Mehr Freiheit - Dietmar Krug - E-Book

Mehr Freiheit E-Book

Dietmar Krug

4,9

Beschreibung

Burkhard Van der Waiden, ein deutscher Universitätsdozent, ist mit seiner Familie nach Wien gezogen, um dort die vielleicht letzte Chance zu nutzen, einen Lehrstuhl zu bekommen. Dabei gerät seine familiäre Welt aus dem Lot. Seine Frau, Tochter aus einer Wiener Arztfamilie, setzt alles auf eine späte Karriere in der Scheinwelt des modernen Kunstbetriebs. Seine demenzkranke Mutter verfolgt ihn mit Telefonterror bis hinein in die heiligen Hallen der Wissenschaft. Van der Waidens Tochter, eine drogensüchtige Backgroundsängerin, versucht ihrer Karriere mit plastischer Chirurgie auf die Sprünge zu helfen. Beim jährlichen Familienessen verliert seine Schwiegermutter die Contenance und schüttet einen Topf Suppe gegen die Wand. Und dann ist da noch der Sohn Moritz, der zusammen mit seinem türkischen Freund in eine Science-Fiction-Welt flüchtet. Als er sich in eine Mitschülerin verliebt, wird er gemeinsam mit ihr zum Schulverweigerer. Mehr Freiheit ist ein originell komponierter Familien- und Generationenroman, der weit über das Individuelle hinausreicht. Parabelhaft und mit feinem Humor porträtiert Dietmar Krug die Sprachlosigkeit einer Familie, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen vor den großen Spiegeln der Wohnung trifft, zu mehr als oberflächlichem Beobachten aber nicht fähig ist.

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Dietmar KrugMehr Freiheit

Dietmar Krug

Mehr Freiheit

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1210-8eISBN 978-3-7013-6210-3

© 2013 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Coverfoto: Eliane Hobbing, Dortmund

Für Margret

Inhalt

Der Geruch I

Wasser

Der Auftrag I

Wer ist der Doc?

Durchgehende Rosse

Weiche Welt

Der Fleck an der Wand

In der Burg

Der Sturz

Woran man so denkt

Der Auftrag II

Mensch wider Willen

Was man so sieht

Im Körper des Anderen

Die Künstler

Die Psychologin

Der Kongress

Die neue Gestalt

Der Geruch II

Die Hirnnase

Mehr Freiheit

Epilog

Der Geruch I

An diesem Morgen lag wieder der Geruch in der Luft. Er hatte ihn gleich wahrgenommen, als er das Schlafzimmer, in dem seine Frau noch schlief, verlassen hatte. Normalerweise liebte er den ersten Schritt hinaus aus dem Dunst der geteilten Nacht, die Helligkeit der weißen Wände, das Gefühl des glatten, sauberen Parkettbodens unter seinen nackten Füßen. Aber jetzt war da jener leichte Geruch, der sich in der Wohnung eingenistet hatte. Es war eine Mischung aus Frauenparfüm, Zigarettenrauch und noch etwas anderem, schwer Bestimmbarem. Er kannte die Note, sie gehörte zu seiner Tochter, die nach mehreren Wochen wieder einmal den Weg in die elterliche Wohnung gefunden hatte. Auch ohne den Geruch hätte er gewusst, dass Sophie für diesen morgendlichen Besuch nicht früh aufgestanden war. Sie hatte die Nacht durchgemacht.

Durch die geschlossene Küchentür drang die gewollt bedeutsame Musik eines alternativen Radiosenders. Er zögerte kurz, bevor er die Tür öffnete, atmete ein und spannte Arme und Schultern an, als müsse er sich gegen ein Gewicht stemmen, das die Tür auf der anderen Seite blockierte. Sophie saß auf der Bank hinter dem Glastisch, sie hatte ein Bein angewinkelt und zog ihr Knie mit der Armbeuge gegen ihren Körper. Ihr kurzes T-Shirt gab ein Stück ihres gekrümmten Rückens frei, klar modulierte Wirbel unter gebräunter Haut. Die Bänder eines schwarzen String-Tangas spannten sich über eine Tätowierung, die fast die gesamte Breite ihres schmalen Rückens einnahm, eine dunkle, grünblaue Fantasiezeichnung mit in sich verschränkten Ranken.

In der Hand hielt sie eine Kaffeetasse, auf deren Porzellan sie mit einem der breiten Silberringe an den Fingern ihrer freien Hand unrhythmisch zum Takt der Musik klopfte. Als ihr Vater die Küche betrat, blickte sie kurz von einer aufgeschlagenen Illustrierten zu ihm auf. Ihre schwarz geschminkten Augen wirkten müde und wach zugleich, dunkel umrändert und in ständiger, fahriger Bewegung.

– Kannst du das mal leiser machen?, sagte er und deutete auf das Radio.

Sophie las weiter in ihrer Zeitschrift und ignorierte seine Frage. Er ging zum Schrank und schaltete das Radio aus. Sie hob den Kopf und schaute ihn direkt mit leicht verzogenem Mundwinkel an. Während sie sich eine Zigarette anzündete, fragte sie:

– Wo ist Mama?

– Wo sie immer um diese Zeit ist, im Bett.

Um ihrem Blick auszuweichen, wandte er sich zum Kühlschrank.

– Hast du schon gefrühstückt?

– Keinen Hunger.

Er öffnete die Kühlschranktür und überlegte kurz. Früher, als sie sonntags noch gemeinsam gefrühstückt hatten, durften die beiden Kinder sich etwas Besonderes wünschen. Sophie hatte sich jedes Mal für Spiegelei auf Toast entschieden. Er stellte eine Pfanne auf den Induktionsherd und schlug einige Eier hinein. Da er keinen Toast fand, steckte er zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster. Seine Tochter stand von der Bank auf, ging zu der hydraulisch heb- und senkbaren Anrichte und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Als sie sich Milch aus dem Kühlschrank nahm, stand sie für einen Moment neben ihrem Vater. Durch den Duft aus Kaffee und bratenden Spiegeleiern hindurch nahm er wieder diesen Geruch wahr, das auffällige Parfüm, den Dunst nach Rauch und ungelüfteter Kneipe. Aber dazwischen war noch etwas, eine leicht säuerliche, scharfe Ausdünstung. Es war nicht einfach der vertraute Geruch eines Menschen, der mehrmals seine Kleidung durchgeschwitzt und noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sie zu wechseln. Dieser Geruch war spitzer, aggressiver, chemischer, ein Signal, dass etwas organisch aus dem Lot geraten war.

Während sie Milch in den Kaffee goss, beobachtete er, wie ihre Hände mit den langen, schmalen Fingern die Gegenstände behutsam und erst nach einem leichten Zögern berührten. Sie schniefte und wischte mit dem Handrücken ihre leicht gebogene Nase, von der sie überzeugt war, dass sie ihre Modelkarriere verhindert hatte. Sophie war dünner geworden, was ihre Größe und Langgliedrigkeit noch betonte. Sie trug eine taschenlose Jeans, deren Bund am Bauch so tief geschnitten war, dass der obere Rand ihres Schamhaars sichtbar gewesen wäre, wenn sie es nicht abrasiert hätte. Die leichte Bauchwölbung, unter der sie immer gelitten hatte, war fast verschwunden, so dass ihr gepiercter Nabel unter dem Rand des T-Shirts stärker als sonst hervortrat. Doch etwas schien in ihren Proportionen durcheinandergeraten zu sein. Was es war, bemerkte er erst, als sie wieder in ihre Illustrierte vertieft war und er sie in Ruhe betrachten konnte. Ihre Brüste waren größer geworden, ihre Fülle bildete einen auffälligen Kontrast zu der Magerkeit ihres restlichen Körpers.

Er war irritiert; verstohlen musterte er immer wieder die Konturen ihres Körpers, peinlich darauf bedacht, nicht bei seinen Blicken ertappt zu werden. Seine Befangenheit erinnerte ihn an die Zeit, als er ihre wachsenden Brüste bewusst wahrzunehmen begonnen hatte. Er hatte sich die Veränderung erst wirklich eingestanden, als seine Frau ihre Tochter am Frühstückstisch zum ersten Mal aufforderte, einen Büstenhalter zu tragen.

– Es sei denn, du willst, dass sämtliche Jungs in deiner Klasse dir auf den Busen starren.

Er hatte daraufhin gedankenverloren ihre Brüste betrachtet, die sich tatsächlich leicht unter ihrem Schlafanzugoberteil abzuzeichnen begannen. Er wollte etwas Ironisches, die Peinlichkeit Entschärfendes sagen, verstummte aber, als er den Blick seiner Tochter bemerkte. Es lag eine Mischung aus Beschämung und Verstörung darin, die er bis dahin noch nicht gesehen hatte. Sonst kaum um eine Antwort verlegen, rang sie sichtlich mit ihrer plötzlichen Sprachlosigkeit. Es war etwas zur Sprache gekommen, für das sie selbst noch keine Worte hatte. Als nun auch noch Moritz, ihr jüngerer Bruder, von seinem Comic aufblickte und neugierig ihre Brüste betrachtete, verlor sie die Fassung.

– Glotz nicht so dämlich! Ihr könnt mich mal.

Sie warf ihr Messer auf den Teller und verließ türenknallend das Esszimmer. Er wartete darauf, dass seine Frau ihr nachging. Aber sie sagte:

– Lass sie nur, da muss sie jetzt durch, die kommt schon wieder.

Er betrachtete die Tür, durch die seine Tochter geflohen war, und ihm wurde bewusst, dass nach ihrer Rückkehr nichts mehr so sein würde wie vorher. Er hatte es immer als normal empfunden, dass er zu Moritz ein engeres Verhältnis hatte als zu seiner Tochter. Schließlich interessierte sein Sohn sich auf seine eigentümliche Art für eine Welt, die sie miteinander teilen konnten, Moritz saß stundenlang vor den als Dokumentationen getarnten Filmen über Dinosaurier, die er ihm regelmäßig mitbrachte, und der Vater genoss es, wenn sein Sohn dann das Gespräch mit ihm suchte, weil ihn etwa die Frage quälte, ob die Säugetiere, und damit auch die Menschen, vielleicht in ein paar Millionen Jahren genauso ausgestorben sein werden wie die Saurier. Umgekehrt hatte er es immer für völlig natürlich gehalten, dass Sophie sich offensichtlich mehr zur Sphäre der Mutter hingezogen fühlte. Schließlich war seine Frau es, die ihre Tochter zum Klavier- und Tanzunterricht fuhr, sich von ihr vortanzen ließ, ihre Fortschritte überprüfte.

Diese Aufteilung seiner Welt in zwei gleich große Hälften hatte für ihn etwas Beruhigendes. Sie zog überschaubare Lebensradien, befriedete Bezirke mit festgelegten Regeln und klaren Grenzen. Aber jetzt spürte er, dass etwas anderes, Fremdes, zwischen ihn und seine Tochter getreten war, etwas, das den Frieden zwischen den Lagern gefährdete.

Als er einige Tage nach dem Eklat beim Frühstück von der Universität nach Hause gekommen war, hatte er seine Tochter und seine Frau vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer vorgefunden. Sophie trug den schwarzen Jil-Sander-Hosenanzug, den seine Frau sich vor Kurzem anlässlich einer Vernissage gekauft hatte, darunter eine weiße Bluse mit aufgeschlagenem Kragen. Der weite Schnitt des Anzugs verschleierte den Umstand, dass Sophies Körperformen den Stoff noch nicht ausfüllten. Sie war dezent geschminkt und trug ihr dunkles Haar hochgesteckt. Verblüfft blieb er in der Tür stehen. Auf den ersten Blick hatte er Sophie für seine Frau gehalten. Sie hatte bereits die gleiche Größe wie Lisa, wirkte aber langgliedriger und schlaksiger, was darauf hindeutete, dass sie seine Größe geerbt hatte und seine Frau bald überragen würde. Er kannte ein Foto von Lisa in Sophies Alter, auf dem die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter frappant war. Es war ein Schnappschuss von einem Schulausflug, auf dem sie eine provokante Pose einnimmt. Man spürte, die Pose würde sich jeden Moment in Ironie oder Gekicher auflösen, aber die Kamera war schnell genug gewesen, den Augenblick einzufangen. Lisas Gesicht wirkte damals bereits für ihr Alter ungewöhnlich charakteristisch. Es schien, als würde es mit sich selbst in Widerspruch stehen. Ihre Brauen waren geschwungen und klar gezeichnet, die rechte etwas stärker in die hohe Stirn gezogen als die linke, was ihrem Ausdruck etwas Skeptisches verlieh. Gleichzeitig war die schiefergraue Iris ein wenig von den Lidern mit ihren langen, damals noch nicht gefärbten Wimpern verhangen. Ihr schmaler, gekrümmter Nasenrücken und die Wangen mit den leichten Einbuchtungen wirkten fast streng, aber ihr Mund war weich, der Rand der Unterlippe nicht klar konturiert – ein Makel, den sie später stets penibel mit Lippenstift korrigieren sollte.

Jetzt sah er seine Tochter im Spiegel, der Hosenanzug ließ sie älter wirken, und das Make-up betonte jene Charakteristika, die auch das Gesicht seiner Frau prägten, die gehobenen Brauen, die verhangenen Augen, die langen Wimpern, selbst die eingebuchteten Wangen waren da, die zuvor in der ungeschminkten Weichheit des kindlichen Gesichts kaum aufgefallen waren. Die Skepsis im Blick seiner Frau geriet bei seiner Tochter allerdings eher zu einem Ausdruck der Verwirrtheit, und das leicht Übercharakteristische in Lisas Zügen war hier noch gemildert durch den Schmelz und die Unbestimmtheit der Jugend. „Sophie sieht aus wie eine Comicfigur“, hatte er oft zu Lisa gesagt, wenn ihn in den frühen Jahren das ungewöhnliche Aussehen seines Kindes gerührt hatte, dieser erstaunte Ausdruck, als könne es einfach nicht begreifen, dass die Welt ist, wie sie ist. Jetzt war die Comicfigur offenbar im Begriff, sich in etwas zu verwandeln, für das er ebenso wenig einen Namen zu haben schien wie sie selbst. Sophie war sichtlich erstaunt über das, was sie im Spiegel sah. Leicht argwöhnisch, doch zugleich mit unverhohlener Neugier betrachtete sie sich von allen Seiten. Sie hatte inzwischen registriert, dass ihr Vater in der Tür stand und sie beobachtete, ließ es sich aber nicht anmerken.

– Na, was sagst du zu unserem Schmuckstück?, fragte Lisa ihn, stellte sich hinter Sophie und legte ihr Kinn auf die Schulter ihrer Tochter, was den Eindruck der Ähnlichkeit bis zur Groteske verstärkte. Zwei Gesichter, so verwandt und gerade deshalb so unendlich weit voneinander entfernt, getrennt durch Jahrzehnte des Ringens, der Disziplinierung und der Strenge mit sich selbst. Lisa zog die Bluse ihrer Tochter ein wenig auseinander, um die Kragenenden über das Revers der Jacke zu legen, und sagte:

– Meine Süße, mit dem Aussehen wirst du es noch weit bringen.

Er lehnte sich an den Türrahmen und kratzte sich am Hinterkopf.

– Na herzallerliebst.

Sophies Blick verdüsterte sich, sie löste sich von der Mutter, wandte sich vom Spiegel ab und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Es war das zweite Türenknallen in dieser Woche gewesen, eine deutliche, lautstarke Grenzziehung, von der er nicht so recht wusste, ob Sophie sich damit einschließen oder ihn ausschließen wollte. Er nahm sich vor, sie einstweilen in Ruhe zu lassen. So lag fortan eine vage Befangenheit über dem Umgang mit seiner Tochter. Wenn er mit ihr redete, wusste er nicht, wie er sie ansehen sollte. Und Sophie schien jeden Moment damit zu rechnen, dass er eine Bemerkung über ihr Äußeres machen könnte oder dass sein Blick sich von ihrem Gesicht lösen und sich wieder jenem Tabubereich zuwenden würde, für den es zwischen ihr und ihrem Vater keine Sprache gab. Ja, sie schien geradezu die Bestätigung dafür zu suchen, dass er im Grunde ohnehin an nichts anderes dachte, weil offenbar die ganze Welt nichts anderes mehr im Sinn hatte. Er hatte nie ein besonders körperliches Verhältnis zu ihr gehabt, aber jetzt hörten auch die wenigen Berührungen auf, die bis dahin ihre Verabschiedungen und Begrüßungen begleitet hatten. Ihr Ton ihm gegenüber wurde gereizter, aggressiver. Sie fing an, ihn bei jeder Gelegenheit zu provozieren, drehte die Musik lauter, wenn sie wusste, dass er arbeitete, machte sich über seine belehrenden Gespräche mit Moritz lustig:

– Oh, der große Wissenschaftler hält wieder seine weisen Vorträge.

So fing er an, seiner Tochter aus dem Weg zu gehen, und ihr schien das nur recht zu sein.

Jetzt saß sie ihm gegenüber auf der Küchenbank, nachdem er sie wochenlang nicht gesehen hatte, ein müdes, großes Mädchen, mager, mit nacktem Bauch und langen, zerbrechlich wirkenden Armen. Und vergrößerten Brüsten.

Auf dem Gang hörte er die Stimmen seiner Frau und seines Sohnes. Es war das übliche lärmende Ritual, nachdem Lisa minutenlang damit gekämpft hatte, Moritz aus dem Bett zu bringen.

Sein Sohn betrat als Erster die Küche. Verschlafen, die langen, ungekämmten Haare wirr im Gesicht, wurde er von der Mutter regelrecht in den Raum geschoben. Seine Miene hellte sich auf, als er seine Schwester sah. Er ging auf sie zu und blieb linkisch vor dem Küchentisch stehen, weil er nicht wusste, was er mit seiner Freude, sie zu sehen, anfangen sollte.

Lisa betrat die Küche im weißen Bademantel, einen Duft nach Shampoo und Seifenlotion verströmend. Sie ging auf Sophie zu, öffnete die Arme, um ihre Tochter zu umarmen, blieb dann aber kurz vor ihr stehen und musterte ihren Körper.

– Ja, Kind, ist das ein gepolsterter BH, oder ist das echt?

Mit einer geschickten Bewegung strich Lisa sich das nasse Haar aus dem Gesicht, dann legte sie eine Hand auf die rechte Brust ihrer Tochter, als prüfe sie mit sachkundigem Griff den Reifegrad einer Frucht. Sophie schrie auf und wich zurück.

– Spinnst du? Die Narben sind noch nicht verheilt.

Die Mutter zog die Hand zurück und hielt sie sich vor den Mund.

– Mein Gott, Kind, du hat es wirklich getan.

Ihr Ausdruck schwankte zwischen Bestürzung und Exaltiertheit.

Ihr Mann lehnte sich mit einem Ellbogen auf die verchromte Anrichte und betätigte die Hydraulik. Während sie sich mit einem leisen Summen zu senken begann, verlagerte er sein ganzes Gewicht auf die Deckplatte, so dass sein durchgestreckter Körper langsam in einem immer spitzer werdenden Winkel zum Boden gezogen wurde. Er war erleichtert, als sein Sohn über seine Darbietung zu lachen begann. Doch als er sich aufrichtete, hatte er das Gefühl, als müsse er sich beim Einatmen gegen ein lastendes Gewicht auf seiner Brust stemmen. Der Raum kam ihm plötzlich eng vor, überfüllt mit den vier Menschen und den schweren Gerüchen nach Rauch, Parfüm, Nahrung und Mensch. Er begann zu schwitzen und ging mit steifen Bewegungen zur Tür.

– Wenn mich jemand sucht, ich bin im Bad und ertränke mich in der Wanne.

Er ging wieder über den Parkettboden des geräumigen Flurs, stieg über die hölzernen Stufen der geländerlosen Wendeltreppe in den oberen Stock der Wohnung und betrat das Bad. Obwohl die indirekte Halogenbeleuchtung ein schmeichelndes Licht verbreitete, fühlte er sich alt, als er sich im Spiegel sah. Sein ansonsten dichtes, an den Schläfen bereits ergrautes Haar begann aus der Stirn zurückzuweichen. Die weißen Stoppeln in seinem gepflegt unrasierten Gesicht nahmen bereits überhand, aber er rasierte sie nicht ab, weil er seine Mund- und Kinnpartie für zu unausgeprägt hielt. Seine grüngrauen Augen hatten in diesem Licht einen unnatürlichen Glanz, darunter traten die Ränder mit ihrer feinen, irreparabel zerstörten Haut deutlich hervor, die Trapezlinien von den Nasenflügeln hinunter zu den Mundwinkeln und die beiden Längsfalten zwischen seinen breiten Augenbrauen erschienen ihm tiefer als sonst. Minutenlang stellte er sich unter den Massagestrahl der Dusche, wechselte zum Schluss wie üblich mehrmals zwischen heißem und kaltem Wasser, aber der erfrischende Effekt wollte sich nicht einstellen.

Als er die Küche wieder betrat, war sie leer. Er schüttete den vollen Aschenbecher aus und räumte das benutzte Geschirr weg, das immer noch auf dem Tisch stand. Er warf die erkalteten Spiegeleitoasts in den Müll und bemerkte, dass bei einem der Toasts das Eigelb fehlte. Das Brot war in zwei Teile gerissen, und die Bissspuren am Rand verrieten, dass jemand den gesamten Dotter mit zwei Bissen vom Rest abgetrennt hatte. Moritz hatte es bestimmt nicht gegessen, er hasste Spiegelei, seine Frau war es ganz sicher auch nicht gewesen, sie hätte morgens nie etwas so Cholesterin- und Kalorienreiches zu sich genommen wie ein in Öl gebratenes Ei. Der Biss konnte nur von Sophie stammen. Plötzlich versetzte ihn der Gedanke, dass seine Tochter von dem Spiegeleitoast gegessen hatte, in eine für ihn zunächst unerklärlich aufgeregte Stimmung. Mit wachsender Freude betrachtete er die Bissspuren, glaubte gar, die Abdrücke von Sophies mittleren Schneidezähnen von denen der schmaleren Eckzähne unterscheiden zu können. Seine Tochter hatte nicht etwa lust- und achtlos in irgendeine Stelle am Rand des Brotes hineingebissen, sondern ganz gezielt ins weiche Eigelb, nachdem sie es zuvor mit den Händen freigelegt hatte. Und es musste ihr geschmeckt haben, sonst hätte sie es nicht ein zweites Mal getan.

In aufgeräumter, geradezu erwartungsvoller Stimmung verließ er die Wohnung und holte den schwarzen Volvo aus der Tiefgarage. Er genoss wie jeden Morgen den Geruch nach der neuen Innenraumverkleidung, der sich seit Monaten nicht verflüchtigte, und das sanfte, satte Geräusch, das der Motor in der niedrigen Tiefgarage erzeugte. Er machte einen kleinen Umweg, fuhr eine Runde über die Ringstraße, die die Wiener Innenstadt wie ein geschlossener Schutzgürtel umgab, bevor er in die Parkgarage der Universität einbog.

Wasser

Moritz setzte den Ellbogen auf sein Mathematikheft und stützte seinen immer schwerer werdenden Kopf auf die Handfläche. Er blickte zum Fenster über seinem Schreibtisch und betrachtete die Regentropfen auf der Glasscheibe. Zuerst rannen sie langsam, dann beschleunigten sie auf ihrer Bahn, bis sie auf dem Fensterrahmen zerschellten. Doch bis zu diesem finalen Moment behielten sie ihre Form. Und wieder erschien ihm dieses Phänomen als ein ungelöstes Rätsel. Normalerweise brauchte Wasser doch ein Gefäß, um eine Gestalt anzunehmen. Schüttete man es aus, war es nichts als eine amorphe, unansehnliche Pfütze. Warum aber behielten die Tropfen ihre charakteristische Form und ergossen sich nicht in winzige Pfützen? Es schien, als wären sie einst von lauter kleinen tropfenförmigen Gefäßen zusammengehalten worden und hätten inzwischen die Fähigkeit entwickelt, ihre Gestalt aus eigener Kraft beizubehalten.

Im vergangenen Jahr, als Moritz noch in Köln das Gymnasium besuchte, hatte er seinen Chemielehrer gefragt, was die Tropfen eigentlich zusammenhielt. Der Lehrer war jung, hatte gerade erfolgreich die Referendarzeit hinter sich gebracht. Er war beliebt, weil er einen Computer-Workshop am Nachmittag leitete, in dem er den Kids zeigte, wie man einen Rechner mit wenig Geld aufrüsten und sich Musik und Software aus dem Netz herunterladen kann. Beweglich und stets sportlich gekleidet, ging er in seinen Laufschuhen federnd zwischen den Bankreihen hindurch, um hier und da mit ein paar Klicks einem abgestürzten Rechner oder einem widerspenstigen Programm auf die Sprünge zu helfen.

Der Lehrer war sichtlich erstaunt über Moritz’ Frage nach dem Zusammenhalt der Tropfen. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil es die erste Frage war, die sein Schüler jemals im Chemieunterricht gestellt hatte. Er zögerte einen Moment, bevor er antwortete.

– Dipol-Ladungen, Anziehung zwischen den Atomen, halten den Tropfen zusammen. Aber ich fürchte, dafür fehlt das nötige Update. Bevor wir zum Wasser kommen, legen wir lieber mal ein paar Pfade im Schilf an. Moritz, was ist eigentlich Wasser?

– Ein Element?

– Bingo, womöglich das feuchte?

Während die Klasse lachte, ging der Lehrer in den hinteren Bereich des Chemiesaals und kam mit einer Art Baukasten zurück. Er holte drei Plastikkugeln heraus, eine weiße und zwei rote, und steckte sie mit Metallverstrebungen zusammen, die weiße in der Mitte in einem stumpfen Winkel zwischen den beiden roten. Er hielt das Gebilde vor sich in die Luft, ging damit langsam durch die Klasse bis zu Moritz’ Platz und hielt es ihm hin.

– Irgendeine Idee, was das sein könnte?

– Drei Kugeln. Elektronen?

– Das sind Atome. Klick mal aufs Verzeichnis ‚Letztes Schuljahr’, dann weißt du, welche. Na, alles schon gelöscht?

Moritz betrachtete wieder die Kugeln und fand keine Antwort.

– Dann noch mal zur Wiederholung: Die beiden roten Kugeln sind Wasserstoffatome, die weiße ist ein Sauerstoffatom. Zwei Hs und ein O, macht in Summe: H2O. Was du da in der Hand hältst, Moritz, ist kein Element, nichts Elementares, sondern eine Verbindung, die den Großteil unseres Planeten bedeckt: pures, reines Wasser, garantiert ohne chemische Zusätze.

Der Lehrer nahm Moritz das Modell aus der Hand.

– Jetzt fragst du dich wahrscheinlich, warum deine Finger nicht nass sind.

Wieder lachte die Klasse, Moritz legte seine Hände in das Fach unter seinem Tisch und stimmte verlegen ins Lachen der anderen ein. Sein Lehrer täuschte sich. Moritz hatte sich nicht gewundert, warum seine Hände nicht nass waren. Die Wahrheit war: Er hatte nicht die geringste Ahnung, was diese drei Plastikkugeln mit Wasser zu tun hatten, dem Wasser, mit dem er sich wusch, das er trank, wenn keine Limonade im Kühlschrank war, das Wasser des Meeres, in dem er im Sommer noch geschwommen war und mit einer Taucherbrille stundenlang die Fische eines Korallenriffs beobachtet hatte, so lange, bis seine Haut ganz aufgeweicht und seine Körpertemperatur empfindlich gesunken war. Er hatte es im vergangenen Schuljahr nicht begriffen, als sein Lehrer zum ersten Mal die drei Kugeln ausgepackt hatte – er erinnerte sich sehr wohl daran –, und er begriff es nun weniger denn je.

Moritz erhob sich vom Schreibtisch und hob eine DVD-Hülle auf, die vor dem Fernseher auf dem Boden lag. Es war eine Star-Trek-Folge, auf dem Cover war Odo abgebildet, der Sicherheitsoffizier auf Deep Space 9, der jede nur denkbare Gestalt annehmen konnte. Achmed nannte ihn immer H2Odo, weil er sich alle sechzehn Stunden zur Regeneration in seine Urflüssigkeit zurückverwandeln und die Nacht in einem Eimer zubringen musste. Wenn irgendjemand wusste, was die Wassertropfen zusammenhielt, dann war es Odo, nur leider fragte ihn nie jemand danach. Und von sich aus hätte er es niemals verraten, er war ein misstrauischer und wortkarger Sicherheitsoffizier.

Moritz hatte Achmed kennengelernt, als er zum ersten Mal den Star-Trek-Laden aufsuchte, den er im Internet entdeckt hatte. Er hatte sich mithilfe eines Online-Stadtplans die Straßenbahnlinien auswerfen lassen, die ihn in einen unbekannten Bezirk in der Wiener Vorstadt führten. Es war seine erste eigenständige Erkundung der neuen Stadt, seit sie aus Köln weggezogen waren. Sein Vater hatte ihn am Wochenende öfters auf kleine Ausflüge mitgenommen, war mit ihm zum Rummelplatz im Prater gegangen, wo sie schon bald nicht mehr wussten, was sie tun sollten. An einem Eisstand hatte er bemerkt, wie sein Vater ihn von der Seite beobachtet hatte, bevor er ihn fragte, ob er sich eigentlich ab und zu mal mit seinen Klassenkameraden treffe. Moritz zuckte die Schultern und wunderte sich über das altmodische Wort „Kameraden“, es klang irgendwie nach Kaserne und gemeinsamem Marschieren.

– Die interessieren mich nicht, und die reden alle so komisch. Da ist alles immer „ur“, urgeil, urfad, urcool.

Sein Vater lächelte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:

– Das wird schon. Du gewöhnst dich dran.

Moritz schaute zwei Jungen zu, die von einem Bungee-Seil in die Luft geschleudert wurden.

– Na, willst du mal damit fliegen?, fragte sein Vater, komm, wir probieren’s beide.

Er legte ihm die Hand an den Rücken und versuchte ihn zum Kassenschalter zu schieben. Als er Moritz’ Widerstreben spürte, zog er die Hand zurück und sagte:

– War nur ein Scherz.

Sie verließen den Rummelplatz auf geradem Weg, und sein Vater zeigte ihm noch den Weg zu einem Einkaufszentrum in der Innenstadt, in dem es einen großen Mediamarkt gab.

Als Moritz den Star-Trek-Laden gefunden hatte, betrachtete er lange die Auslage: Filme, Magazine, Sticker, Handphaser oder Masken von allen wichtigen Figuren des Universums. Er konnte sich nicht überwinden, das Geschäft zu betreten, und war schon fast im Begriff umzukehren, als ein Junge aus der Eingangstür trat. Er war gut einen Kopf kleiner als Moritz, seine Beine waren unproportional kurz im Vergleich zum Rest des Körpers. Die Gesichtshaut wies an der kräftigen Nase und auf den Wangen entzündete Akne auf, die Augenbrauen über den großen, dunklen Augen waren zusammengewachsen. Er trug eine Klingonenmaske mit starken Stirnwulsten und langen, schwarzen Kunsthaaren und hielt den schlangenförmigen Dolch eines klingonischen Kriegers in der Hand. Mit starkem Akzent sagte er:

– Komm, ich zeig dir Laden. Besitzer ist mein Bruder.

Als er Moritz’ skeptische Miene sah, lachte er.

– Alter, die Maske ist fürs Trekki-Fest. Wie seh ich aus?

Moritz bemerkte Unsicherheit in seinem Blick.

– Klingonisch.

– Cool. Ich bin Achmed.

Er streckte die Hand aus. Moritz nannte seinen Namen und wollte seine Hand ergreifen, aber Achmed ballte die Faust und klopfte ihm leicht mit den Fingerknöcheln auf den Handrücken.

– Auf welche Serie fährst ab?

– Eigentlich auf alle, aber besonders auf Voyager.

– Weiber-Schas, Alter, voll behindert, Captain ist eine Frau, Mama Janeway, immer im Delta-Quadranten, siebzigtausend Lichtjahre weg, alle jammern immer nur, wollen nach Hause, nach Hause, und keine Klingonen weit und breit. Aber okay, Alter, Voyager ist Star Trek, und da gibt’s die Borg und die Herodschin-Jäger.

– Ja, die Borg sind cool.

– Kommst aufs Trekkie-Fest, heute in eine Woche? Wenn du Uniform brauchst, red ich mit mein Bruder, dann macht er dir Preis. Kannst blaue Medizin-Uniform anziehen und dir urcoole Glatze schneiden wie Holo-Doc von Voyager.

Moritz sagte, er werde es sich überlegen, obwohl er wusste, dass er unter keinen Umständen kostümiert auf ein Fest gehen würde. Er fühlte sich plötzlich unbehaglich, hier in einem fremden Stadtbezirk mit diesem grotesk kostümierten Türken mit seiner seltsamen Aussprache.

– Soll ich dir Geschäft zeigen?

– Ein andermal vielleicht. Ich hab noch eine Verabredung, bin nur zufällig hier vorbeigekommen.

Achmed wirkte enttäuscht, als er bei der Verabschiedung erneut das Ritual der sich berührenden Fäuste vollzog. Und auch Moritz bereute schon in der Straßenbahn, dass er gekniffen hatte, denn er hatte keine Ahnung, wie er den Rest des Tages verbringen sollte.

Einige Tage darauf fuhr er wieder zu dem Star-Trek-Laden, doch diesmal kam kein Achmed heraus, und so musste er es dabei bewenden lassen, noch einmal die Auslage anzuschauen und unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren.

Eine Woche später, am Abend des Trekki-Fests, das Achmed erwähnt hatte, stand Moritz erneut vor der Auslage und beobachtete die kostümierten Gestalten, die das Geschäft betraten, die meisten einfach in einer roten oder gelben Sternenflotten-Uniform, nur zwei unter den Trekkies waren weiß geschminkt wie Commander Data, der Android der Enterprise.

Nach einer Weile kam Achmed aus dem Geschäft, er trug zu seiner Maske jetzt auch noch die passende Uniform und ein Paar silberne Klingonenstiefel mit hohen Plateau-Sohlen, die ihn größer wirken ließen.

– Hey, Alter, bist doch gekommen. Brauchst aber Uniform für Fest. Komm, wir suchen eine.

– Nein, nicht nötig.

– Warum nicht?

– Ich mag keine Verkleidung.

– Warum bist dann da? Willst nicht auf Fest?

– Ich wollte nur auf dein Angebot zurückkommen und mir das Geschäft zeigen lassen.

Achmed betrachtete ihn kurz mit offenem Mund.

– Alter, bist extra dafür gekommen?

– Na ja, ich war grad in der Gegend.

– Cool. Klar, zeig dir gern Geschäft. Aber jetzt ist schlecht. Muss helfen bei Fest. Machen wir sich was aus.

Und so verabredeten sie sich für den nächsten Tag.

Als Achmed aus dem Geschäft kam, hätte Moritz ihn beinahe nicht erkannt. Die Klingonenmaske hatte ihm nicht nur ein martialisches Aussehen verliehen, sondern auch die Proportionen seines Kopfes verzerrt. Man sah jetzt seine niedrige Stirn unter seiner Kappe, deren Schirm er nach hinten gedreht hatte. Er trug ein Kapuzenshirt und eine Jeans, die den oberen Rand einer Boxershorts preisgab, was den Eindruck seiner kurzen Beine noch verstärkte.

Achmed führte ihn mit Besitzerstolz durch das Geschäft, zeigte ihm die Sammlung der Raumschiffmodelle, die Waffen und eine vollständige Sammlung der Crew-Figuren. Ein weiterer Raum im hinteren Teil, der einmal als Werkstatt für eine längst aufgelöste Tischlerei gedient hatte, fungierte als Vereinsraum für die Fangemeinde, die Trekkies, die hier ihre monatlichen Versammlungen abhielten. Mit dem Geld aus den Mitgliedsbeiträgen hatten sie den Raum wie das Quarks, die Bar auf Deep Space 9, eingerichtet, mit futuristischen Möbeln aus Kunststoff und einer Rundtheke mit versteckter Neonbeleuchtung. Sogar eine elektrische Schiebetür wollten sie einbauen lassen, aber der Plan scheiterte an den Kosten, so dass die Tür am Ende per Hand verschoben werden musste. Im Quarks fand auch das jährliche Trekkie-Fest statt, zu dem alle in Star-Trek-Kostümen erscheinen mussten und an der Bar bunt gefärbte Cocktails serviert bekamen. Bevor sie wieder den Geschäftsraum betraten, blieb Achmed an einer Tür stehen, an der ein roter Vorhang angebracht war. Ein Schild war daran befestigt mit einer handgeschriebenen Aufschrift: „Zutritt nur ab 18 Jahre“. Achmed deutete auf die Tür und sagte leise:

– Ich weiß, wo Schlüssel ist.

Vor der Tür des Ladens zündete Achmed sich eine Zigarette an.

– Hast du zu Hause Zimmer alleine?

Moritz verstand nicht.

– Alter, schläfst du in Zimmer mit dein Bruder?

– Ich hab nur eine Schwester, aber die ist fast nie zu Hause. Wir haben jeder ein Zimmer.

– Und hast auch DVD-Player?

– Klar.

– Cool. Kannst Star Trek schauen, so viel du willst. Machen wir bei dir mal Trek-Session? Ich bringe Filme mit. Kann ausborgen, was ich will.

Als Achmed die große, weitläufige Wohnung seiner Eltern betrat, spürte Moritz seine Befangenheit, und die Schüchternheit und ungeschickte Höflichkeit, mit der er seine Mutter begrüßte, löste schließlich selbst in ihm eine peinliche Berührtheit aus. Doch der Krampf lockerte sich ein wenig, als sie Moritz’ Zimmer betraten. Achmed musterte bewundernd die Einrichtung: Stereoanlage, Videorecorder, DVD-Spieler, Playstation, das Laptop auf dem Schreibtisch und die umfangreiche DVD-Sammlung. Und als Moritz den ersten Film einlegte und die Voyager-Titelmusik erklang – die drei hallenden, bedeutsam-verhaltenen Paukenschläge zu Beginn, dann das erhabene Bläserthema –, begann sich Achmeds Haltung endgültig zu entspannen. Sein Mund öffnete sich leicht, und seine großen, dunklen Augen bekamen einen Schleier, während er mit den Fingern über seine entzündete Akne strich. Moritz gefiel Achmeds bedingungslose Hingabe an das, was er gerade sah, seine oft überraschenden Kommentare, frei von jener überlegen-distanzierten Ironie, mit der sein Vater ihn so oft irritiert hatte, wenn sie früher gemeinsam Enterprise-Folgen angeschaut hatten.

Die Trek-Sessions in Moritz’ Zimmer wurden schon bald zu einer festen Einrichtung. Stets durchquerten sie zügig den geräumigen Wohnungsflur und stiegen, Achmed voran, rasch die geländerlose Treppe in die obere Etage hinauf, um die Einschüchterungszone so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Im Zimmer angekommen, wurden Achmeds Bewegungen dann jedes Mal entspannter, als folgten sie einem unausgesprochenen Ritual: der Griff zur Fernbedienung, das geschickte Manövrieren durch das Menü des DVD-Spielers, während Moritz den türkischen Honig, die gefüllten Weinblätter oder die Pistazien auspackte, die der Freund stets vom Marktstand seines Vaters mitbrachte.

Moritz betrachtete noch einmal Odo auf der DVD-Hülle und erinnerte sich, wie er gelacht hatte, als Achmed ihn zum ersten Mal H2Odo genannt hatte. Dann ging er zurück zum Schreibtisch, blickte kurz ins Mathematikheft, klappte es aber bald wieder zu und beobachtete erneut die Wassertropfen an der Fensterscheibe.

Es klopfte an der Tür. Moritz wandte langsam den Kopf von der Fensterscheibe ab, es klopfte ein zweites Mal, und noch bevor er antworten konnte, betrat Sophie sein Zimmer. Sie trug den weißen Frotteebademantel ihrer Mutter, ihr nasses Haar hing ihr in Strähnen in die blasse Stirn. Ihre Tränensäcke waren geschwollen und bildeten ein Gegengewicht zu ihren geschwungenen Brauen. Sie imitierte eine Waffe und schoss auf den Bildschirm, in der anderen Hand hielt sie ein Glas Wasser mit einer sprudelnden Aspirintablette darin.

– Sieh an, Mäxchen ist wieder im Narrenkastl.

– Ich wusste gar nicht, dass du noch da bist.

– Ich auch nicht. Wollte mich nur kurz in meinem alten Zimmer hinlegen und hab den ganzen Nachmittag verpennt. Du hast nicht zufällig eine Zigarette?

Moritz schüttelte den Kopf.

– In dieser Familie sind alle so scheißgesund, dass ich noch ganz krank werde.

Sie sah die Kränkung in seinem Blick, seine Unfähigkeit, ihr etwas entgegenzustellen.

– Ist schon okay.

– Warum hast du das gemacht?

– Was, mit dem Rauchen angefangen?, fragte sie, obwohl sie wusste, was er meinte.

– Das.

Er deutete auf ihren Busen.

– Das verstehst du nicht.

– Hat es wehgetan?

– In der Narkose spürst du doch nichts.

– Du bist richtig operiert worden? Zahlt das die Krankenkasse?

Sie lachte.

– Woher hattest du denn das Geld?

– Eine Investition in meine berufliche Zukunft. So nennt Joe das, er hat’s bezahlt.

– Wer ist Joe?

– Mein neuer Manager.

Er sah sie an.

– Hey, bin ich hier in einem Verhör? Davon hast du keine Ahnung. Wenn du aussiehst wie ein Brett, gibt’s keine Engagements, ganz einfach. Joe hat mich für ein Casting in London angemeldet. Für Background-Gesang bei einer Elton-John-Tournee, die ein Freund von ihm managt. Er hat mir eine Mail seines Freundes gezeigt. Da stand: ‚She looks like a Grass-Hopper‘.

– Ein Grashüpfer?

Sie legte ihre Hände an die Schläfe und stellte die Zeigefinger aufrecht, die Fühler eines Insekts andeutend.

– Warum musst du anders aussehen, um zu singen? Lisa sagt immer, alle Männer sind verrückt nach dir.

Ihr Blick verhärtete sich für einen Moment. Sie ging in die Hocke, presste die angewinkelten Arme an den Körper und imitierte die ruckartigen Kopfbewegungen eines Insekts. Dann schnellte sie hoch und landete in der Hocke auf seinem Bett.

– Alles Heuschrecken-Ficker.

Er lachte, und sie sah ihm dabei zu, während sie ihre schmerzende Brust hielt. Er musste plötzlich an seine Großmutter denken.

– Sophie ist die einzige, die unseren Träumer aus seinem Narrenkastl holen kann, hatte sie früher oft gesagt, wenn sie den Kindern ihrer Tochter beim Spielen zugesehen hatte.

– Schau mal, Oma, was macht Moritz da?, fragte Sophie dann jedes Mal, wenn ihr Bruder wieder einmal mit nach innen gekehrtem Blick, unansprechbar versunken, vor dem Fernseher, vor einem Bilderbuch oder manchmal auch nur vor dem Fenster saß. Sie fragte, obwohl sie die Antwort schon kannte, sie wollte nur das Wort noch einmal hören.

– Er tut Narrenkastl schauen.

Das war dann das Stichwort für Sophie, ihn mit einem Kunststück, einer spontanen Darbietung aus seinem Reich zurückzuholen. Und es funktionierte immer, er war wieder da, und er lachte.

– Und, kriegst du jetzt deinen Auftritt mit Elton John?

– Joe meint, ich hätte jetzt gute Karten. Er sagt, ich hab eine Bombenstimme und Ausstrahlung. Mit meiner neuen Ausstattung könnte ich sogar einen Job bei der nächsten Robbie-Williams-Show bekommen.

Ihr Blick wurde unruhig, sie stand auf, um ihn nicht anschauen zu müssen. Nach einer Pause sagte sie in einem möglichst beiläufigen Ton:

– Kannst du mir ein bisschen Geld borgen?

– Ich wollte mir morgen eine neue Voyager-Staffel kaufen.

Sie wandte ihm den Rücken zu und strich mit dem Finger über seine DVD-Sammlung im Regal.

– Du kriegst es ja zurück, Ehrenwort. Ich bekomm nächste Woche Gage von meinem letzten Auftritt.

– Wieso fragst du nicht Lisa?

Sophie rollte nur mit den Augen. Moritz dachte nach. Er hatte für den nächsten Tag eine Trek-Session mit Achmed angesetzt, auf die sie sich seit Wochen gefreut hatten. Er erinnerte sich an die Enttäuschung des Freundes, als die letzte Session geplatzt war. Auch damals war der Anlass der geplante Kauf einer Voyager-Staffel. Moritz wollte gleich nach der Schule das Taschengeld vom letzten Monat aus seinem Sparschiff holen, einem aufklappbaren Raumshuttle, das mit einem elektrischen Code geöffnet werden konnte. Als er das Shuttle aus dem Schrank holte, stand es offen, der Verschlussmechanismus war zerbrochen. Es lag nur noch ein Zehn-Euro-Schein in der Box, die beiden Fünfziger waren weg. Er steckte das Shuttle in eine Plastiktüte, trug es in den Innenhof des Miethauses und warf es in die Mülltonne. Er erwähnte es nicht mehr, Achmed erzählte er, er habe das Geld für die Staffel zusammen mit seinem Rucksack in der U-Bahn stehen gelassen.

Moritz nahm seine Brieftasche aus dem Schreibtisch, holte einen Hundert-Euro-Schein heraus und gab ihn seiner Schwester. Sophie hielt ihn an ihre Brust, nahm Haltung an und sagte in gespielt pathetischem Ton:

– Captain, ich werde Ihr Vertrauen nicht enttäuschen.

Der Auftrag I

Der sonnige Frühherbst tauchte die Stadt in ein klares, warmes Licht. Van der Waiden war absichtlich zu früh aufgebrochen, um vor seinem Termin noch ein wenig durch das Zentrum zu schlendern. Die Geschäfte sperrten gerade auf, die orangefarbenen Fahrzeuge der Straßenreinigung fuhren langsam durch die leeren Straßen, um sie vom Schmutz und Pferdekot des Vortags zu befreien. Das Gebäude, das er suchte, lag an einem kleinen mit Kopfstein gepflasterten Platz, eine Freitreppe führte zu einem Holzportal, an der hellen Fassade hing eines jener rotweißroten Schilder, die an allen historischen Gebäuden der Stadt angebracht waren und den Betrachter darüber informierten, wann und von wem sie erbaut worden waren und welchem Zweck sie einst, in Österreichs großer Zeit, gedient hatten.

So erfuhr er, dass er vor dem barocken Palais einer altösterreichischen Adelsdynastie stand. Jetzt beherbergte der Bau im Erdgeschoss ein kleines Museum historischer Kostüme mit angeschlossener Porträtgalerie und in den oberen beiden Etagen die Büroräume der Präsidiale für Wissenschaftliche Forschung. Van der Waiden hatte sich vorher über die Präsidiale erkundigt. Sie war das Zentrum für einen Großteil der österreichischen Forschungsplanung; hier liefen die Fäden zusammen zwischen Wissenschaftsministerium, Universität und Akademie der Wissenschaften. Wer ein Projekt auf die Beine stellen wollte, brauchte gute Kontakte zu den Beamten der Präsidiale, oder zumindest einen Fürsprecher, der über solche verfügte, denn hier wurde entschieden, ob die beantragten Mittel für Personal, Ausstattung und Räumlichkeiten bewilligt wurden oder nicht, hier entschied sich, ob jemand Karriere machte und wie glanzvoll sie ausfiel.

Nun hatte Van der Waiden einen Termin in der Präsidiale, gar beim Präsidenten persönlich, und das Bemerkenswerte daran war: Er hatte nicht die geringste Ahnung, warum. Vor einer Woche hatte er einen Anruf aus der Präsidialkanzlei erhalten und war zu einer Unterredung gebeten worden. Auf seine Frage, worum es gehe, hatte die weibliche Stimme am Telefon nur ausweichend geantwortet; der Herr Präsident werde ihn über alles informieren.

Er musste sich mit seinem Körpergewicht leicht gegen das Portal stemmen, um es zu öffnen. Dann stand er in einer kühlen Eingangshalle mit Marmorböden und Ziersäulen an den Wänden. Das Treppenhaus war mit einer Glaskuppel überwölbt. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man den wolkenlosen Himmel. Er folgte der Beschilderung bis in den obersten Stock und betätigte eine mechanische Glocke an der Eingangstür. Eine Frau unbestimmten Alters öffnete ihm, sie trug ein helles Kostüm, über ihrer cremefarbenen Bluse hing auf der Höhe der Brust eine Perlenkette. Ihre Augen hinter stark geschliffenen Brillengläsern wirkten verkleinert. Sie empfing Van der Waiden mit „Grüß Gott, Herr Professor“ und gab ihm kurz angebunden zu verstehen, dass der Präsident gleich für ihn da wäre, sie sei leider sehr in Eile, weil sie gerade ein Telefonat führe. Er musste seinen Gang beschleunigen, um ihr zu folgen, denn sie verfiel in einen leichten Laufschritt, eine Art trippelnden Galopp mit kleinen Schritten, der unter ihren ausladenden Hüften auf dem federnden Parkettboden ein bedrohliches Geräusch erzeugte. Er hielt ihr Tempo, indem er seine Schritte vergrößerte. Für einen Moment fühlte er sich wie einer jener alten Lüstlinge aus einer Komödie: eine Frau vor sich herjagend, ihr Hinterteil mit Klapsen und Kniffen traktierend, während die Verfolgte auf ihrer gespielten Flucht Oh- und Ah-Rufe ausstößt.

Sie bot ihm einen Platz im Vorzimmer der Kanzlei an, in dem auch ihr Schreibtisch stand. Erst als sie ihr Telefonat fortsetzte, bemerkte er, dass es sich um dieselbe Frau handelte, die ihn vor einer Woche angerufen hatte. Er erkannte es an ihrem Ton, einer routinierten Mischung aus Höflichkeit und Bestimmtheit. Sie sprach ein fast akzentfreies Hochdeutsch, nur in wenigen Wendungen drang ein gepflegtes, leicht nasal gezogenes Wiener Idiom durch, und hin und wieder legte sich über ihre Vokale ein sanfter heiserer Schleier, als koste es sie eine leichte innere Überwindung, ein solches Gespräch zu führen.

Sie hatte eine ungewöhnlich helle Gesichtshaut, was keine Folge von Make-up war, ihr dichtes rotbraunes Haar war in einer perfekten Dauerwellenfrisur gebändigt. Van der Waiden tat sich schwer einzuschätzen, wie alt sie wohl sei, er vermutete, dass ihre Frisur zusammen mit dem Schmuck und der damenhaften Kleidung sie älter aussehen ließ, als sie war.

Während er sie bei ihrem Telefonat beobachtete, stellte er sich vor, er sei nun Zeuge des Gesprächs, das sie vor einer Woche mit ihm geführt hatte, als böte sich ihm die Chance, ein Ereignis aus einer zweiten Perspektive noch einmal zu durchleben. Er sah, dass ihr Sprechen ebenso von Lächeln, Stirnrunzeln und Brauenheben begleitet wurde, als säße sie ihrem Gesprächspartner direkt gegenüber, Signale für einen Zuseher, den es nicht gab. Oder vielleicht doch? War er vielleicht der Zuseher? Bisweilen schien es ihm, als würde sie aus den Augenwinkeln zu ihm herübersehen.

Als sie ihr Telefonat beendet hatte, verschwand sie kurz und brachte ihm ungefragt einen Kaffee. Dann führte sie eine Reihe weiterer Telefonate, jedes Mal ging es um Termine für Besprechungen, Sitzungen oder Verabredungen zum Mittagessen. Anscheinend koordinierte sie die Kalender für mehrere Personen. Sie schien jeden ihrer Gesprächspartner gut zu kennen, sie scherzte, erkundigte sich nach dem Befinden, hin und wieder brach sie völlig unvermittelt in ein hohes, helles Lachen aus. Er hatte noch nie zuvor eine Frau so elegant und eloquent und so durch und durch gekünstelt flirten gesehen.

Schließlich entstand nach einem Telefonat eine Pause, und er begann ein Gespräch, um die Stille zu füllen.

– Ganz schön viel Arbeit, was?

– Alles eine Frage der Gewohnheit.

Das O in Gewohnheit öffnete sich ein wenig, wie in Wonne.

– Na ja, für mehrere Leute die Termine zu koordinieren, das stelle ich mir schon stressig vor.

– Was meinen Sie mit ‚mehrere Leute‘?

Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf; nun hatte er die Wahl, den Dialog in Sinnlosigkeit versanden zu lassen oder sich auf ein Gespräch zu beziehen, das ihn eigentlich nichts anging, auch wenn es direkt vor seiner Nase geführt worden war.

– Ich habe mit einem Ohr mitbekommen, dass es um mehrere Personen gegangen ist, den Präsidenten, einen Herrn Obmann, einen Herrn Professor.

Sie legte den Kopf leicht seitlich.

– Ein und dieselbe Person, bei der Sie gleich einen Termin haben, Präsident ist er nur hier, in der Kanzlei der Präsidiale, wie der Name schon sagt, auf der Universität ist er naturgemäß Professor, und in der Akademie, als Leiter seiner Forschungskommission, ist er Obmann. Er legt Wert darauf, dass diese Funktionen je nach Angelegenheit in der Anrede separiert werden.

Ihm lag eine spöttische Bemerkung auf der Zunge, und das Lächeln, das nach ihrer Erklärung den einen Mundwinkel umspielte und den anderen aussparte, schien ihn zu einer solchen Vertraulichkeit einzuladen. Doch dann befürchtete er, dass der leichte Spott in ihrer Mimik womöglich nicht ihrem Chef galt, sondern ihm, dem Fremden und Uneingeweihten, der offenbar nicht wusste, was sich in einer solchen Sphäre schickt.

Eine weiß lackierte Flügeltür öffnete sich, und der Präsident trat heraus. Er war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit weißem, fein gescheiteltem Haar. Ein dunkelblaues Jackett mit goldenen Knöpfen und altmodisch-elegantem Schnitt spannte sich über seinem Bauch. Van der Waiden begegnete ihm mit jener Befangenheit, die kleine Menschen stets in ihm auslösten. Sie schüchterten ihn ein, er empfand sich ihnen gegenüber als etwas aus der Norm Gewuchertes. Je mehr er seinen Gesprächspartner überragte, desto mehr verkrampfte sich seine Körperhaltung; seine Wirbelsäule knickte ein, seine Schultern und sein Kopf fielen nach vorn. Nur so verlor er das Gefühl, sein Gegenüber müsse ihm zwangsläufig in die Nasenlöcher blicken, zwei hässliche, haarige Körperöffnungen, für die noch niemand ein schützendes Kleidungsstück erfunden hatte.

– Wie geht es dem Herrn Schwiegervater?, sagte der Präsident, noch während er ihm die ungewöhnlich breite und kräftige Hand reichte. Seine Stimme war angenehm tief und klar artikuliert. Doch sein Blick hatte etwas Unstetes, Lauerndes – ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch seine mächtigen weißen Brauen, die hinter dem schmalen Goldrand seiner Brille in ständiger Bewegung waren.

– Ganz gut, denke ich, antwortete Van der Waiden, überrascht von der Frage.

– Sie denken?

– Nun, als wir ihn das letzte Mal besucht haben, ging es ihm gut.

– Ich kenne Ihren Schwiegervater schon seit meiner Studienzeit.

– Sie haben auch Medizin studiert?

Die Brauen zogen sich zusammen, bildeten einen breiten haarigen Wulst über dem verdüsterten Blick, der für einen Moment abschätzig auf ihm ruhte.

– Nein, ich bin Historiker, offenbar ist mein Ruf noch nicht bis nach Deutschland gedrungen – das Schicksal vieler österreichischer Wissenschaftler.

Hitze stieg in Van der Waidens Kopf auf.

– Doch, doch, ich dachte nur, Sie haben vielleicht zusätzlich Medizin studiert.

Er hielt den Atem an in der Befürchtung, der Präsident könnte fragen, welche seiner Arbeiten er denn kenne. Aber die Frage kam nicht, sei es, weil der Präsident seinem Gast eine weitere Verlegenheit oder sich selbst eine Kränkung ersparen wollte.

Eine Pause entstand, der Präsident lehnte sich entspannt zurück.

– Ich hoffe, Sie haben nicht allzu lange auf mich warten müssen.

– Kein Problem, ich habe mich nett mit Ihrer Sekretärin unterhalten.

– Gut, dass sie das nicht gehört hat. Frau Esterhazy, Frau Doktor Esterhazy, ist keine Sekretärin, sondern eine wissenschaftliche Referentin.

Van der Waiden spürte, wie seine Achseln feucht wurden, er beschloss nichts mehr zu sagen und abzuwarten, bis der Präsident mit seinem Anliegen herausrückte. Doch der ließ sich Zeit, nahm aus einer Mappe ein Papier und sprach ohne aufzublicken:

– Wie ich sehe, waren Sie bis 1998 Privatdozent an der Technischen Hochschule Aachen. Danach hatten Sie mehrere Lehrstuhlvertretungen an verschiedenen Universitäten inne, jetzt haben Sie eine befristete Gastdozentur in Wien, am Institut für Wissenschaftstheorie. Sie müssen ein ganz schönes Nomadenleben geführt haben.

Er blickte kurz auf, wartete keine Antwort ab.

– Sie haben jetzt die Fünfzig überschritten. Das ist für gewöhnlich die Grenze für einen Sprung auf einen Lehrstuhl. Aber vielleicht wollen Sie ja gar nicht in eine solche Verantwortung. Es gibt ja unterschiedliche Prioritäten in der Lebensplanung.

Van der Waiden suchte in der Miene seines Gegenübers nach Anzeichen der Provokation oder Herablassung, aber er fand nur ein angestrengtes Stirnrunzeln, ein geradezu biederes Bemühen, alle Aspekte dieses Gedankens zu erfassen. Fischte er im Trüben, oder wusste er, dass er einen heiklen Punkt ansprach? Van der Waiden begann sich zunehmend unbehaglich zu fühlen, wie bei einer Prüfung. Der Präsident drückte den Knopf eines Sprechgeräts.

– Doktor Esterhazy, bringen Sie mir bitte den Ordner mit der Aufschrift ‚Kongress‘. Kurz darauf kam die Esterhazy herein, ihre Schritte verursachten wieder ein bebendes Geräusch auf dem alten Parkettboden, und Van der Waiden fiel auf, dass sie keinerlei Versuch machte, ihre Schritte zu dämpfen. Sie genoss sichtlich ihren Auftritt, ihre Miene war die pure Geschäftigkeit, als sie um den Präsidenten herumging und den Ordner mit einer übertrieben eleganten Bewegung auf seinen Schreibtisch legte. Van der Waiden musste sich zusammenreißen, um ihr beim Verlassen des Büros nicht hinterherzuschauen, noch einmal diesen unglaublichen Gang zu beobachten. Sie war in diesem Moment nichts als Gang, aufrecht, laut und leicht in den etwas zu vollen Hüften wiegend, so wie sie zuvor nichts als Stimme gewesen war, die für den Herrn Präsidenten die Termine macht. Sie schien die Gabe zu haben, immer genau das zu sein, was sie gerade tat, jede Verrichtung, jede Rolle voll und ganz auszufüllen. Van der Waiden fragte sich, ob der Präsident mit ihr ein Verhältnis hatte. Ihre üppige manierierte Damenhaftigkeit musste seinen Reiz haben für diesen gedrungenen, fast bäurisch anmutenden Mann mit seinem stets leicht verzogenen und gleichwohl sinnlichen Mund.

Der Präsident legte seine breite Hand mit den kurzen, gepflegten Fingern auf den Ordner.

– Die österreichische Regierung plant für das kommende Jahr einen Kongress. Etwas Internationales, im ganz großen Rahmen. Fachleute aus der ganzen Welt werden eingeladen, zu Vorträgen, Symposien, Tagungen. Mehrere Ministerien sind an der Planung beteiligt, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft. Die Universitäten sind eingebunden, die Akademie, mehrere Museen, und meine Präsidiale wird das Ganze koordinieren.

– Klingt spannend. Und was ist das Thema?

Der Präsident beugte sich vor und senkte seine Stimme.

– Der Mensch.

Van der Waiden wartete auf eine Erklärung, eine nähere Spezifizierung. Als er merkte, dass sie nicht kommen würde, sagte er:

– Nun, das ist ein weites Feld.

– Und wir werden es bestellen.

Van der Waiden suchte nach Anzeichen von Ironie in der Miene des Präsidenten. Aber da war nichts. Nur Ernst, und jetzt kam noch Sorge hinzu, sein Blick schien feucht zu werden, seine Stimme bekam etwas Gepresstes, Heiseres.

– Wir sind völlig unvorbereitet auf das, was da derzeit auf uns zurollt, mit der modernen Genetik und all dem. Wir müssen uns wappnen, ethisch, weltanschaulich, politisch. Der Kongress soll dafür die ersten Weichen stellen.

– Klingt sehr … hm, ambitioniert.

– Es wird der größte Kongress sein, der je zu diesem Thema stattgefunden hat. Und er wird hier stattfinden, hier in Wien.

Der Präsident lehnte sich zurück und blickte Van der Waiden an.

– Wir suchen noch jemanden, der die wissenschaftliche Koordination übernimmt.

– Nun, ich wüsste schon ein paar Leute, die dafür in Frage kämen.

– Wir haben Sie im Visier.

– Mich?