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Malvina Moorwoods zweiter Fall - die perfekte Lektüre für alle Spürnasen, die Spaß an Knobeleien und einer Prise Mystery haben Wieder einmal muss Malvina antreten, um das Familienschloss zu retten – ihr Opa wird nämlich nach einem merkwürdigen Skelettfund des Mordes verdächtigt! Unter diesen Umständen endet die königliche Erbpacht am 31. Oktober. Das ist bereits in zwei Wochen! Aber Malvina wäre nicht Malvina, wenn sie sich davon unterkriegen lassen würde. Nach einigen unerschrockenen Ermittlungen hat sie eine heiße Spur: Sie kommt einem äußerst geheimen Geheimbund auf die Schliche und macht eine Entdeckung, die selbst die abgebrühte Malvina mit den Ohren schlackern lässt …
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Seitenzahl: 273
Band 1
eISBN 978-3-649-63371-6
eISBN 978-3-649-64086-8
© 2021 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155
Münster Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Christian Loeffelbein
Illustrationen: Julia Christians
Lektorat: Jutta Knollmann
Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim
www.coppenrath.de
Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64086-8.
Christian Loeffelbein
Das Skelett im Schlossgarten
Mit Illustrationen von Julia Christians
Aus dunkler Nacht
hervorgebracht.
Ausgegraben.
Unbehagen.
Und im Mondenschein
glänzt Gebein.
Aufgeweckt.
Aufgedeckt.
In Moorwood ist ein
Geist versteckt.
Kapitel 1 Eine schreckliche Entdeckung
Kapitel 2 Womit niemand gerechnet hat
Kapitel 3 Die Prophezeiung
Kapitel 4 Nebel am Tatort
Kapitel 5 Der Geist in der Küchenuhr
Kapitel 6 Eine Überraschung
Kapitel 7 Das unordentlichste Zimmer der Welt
Kapitel 8 Schnappen wir uns Agatha!
Kapitel 9 Tom, der Meister-Hacker
Kapitel 10 Der dünne Mann
Kapitel 11 Geheimbund oder Geheimdienst?
Kapitel 12 Neblige Gassen
Kapitel 13 Der Brief
Kapitel 14 Der Einbruch
Kapitel 15 Mr Sinclairs Geheimnis
Kapitel 16 Wodehouse wählen – Wohlstand wählen!
Kapitel 17 Bennileins Bande greift an!
Kapitel 18 Die Meisterdetektive
Kapitel 19 Abwärts!
Kapitel 20 Kennst du das Passwort?
Kapitel 21 In der Falle
Kapitel 22 Die Geheimnisträger
Kapitel 23 Ein Knüller für den Moorwood Mirror
Über den Autor
Der Graf kam mit wehendem Umhang die Treppe hinunter und ging zielstrebig auf Amalia und ihre Mutter zu, die sich in der geräumigen Eingangshalle umsahen. Amalia starrte mit großen Augen ein düsteres Gemälde an, das eine im Moor versinkende junge Frau zeigte. Und ihre Mutter betrachtete erschrocken einen hässlichen Wildschweinkopf, der an der gegenüberliegenden Wand hing.
»Gefällt Ihnen Ihr neues Heim?«, erkundigte sich der Graf freundlich und ließ seine spitzen Eckzähne im Licht der Kerzenleuchter aufblitzen.
»Ganz reizend«, sagte Amalias Mutter und machte den Eindruck, als ob sie ihre Angst durch ein besonders breites Lächeln verbergen wollte.
»Kommen Sie, meine Liebe«, flötete der Graf. »Ich zeige Ihnen Ihre Zimmer. Erlauben Sie, dass ich mich selbst um Ihr Gepäck kümmere. Um diese Zeit sind leider keine Bediensteten mehr im Haus.«
»Wir sind ganz allein hier?«, erkundigte sich Amalia mit zitternder Stimme.
»So ist es«, bestätigte der Graf, und als er zu einem hämischen Lachen ansetzen wollte, machte es pfirschchchch.Dunkle Schlieren zogen über die Szene wie geronnenes Blut, und aus den Ecken krochen fiese Monsterfratzen, die sofort ihr zerstörerisches Werk begannen. Kopf und Körper des Grafen lösten sich in eine wabernde Masse auf. Dann waren nur noch die schemenhaften Umrisse von Amalia zu sehen, die in einem Schneesturm aus schwarz-weißen Pünktchen um ihr Leben zu kämpfen schien. Und schließlich wurde die Mattscheibe des alten Fernsehers so schwarz wie eine mondlose Nacht.
»Na toll!«, beschwerte ich mich bei Tom, der gerade in einen Schokoladenkeks gebissen hatte. »Das ist jetzt der dritte Film, der mittendrin den Geist aufgibt.«
»Kamm im dom nimts füm«, nuschelte Tom mit vollem Mund. Er stand auf und holte die Videokassette aus dem Rekorder. Wir hatten ihn und den antiken Fernseher vor einigen Wochen im alten Arbeitszimmer meines Vaters entdeckt. Und da zurzeit wegen der Renovierungsarbeiten im Schloss niemand hierherkam, nutzten wir den Raum hin und wieder, um heimlich alte Gruselfilme anzuschauen. Die Filme hatte Tom im Laden seiner Mutter gefunden, in dem es allen möglichen Krimskrams gab. Weil sich für Videokassetten aus dem letzten Jahrhundert aber nicht einmal mehr Krimskrams-Fans interessierten, hatte er sie einfach mit zu mir gebracht. Leider waren viele der Kassetten defekt, so wie jetzt auch Schrecken im Karpaten-Schloss.
Schade. Ich hatte mich schon so darauf gefreut, dass Amalia gebissen wurde. Denn die weibliche Hauptdarstellerin hieß nicht nur genauso wie meine zickige Schwester, sondern sah ihr auch ein klein wenig ähnlich …
Na ja, da konnte man nichts machen.
»Komm«, sagte ich. »Lass uns mal raus zur Baustelle. Gucken, was da los ist.«
»Was soll da schon los sein?«, maulte Tom, kam dann aber doch erstaunlich schnell mit, nachdem er einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. Er zog seine Wachsjacke an und folgte mir.
Ich lotste ihn unter dem Baugerüst im Flur hindurch und die abgesperrte Treppe zum Hinterausgang hinunter. Das war eigentlich verboten, aber außer den Bauarbeitern sah uns keiner und die hatten andere Sorgen. Die Renovierung von Schloss Moorwood war nämlich eine knifflige Angelegenheit. Die Männer mit den roten Helmen schimpften und meckerten pausenlos vor sich hin. Auf uns achteten sie gar nicht.
Warum ich jetzt unbedingt zur Baugrube für unseren Swimmingpool wollte, wusste ich selbst nicht so genau. Irgendwie zog mich der Ort schon seit einiger Zeit magisch an, obwohl er genau genommen kein besonders schöner Anblick war – sondern einfach nur ein großes, matschiges, dunkles, kaltes, nasses Loch. Und zwar genau an der Stelle, wo vor den Bauarbeiten der alte Rosengarten gestanden hatte. Der war übrigens auch kein schöner Anblick gewesen, weil sich in unserer Familie niemand so richtig für Gartenpflege interessierte. Außer Oma, die den Garten früher einmal angelegt hatte. Aber Oma war lange vor meiner Geburt mit einem Australier abgehauen (oder so ähnlich, darüber durfte man nicht sprechen) und ihre Rosenbeete waren nun genauso Geschichte wie sie selbst.
Ich beobachtete gern das geschäftige Treiben an der Baustelle und freute mich darüber, dass meine Eltern weder für die Schlossrenovierung noch für den Bau des Pools etwas bezahlen mussten.
Das hätten sie auch gar nicht gekonnt.
Papa war zwar ein echter Lord, verdiente aber mit seiner Reitschule gerade genug, um das Futter für die Pferde kaufen zu können. Außer meinem Bruder Tristan gab es nämlich nicht besonders viele Reitschüler. Warum das so war, wusste keiner genau.
Tristan meinte, es läge an Onkel Bob, der viel zu viel und viel zu laut in der Reithalle herumschrie. Und Onkel Bob meinte, es läge an der Reithalle, in die der Wind hineinpfiff, auch wenn gar kein Wind wehte. Deshalb könne man seine Anweisungen nie richtig verstehen.
Mama war Zahnärztin. Ihre Praxis befand sich in einem Neubau in der Nähe des Marktplatzes von Moorwood, einem kleinen Städtchen, das genauso hieß wie unser Schloss. Im Wartezimmer von Mama war es weder laut noch zugig, aber es saßen trotzdem nie besonders viele Patienten drin. Auch für dieses Phänomen kannte keiner den Grund. An Mamas handwerklichen Fähigkeiten lag es jedenfalls nicht. Sie konnte bohren, ohne dass es wehtat, und Zähne ziehen, ohne dass man es merkte – das hatte ich schon am eigenen Leib erfahren.
Da die Bevölkerung von Moorwood aber nicht bereit war, Mama ihre Zähne anzuvertrauen, war die Praxis auch nicht gerade eine Quelle großer Reichtümer. Eigentlich lebten wir alle von Opas Pension. Opa war nämlich mal Soldat gewesen, bei der Marine. Er hatte ein richtig echtes, großes Kriegsschiff kommandiert, mit jeder Menge Kanonen und Soldaten an Bord. Auf irgendjemanden geschossen hatte er damit zwar nicht, glaube ich, aber er hatte trotzdem einen Orden bekommen. Und als Dankbarkeit für seine Dienste überwies ihm die Queen jeden Monat eine ganze Menge Geld. Aber wenn man eine Großfamilie mit einem Onkel Bob, einer Tante Frida, einem großen, verfressenen Jungen (Tristan), einem zickigen Zwillingspaar (Amalia und Georgina), einem Hund namens Poldi und einer elfjährigen Malvina mitsamt ihren Eltern ernähren musste, dann schwand das Geld ziemlich schnell dahin – so drückte das mein Opa aus. Und Opa hatte immer recht.
Also fast immer.
Vollständig danebengelegen hatte er nur vor einigen Monaten, als er wie der Rest meiner Familie der Ansicht gewesen war, dass wir unser uraltes Schloss verkaufen müssten, weil wir dessen Renovierung nie und nimmer bezahlen könnten. Aber zum Glück hatten Tom und ich herausgefunden, dass Moorwood Castle eine Erbpacht war und die Queen nicht nur für Opas Pension, sondern auch für alles aufkommen musste, was dem Wohl des alten Kastens diente – einschließlich des Baus eines Pools, der natürlich eher den Bewohnern des alten Kastens zugutekommen würde.
Okay, um ehrlich zu sein: Tom hatte das mit der Erbpacht ganz allein herausgefunden.
Deswegen verstand ich gar nicht, warum er sich die Pool-Baustelle nicht genauso gern anguckte wie ich. Schließlich würde ja auch er nächstes Jahr hier herumplanschen können.
Ich stieß ihm meinen Ellenbogen in die Seite, was er aber wegen seiner dicken Jacke gar nicht so richtig mitbekam.
»Hey!«, rief ich. »Du könntest dich ruhig etwas mehr über den Pool freuen.«
»Da ist kein Pool, Malvina, sondern nur ein Loch«, sagte Tom. »Und mir frieren gerade die Hände ab.«
Das mit dem Loch stimmte, aber das mit den Händen war maßlos übertrieben. So kalt war es nun auch wieder nicht, immerhin hatten wir nicht mal November und es hingen sogar noch ein paar Blätter an den Bäumen. Man konnte sie bloß wegen des zähen Nebels nicht sehen.
»Frische Luft ist gut fürs Gehirn«, sagte ich und schaute wieder in den Pool. Also in das Loch. »Und außerdem dachte ich, dass es hier vielleicht irgendetwas zu sehen gibt.«
Tom starrte erst mich an und dann die Baugrube zu unseren Füßen. »Was soll es denn hier zu sehen geben?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern, denn tatsächlich wusste ich es auch nicht so genau.
Ich hatte an so etwas wie Gold, Silber oder eine Kiste mit Edelsteinen gedacht. Oder an etwas, das sich für Tante Fridas und meine Gespenstersuche gebrauchen ließ. Tante Frida und ich waren nämlich Spiritistinnen. Also, Tante Frida war eine und ich so etwas wie eine Gehilfin, denn immerhin glaubte ich auch an Geister- und Spukerscheinungen. Ich half Tante Frida dabei, Beweise dafür zu sammeln, dass Moorwood Castle eines der bedeutendsten Spukschlösser Englands war. Leider hatten wir außer einem röchelnden Klo, einer zugigen Stelle im alten Speisesaal und einem Baum im Garten, in dessen Astloch Spielzeug verschwand, wenn man es hineinlegte, noch nicht so richtig was auf unserer Liste.
Auf einmal erschien das rote Gesicht eines Mannes mit einem noch röteren Helm auf dem Kopf am Rand der Baugrube und riss mich aus meinen Gedanken. Schnaufend und ächzend hievte er sich über eine schmale Leiter nach oben.
»Wo is ’n hier das Klo?«, wollte er wissen.
Ich deutete auf ein kleines Häuschen aus Plastik, das ein paar Meter entfernt gerade noch so im diesigen Dunst zu erkennen war.
Der Mann schlurfte an uns vorbei.
Tom blickte wieder heimlich auf die Uhr und begann plötzlich, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»Muss jetzt los«, murmelte er, ohne mir in die Augen zu schauen. »Noch in die Stadt. Was einkaufen.«
Er wandte sich um und wollte sich wohl einfach so davonmachen. Ich hatte schon einen dieser Pferde-Befehle auf der Zunge wie »Steh!« oder »Brrrr!«, tatsächlich aber starrte ich ihn nur an.
»Was einkaufen«, wiederholte er. »Bis dann«, fügte er noch hinzu und setzte zu einem für seine Verhältnisse ziemlich zackigen Galopp an, mit dem er im Nebel verschwand.
»He!«, rief ich ihm hinterher. »Wo willst du denn hin?«
Keine Antwort.
Ich legte meine Stirn in Falten und kniff die Augen zusammen. Die ganze Sache stank gewaltig. Tom hatte noch nie in seinem Leben etwas eingekauft und würde das auch in Zukunft ganz bestimmt nicht tun. Er gehörte nämlich wie Papa, Opa oder Onkel Bob zu der Sorte Jungs, die niemals einkaufen gingen, es sei denn, sie waren am Verhungern, brauchten ein Bier oder jemand hatte sie geschickt.
Drei Möglichkeiten, die ich ausschließen konnte.
1.Tom hatte gut zu Mittag gegessen, und zwar Schinken-Sandwiches von Tante Frida.
2.Tom trank kein Bier.
3.Tom hatte keinen Shopping-Auftrag bekommen.
Und dann beschlich mich auf einmal ein ungeheuerlicher Verdacht …
Ich lief ums Schloss herum, schnappte mir Tristans altes Mountainbike und radelte wie blöd den Moorweg entlang. Ich musste Gewissheit haben. Ich musste vor Tom in Moorwood sein. Ich musste riskant fahren. Und das tat ich auch.
Mit dem Bus brauchte Tom ungefähr eine Viertelstunde bis zum Marktplatz. Mit meinem Fahrrad brauchte ich fünfundzwanzig Minuten. Mit Tristans Mountainbike zwanzig. Durchs Moor zwölf. Wenn ich Tom schon hinterherspionierte, dann wenigstens richtig.
Das Problem am Moorweg war nur, dass er verboten war. Und gefährlich, vor allem im Nebel. Ich war noch keine fünf Minuten unterwegs, da hatte ich mich bereits verfahren. An einer laublosen Birke gabelte sich der Weg. Links begann ein Pfad, der mit Holzbohlen ausgelegt war, und rechts ein schmaler Fußweg, der zu einem düsteren Fichtenforst führte.
Ich erinnerte mich dunkel daran, dass man über den Bohlenweg aus dem Moor herauskam, aber genauso dunkel hatte ich eine von Opas Geschichten in Erinnerung, dass einer seiner Kumpel Mitte des letzten Jahrhunderts durch so eine Holzbohle gebrochen und auf Nimmerwiedersehen im Moor versunken war.
Ich entschied mich umzukehren, denn der Fichtenforst war mir noch viel weniger geheuer. Nebelschwaden zogen an mir vorbei und sahen aus wie lange weiße Finger, die es auf mich abgesehen hatten. Irgendwo krähte ein Rabe und kalt war es auf einmal auch. Richtig kalt – der Kapuzenpulli, den ich anhatte, war für Abenteuer im Moor eindeutig nicht geeignet. Zum Glück wurde ich wütend, bevor ich Angst bekam. Einerseits auf mich selbst – was sollte dieses ganze Theater überhaupt? Andererseits auf Tom – was sollte dessen Theater mit dem plötzlichen Einkaufsbummel?
Ich brummelte einige Flüche vor mich hin, die ich von Opa gelernt hatte, und schob mein Fahrrad vorsichtig zurück. Immerhin hatte ich diesmal Glück und fand den Hauptweg ohne weiteres Herumirren. Und nachdem ich das Moor endlich hinter mir gelassen hatte, radelte ich an der Friedhofsmauer entlang, ignorierte zwei rote Ampeln, missbrauchte den Grünstreifen zwischen Gemeindehaus und Feuerwache als Fahrradweg und bremste genau in dem Moment hinter einem Altglascontainer am Marktplatz, als der Bus an der Haltestelle zehn Meter davor zischend und klappernd seine Türen öffnete.
Da es zwischen Moorwood Castle und Moorwood Markt keine weiteren Haltestellen gab, musste Tom logischerweise hier aussteigen. Und richtig, ich erblickte ihn direkt hinter einer Gruppe älterer Damen mit unförmigen Kopfbedeckungen in unvorteilhaft grellen Farben. Für einen Moment war er von giftgrünen und pinken Mützen umrahmt, was meinen Verdacht auf seltsame Art und Weise bestätigte. Auch das viel zu gelbe Werbeplakat und die drei albernen Gespenster-Graffiti, an denen Tom vorbeiging, schienen in diesem Zusammenhang zu stehen. Alles sah merkwürdig falsch und verdächtig aus. Erst konnte ich mir keinen Reim darauf machen, aber dann wurde mir langsam klar, woher dieser Eindruck kam: Ich hatte Tom einfach noch nie heimlich verfolgt. Das war das Merkwürdige und Falsche an der ganzen Situation. Die schrägen Mützen und blöden Graffiti fielen mir nur deswegen auf, weil ich etwas tat, das ganz und gar nicht in Ordnung war – nämlich meinem besten Freund hinterherzuspionieren. Und nun spazierte Tom auch noch geradewegs in den Zeitschriftenladen neben Kumaris Café und kam keine zwei Minuten später mit einem seiner heiß geliebten Rätselhefte wieder heraus.
Er hatte also die Wahrheit gesagt.
Er musste etwas kaufen.
Und zwar ein Rätselheft.
Die ganze Aufregung wegen eines Rätselheftes!
Ich wollte schon zu Tom laufen und mich bei ihm entschuldigen, aber dann fiel mir gerade noch rechtzeitig ein, dass er ja gar nichts von meiner Spionagemission wusste und auch nie etwas davon erfahren würde, wenn ich mich jetzt einfach schnell verdrückte.
Ich machte zwei Schritte rückwärts und stieß dabei gegen einen der vielen öffentlichen Mülleimer, mit denen Moorwood ausgestattet war.
Dieses dämliche Ding!
Wenn Tom sich in diesem Moment umgedreht hätte, dann wäre ich aufgeflogen.
Aber er drehte sich nicht um.
Leider.
Denn es wäre wesentlich besser für mich gewesen, entdeckt zu werden, als ansehen zu müssen, was nun geschah. Mit meinen elf Jahren hatte ich ja schon einiges erlebt, aber noch nie etwas, das mir von jetzt auf gleich ein derart schreckliches Gefühl beschert hatte. Mir wurde schwindelig und ich musste mich an der Wand festhalten. Immerhin wusste ich jetzt, was es bedeutete, wenn in Romanen stand, dass sich bei jemandem der Magen umgedreht hatte …
Tom steuerte nämlich in genau diesem Augenblick mit der sportlichsten Gangart, zu der er fähig war, geradewegs auf Agatha zu, die wie aus dem Nichts vor Kumaris Café aufgetaucht war.
Agatha Wedgwood.
Ausgerechnet Agatha Wedgwood, die größte Zimtziege unserer Schule. Zu behaupten, Agatha und ich könnten uns nicht leiden, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Und jetzt wurde mir auch plötzlich klar, warum sie mich letztens angerufen und gefragt hatte, ob sie mich für irgend so einen dämlichen Artikel interviewen könnte. Die wollte natürlich kein Gespräch mit mir, sondern sie wollte sich an Tom ranschmeißen. Schließlich verbrachten wir ja die meiste Zeit der Ferien zusammen.
Also Tom und ich.
Aber damit war nun wohl Schluss.
Ich holte tief Luft.
Zu verstecken brauchte ich mich jetzt nicht mehr, denn die beiden verschwanden auf der Stelle im Café. Und Gewissensbisse brauchte ich auch keine mehr zu haben, denn mein Verdacht, dass da etwas faul war, hatte sich bestätigt. Allerdings war das auch das einzig Gute an der ganzen Situation.
Mir war schlecht.
Nicht so, wie wenn man eine ganze Tüte Kartoffelchips auf einmal aufgefuttert hat, sondern anders.
Schlimmer.
So hatte ich mich noch nie gefühlt.
Während ich mir die Nase an einer von Mr Kumaris Fensterscheiben platt drückte, wurde dieses Gefühl sogar noch stärker. Ich konnte zwar nur einen Teil des Ecktisches sehen, aber das, was ich sah, reichte! Tom und Agatha hatten es sich nämlich genau dort gemütlich gemacht, wo ich das letzte Mal mit Tom gesessen hatte. Damals hatte jedoch ein wesentlich kleinerer Milchshake auf dem Tisch gestanden als jetzt. Auch die Brownies, mit denen die beiden herumkrümelten, waren gigantisch. Es fehlte nur, dass sie die Köpfe über dem Rätselheft zusammensteckten und anfingen, gemeinsam eine der Knobelaufgaben zu lösen.
Leider taten sie gleich darauf genau das.
Und dabei kicherten sie auch noch albern herum. Das konnte ich zwar nicht hören, aber ihr Kopfgewackel ließ keine andere Schlussfolgerung zu. Schließlich nahm Agatha sogar ihre Brille ab und plinkerte Tom mit ihren monstermäßig langen Wimpern an.
Das war endgültig zu viel für mich.
So was Widerliches!
Würgend drehte ich mich um und rannte über die Straße, so schnell ich konnte. Hinter mir wurde wild gehupt und herumgeschrien, und irgendwie fühlte ich mich durch den ganzen Tumult etwas besser – vielleicht, weil es jetzt auf der Straße genauso aussah wie in meinem Kopf.
Dann entdeckte ich Papa auf der anderen Seite des Marktplatzes.
Natürlich ist es nichts Besonderes, seinen Vater durch die Stadt laufen zu sehen, aber nach dem Erlebnis mit Tom sagte mir eine innere Stimme, dass Papa jetzt eigentlich im Stall sein sollte, um den Hengst zu longieren oder eines der neuen Pferde einzureiten. Die innere Stimme sagte mir zwar auch, dass ich mich lieber um meine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, doch diesen Teil der Botschaft musste ich in meinem jetzigen Zustand leider ignorieren.
Und tatsächlich wurde ich Zeuge von Vertrauensbruch Nummer zwei oder zumindest von etwas ganz Ähnlichem, in meiner Aufregung fehlten mir dafür die Worte. Sprachlos sah ich mit an, wie mein Vater auf eine junge Frau zusteuerte, die mit einem kleinen Köfferchen vor der Mamma mia-Pizzeria wartete.
Eine junge Frau, die eindeutig nicht Mama war. Fröhlich hakte sie sich bei meinem Vater unter und die beiden verschwanden in der Pizzeria. Dann wiederholte sich mehr oder weniger das Gleiche wie bei Mr Kumari. Ich quetschte meine Nase gegen die Fensterscheibe, drinnen wurde gelacht, geschlürft und herumgekrümelt – nur dass statt Milchshakes und Kuchen diesmal Bier, Thunfischpizza und zwei Teller mit Tortellini auf dem Tisch standen.
Wenn Tom jetzt bei mir gewesen wäre, hätte ich ihn dazu überredet, ins Mamma mia zu schleichen und das Gespräch zwischen meinem Vater und dieser fremden Frau zu belauschen.
Aber Tom war nicht bei mir.
Tom ließ sich drüben von Agatha anplinkern.
Und bei dem Gedanken daran verschwand jede detektivische Energie in mir. Ich wollte jetzt einfach nur noch nach Hause!
Ohne auf Deckung oder irgendwelche anderen Spionagetechniken zu achten, schlich ich über den Marktplatz, holte Tristans Fahrrad hinter einem Blumenkübel hervor, wo ich es einfach hatte fallen lassen, und fuhr zurück zum Schloss. Mir kam der Gedanke, erneut den Weg durchs Moor zu wählen und es darauf anzulegen, darin zu versinken. Wenn ich erst mal verschwunden war, würden dem verräterischen Tom und meinem verräterischen Vater der Appetit auf Geplinker mit Kuchen und Pizza bestimmt ganz schnell vergehen. Aber dann stellte ich fest, dass ich trotz der schrecklichen Ereignisse selber Hunger hatte. Und ich war mir sicher, dass eines von Tante Fridas Nudelgerichten jetzt viel besser für mich war als eine Karriere als Moorleiche.
Als ich an unserem baufälligen Torhaus vorbeiradelte, hatte die Vorstellung, in ein Stück von Tante Fridas Lasagne zu beißen, die Gedanken an das miese Erlebnis mit Tom ein wenig zurückgedrängt.
Und als ich Tristans Fahrrad zurück unter den Rhododendronbusch beförderte, kam mir auch das verdächtige Treffen meines Vaters mit fremden Frauen als nicht mehr ganz so schlimm vor. Schlimm ja, aber nicht so schlimm, dass es einem den Appetit auf Lasagne verderben könnte. Vielleicht hatte ich ja auch etwas übersehen? Vielleicht waren die Dinge nicht so, wie sie mir erschienen waren? Mit Lasagne im Magen ließen sich diese Fragen sicher beantworten.
Leider bekam ich sie nicht, also die Lasagne. Außerdem verging mir der Appetit nun wirklich, und zwar gründlich. Denn kurz bevor ich die Tür zum bewohnbaren Teil unseres Schlosses erreichte, kam mir der Bauarbeiter mit dem roten Helm und dem noch röteren Gesicht entgegen. Er war kreidebleich und sein Gang glich eher so einer Art Wanken. Ich begriff sofort, dass er diesmal nicht auf der Suche nach dem Klo war.
»Da … da unten … da ist … da unten …«, stammelte er, und wiederum war mir klar, dass er mit da unten die Baugrube meinte und dass da ist nicht mit viel Erde oder ein Bonbonpapier weitergehen würde.
Er hatte beim Graben irgendetwas Schreckliches gefunden. Etwas furchtbar Schreckliches, denn eigentlich sah der Bauarbeiter mit dem roten Helm nicht so aus, als würde er schnell aus den Latschen kippen. Das tat er aber gerade. Er taumelte auf den Rhododendronbusch zu, machte dort eine ungeschickte Drehung und plumpste neben Tristans Fahrrad zu Boden. Dann begann er, mit panischem Gesichtsausdruck sein Handy hervorzukramen.
Ich lief natürlich sofort zur Baugrube und war auf das Schlimmste gefasst. Dass es allerdings derart schrecklich schlimm werden würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Unten in der Grube befand sich ein weiterer Bauarbeiter. Er schien in eine Art Schockstarre gefallen zu sein, denn außer einem leichten Wanken stand er völlig regungslos da. In seiner linken Hand hielt er einen Totenschädel.
Einen Totenschädel, an dem noch ein Teil der Wirbelknochen baumelte. Der Rest des Skeletts ragte unheilverkündend neben ihm aus der feuchten Erde. Ein vollständiges, bleiches Skelett … bis auf den linken Arm, der zu fehlen schien.
Ich taumelte einige Schritte zurück, stolperte über einen Werkzeugkasten und fiel auf die Knie. Das tat höllisch weh, und ich wurde zwar nicht gerade ohnmächtig, aber für ein oder zwei Minuten waberten schwarze Fratzen an meinen Augen vorbei, als wäre ich Teil eines alten Horrorfilms, der kurz davor war, den Geist aufzugeben.
Leider gab der Horrorfilm um mich herum nicht den Geist auf, im Gegenteil, er ging jetzt erst richtig los. Mr Baxter, der Polizeichef von Moorwood (und Toms Vater), kam plötzlich um die Ecke gelaufen, gefolgt von zwei weiteren Polizisten, die sich um den unglückseligen Bauarbeiter in der Grube kümmerten – und um dessen Fundstück natürlich. Und neben mir tauchte auf einmal Mama auf und warf mir einen ihrer berühmten vielsagenden Blicke zu, der in etwa bedeutete: Auch das noch! Mama gehörte nämlich zusammen mit Opa zu dem Teil unserer Familie, der mit den Renovierungs- und Bauarbeiten überhaupt nicht einverstanden war. Ihr machte das alles zu viel Dreck und außerdem hätte sie unser Schloss viel lieber gegen eine Neubauwohnung in London umgetauscht. Und Opa … tja, warum Opa so dagegen war, das hatte ich ehrlich gesagt bis jetzt nicht so recht verstanden. Nun allerdings tauchte in meinem ziemlich überforderten Gehirn der Gedanke auf, dass Opa vielleicht so etwas wie einen siebten Sinn dafür hatte, wann mit Ärger zu rechnen war.
Erst einmal konnte ich diesen Gedanken jedoch nicht weiter verfolgen, denn ich wurde von den Erwachsenen wie eine Schachfigur herumgeschoben. Mama schob mich zu Papa, Papa schob mich zu Onkel Bob und der schob mich zu Tante Frida. Immerhin entging ich dadurch Tristans Schicksal, der Polizei im Weg herumzustehen und angeschnauzt zu werden. Der Ton wurde rauer, alle waren nervös. Das gelbe Absperrband, das auf einmal überall flatterte, trug auch nicht gerade zur Entspannung bei. Plötzlich sah unsere Baugrube aus wie ein Tatort.
Mein Vater, der zusammen mit Onkel Bob und Opa in die Grube steigen wollte, wurde sofort wieder zurückgeschickt, was keiner von ihnen besonders freundlich aufnahm. Die drei konnten es nämlich nicht leiden, wenn man ihnen auf ihrem eigenen Grundstück sagte, was sie zu tun und zu lassen hatten. Für einen Moment schoss mir die Frage durch den Kopf, wie Papa so schnell wieder hier sein konnte, wo er doch gerade noch mit der Tortellini-Tussi in der Stadt gewesen war. Und dann glaubte ich auch noch, die Tortellini-Tussi zu sehen, halb verdeckt von einem der Polizeiautos. Hatte die ihr Handy in der Hand? Machte sie Fotos? Ich wollte mich schon gewaltig darüber aufregen, aber da standen auf einmal meine Schwestern neben mir und hielten mich offenbar für eine Mord-und-Totschlag-Expertin.
»Du hast bestimmt alles gesehen und weißt Bescheid«, fing Amalia an.
»Wer ist ermordet worden? Und warum gerade hier?«, wollte Georgina wissen.
Die beiden letzten Fragen konnte ich natürlich nicht beantworten, aber während ich ihnen erklärte, was bislang passiert war, beruhigte sich das Chaos in meinem Kopf. Zumindest ein wenig, denn nun kletterte Mr Baxter aus der Baugrube und verkündete: »Wir sollten uns alle in der Küche versammeln!«
»Fühl dich ganz wie zu Hause, Michael«, sagte Mama kühl.
Sofort rannte ich gemeinsam mit den Zwillingen los. Im Gegensatz zu den Erwachsenen und Tristan waren wir drei schlank genug für einen Spalt im Mauerwerk, der bei der Renovierung der Außenwand entstanden war. Wir schlüpften unter der Plastikplane hindurch, quetschten uns an zwei Eisenträgern vorbei und liefen durch das abgesperrte Treppenhaus im Ostflügel. Dann bogen wir zu einem Geheimgang ab, der das Schloss mit dem Anbau verband, in dem wir wohnten. Jetzt mussten wir nur noch um den verstaubten Gummibaum herum, die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle rasen – und schon waren wir in der Küche.
Merkwürdigerweise schafften wir es trotz der genialen Abkürzung nur ganz knapp, uns die besten Plätze am großen Eichenholztisch zu sichern – die restlichen Familienmitglieder drängelten sich nur wenig später in den Raum. Da sie komplett ums Schloss herumgelaufen waren, mussten sie sich dabei sonst wie beeilt haben. Und tatsächlich sahen alle ziemlich gehetzt und angestrengt aus, was aber vielleicht auch an den Umständen lag, die zu dieser Familienzusammenkunft geführt hatten. Auf jeden Fall machte Mr Baxter, der als Letzter in die Küche kam, ein sehr strenges Gesicht. Dass er in seiner Freizeit gern Tomatenwitze erzählte, hätte in diesem Moment keiner vermutet.
»Das ist eine sehr ernste Angelegenheit«, sagte der Polizeichef, was er sich hätte sparen können, denn das hatten alle begriffen. Selbst unser Hund Poldi, der zwar den Skelettfund verpasst hatte, nun aber von irgendwoher aufgetaucht war und Mr Baxter mit schräg geneigtem Kopf ansah.
»Sehr ernst«, wiederholte Mr Baxter. »Eigentlich dürfte ich das hier gar nicht machen, auf jeden Fall widerspricht es einer ganzen Menge Vorschriften, aber wir kennen uns ja nun schon so lange, dass …«
Mr Baxter wusste nicht mehr weiter. Er sah kurz zu Boden, dann ließ er den Blick in die Runde schweifen.
»Wir werden für diesen Fall einen Spezialisten aus London anfordern, einen Forensiker«, erklärte er und räusperte sich. »Also, das heißt, Constabler Smith hat das bereits gemacht.«