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Anna Gien

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Beschreibung

Hier scheppert der DJ-Rollkoffer unerbittlich über Berliner Kopfsteinpflaster, schweißnasse Schaumstoffmatratzen treiben in ranzigen, beatdurchwummerten Kellern am Leser vorbei; eine von Erektionen umstellte Fitnessradtour im Kreuzberger Zimmer hilft das Speed abzubauen. Die Wände des Darkrooms kleben, Galeristen gieren nach frischem Fleisch und Plastikschwänzen. M. liefert sich aus und reißt die Macht an sich, sie fickt die Kunstszene, während sie für ihre nächste Ausstellung Gelnageldesignerinnen und Massagestühle auftreibt. M. ist das Protokoll einer Ermächtigung des eigenen Körpers, des eigenen Begehrens, und kalter Bericht über das Ausbeutungsgefüge im Kunstbetrieb - in einer Sprache, die schonungslos die Entwicklung der Erzählerin von einer zynischen Beobachterin zur strippenziehenden Regisseurin vollzieht.

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M.

RomanAnna Gien & Marlene Stark

Inhalt

1. ROHLING

2. ANSUCHEN

3. RESONANZ

4. DER MENSCH IST EIN TIER, DAS LACHEN KANN ODER: PETRUS ABAELARDUS

5. WOLPERTINGER

6. EINSCHUB

7. PHALANSTERIUM

8. POV/SAAT

9. FICKEN 3000

10. NULLEN

11. FEDERLOSES, ZWEIBEINIGES WESEN

12. NORMALITÄT

13. LINDE KRONE POST CENTRAL

14. LETZTES KAPITEL

15. ODER EIN HUHN TOPFFERTIG MACHEN

16. ODER

Für

Adela

Agatha

Alecia

Alexandra

Alice

Alma

Amy

Ana

Anastasia

Angela

Angelika

Anita

Anja

Anne

Andrea

Antonia

Aretha

Arielle

Audrey

Aydan

Azam

Beate

Bernice

Billie

Brigitte

Britney

Camilla

Carla

Carola

Caroline

Charlotte

Chiara

Chloë

Chris

Christa

Christel

Christiane

Christina

Cindy

Claire

Clara

Claudia

Coco

Coretta

Courtney

Creszentia

Cruella

Dehlia

Diahanne

Diana

Ding

Dolly

Donatella

Donna

Dorca

Doris

Dorothy

Edith

Eileen

Elena

Elfriede

Elisabeth

Elise

Elizabeth

Ella

Ellen

Emily

Erykah

Ethel

Eva

Evelyn

Fatma

Fee

Fran

Françoise

Franzi

Frida

Füsun

Gabriele

Gaby

Gertrude

Gina

Golda

Grace

Graça

Grete

Gudrun

Hanna

Hannah

Hannelore

Hanni

Hedy

Heidi

Helena

Helene

Hélène

Heloisa

Henriette

Hermine

Herta

Hilary

Hildegard

Hope

Ilse

Ines

Ingeborg

Ingrid

Irene

Irina

Ivanka

Jane

Janne

Jasmin

Jeanne

Jennifer

Jessica

Joan

Joanne

Jodi

Johanna

Joni

Judith

Jule

Julia

Julija

June

Kate

Katharina

Kiki

Kim

Klara

Kylie

Käthe

Lana

Lara

Laura

Lauren

Lauryn

Le

Lena

Leo

Lesley

Liina

Ligia

Lore

Lotte

Louise

Luise

Luysali

Madita

Madonna

Manuela

Margarete

Margaretha

Margret

Maria

Maria Magdalena

Marianne

Marie-Antoinette

Marie-Elisabeth

Marily

Martha

Mary

Mascha

Megan

Meghan

Melanie

Michelle

Minh

Missy

Molly

Monica

Monika

Nadja

Nan

Natalia

Nathalie

Nicki

Nicky

Nina

Ngoc

Nora

Olga

Oprah

Pamela

Paris

Patti

Paulina

Peggy

Pia

Raffaela

Rebecca

Renate

Romy

Ronja

Rosa

Rosi

Rugilè

Sahebeh

Salome

Sara

Sarah

Shirley

Sibel

Sigrid

Simonetta

Siri

Sissi

Sophie

Stefanie

Su

Susanne

Suzanne

Svenja

Sybille

Sylvia

Tanja

Taraneh

Thekla

Theresa

Thy

Toni

Ulrike

Uma

Ursula

Uschi

Ute

Vera

Verena

Victoria

Virgina

Vivian

Walentina

Winnie

Yara

Yu

Zeba

Zoë

Zuzanna

und

alle anderen.

1. ROHLING

Freitag. Unter dem eisengrauen Himmel: Daunenjacken, Deoschwaden, der Hasendraht trieft vor Testosteron. Aus dem Freizeitkäfig auf der anderen Straßenseite dröhnt das Grölwabern, das von März bis November wie eine Gewitterwolke über der Rollbergstraße hängt, dringt ein in mein Atelier im ersten Stock. Für junge Erwachsene, die nichts mit sich anzufangen wissen, ist das einer der wenigen Orte, die hier noch übrig geblieben sind.

Keine Strategie, keine Regeln, die Körper prallen zusammen, stoßen sich voneinander ab, Fußball im entferntesten Sinne. Auf dem Gummibelag macht es keinem etwas aus, es ist laut, es erschöpft und es ist jetzt da. Mich beruhigt die Anwesenheit von Bewegung. Es fühlt sich lebendig an. Meine neuen Nachbarn stört der Lärm. Sie kaufen sich Aromadiffusoren oder Haustiere.

An manchen Tagen wird das konstante Rumoren von einem Geräusch gestört, das sich leise nähert, unter meinem Fenster zu ca. 180 Dezibel anschwillt, um sich dann langsam wieder zu entfernen, bis es sich vollständig im Hintergrund aufgelöst hat.

Ich kenne das Geräusch. Es ist dieses unerbittliche, harte Klappern von Rollkoffern auf Kopfsteinpflaster, das jeden stigmatisiert, der versucht, sich sonntagmorgens unauffällig aus dem Neuköllner airbnb-Zimmer mit den abgezogenen Tapeten zu schleichen, in das man sich eingemietet hatte, um für 650 Euro eine Woche lang das Echteste zu leben, das Berlin zu bieten hat. Wenn ich nachts mit dem Plattenkoffer nach Hause navigiere, ist das jedes Mal ein bisschen schmerzhaft: Rollkoffer, das sind immer Touristen oder DJs oder beides.

Hinter meinem Fenster vermischen sich die Geräuschfetzen von draußen mit dem Brummen der Oszillatoren, das aus den Monitorboxen neben meinem Schreibtisch quillt. Der Sound verstoffwechselt alles, was ihn umgibt. Der Raum ist sein Biotop. Ein Tier, aufgetürmt aus Schaltkreisen, einer über dem anderen, das sich selbst zu Musik produziert. Das ist die Grundlage: Die Oszillatoren laufen heiß, schalten kurz, dann kommt der Sound von unten. Schwingung, Unterbrechung, Synthese. Ganz einfach. Blau, gelb, rot durchädert ragen die Synthesizer und Drummachines aus dem großen Körper heraus und wachsen in den altrosa Flokati.

Ich mag dieses Zimmer. Alles hier drin ist mit mir verklebt. Wunderkammer, Zauberwald, Sanatorium.

Nachdem ich meinen Exfreund verlassen hatte, habe ich die Wände moosgrün gestrichen wie die Samtkissen einer Schmuckschatulle, in der man als 13-Jährige Dosenverschlüsse und abgewetzte Stimmungsringe aus dem Kaugummiautomaten wie kostbare Schätze hütet. Von den Regalen kippen Bilder und Skulpturen anderer Künstler, die Bilanz jahrelanger Tauschreigen. Kunst ist illoyal. Das, was so sehr das eines anderen ist, wird hier drin meins. Ganz oben, über dem Wirrwarr aus Kabeln und Modulen, hängt ein Bild von Michael Rother, das erste, das ich getauscht und je besessen habe. Michael hat dem Ganzen (sofern man bei dem Wahnsinn von so etwas wie Ganzheit sprechen kann) nach dem Studium ziemlich schnell den Rücken gekehrt, um sich in einen kleinen Holzverschlag in Schweden zurückzuziehen. Die Arbeit ist ein gerahmtes, weißes Din-A4-Blatt mit einer kurzen Auflistung von Maschinen, die man bauen könnte, um damit abzuhauen: Fluchtmobile.

Was er damals von mir bekommen hat, weiß ich nicht mehr. Wenn man etwas, das so sehr das Eigene ist, weggibt oder verkauft, verarbeitet man den Verlust am besten, indem man das Ding so schnell wie möglich wieder vergisst.

Das Bett ist nie gemacht. Der Stoff ist nackt, gibt sich preis. Es erinnert mich immer an diese zwanghafte Diskussion um die Falte in der Kunst, leere Spitzfindigkeiten auf ausgeleuchteten Podien, die etwas Körperliches, Lebendiges in sterile Obsession verwandeln. Hier drin auf dem Bett ist der Wurf meine Unterschrift, abgespritzt auf das Weiß des Lakens.

Das Ochsenblut schuppt sich auf den Dielen, keucht Krümel auf die Plattencover, die zwischen Kleiderhaufen und aufeinandergestapelten Keilrahmen hervorblinzeln. Mein Flokati teilt sich den Boden mit anderen Überresten rauen Stoffs, einem ockerfarbenen Kelim und Badvorlegern aus türkischen Krimskrams-Läden auf der Sonnenallee.

Alles hier ist Beute. Herausgerissen aus seinen Zusammenhängen, Kulturgeschmergel, das genauso wenig Sinn ergibt wie das Spiel auf der anderen Straßenseite. Neukölln ist Kommunikationskollaps. Eine Collage von Geschichten, die nebeneinanderstehen und nicht zusammenpassen. Wie alles hier in meinem Zimmer. Das Holz drückt Dellen in meine Knie, während ich Platten aus meinem Regal fummele. Mir rutscht Breakdown von Carol in die Hände. 1981 aus Belgien.

I can’t stand the crowd.

I get out the street.

I’m back in my room trying to forget your eyes.

I can’t stand all this.

I can’t handle this.

I’m back in my room trying to forget myself and I can’t

see all the lights shining and I can hear all the noise in the

street and I’m back in your room trying to forget your eyes.

Communication breakdown with all the rest of the world

and I’m back in my room trying to forget myself communication

breakdown with all the rest of the world and it’s

a very strange sensation like a final castration.

Heute Nacht lege ich in meinem Lieblingsladen auf. Eine wackelige Aluminiumtreppe mündet in ein schäbiges Loch. Niemand kümmert sich um die Einrichtung, es gibt kein Schild über der Tür und keine Putzfrau. In der Mitte der Tanzfläche treibt eine dreckige Matratze. Die Szenerie erinnert mich immer an das von Menstruationsblut und Tränen durchtränkte Bett, das Tracey Emin in der Tate ausstellte, nachdem sie wochenlang depressiv in ihm herumgesumpft war. Die Matratze hier unten ist ihr Gegenstück. Ein intimer Ort für alle. Dieses Stückchen Schaumstoff ist ein Kollektivsediment, ein herrlich abgeschrammter Körper, an dem die Hautfetzen der Vornacht wie Lametta hängen. Die Matratze war schon da, bevor der Club eingezogen ist. Indem wir sie da liegenlassen, tun wir so, als seien wir nicht der erste Schritt zur Gentrifizierung. Hier zahlt trotzdem keiner Miete. Und alle sind zusammen, jeder für sich.

Ich habe irgendwo gelesen, dass Dash Snow einen Riesenhaufen Strafe zahlen musste, weil er sich zusammen mit ein paar Freunden in ein Hotelzimmer eingeschlossen hatte, die Fenster mit Laken verdunkelte und die gesamte Einrichtung der sündteuren Suite zu Bauutensilien umfunktionierte, um daraus einen Hamsterkobel aus zerfetzten Vorhängen, Kissenfedern und Troddeln zu bauen, in dem er sich tagelang mit einem Vorrat Nutella und Ketamin zurückzog. »Hamstering« haben die das genannt.

Ich bin froh, dass es diesen Raum hier gibt, intim, offen, hochsensibel. Es gibt belgisches Bier und französischen Rotwein. Einen Single Malt, Wodka. Kein Eis und keine Strohhalme. Der Club gehört Franz. Seine Schwester K. und ihren Freund Boris habe ich hier kennengelernt. Boris ist immer da. Ihm gehört der Plattenramschladen um die Ecke.

Er ist über 40, älter als die meisten hier und riecht nach Schweiß, wie alle hier.

Ich frage mich, ob es ein Zeichen pathologischen Herumgeschluders ist, von den ganzen billigen Drogen kommt oder sogar ein olfaktorisches Distinktionsmerkmal für Zugehörigkeit ist. Wir sind Stroboproletariat.

Ich nenne den Geruch Speedschweiß. Speed ist eine unproduktive Droge. Keine Euphorieeffizienz, sondern Akzeleration jeder Form von Unzulänglichkeit. Vielleicht ist es aber auch so etwas wie die Trägersubstanz für die Versatzstücke von Leben, die wir in diesen Raum hineintragen.

Wir sind hier sicher. Kein Eintrag auf Google Maps, keine Sterne, keine einzige verfickte Rezension auf Tripadvisor. Keiner macht Fotos. Die Behaglichkeit der Leere und der Wust von Ereignisketten lässt sich nicht in Instagramästhetik übertragen. Vereinzelt stehen Möbel herum, von der Straße heruntergeschaffte Sessel und Relikte aus Neuköllner Eckkneipen. Bis vor einigen Jahren konnten die Arbeiter und Teilzeitalkoholiker, die dem Ausklang ihrer Produktivität von Dienstag bis Samstag mit je zwei bis fünf Herrengedecken frönten, ihre Bastionen mit Namen wie »Bierbaum 2« oder »Gießkanne« noch verteidigen. Doch gegen das Imperialbestreben 25-jähriger Skandinavier in weißen Sporthosen sind auch sie nicht gefeit (= Eckkneipen-Sterbehilfe).

Für Außenstehende ist das hier wahrscheinlich faszinierend und abwegig. Dabei geht es eigentlich nur darum, irgendetwas zu tun, das sich jeglicher Leistungslogik entzieht. Wer hier Gast ist, hat mit dem Phantasma, seinen Teil beitragen zu können, abgeschlossen. Vielleicht aus Mangel an guten Gründen, diese Gesellschaft noch am Laufen zu halten, vielleicht aus Mangel an Alternativen. Implizit ist das Post-Punk, explizit ist es Verweigerung, die kein politisches Statement vor sich herträgt. Wir arbeiten uns an uns selbst ab, nicht an den Strukturen, der Wille zur Verausgabung ist ungebrochen und hier gibt es genug Material.

An diesem Brutkasten verdient niemand was. Nicht mal Franz, auf dessen T-Shirt sich die gleiche Schicht aus Bierschlick und abgestandenem Rauch abzeichnet wie auf den Oberflächen der Einrichtung. Wir sind wirklich da und alles hier ist echt. Etwas daran ist hinreißend. Die Ignoranz, die Selbstverständlichkeit des Gestanks, die fast schon narzisstisch ist.

Ich bin spät dran. Während ich versuche, die blonden Zotteln, die mir aus dem Badezimmerspiegel entgegenwachsen, in eine Frisur zu verwandeln, schrauben sich die ersten Takte von Spectrum & Silver Apples’ (I Don’t Care If You) Never Come Back sirenenartig in die Höhe, bevor sie zirpend abstürzen und sich in einem sanft pendelnden Beat fangen. Ich pinsele Himbeerrot auf meine Lippen, versenke meine Beine in einem Paar schwarzer Stiefel und zerre die Lederjacke vom Haken, bevor ich über zwei Ecken Kopfsteinpflaster ans Ziel rolle.

Durch die Tür schlägt mir die ganze Heftigkeit der Nacht entgegen. Franz sitzt am Tresen. Auf seinem Rücken klafft vor Hitze schon ein nasses Oval. Boris lehnt an der Bar, seinen festen Arm um K. geschlungen. Alle drei fahren von dem Luftzug herum und ich blicke in ungeduldige Gesichter. Ich bin wirklich zu spät. In einem Wurmloch ohne Zeitregime pünktlich sein zu sollen, ist verwirrend.

Obwohl heute Feiertag ist, ist der Laden endlos leer. Worte wie Wochenende, Feierabend, Feiertag haben für uns ihre Bedeutung eingebüßt, funktionieren nicht einmal mehr als Platzhalter. Wir brauchen keinen Grund zum Feiern und Katharsis hat hier niemand nötig.

K. nippt an ihrer Biertulpe, die einzige Blume hier. Wie ich ist sie aus Süddeutschland und eigentlich zu jung, um hier zu sein. Ihr Körper ist fest und ihre Wangen strotzen noch vor Hyaluronsäure. Aus ihren kleinen braunen Augen kullert ländliche Naivität und ihre hängenden Schultern zeugen von bayerischem Überdruss. Ihr voller Busen quillt über den Rand ihres weißen Secondhandbodys und säumt den Übergang zu ihren Achseln in einer beeindruckenden Wulst. Mit ihrem schönen, kindlichen Gesicht sieht sie aus wie eine appetitliche, barocke Putte.

»Da bist du endlich, hi«, gnatzt Boris mir mit seinem bulgarischen Kratzen entgegen, greift nach meiner Tasche und schlurft Richtung Mischpult.

»Danke, Boris.«

Der Barkeeper dreht Arthur Russell auf. Ich versuche, seine Aufmerksamkeit mit einem Mädchenlächeln und schräggelegtem Kopf auf mich zu ziehen. »Einen Wodka Soda bitte.« Blinzel, blinzel. Ich kenne ihn, er findet mich unangenehm intensiv auf eine oberflächliche Art. Er macht Musik, irgendwas mit Singer-Songwriter. Seine Musik soll tiefe Emotionen ausdrücken. Klares, etabliertes Gefühl, dessen Vertracktheit sich erst nach einer gewissen Zeit zeigt. So was wie echte Liebe. (Langeweile und Alltag in Beziehungen, Einsamkeit, Unmöglichkeit echter Nähe, Disharmonie, schleichendes Entlieben, alles Dinge, zu denen ich gerade keinen Zugang habe.)

K. blickt vorwurfsvoll zu mir hoch. Auf ihrem runden Kopf sitzt das glatte, schwarze Haar wie ein Helm aus Schellack.

»Du bist zu spät. Fang endlich an.«

Ich bin zu gelassen, um mich über ihren arroganten Tonfall zu ärgern, und schiebe ihn auf die acht Jahre, die zwischen uns liegen. Beim Auflegen in einem derart abgeranzten Laden mit wenig Publikum bekomme ich immer so ein filziges Bauchgefühl. Ich kenne fast alle hier, das macht mich nervös. Die unbekannten Gesichter sehen zwischen meinen Freunden noch abstruser aus – ein einziger stumpfer Kiesel auf dem Teer tut mehr weh an den nackten Sohlen als ein ganzer Weg Streukies. Mir ist schlecht. Ich hoffe, der Wodka hilft. Die Zigarette jedenfalls nicht.

Das Podest und das Sperrholz, das das DJ-Pult umzäunt, verschaffen mir Sicherheit und Überblick. Panther fühlen sich ja auf dem Steinhaufen am höchsten Punkt des Geheges auch am wohlsten. Beobachten, mitschwingen, Hunger bekommen.

Ich lege die Nadel aufs Schwarz.

Fad Gadget Coitus interruptus, Industrial Metal, Electro von 1980. Dann Alexander Arpeggio – Streng Geheim und Kris Baha – Autora.

J., meine beste Freundin, kommt wie immer gnadenlos zu spät. Jedes Mal noch ein bisschen später. Mittlerweile ist der Laden voll. Angekündigt wird sie von ihrem Windhund, der wie ein gelber Blitz aus der Kälte in den Raum schießt und auf die Matratze springt, als wäre es sein Moment to shine. Easyjet, das kleine, räudige Starlet, das sich glücklich den Dreck ins Fell reibt, es sich auf dem schmutzigen Fetzen gemütlich macht, erwartungsvoll in die Runde blickt und sich die Pfoten leckt, ist J.s minima moralia, ihr Winz-Ego, das ihrer Präsenz den Teppich ausrollt.

Die Tür knallt ins Schloss und J., meine langbeinige Gottesanbeterin, die postmoderne Hexe betritt schlendernd die Bühne. Ihre winzige Tasche baumelt an ihrem dünnen Arm, sie pfeift Easyjet zurück und macht ihn an der glitzernden Leine fest, ihr orangefarbener Mantel schleift im Dreck. Von ihrem Kopf zwirbeln blonde Locken in alle Richtungen. Die Dauerwelle (die sie seit ein paar Wochen trägt und die sie sich trotz Einspruchs ihrer Freunde und aller Verweise auf eventuelle Zonengabianklänge bei dem Look nicht hatte ausreden lassen) ist Synonym für ihren sprühenden Geist, ihr wunderschönes Hirn, aus dem die scharfen Gedanken blitzschnell in Assoziationsschleifen nur so heraussprudeln. Ihr Lippenstift ist pink, ihr Blick fordernd und die Augen immer ein klein wenig starr, weil sie die Brille nicht trägt, die sie eigentlich braucht. J. kennt sie alle. Sie ist ein Monster an Netzwerk, das sie wie ein Accessoire mit sich herumträgt. Immer hat sie irgendjemand Unbekannten im Schlepptau. Heute ist es Torn Pecker Schmuck. Sie nennt ihn so. Eigentlich heißt er Lars.

Debiler Drang von Black Spider Clan.

Ich hab Lust auf Dummheiten. Das belgische Bier tut seine Wirkung. Latente Gier. Man kann es noch nicht tanzen nennen. Bisher ist es ein geschäftiges Schwärmen zwischen Bar und Tanzfläche, alles schwingt sich ein und organisiert sich langsam unbewusst zur Formation. Horizon von Roberto Auser ist das Lied, das man spielt, um alle nach vorne zu holen. Auch die Letzten rutschen jetzt von den Bänken und werden Teil des Gewimmels.

Zwischen den wippenden Körpern verschwindet J.s Lockenmähne im Nebel. Es fängt an zu krisseln, rauscht an den Rändern, der Sound übersteuert ganz leicht, die Silhouetten bäumen sich auf, sinken ab, lösen sich, werden wieder Teil. Rausch beginnt immer ein bisschen banal. Einzelne Glieder ranken nach oben, noch etwas unbeholfen, bis die Musik sie greift. Dann versinkt alles in ihr. Liminals heißt das Video von Jeremy Shaw, in dem er die spirituellen gatherings der 70er mit den hedonistischen Subkulturen der Gegenwart zu einer verstörenden Vision von Bewegung zusammenführt. Dance-Induced-Sci-Fi Dystopia nennt er das. In einer Sequenz sich langsam verschaltender Schwarz-Weiß-Aufnahmen verbeißen sich vor Ekstase verzerrte Gesichter ineinander. Ihr Ausdruck schmilzt im Zeitraffer von einer Bewegung in die nächste. Die Zuckungen sind entschleunigt, die Kamera fängt jede noch so winzige Verschiebung ein. Jede Sekunde kristallisiert auf der Bildoberfläche, wird skulptural wie Magma, das erhärtet. Manufaktur des Rauschs.

A sane sense of calm disintegration, it feels like we are almost getting somewhere, that’s essentially almost itself.

Der nächste Track treibt an, die Körper ziehen mit. Peaceful Panic von Identified Patient & Sophie du Palais. Was hier passiert, ist Alchemie. Die Musik, der Raum, die Bewegung, die Körper, alles wächst zusammen, irgendwo im Dazwischen von analog und digital.

Ich sehe nur zu. Vielleicht vergehen Stunden oder nur Minuten. Bis ich spüre, dass es nicht mehr weitergeht. Dann kommt Phase One von Black Merlin.

Die Melodie ist ausgehebelt. Und dann ist da nur noch eine Stimme, mit der alle rufen.

Um vier schaut die Nadel schon in die Auslaufrillen der Platte, als ich »Vorbei!« rufe und die linke Hand über meinen Kopf hebe. Die Leute grölen. Ich bin besoffen. K. hat mich die ganze Zeit mit Bier und Wodka Soda versorgt. Ohne Eis passt viel ins Glas. Hinter dem Pult merkt man nicht, wie betrunken man wird oder ist. Wodka fährt verzögert ein. Ich dränge an die Bar vor und atme tief aus. Auflegen wirkt bei mir wie eine Überdosis Kaffee, ich bin gleichzeitig aufgekratzt und unendlich müde. Schlecht ist mir immer noch.

Der gewaltige Arm, der sich immer wieder rechts in mein Blickfeld schiebt, will mir wahrscheinlich signalisieren, dass der Glatzkopf im karierten Velourhemd neben mir Interaktion haben will. Ich stecke mir eine Zigarette an und sehe zu ihm hoch. Sanfter Blick, kleine Lachfalten. »Woher kennst du J., hast du sie nicht gerade begrüßt?« Er stinkt nicht und heißt Gustav, ist älter, ein bisschen seltsam. Die akute Sozialfähigkeit, die sich in seiner prompten Reaktion äußert, hat er wahrscheinlich dem Alkohol zu verdanken. Die Antwort kommt sofort und ein bisschen holprig.

»J.? Sie ist Künstlerin. Bist du auch Künstlerin? Oder nur DJane?«

Nur DJane. »Ich bin auch Künstlerin, ja.«

Gustav spricht über seine Arbeit. Ich kenne sie schon, jeder kennt sie. In unserer Blase ist er als Mitbegründer der Post-Internet-Art – ein Trend, der Hochglanzoberflächen, die ein bisschen nach My-Little-Pony-Technokratie aussehen, mit sehr komplizierten Inhalten rechtfertigt – relativ bekannt. Seine Arbeiten verkauft er zu Preisen, die für mich, selbst am Anfang, als sich das, was ich da tat, noch wie der Beginn einer Karriere anfühlte, utopisch waren. In meinem Fall war das Ganze so etwas wie eine Scheinschwangerschaft. Alles fiel genauso schnell in sich zusammen, wie es sich aufgeblasen hatte. Vielleicht, weil die Konjunktur des Marktes so instabil ist wie die Schwärmerei der Galeristen für 22-jährige Künstlerinnen. Vielleicht, weil ich nicht so mitgemacht habe, wie es von mir erwartet wurde. Im Gegensatz zu mir ist Gustav eine dauerträchtige Gebärmaschine. Ein Goldkind nach dem anderen bringt er zur Welt. Bereits vor der offiziellen Eröffnung sind alle seine Ausstellungen immer ausverkauft. The Great Loop Forward. Und das schon seit Jahren.

Mit Emphase presst Gustav seine Lider fest zusammen und zieht die Augenbrauen hoch, während er mir erklärt, dass er als Konzeptkünstler mit der Transformation von Information arbeitet. Ich erzähle ihm von meiner Transformation von Information in der Musik. Ich bin mir nicht sicher, ob er das versteht. Es ist mir schon oft aufgefallen, dass männliche Künstler sehr viel von sich selbst und sehr wenig von allem anderen verstehen. Vielleicht ist das Selbstermächtigung im Zuge des Geniekults: das ganze Pathos, mit dem das Versunkensein in der Materie und die Informationsselektion – die das freie Denken überhaupt erst ermöglicht – beschrieben wird und der aus Fachidioten geniale Nerds macht.

Ich will mich in ihm täuschen, hoffe, sein Nicken bedeutet, dass er die Idee verstanden hat. Schließlich ist sein Ansatz meinem nicht so fern, und er arbeitet mit künstlicher Intelligenz. Vielleicht ist er einfach unsicher und liebenswerter, als seine schmalen, wackelnden Lippen vermuten lassen. Wir trinken und rauchen. Strahlend erzählt er von seiner Frau, mit der er seit neun Jahren verheiratet ist und mit der er eine sechsjährige Tochter hat. Ich sehe ihn ungläubig an.

»Wie machst du das?«

Für eine Frau, die seit Jahren Teil der Kunstszene ist, in der jede Form von Beziehung mit gut manikürten Fingern zu Staub zerrieben wird, klingt dieses Modell nach Wahnsinn oder Lüge.

Gustav ist viel unterwegs, außerdem ist er die Inkarnation der wildesten Hochschlaffantasie jeder erfolgshungrigen Künstlerin. Nicht zu vergessen die aufpolierten Sammlergattinnen. Der ganze erotisierte Zoo schreit nach Totalzerfickung aller stabilen Lebensmodelle.

Ich frage mich, was er hier sucht. Das hier ist ein ehrlicher Ort, den niemand wegen guter Drinks oder der ausgefallenen Gesellschaft besucht. Auch nicht wegen der schönen Frauen. Man kommt wegen der Musik. Für mich ist er auch ein Rückzugsort von der Kunstszene, in der alles schmalziges Erzeugen von Intensität auf der Jagd nach der nächsten Einzelausstellung, den Hinterzimmern, der halbwegs guten Rezension ist.

»Wir sind frei und lassen uns alle Freiheit«, erklärt Gustav. Er wird ein bisschen nervös. Ich ziehe an seinem Velour und blicke ihm ins Gesicht: »Dann komm mit auf Toilette, ich blas dir einen.«

Auf seiner blanken, eichelartigen Glatze quillen sofort kleine Schweißperlen und bahnen sich ihren Weg über seine von dem ganzen Augenbrauen-Hochziehen knittrig gewordene Stirn.

»So frei ist es nicht.«

Er schaut abwechselnd mich und sein leeres Glas an und stammelt weiter. Dann fragt er nach meiner E-Mail-Adresse. Es ist so klar, dass er zu nerdy ist, um nach meiner Nummer zu fragen oder Kontaktdaten in irgendeinem anderen sozialen Medium. Ich kann ihm das Angebot gerne nochmal per E-Mail schicken. Mit automatisierter Signatur. Er zieht seine Jacke über das Karomuster, sagt, er müsse jetzt gehen, fliege morgen nach Amsterdam. Er legt zehn Euro auf den Tisch und verlässt den Laden. Der Korb ist mir egal, solange er mich ein bisschen gespürt hat. Das reicht.

Jetzt hocke ich allein am Tresen. K. sitzt am anderen Ende der Bar. Das gleißende Weiß ihres Laptops, in den sie starrt, um das nächste Lied auszusuchen, wirft dunkle Flächen in ihr ebenmäßiges Gesicht. Nach den Sets der geladenen DJs lässt ihr Bruder sie vom Tresen aus auflegen und ihre Lieblingslieder spielen. Sie streicht sich das Haar hinters Ohr, richtet sich wieder auf, zufrieden mit der Wahl des nächsten Songs, leert ihr Glas, nur um es sofort auf den Tresen zu stellen und dem Barkeeper zu signalisieren, dass er es wieder füllen soll.

Dafür, dass sie diesem Laden und dem Rauch hier selten entkommt, ist sie schon verwunderlich schön. Sie entdeckt mich und winkt mich lächelnd zu ihr. Wir trinken aus ihrer Tulpe. Ich habe schon eine ganz malzig stumpfe Zunge und leichte Einschränkungen, was meine Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit angeht, der Abend muss trotzdem irgendwie abgerundet werden. K.s Porzellangesicht wirkt im Gegensatz zu den anderen hier so verdammt ausgeruht und gut durchblutet. Die Haut, die sich straff über ihre aufgerichteten, prallen Brüste spannt, glänzt. Es dauert nicht lange und wir küssen uns. Sie spielt lange Songs. Tapeaufnahmen, 20 Minuten. Ich ziehe sie auf die Toilette und stecke meine Hand in ihre Hose, ein wenig später mein Gesicht zwischen ihre Beine. Die folgenden drei Tracks laufen einfach durch. Nach dem nächsten Liedwechsel bringt sie Boris mit. Er küsst mich gierig, der Stoff seiner abgewetzten Jeansjacke schrubbt über meine Haut, während er seine Hand in meinen Haaren vergräbt. Sofort klebt sein Geruch an mir. Es funktioniert richtig gut. Es ist dynamisch, eingespielt, die Berührungen sind sicher und fühlen sich nicht nach einem ersten Mal an. Ich erlebe das öfter mit Paaren, die einen einfach mittragen in ihrem Rhythmus, man darf nur nicht widerspenstig sein, muss sich einlassen, den Rhythmus verstehen, bevor man zupackt und zu dirigieren beginnen kann. Dann fühlt es sich an, als würde man binnen Minuten ein neues Instrument in Perfektion beherrschen.

Wir spielen einen ungarischen Tanz.

Geführt von Boris’ sonorem Stöhnen, windet sich K.s wendiger Körper um meinen, während sich meine Finger um Boris’ Schwanz schließen. Es ist nicht vulgär. In der Intensität ist es fast züchtig, wie eine rahmende Struktur, eine Partitur, ein Gemälde von Vermeer.

Ich bin die Lautenspielerin.

Diese Nähe, die auf einmal da ist, ist ein intimes Eingeständnis von Anziehung, keine künstliche Aufladung, sondern Umsetzen geteilter Erwartungen. Es ist zur Hälfte Sex und zur Hälfte eine Idee. Der Akt, das Ficken selbst, ist das Ausmalen der Erwartung. Die weißen Fliesen, der Pissegeruch, der nasse Boden aquarellieren. Die beiden sind ekstatisch, weil sie sich das so vorgestellt haben. Ich nicht. Ich will die Situation einfach mitnehmen. Wissen, was passiert, wie es endet, wo wir landen, und ob da noch etwas Unerwartetes kommt. Ich bin fast mechanisch. Ein Programm, das sich selbst beibringt, soziale Kompatibilität in Datenpools sexueller Erfahrung einzuspeisen, aus denen neues Verhalten konfiguriert wird, eine Ressource für die Optimierung künstlicher Intelligenz. Der Algorithmus scheint mir ziemlich einfach zu sein.

K. muss das nächste Lied auflegen und verlässt die Toilette.

Irgendwas in Boris’ Augen sagt mir, dass er mich braucht. Ich fühle mich wie das Werkzeug einer höheren Macht. Ich ziehe seinen Hosenbund weiter nach unten und halte seinen Schwanz mit einer Hand fest. Die andere Hand steck ich ihm erst in den Mund, dann in seinen Arsch.

Seine Augen schauen mich nass und klar an. Boris sieht erlöst aus. Ich gebe seinem Schwanz eine Ohrfeige und halte ihn wieder fest. Ich ohrfeige ihn noch mal, schlage ihn von beiden Seiten. Boris stöhnt erregt auf und guckt verliebt.

Ich ziehe meine Hand langsam nach vorne. Halte sein Ding noch mal mit beiden Händen und höre auf. Jemand kratzt an der verschlossenen Toilettentür, ich schließe auf, zucke im Vorbeigehen mit den Schultern, wasche mir die Hand und mein Gesicht und setze mich wieder an die Bar.

Ich schmunzle. K. hat Koks aufgetrieben. Sie zeigt mir die Eppendorfer Tube wie ein Schulkind eine geklaute Süßigkeit. Ich ziehe meinen Hausschlüssel aus der Hosentasche und biete ihr die Spitze unterm Tresen an.