgebirgen, brustähnlichen Wölbungen und latexüberzogenen Knochenresten, Überbleibsel einer kannibalischen Mahlzeit.

Ich bin Filette, das männliche Geschlechtsteil aus Latex und Gips, das sich wie eine Puppe auf dem Arm herumtragen lässt.

Ich bin die geheimnisvolle Zelle, die sich dem Blick nur durch versteckte Lücken und Gucklöcher öffnet, das weiße Kinderhemdchen neben dem übergroßen schwarzen Mantel am Haken, die Eisenpritsche mit dunkler Flüssigkeit, die düsteren Schatten der Glasphiole.

Ich bin das Innere verborgener Räume, angefüllt mit rätselhaften Gegenständen: abgeschnittenen Füßen und Händen aus Marmor, Schröpfgläsern, Spiegeln, antiken Sesseln, aufgespießten Nadeln, abgerollten Wollfäden, Fetzen von Tapisserien und Gobelinstoffen, durchbrochenen weißen Blusen, Unterröcken auf dünnen Bügeln hinter Maschendraht, Chiffonsäcken, die wie abgezogene Häute von der Decke baumeln.

Ich bin der verbotene Ort des Schweigens, der einen anzieht, wie man von einem Abgrund angezogen wird, die Schwelle, die es zu übertreten gilt, um hinter eigene Geheimnisse zu kommen, der geheime Ort unter der Treppe, von dem aus das Kind ein mit roten Tüchern bedecktes Eisenbett beobachtet und die Schrift auf dem bestickten Kopfkissen zu entziffern versucht: Je t’aime.

Ich bin der Thron in The Confessional, die hoch aufragenden hölzernen Lanzen in Night Garden.

Ich bin No Exit, die Treppe, die ins Nichts führt.

Ich bin meine Kunst.

1

Von den vielen Räumen in unserem Haus in Antony war mir Papas Arbeitszimmer immer der geheimnisvollste, ein verbotener Ort, der mich anzog. Einmal den Füllfederhalter auf der Schreibtischablage verrücken, die Ledermappe mit den Rechnungen berühren, einen Kieselstein in die Hand nehmen und prüfen, wie schwer sich die Glücksmomente in seinem Leben anfühlen, denn jeder Stein der Sammlung in der Holzkiste stand für einen Augenblick des Glücks.

Wann immer die Tür einen Spalt offen war, habe ich hineingelugt, aber nie gewagt, den Raum zu betreten.

Aber jetzt, wo Maman schon so lange oben krank in ihrem Bett liegt und schläft, Papa unterwegs ist und ich dafür sorge, dass die Arbeiterinnen in der Werkstatt ihr Geld bekommen, die Abrechnungen stimmen und Arztrechnungen pünktlich bezahlt werden, sitze ich an seinem Eichensekretär, auf dem mit Vögeln und kunstvollen Blumenmustern bezogenen Sessel, und niemand hindert mich daran, Schubladen aufzuziehen, Papiere zu durchwühlen, eine Zigarrenkiste mit alten Fotos zu öffnen.

Papa als kleiner Junge auf einem Schaukelpferd. Der gleiche hohe Haaransatz, die gerade schlanke Nase, die blauen Augen.

Mein Glück, dass ich solche Ähnlichkeit mit ihm habe.

Schau doch, Louis, das Baby ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, wir nennen es Louise!

Ausgerechnet an Weihnachten muss ich auf die Welt kommen. Keine Austern, kein Champagner in Clamart mit den Großeltern, Papas Bruder Désiré, Madeleine und Jacques und Maurice und den anderen, auch dem Doktor habe ich das Fest verdorben.

Ich sehe, wie Maman beschwörend, besänftigend zu Papa hinüberschaut und erleichtert ist, als sich seine Miene bei dem Gedanken, dass ich aussehe wie er, sichtlich aufhellt.

Kein Junge also, sagt Papa und zwirbelt verstimmt an seinem Schnurrbart. Wieder kein Junge! Das dritte Mädchen! Noch einmal streicht seine Hand nervös über den Bart.

Und dann höre ich, wie er zärtlich Louis sagt, das i so in die Länge zieht, dass ein s kaum zu hören ist. Louison, Louisette, Lison noch einmal, als probierte er den Klang des Namens immer wieder neu aus, sehe, wie er ein weiteres Scheit Holz auflegt und noch eins, damit die große Wohnung mit vergoldeten Kronleuchtern, Tapisserien, antiken Möbeln und der gediegenen Holzvertäfelung am Boulevard Saint-Germain warm wird.

Niemand hindert mich heute daran, in seinem Sessel zu sitzen, zu träumen und aus dem Fenster in den Garten zu schauen, auf Obstbäume und Rosen, die jetzt im September nur noch vereinzelt blühen, aufs Gartentor, auf einen Weg, der an einem breiten Fluss entlangführt, auf mich als kleines Mädchen, wie ich dort mit meiner Schwester Henriette spiele, dass der Fluss über die Ufer getreten ist, wie in dem Jahr, bevor ich geboren wurde, als das Wasser am Pont d’Austerlitz die Achtmetermarke überschritt und die Fluten die Schultern des steinernen Zuaven am Brückenpfeiler des Pont de l’Alma umspülten. Als Paris Venedig glich, die Straßen nur mit Booten und Kähnen zu befahren waren.

Ich sehe die Seine unterhalb unseres Hauses. Das Wasser, das über die Kaimauer schwappt, den Weg überschwemmt, die Böschung hochsteigt bis zu unserem Garten, zum Tor, nach Bäumen greift, nach Dingen, die nicht fest verwurzelt sind, unser Haus erreicht.

Wie ich nachts wach liege und auf die Geräusche am Fluss horche, ihn wachsen, näher kommen höre, jede Nacht.

Und als würden tagsüber andere Gesetze gelten: wie ich mit Henriette am Ufer stehe, Menschen auf Schiffen zuwinke, die Bugwellen der Kähne beobachte. Wie wir spielen, das Floß, das wir uns aus herumliegenden Ästen gezimmert haben, würde uns bei Hochwasser retten, und wie wir es im Efeu hinter der Mauer verstecken, zwischen toten Fischen, roten Brombeerranken, Brennnesseln und Schöllkraut, unter den ausladenden Zweigen der Weiden. Wie Henriette sich auf das Plateau am Fluss hockt, den Möwen, die von der anderen Seineseite zu uns herüberfliegen, ihre leere Handfläche hinhält, als wolle sie sie füttern, und zurückzuckt, als sie so dicht über unsere Köpfe hinwegfliegen, dass sie Schatten werfen.

Ob Papa uns damals beobachtet hat? Ob er von meiner nächtlichen Angst wusste, der Fluss könnte sich plötzlich in einen mächtigen Strom verwandeln, alles überfluten und mich und uns alle in den Tod reißen?

Nein, ich glaube nicht, dass Papa unserem Spiel an der Seine jemals Beachtung schenkte. Ich glaube auch nicht, dass er von meiner Angst vor Flüssen weiß. Wir brauchen den Fluss für unser Geschäft mit Tapisserien.

Er fing erst an, mich wahrzunehmen, als ich für die Werkstatt Füße zu zeichnen begann, als wir schon längst nicht mehr in Choisy-le-Roi an der Seine, sondern in Antony an der Bièvre wohnten. In dem Jahr, als Papa und Maman händeringend einen Zeichner für die Kartons suchten, die als Vorlage beim Ausbessern der Teppiche nötig sind, weil Monsieur Gounaud ausfiel und die Aufträge dringend fertig werden mussten. Monsieur Gounaud, die Primadonna, der begehrte Zeichner, der gleichzeitig für die Gobelinmanufaktur in Paris arbeitete und kam, wann er Lust und Laune hatte. Die Amerikaner drängten, sie hatten gleich mehrere Teppiche im Laden in Paris bestellt. Mamans Angestellte, über zwanzig junge Frauen, liefen zu Hochtouren auf, mit Nadel und Wolle wurde ausgebessert, nur mit Wolle, keinesfalls mit Baumwollkettfäden, wie die es bei den Gobelins machten. Ich höre noch Mamans Stimme, so entschlossen und laut wie sonst nie. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie sonst mal laut geworden ist. Aber in dem Punkt war nicht mit ihr zu diskutieren.

Ist das klar, Louis, wir nehmen nur Teppiche, die vor 1830 gefertigt wurden, aus reiner Wolle und Seide, und wir benutzen nur natürliche Färbemittel, keine chemischen!

Sie ist die Chefin. Im Erneuern, im unsichtbaren Zusammenfügen, im Reparieren und Rekonstruieren.

Wie eine Spinne. Jeden Tag ein bisschen das reparieren, was gestern kaputtgegangen ist, nicht wahr. Wenn man lange genug lebt, wird man perfekt darin.

In dieser Hinsicht sind sie ein gutes Team. Papa stöbert die beschädigten Teppiche irgendwo auf Pferderücken, verlassenen Dachböden, in Scheunen oder Bauernhäusern auf, und Maman reinigt, fügt zusammen, repariert, stellt wieder her.

Und dann kam der Tag, an dem Monsieur Gounaud ausfiel und Maman mich zur Seite nahm.

Er ist so unzuverlässig, Louise. Versuch du es.

Du zeichnest doch dauernd. Wir könnten weitermachen, wenn du uns hilfst.

Papa lehnte gerade am Türrahmen seines Arbeitszimmers und schaute zu mir rüber, aber er sagte nichts.

Ich war mir unsicher, ob er so tat, als hätte er Mamans Aufforderung nicht gehört.

Mamans Stimme klang entschlossen, wie immer, wenn es ums Geschäft ging.

Du zeichnest doch dauernd, Louise. Wir könnten weitermachen, wenn du uns hilfst.

Ja, ich kritzelte in jeder freien Minute meine Gedankenfedern, wie ich sie nenne, irgendwohin. Ich tat es einfach, weil ich nicht anders konnte. Zeichnete auf lose Blätter, in Hefte oder meine Tagebücher. Es beruhigte mich, zu zeichnen und aufzuschreiben, weil es dem, was ich sah, was ich tat und dachte, eine Ordnung gab. Ich konnte darin blättern, mich vergewissern, dass es meine eigenen Eindrücke und Erinnerungen waren. Meine Regale waren voll von diesen Kritzeleien, und nun wollte Maman, dass ich für sie das tat, was für mich selbstverständlich war.

Schaut her, ich bin Louise, die zeichnen kann! Wie stolz ich vorm Spiegel stand und mich ansah.

Denn so viel stand fest, wenn ich für sie zeichnen sollte, dann hieß das erstens, dass ich zeichnen konnte, und zweitens, dass ich, obwohl ich erst zwölf Jahre und dazu noch ein Mädchen war, wertvoll und nützlich für sie werden könnte.

Monsieur Gounaud ist so unzuverlässig, Louise, versuch du es!

Du zeichnest doch dauernd. Wir könnten weitermachen, wenn du uns hilfst.

Bis dahin schien ich für Papa nicht sichtbar zu sein. Bei den täglichen Mahlzeiten versuchte er mich kleinzuhalten wie alle am Tisch oder schickte mich im Sommer, wenn ich mit Pierre im Zelt übernachtete, mit dubiosen Aufträgen durch die Nacht zum Haus.

Schämst du dich nicht, Louise, in deinem Alter solche Angst im Dunkeln zu haben?

Hol dir einen neuen Teller aus der Küche, Louise! Nun geh schon, hol den Salzstreuer aus der Vitrine!

Während Maman beschwichtigend auf ihn einredete:

Lass sie doch, Louis!

Aber er schüttelte ihre Hand ab.

Soll ich ihr das etwa durchgehen lassen? Ich will nicht, dass meine Kinder Angst im Dunkeln haben, und ich werde sie ihnen austreiben.

Ich tastete mich durch eine schwarze Wand zum Haus, selbst den Nachthimmel konnte ich nicht sehen, weil die Zweige der Obstbäume über mir ein Dach bildeten, manchmal schimmerte das Licht aus der Küche durch die Bäume.

Schämst du dich nicht, Louise, in deinem Alter solche Angst im Dunkeln zu haben?

Nein, ich schämte mich nicht, ich fürchtete mich.

Aber seit dem Tag, als Maman mir erklärte, wie wichtig es für sie sei, wenn ich Füße zeichnete, Füße, die den Figuren auf den Bildteppichen oft ganz fehlten oder die beschädigt waren, weil die schweren Tapisserien in den großen Sälen der Schlösser wie eine bewegliche Architektur hin und her geschoben worden waren, da spürte ich, wie sich etwas veränderte.

Als ich anfing, Füße als Bildvorlage für die Arbeit in der Werkstatt zu zeichnen und alle sie wunderbar fanden, Monsieur Gounaud plötzlich überflüssig wurde und die Amerikaner ihre Teppiche durch mich pünktlich restauriert erhielten, bemerkte ich es zum ersten Mal.

Ich saß gerade auf dem Sofa und kritzelte in mein Tagebuch, und als ich aufschaute, sah ich, dass Papa mich vom Flur aus beobachtete, und dann hatte er es plötzlich so eilig, dass er fast die Lampe auf dem Schränkchen im Flur umgerissen hätte. Wie ungelenk er versuchte, sie wieder aufzurichten und das Spitzendeckchen darunter glattzustreichen. Wie hastig er im Arbeitszimmer verschwand, die Tür etwas zu laut schloss und wenig später einen Arbeiter zu sich rief und brüllte:

Worauf warten Sie eigentlich? Warum sind die Teppiche immer noch nicht verladen?

Und noch Tage später hatte ich den Eindruck, er könnte mir nicht ins Gesicht sehen, als hätte er etwas von sich preisgegeben, was er schützen wollte.

2

Haben Sie die Teppiche immer noch nicht verladen? Worauf warten Sie eigentlich?

Ich bin hier der Herr im Haus!

Der gleiche hohe Haaransatz, die hellen Haare, blauen Augen, die gerade schlanke Nase. Dass ich solche Ähnlichkeit mit ihm habe, sichert mir meine Sonderstellung als seine Vertraute vor Henriette und Pierre, obwohl ich kein Junge bin.

Und, Louise, vergiss nicht, Maman die Medikamente zu geben und täglich Fieber zu messen morgens und abends, hörst du! Schreib mir jeden Tag, wie es ihr geht! Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück, und dann bring ich dir etwas Schönes mit. In Italien gibt es wunderbare Stoffe. Oder möchtest du einen Seidenschal oder schicke Lederschuhe aus Spanien?

Und ich stehe da, gebe keine Antwort, mache eine vage Bewegung auf ihn zu, als wollte ich ihn zurückhalten, und erst als er endlich mit seinem schwarzen Chrysler über den Kies durchs Tor auf die Straße Richtung Paris rollt, hänge ich mich so weit aus Mamans Schlafzimmerfenster, dass ich fast das Gleichgewicht verliere, nur um ihm zum Abschied zuzuwinken.

Hast du Papa ausgerichtet, wie froh ich bin, dass es mir besser geht, Louise?

Maman setzt sich mühsam in ihrem Bett auf.

Sag ihm, dass ich bald wieder gesund bin. Hörst du! Schreib ihm, er braucht sich keine Sorgen zu machen. Wenn er zurück ist, stehe ich wieder in der Werkstatt. Versprochen.

Irreparable Spätfolgen, sagen die Ärzte. Das Lungengewebe ist zerstört. Ihr Herz schwach. Dagegen helfen keine Medikamente.

Sie zucken mit den Schultern, während Maman Blut hustend oben in ihrem Schlafzimmer liegt, eingesunken in eine Mulde von Kissen, unverändert seit langer Zeit, in diesem merkwürdigen Ödland zwischen Leben und Tod, in dem sie schon einmal lag, vor dreizehn Jahren, während der großen Grippepandemie, der Spanischen Grippe, die beinahe eine halbe Million Menschen in Frankreich tötete, an der mehr Menschen starben als auf den Schlachtfeldern des Großen Kriegs.

Die Diagnose, wie bei Maman, fast immer die gleiche: Lungenentzündung infolge Influenza. Ringen nach Luft, Ersticken im Hustenkrampf, am Lungenödem, an Herzversagen, und kein Arzt kennt damals ein Mittel dagegen, außer:

Allgemeine Schonung, tiefes Atmen an frischer Luft, Chinin einnehmen zur Vorbeugung. Einige empfehlen sogar Rum, Cognac und Grog als heilendes Desinfektionsmittel.

Wir brauchen une sélection rigoureuse, verkünden die Ärzte, unternehmen hilflose Versuche, die Pandemie einzudämmen.

Die schwersten Fälle kommen ins Krankenhaus. Kein Besuch. Spucken in Straßen und Eisenbahnen unter Strafe verboten. Schulen, Theater, Kinos bis auf Weiteres geschlossen. Taufen und Hochzeiten müssen verschoben werden. In Restaurants einen Mindestabstand zwischen Gästen und Mitarbeitern einhalten. Eigenes Besteck und Geschirr verwenden. Schutzmasken tragen.

Maman kämpfte. Beobachtete bei vollem Bewusstsein unter qualvoller Atemnot und unerträglichen Schmerzen die Rettungsversuche der Ärzte, an deren Gesichtsausdrücken und Gesten ich abzulesen versuchte, wie es um sie stand. Ich hörte ängstlich zu, wenn sie sagten:

Die Lunge ist in einem schlechten Zustand, der rechte Lungenflügel scheint sehr beschädigt, das Fieber steigt weiter, ein schlechtes Zeichen.

Oder: Heute geht es ihr besser. Öffne das Fenster, sorge für frische Luft und dafür, dass sie viel inhaliert. Vielleicht haben wir doch eine Chance.

Ich wartete oft am Fenster auf Papa, spähte verstohlen durch die Gardine, ob sein Auto die Straße entlangkam, als es dunkel wurde und er immer noch nicht zurück war.

Wenn er auf Reisen war, schrieb er uns täglich Briefe, trug mir auf, mich gut um Maman zu kümmern, das zu tun, was die Ärzte anordneten und ihm täglich über ihren Zustand zu berichten. Er machte sich ernsthaft Sorgen um sie.

Zu Hause saß er oft auf dem Sofa, sein Gesicht hinter einer Zeitung verborgen. Denn er wollte nicht, dass wir Kinder sahen, wie traurig er war. Er glaubte nicht an ihr Überleben.

Aber er war im Unrecht. Alle hatten unrecht, die Ärzte, die Pflegerinnen.

Maman überlebte, wenn auch geschwächt und beschädigt.

Mit Maman alles in Ordnung?

In letzter Zeit fragt Papa nur noch beiläufig nach ihr, lässt sich in seinen Sessel im Wohnzimmer fallen, ohne eine Antwort zu erwarten, während ich versuche, Mamans blutiges Taschentuch vor ihm zu verstecken. Als schämte er sich für die Schwäche und Krankheit seiner Frau, als wäre es ein Makel, ein Hemmnis, eine Verhinderung seines Lebens.

Von seinen Reisen bringt er ihr regelmäßig Pralinenschachteln mit oder stellt Blumen an ihr Bett, obwohl er wissen müsste, dass sie keine Pralinen mehr isst und Blumen im Zimmer nicht gut für ihre Lungen sind. Dann verschwindet er nach kurzer Zeit mit der Ausrede, er müsse noch mal los, ein dringender Auftrag, ein Kunde, der auf ihn warte.

Nimm es ihm nicht übel, Louise! Er hat so viel mit dem Geschäft zu tun. Und dann noch die Werkstatt. Wie soll er das alles allein schaffen?

Und ich bin den ganzen Tag mit dem Haus beschäftigt, der Wäsche, den Angestellten, der Pflege an ihrem Bett; seine Sträuße mit Anemonen, Rosen und Dahlien im Arm und feinste Pralinenschachteln in glatter Zellophanhülle, die mir aus der Hand rutschen.

Warten Sie, Mademoiselle!

Eines der Mädchen aus der Werkstatt kommt mir zu Hilfe.

Geben Sie mir die Blumen, ich bringe sie ins Esszimmer. Wie gut sie duften.

Sie steckt ihre Nase in die Blüten, atmet tief ein und verschwindet auf dem Flur, während Maman sich mit äußerster Anstrengung aufrichtet und sagt:

Ich bin sicher, dass Papa sich freut, wenn du ihm erzählst, wie schön ich den Strauß Rosen fand. Du sagst es ihm doch, Louise, nicht wahr?

Im kleinen Esszimmer in Antony sieht es aus wie im Blumenladen, in jeder Ecke ein Strauß. Ich werfe die Pralinenschachteln auf den Tisch und stoße mit einem Ruck die hohen Fenster auf, bevor ich mich erschöpft auf eine Sessellehne fallen lasse und nach draußen starre.

Vor der Werkstatt stehen zwei Arbeiter, die stumm an ihren Zigaretten ziehen, auf dem Kiesweg Papa, der zu seinem schwarzen Chrysler geht, um nach Paris zu fahren. Er dreht sich um, schaut zum Fenster hoch, hebt kurz die Hand und wendet sich schnell wieder ab.

Es wird keine Veränderung mehr geben, Louise, scheint er zu sagen. Maman wird immer weiter in diesem Zustand existieren, und wir können nichts anderes für sie tun.

Meine Hände krampfen ineinander.

Du wirst nicht sterben, Maman! Nie! Nie!

3

Wenn ich nur wüsste, Maman, dass du schon morgen wieder auf einer Bank in der Sonne im Garten säßest, mit einer Petit-Point-Stickerei oder einer Tapisserie auf dem Schoß. Es gibt Tage, da bin ich fest überzeugt, dass es irgendwann wieder so sein wird. Dass du den Arbeiterinnen Aufträge erteilst, mit entschlossener Stimme, wie du es immer getan hast:

Bringt die Teppiche zum Auswaschen an den Fluss! Hockt euch in die mit Stroh gepolsterten kleinen Holzkästen auf die Steine an der Bièvre und sorgt dafür, dass eure Männer euch helfen, die vollgesogenen schweren Textilien aus dem Fluss zu ziehen und auszuwringen! Anschließend die Teppiche zum Trocknen ausbreiten, hört ihr! Wie immer mit der Rückseite nach oben, damit sie nicht ausbleichen. Und wir brauchen noch Cochenille, Indigo, Schwarz, aber nur das von schwarzen Schafen. Und prüft auf jeden Fall vorher, ob es sich wirklich um reine Wollteppiche handelt, ihr wisst schon, man findet es mit einem Trick am Geruch heraus!

Ich würde ihnen zur Hand gehen, Maman, an einem Ende festhalten und mit aller Kraft das Wasser herauspressen, ihnen beim Trocknen und Färben helfen. Sie daran erinnern, dass die Bièvre manchmal kein Wasser mit sich führt.

Du weißt, Maman, erst neulich haben die Leute von der Stadt plötzlich oberhalb unseres Hauses die Schleusen abgesperrt. Keine Ahnung, warum. Vielleicht bewässern sie damit die Erdbeeren, die in Antony in Hülle und Fülle für die Pariser Märkte wachsen. Und erinnerst du dich, wie es bei uns unten nach Moder und toten Fischen stank? Im ganzen Haus dieser Geruch.

Ekliger Gestank, vor allem, wenn die Männer aus Antony dann in Gummistiefeln im Schlamm stehen und die ganze Pampe in unserem Garten und auf ihren Feldern verteilen. Aber zugegeben, Geranien, Pfingstrosen und Buchsbaum wachsen besser seitdem. Fast schon zu gut. Überall dieser Buchsbaum, an den Wegen, um die Rosenbeete, um Papas Statuen. Er riecht merkwürdig schwefelig, wenn es regnet.

Draußen scheint jetzt die Sonne, Maman. Soll ich das Fenster öffnen? Dir etwas von der Gemüsebrühe geben? Oder dir noch mal die Fotos von meiner Schiffsreise zeigen, die Papa mir zum bestandenen Examen geschenkt hat?

Schau mal, hier stehe ich vorm Schloss Kronberg, du weißt schon, da, wo Shakespeare seine Tragödie Hamlet angesiedelt hat.

Wie elegant ich aussehe, Maman, mit meinem Faltenrock und dem schicken Hut. Hier vor der Kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen, und ich glaube, das Foto hier ist auf Gotland aufgenommen, das in Danzig, Helsinki … und sieh mal da, Madame Luer und die anderen, die mit mir gereist sind, vor der Eremitage in Leningrad.

Ach, wenn ich gewusst hätte, wenn ich nur vermutet hätte, dass es dir schlechter gehen würde.

Als du mir schriebst, Maman, dass das Haus so leer ohne mich, deinen Schutzengel, sei, hätte ich gleich umkehren sollen.

Ja, ich bin dein Schutzengel.

Ruh dich aus, Maman. Du brauchst nichts zu sagen, lehn dich in deine Kissen zurück. Lass die Augen geschlossen.

Ich bin wieder zurück. Jetzt wird alles gut. Alles wird gut, ganz sicher.

Du willst doch wieder gesund werden, Maman, oder nicht? Schon wegen der Werkstatt. Wir brauchen dich dringend, jetzt im September, wo das Wetter günstig zum Trocknen ist und die Aufträge sich häufen. Die Amerikaner drängen, sie wollen pünktlich ihre Lieferung.

Maman? Hörst du?

Mit dir könnte es weitergehen, und ich helfe dir. Ich bin so froh, dass ich dir mit dem Zeichnen helfen kann. Indem ich zeichne, nimmt etwas aus meinem Kopf Gestalt an, ich mache es real, verstehst du. Deshalb schreibe ich auch Tagebuch, jeden Tag die Eindrücke im Kopf in Worte und Bilder verwandeln, damit sie ihre Macht verlieren, mich zu verletzen oder mir Angst zu machen.

Indem ich zeichne und schreibe, füge ich etwas zusammen.

Darin bist du doch ebenfalls eine Meisterin, Maman, oder nicht? Jeden Tag ein bisschen das reparieren, was gestern kaputtgegangen ist, nicht wahr?

Fehlende Gliedmaßen ersetzen fürs Remake, Reweave. Oder Genitalien durch Blumen austauschen, wie es die Amerikaner wünschen.

Das Zeichnen fällt mir so leicht. Hast du meinen Bacchuskopf gesehen oder die kleine Büste von Louise Brongniart? Sind gar nicht schlecht geworden, das meinen auch meine Lehrer in der École nationale supérieure des Arts Décoratifs. Ich werde besser, indem ich übe. Immer besser. Und es bedeutet mir viel.

Wenn ich dasitze und nach Modellen zeichne, ist es total still im Atelier, alle arbeiten konzentriert. Ich liebe diese Stille, Maman, ich fühle mich dann als wirkliche Künstlerin.

Hörst du mich eigentlich?

Das Bett, das Zimmer scheinen größer und größer zu werden, je länger ich hier bei dir bin. Du bist so weit weg, Maman.

Schnell, nimm meine Hand! Bitte, nimm meine Hand!

Do not abandon me