Rissspuren - Dietmar Krug - E-Book

Rissspuren E-Book

Dietmar Krug

4,8

Beschreibung

Mitten in der Nacht flüchtet der achtjährige Burkhard Van der Waiden aus dem Haus, getrieben von Ängsten, die er niemandem mitteilen kann. Seine Eltern sind zu sehr mit sich selbst und ihrem ewigen Ehekrieg beschäftigt, um sich um ihn zu kümmern. Die dörflich-katholische Welt, in der er aufwächst, empfindet er oft als rau und menschenfeindlich. Aber es gibt auch Lichtblicke: die Freundschaft zum Nachbarjungen Matthias etwa, mit dem er sich eine gemeinsame Fantasiewelt schafft. Oder das befreiende Erlebnis eines ländlichen Sommers nach der langen häuslichen Enge des Winters. Burkhard wächst heran und tastet sich allmählich heraus aus der Bedrückung durch Eltern, Kirche und Dorfgemeinschaft. Und dann ist da noch dieses frühreife Mädchen aus der Nachbarschaft, das seine Welt bald gründlich auf den Kopf stellt... Dietmar Krug erschafft in seinem zweiten Roman kein dörfliches Idyll, aber auch keine Provinzhölle. Einfühlsam und bildkräftig erzählt er die Geschichte einer Kindheit und Jugend in der Provinz der 60er- und 70er Jahre. Dabei lässt gerade die Reduziertheit seiner Sprache eine beklemmende Spannung entstehen, der man sich nur schwer entziehen kann.

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Dietmar KrugRissspuren

Dietmar Krug

Rissspuren

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1227-6eISBN 978-3-7013-6227-1

© 2015 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.atDruck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanCover: Georg Thanner

Für Peter

Inhaltsverzeichnis

Angst

Das Dorf

Sommer

Das Zimmer

Macht I

Gott

Sex I

Der fremde Gott

Sex II

Macht II

Tod

Angst

Das Haus, in dem Burkhard Van der Waiden und seine Eltern lebten, stand am Dorfrand direkt gegenüber dem Friedhof, umgeben von Kornfeldern und Wiesen. Sobald die Nacht sich über das Haus legte, wurde es still in seinen Räumen. Selten hörte man abends Autos oder Menschen, und schon bald erinnerte kein Geräusch mehr an die vertrauten Klänge des Tages. Beim Anbruch der Dunkelheit gaben die Eltern ihrem Sohn zu verstehen, es sei Zeit, ins Bett zu gehen. Es war das Signal für ein immergleiches Ritual: Burkhards Mutter führte ihn ans andere Ende eines schwach beleuchteten Flurs mit Steinwänden und einer undurchsichtigen Glastür an der Hausfront. Gemeinsam betraten sie das Kinderzimmer, das neben der Kellertreppe lag, und Burkhard nutzte die Anwesenheit der Mutter noch für einen kurzen Blick unters Bett. Es würde nichts helfen, denn er verriet mit dieser Geste so gut wie nichts von dem, was tatsächlich in ihm vorging. Er spielte bloß die Rolle eines Kindes, das sich vor etwas Greifbarem fürchtet, und versuchte so, seine Angst in ein Bild zu fassen, das sein Gegenüber verstehen konnte. Seine Mutter verhielt sich dann wie eine Frau, die ihr Kind nachsichtig und mit wohlwollendem Kopfschütteln gewähren lässt:

– Siehst du, keiner da.

Es war die einzige Sprache, die sie miteinander teilten – kleine Vorführungen mit Botschaften, die den anderen nie wirklich erreichten.

Die Mutter ließ die Kunststoffrollläden herunter, sie knarrten. Burkhard bestand darauf, sie einen Spalt offen zu lassen, damit etwas Licht von der Straßenlampe in sein Zimmer fallen konnte. Manchmal bat er auch um einen Aufschub, eine weitere Viertelstunde in Gesellschaft der Eltern – stets vergeblich.

– Es ist spät, du brauchst deinen Schlaf, sagte die Mutter, löschte das Licht und verließ den Raum.

Burkhard hörte ihre Schritte auf dem Flur und die Tür zum Wohnzimmer, die sie hinter sich schloss. Dann wurde es still, er war allein, und mit der Stille kam die Angst. Burkhard lag starr auf dem Rücken und lauschte. Ein Tier lief über die äußere Fensterbank und kratzte an den Rollläden. Der Wind drückte gegen das Fenster, drang ins Innere des Zimmers und erzeugte ein Geräusch, als würde ein schwerer Körper langsam über den Boden geschleift – Zentimeter für Zentimeter auf sein Bett zu. Burkhard begann zu weinen, leise zunächst, nur um das Geräusch zu übertönen, dann lauter, damit seine Eltern es hörten. Manchmal, wenn er hartnäckig war und lange und laut genug weinte, kam jemand. Das Licht ging an, es blendete. Burkhard hörte die Stimme seiner Mutter im Türrahmen:

– Was hast du?

– Ich hab Angst.

– Wovor denn?

Burkhard schwieg, denn er hatte keine Worte für das, was ihm Angst machte, zumindest keine, die seine Mutter verstanden hätte. Das Licht wurde wieder gelöscht, die Tür schloss sich und das Ritual fuhr fort. Burkhard starrte wieder ins Dunkel und rührte sich nicht. Seine Sinne waren geöffnet, sein Körper befand sich in äußerster Anspannung. Das schleifende Geräusch kam zurück, bewegte sich langsam auf ihn zu. Der einzige Ausweg, der ihm jetzt noch blieb, war der Schlaf. Doch vorher war eine Entscheidung zu treffen: Die Wahl, ob er auf der linken oder auf der rechten Seite einschlafen würde, könnte die letzten Momente seines Lebens bestimmen. Sollte er sich von dem, was da herannahte, abwenden und mit einem stechenden Schmerz im Rücken sterben? Oder war es besser, dem Grauen das Gesicht zuzuwenden und ein Bild von ihm mit in den Tod zu nehmen? Burkhard blieb wach, bis seine Kräfte versagten und einen erschöpften Schlaf zuließen. Das Geräusch folgte ihm, es begann ein Eigenleben zu führen, legte Brände in seinen Träumen, die ihn schließlich weckten.

Es war tiefe Nacht. Das Erste, was Burkhard spürte, war Nässe. Die Schleusen, die er zuvor mit aller Gewalt verschlossen gehalten hatte, waren geöffnet worden. Womöglich war die Harnentleerung ja angenehm gewesen, ein warmes und flutendes Loslassen, das er sich im Bewusstsein der Gefahr nie hätte leisten können. Aber das ereignete sich in einem anderen Reich.

Die Angst war augenblicklich wieder da und steigerte sich langsam zur Panik. Burkhard spürte, wie sein Atem sich ohne sein Zutun beschleunigte, er fürchtete, dass jede weitere Minute in diesem Zimmer ihn um den Verstand bringen würde. Er knipste die Nachttischlampe an, das Licht war grell, es vertrieb die Dunkelheit, aber nicht die Angst. Burkhard riss sich aus der Starre, floh aus seinem Zimmer und betrat so leise wie möglich das Schlafzimmer seiner Eltern. Er ging im Dunkeln auf die Seite des Bettes zu, wo er das Schnarchen seines Vaters hörte, und schlüpfte unter die Decke. Zur Region seiner Mutter war ihm der Zugang verwehrt. Ein Überschreiten der Grenze hatte sie ihm ausdrücklich untersagt, das Fleisch an Fleisch wäre ihr unerträglich gewesen. Vielleicht grauste ihr auch vor der Nässe ihres Kindes. Jedes Mal, wenn ihn die Panik zu seinen schlafenden Eltern trieb, betrat er ihr Reich mit einem großen dunklen Fleck auf seiner Schlafanzughose. Er trocknete in der Wärme des Vaters.

Die Angst war so selbstverständlich Teil von Burkhards Welt wie der Regen oder der Staub. Seltene, festliche Ausnahmen waren die Besuche bei seinem Onkel Josef, dem Bruder seines Vaters. Dann durfte er das Bett mit seinem Vetter Franz teilen. Burkhard liebte diese Nächte in dem alten Haus, in dem er seine ersten vier Lebensjahre verbracht hatte. Franz war ein Einzelkind wie er selbst, die ersten Jahre hatten eine Art geschwisterliches Verhältnis zwischen ihnen entstehen lassen. Die Gegenwart des anderen Kindes nahm der Dunkelheit ihren Schrecken. Es stand nun etwas Lebendiges, Atmendes zwischen ihm und der Stille. Die Angst blieb fern, und sein Schlaf war trocken.

Es gab aber auch andere Ausnahmen, Verschärfungen, die ihn an den Rand der seelischen Zerrüttung brachten. Gelegentlich besuchten Burkhards Eltern ein Fest, und es war abzusehen, dass sie erst spät in der Nacht heimkommen würden. In der Regel durfte er dann bei seinem Onkel übernachten, aber von Zeit zu Zeit ließen seine Eltern ihn auch allein im Haus.

– Du musst das endlich lernen, sagte seine Mutter dann jedes Mal, die Hilgers haben ihren Sohn schon allein gelassen, als er erst ein Jahr alt war, und deren Haus liegt noch viel abgelegener als unseres.

Wenn der betreffende Abend herannahte, spürte Burkhard schon Tage vorher, wie sich etwas Lähmendes von seinem Magen in den Schlund schob und sich mit dumpfer, alles erfassender Schwere über seine Verrichtungen legte. Er versuchte das Gefühl zu ignorieren, machte den kommenden Abend in seiner Fantasie zu einem Abend wie jeden anderen. Vielleicht würden seine Eltern ja wieder zurück sein, bevor er erwachte. Doch als es so weit war und seine Mutter sich für das Fest herrichtete, spürte Burkhard, wie all seine Versuche der Selbstbeschwichtigung zunichtewurden. Er bat seine Eltern, ihn zu seinem Onkel zu bringen oder auf das Fest mitzunehmen. Ohne Erfolg. Man brachte ihn ins Bett, die Haustür schloss sich und es begann.

Zunächst war es wie in jeder Nacht. In der Stille keimte schon bald die nicht fassbare und doch so präsente Gefahr. Doch diesmal nahm alles einen anderen, bedrohlicheren Verlauf. Burkhard wurden die vielen Öffnungen und Zugänge des Hauses bewusst. Es gab eine Kellertür, die tagsüber geöffnet war, um den schimmligen Geruch zu vertreiben. Hatten die Eltern sie geschlossen? Die Terrassentür war mit einem Hebel zu verriegeln. In welcher Position befand er sich, als er ihn zuletzt gesehen hatte? Eine Fensterscheibe zum Heizungskeller war zerbrochen. War die stählerne Tür, die ins Innere des Kellers führte, versperrt? Irgendwann bestand für ihn kein Zweifel, dass das Haus für jeden potenziellen Eindringling offen war. Und als das Ringen mit dieser Gewissheit seine Kräfte erschöpft hatte, schlief er ein.

Burkhard erwachte einige Stunden später und sprang reflexhaft auf, um in das Schlafzimmer seiner Eltern zu flüchten. Da wurde ihm bewusst, dass das Haus leer war. Er stand steif und regungslos da, dann wich er zögernd vor irgendetwas zurück und tastete sich zu seinem Bett. Krampfhaft hielt er die Bettdecke und lauschte. Fremdartige Geräusche schienen von allen Seiten zu kommen, wurden lauter. Todesangst überfiel ihn, brachte seine Gedanken zum Rasen und zwang ihn zu einer Entscheidung. Zu warten, bis seine Eltern heimkommen würden, könnte ihn das Leben kosten. Entweder würde sich das Bedrohliche, dessen Gegenwart er nun immer deutlicher spürte, auf ihn stürzen, oder die Panik würde ihn ersticken. Er musste handeln. Mit angehaltenem Atem schaltete er die Nachttischlampe ein. Die Farben des Raums wirkten fremd. Mit hölzernen Bewegungen zog Burkhard eine Hose und einen Pullover über seinen Schlafanzug. So leise wie möglich öffnete er die Tür und schlich über den dunklen Flur zum Hauseingang. Er verließ das Haus und stand im Freien. Zunächst atmete er auf. Dann wurde ihm die Nähe des Friedhofs bewusst, und sein Körper verkrampfte sich erneut. Er holte tief Luft, kämpfte gegen die wieder aufkeimende Panik an und setzte sich in Bewegung, beim Gehen konzentrierte er sich auf die Straßenlampen. Jedes Mal, wenn er den Schein einer Laterne erreicht hatte, fühlte er sich ein wenig sicherer. Die Straße führte an einem halben Dutzend Häusern vorbei, ihnen gegenüber erstreckten sich weitläufige Wiesen, die sich schon bald in einem undurchdringlichen Dunkel verloren. Als Burkhard die Häuser hinter sich gelassen hatte, streifte die Straße einen verwilderten Garten. Das Laub in den Bäumen zischte ihn an, Burkhard beschleunigte seine Schritte, zu laufen wagte er nicht, aus Angst, er könnte dabei ein Geräusch überhören.

Erst als er die gut beleuchtete Hauptstraße des Dorfes erreicht hatte, begann er zu rennen, doch sein Lauf wurde schon bald gestoppt. Als eine dunkel gekleidete Gestalt auf ihn zukam, versuchte Burkhard, sich hinter dem Holzmast einer Straßenlampe zu verstecken. Die Panik wich dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Als die Gestalt in den Lichtschein trat, sah er, dass es eine Frau war, er erkannte sie nicht. Geduckt schlich er an ihr vorbei und ging zu dem Haus, in dem seine Eltern feierten. Die Gastgeberin öffnete ihm die Tür, sie war überrascht, verhielt sich aber wohlwollend und führte ihn zu einem Partyraum im Keller, aus dem Gelächter und Tanzmusik drangen. Burkhard sah, dass seine Mutter mit dem Gastgeber tanzte; der Vater stand gemeinsam mit einigen Männern an einer Theke, sie hatten alle ein Bierglas in der Hand. Als die Partyrunde auf den Neuankömmling aufmerksam wurde, verstummten die Gespräche. Burkhard wurde verlegen, ging zu seinem Vater und sagte:

– Irgendwas stimmt mit der Heizung nicht, die macht so komische Geräusche.

Seine Mutter trat zu ihm, sie stellte keine Fragen und sagte nur, sie hätten ohnehin vorgehabt aufzubrechen. Gemeinsam gingen sie nach Hause, man redete nichts, und auch am nächsten Tag verlor man kein Wort über die Geschehnisse der Nacht.

Eine Woche danach kam Burkhard selbst darauf zurück, als er in der Schule einen Aufsatz über ein besonderes Ferienerlebnis schreiben musste. Er wählte die Ereignisse in jener Nacht und machte sie zum Gegenstand einer Spukgeschichte: Als seine Eltern auf einem Fest waren und er alleine im Haus schlief, wurde er mitten in der Nacht von höchst seltsamen Geräuschen geweckt. Bestimmt ein Gespenst, dachte er, flüchtete aus dem Haus und lief geradewegs zu seinen feiernden Eltern. Die gingen dann sofort mit ihm nach Hause, um der Sache auf den Grund zu gehen. Es stellte sich heraus, dass das Geräusch von der Heizung verursacht wurde, die zu viel Luft in den Rohren hatte. Am Ende lachten sie alle gemeinsam über den Streich, den seine Fantasie ihm gespielt hatte, und sein Vater streichelte ihm über den Kopf. Burkhard hatte Freude mit seinem Aufsatz. Er stellte sich vor, wie seine Lehrerin lächelnd den Kopf schüttelte bei der Vorstellung, dass ein kleiner Junge mitten in der Nacht einen so weiten Weg zurücklegt, nur weil er sich einbildet, Gespenster zu hören.

Burkhard ging gern in die Grundschule. Sie verkörperte für ihn die Welt des Tages und des Lichts. Er hatte Freunde dort, und sein Vetter Franz ging in dieselbe Klasse wie er. Einmal hatte jemand in die Schule ein gebrochen und ein paar Gegenstände gestohlen. Die Aufregung war groß, und nach kurzer Zeit ging das Gerücht um, der Dieb befinde sich noch im Keller der Schule. In der Pause beschlossen einige Jungen in der Klasse, dort unten nachzusehen, und Burkhard schloss sich der Gruppe an. Sie fanden die Tür unversperrt, eine Treppe ohne Geländer führte in den unbeleuchteten Keller. Unschlüssig standen die Kinder auf dem obersten Treppenabsatz, keiner wollte den ersten Schritt hinab ins Dunkel tun. Burkhard trat vor sie hin und sagte:

– Angsthasen!

Langsam ging er ein paar Stufen hinunter, einige Kinder folgten ihm. Plötzlich schrie er auf und tat so, als wäre er furchtbar erschrocken. Die Kinder stürzten kreischend die Treppe hinauf, und Burkhard lief hinterher. Als sie merkten, dass er sie gefoppt hatte, lachten sie erleichtert und knufften ihn freundschaftlich. Er war glücklich. Zum ersten Mal hatte er die Angst in das Reich des Tages gezwungen und sie mit den anderen Kindern geteilt. Er schloss die Augen und wünschte sich, dass nie wieder die Sonne untergehen würde.

Einige Wochen darauf wurden Burkhards Eltern von einem Arbeitskollegen seines Vaters eingeladen, gemeinsam mit ihm und seiner Frau im Nachbardorf einen Karnevalsball zu besuchen. Die Einladung bereitete Burkhard keine großen Sorgen, denn er würde auch im Haus des Kollegen schlafen und er wusste, dass die Familie selbst zwei Söhne hatte. Es bestand also die berechtigte Hoffnung, dass er in der Nacht nicht alleine sein würde. Doch es kam anders: Die Familie wohnte auf einem großen Bauernhof, der nicht mehr bewirtschaftet wurde. Burkhard wurde gemeinsam mit seinen Eltern ein Gästeschlafzimmer in einem anderen Trakt des Hauses zugewiesen, in dem nur eine schwerhörige alte Frau wohnte.

Am Abend schaute Burkhard seiner Mutter zu, wie sie ihr Karnevalskostüm anlegte. Sie trug einen gelben, kunstseidenen Kimono und einen Hut, der aussah wie ein umgedrehter Teller. Sie nahm den Hut wieder ab, setzte sich vor einen Spiegel und begann sich zu schminken. Unbemerkt ging Burkhard zu ihr und legte seine Hand auf ihr Haar. Verärgert wich sie zurück.

– Du bringst meine Frisur durcheinander.

Die Mutter warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, dann legte sie ihren Sohn in ein großes Bauernbett und deckte ihn mit einer schweren, muffig riechenden Steppdecke zu. Er hatte die Erlaubnis, so lange Comics zu lesen, wie er wollte. Und er war fest entschlossen, nicht eher einzuschlafen, bis seine Eltern zurück waren. Als er das letzte Heft ausgelesen hatte, begann er seine kleine Sammlung von vorne zu lesen, bis er irgendwann mit dem Comic auf der Brust einschlief.

Als Burkhard erwachte, brannte das Licht noch. Das Bett war nass, und seine Eltern waren noch nicht zurückgekehrt. Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass sie bald kommen würden. Dann sah er auf einem alten Sessel das Kleid seiner Mutter liegen, das sie ausgezogen hatte, um den Kimono anzulegen. Es war ein ärmelloses, oranges Kleid mit einem breiten blauen Streifen auf der Höhe der Brust. Es erschien Burkhard wie eine leblose Hülle, die sich nie mehr füllen würde. Er verließ das Bett und versuchte mit dem Laken seinen Schlafanzug zu trocknen. Dann näherte er sich langsam dem Kleid. Er wollte es berühren, aber er wagte es nicht. Er stand lange davor, starrte es an und rieb unentwegt mit dem Laken über seine Schlafanzughose. Plötzlich überschwemmte ihn das Gefühl absoluter und unwiderruflicher Verlassenheit. Das abgelegte Kleid schien Burkhard der Beweis dafür zu sein, dass er seine Mutter nie mehr wiedersehen würde. Er begann zu schreien. Er schrie mit aller Kraft, die seiner kindlichen Kehle zur Verfügung stand. Nach einer Weile erschien eine alte Frau in der Tür. Sie hatte keine Zähne im Mund und trug ein Nachthemd, das sie bucklig aussehen ließ. Sie sagte etwas, aber Burkhard verstand es nicht, denn er konnte nicht aufhören zu schreien. In den kurzen Pausen, in denen er nach Luft rang, hörte er verstümmelte Sätze. Die Frau sprach den schwerfälligen rheinischen Dialekt seines Vaters, Burkhard kannte jedes ihrer Wörter, aber sie ergaben keinen Sinn. Sie redete auf ihn ein, wurde lauter. Als er aufhörte zu schreien, fiel ihr Blick auf den nassen Fleck an seiner Schlafanzughose. Burkhard versuchte ihn mit der Hand zu bedecken. Dann sah er das Kleid seiner Mutter und begann sofort wieder zu schreien. Die Alte packte Burkhard bei den Schultern und schüttelte ihn, aber sie konnte ihn nicht mehr beruhigen. Als irgendwann seine Eltern auftauchten, war sein Schreien in ein heiseres Wimmern übergegangen. Er verstand auch ihre Worte nicht und fiel sofort in einen erschöpften, bleischweren Schlaf.

Auch über diese Nacht verloren Burkhards Eltern am nächsten Morgen kein Wort. Eine eigentümliche Sprachlosigkeit lag über seiner Angst. Sein Vater begegnete ihr mit jener männlichen Ironie, die zur Entschärfung aller denkbaren Peinlichkeiten diente. Als er einmal glaubte, Burkhard für irgendein Vergehen bestrafen zu müssen, geriet er in Verlegenheit über das Ausmaß an Initiative, das ihm abverlangt wurde. Überdies war er ungeübt im Strafen, nie hatte er Burkhard geschlagen. Jetzt hatte der Vater eine Idee, die er mit einer gewissen Zögerlichkeit umsetzte. Er nahm seinen Sohn bei der Hand und führte ihn in den Keller. Im Werkraum öffnete der Vater die Tür eines Wandschranks und forderte Burkhard auf, sich hineinzustellen. Sein Sohn gehorchte, und der Vater schloss die Schranktür. Sie bestand aus hölzernen Gitterstreben, zwischen denen Burkhard hindurchsehen konnte.

– Hier bleibst du jetzt so lange, bis du vernünftig wirst, sagte sein Vater durch die Schranktür und ließ seinen Sohn allein.

Es wurde still. Burkhard betrachtete den Raum durch die Stäbe. Er hatte einen nackten, grauen Estrichboden, durch ein Schachtfenster fiel gedämpftes Licht. Burkhard fing an zu weinen, so laut wie möglich, damit man es oben im Haus hörte. Er weinte wie ein Kind, das sich gegen seine Bestrafung wehrt und Mitleid bei seinen Eltern zu erwecken versucht. Er spielte die Rolle, die sein Vater in seiner ironischen Inszenierung für ihn vorgesehen hatte.

Daneben meldete sich aber noch etwas anderes in ihm, ein bodenloses Grauen, das er nach Kräften unterdrückte. Burkhard wusste: Wenn dieses Gefühl in einer solchen Situation die Oberhand über ihn gewinnen würde, drohte ihm die völlige seelische Auflösung. Er stemmte sich dagegen an, indem er sich immer stärker mit der Rolle des quengelnden Kindes identifizierte.

– Bitte, lass mich raus, rief er, ich tu’s auch nie wieder, Ehrenwort.

Schließlich kam sein Vater zurück und befreite ihn aus seinem Verlies. Er lachte und machte einen versöhnlichen Eindruck. Noch Jahre später kam er auf seine Sanktion zu sprechen – stets in einem aufgeräumten, anekdotenhaften Tonfall:

– Weißt du noch, wie ich dich ins Gefängnis gesteckt habe?

Einige Tage nach dem Karnevalsfest war Burkhard mit seiner Mutter allein im Haus. Sie saßen in der Küche, Wände und Decke des kleinen Raums waren mit dunklem Holz getäfelt, ein Tisch mit drei Stühlen nahm fast die gesamte freie Bodenfläche ein. Durch ein kleines, gardinenverhangenes Fenster blickte man über einen nackten Acker auf die rote Ziegelwand einer Leichenhalle. Im Winter fiel wenig Licht durch das Küchenfenster, so dass man oft auch am Tag die Deckenlampe einschalten musste. Nach dem Mittag essen hatte die Mutter das Geschirr abgewaschen und sich noch zu Burkhard an den Tisch gesetzt. Immer wenn sie das tat, wusste er, dass sie ihm etwas erzählen würde. Ihre Geschichten handelten meist von ihrer Kindheit in der Ukraine. Im Krieg war ihre Familie als Volksdeutsche von Wolhynien ins besetzte Polen um gesiedelt worden.

– Mein Vater war ein Gutsbesitzer, im Wartegau bekam er bei der Umsiedlung einen neuen Hof zugewiesen, erzählte die Mutter. Die ehemaligen polnischen Besitzer durften weiter auf dem Hof arbeiten, Vater hat sie immer anständig behandelt. Er war sogar Bürgermeister in dem Dorf, in dem wir lebten.

Burkhard suchte in seinem Schulatlas nach dem Ort in Polen, den seine Mutter genannt hatte; mit dem Finger fuhr er über die deutschen oder polnischen Namen der Städte, der Name „Wartegau“ war nicht darunter. Die Welt, in der seine Mutter aufgewachsen war, schien untergegangen zu sein. Seinen Großvater hatte Burkhard nie kennen gelernt, er kannte ihn nur von einem Foto, ein großer, hagerer Mann mit hoher Stirn und ernstem Gesichtsausdruck. Auf dem Foto trug er ein weißes Hemd und kniehohe, glänzende Reiterstiefel. Im Hintergrund stand seine Frau, in ihrem unansehnlichen, sackartigen Kleid sah sie bereits abgezehrt und gebrechlich aus. Sie starb an Schwindsucht, als Burkhards Mutter drei Jahre alt war.

– Zu Kriegsende sind wir dann auf einem Pferdewagen vor den Russen geflohen, bis nach Brandenburg. Ein Säugling ist während der Flucht gestorben. Vater hat zwar in Brandenburg noch einmal ein Haus gebaut, aber den Verlust seines Gutsbesitzes hat er nie verkraftet. Er wurde ein schwerkranker Mann. In der Nacht bekam er Tobsuchtsanfälle, dann hatte er Schaum vor dem Mund und brüllte wie ein Tier. Manchmal schlug er das ganze Mobiliar kurz und klein. Meine Stiefmutter, deine Oma Landa, wollte nicht mehr mit ihm in einem Zimmer schlafen.

Stattdessen musste ich mit ihm nachts den Raum teilen. Ich war so alt wie du jetzt. Wenn er anfing zu toben, versteckte ich mich unter dem Bett und wartete, bis alles vorbei war.

Die Mutter hielt inne, um zu sehen, wie ihr Sohn auf ihre Geschichte reagierte. Burkhard sah aus dem Fenster und stellte sich vor, wie ein großer, tobender Mann mit einer Eisenstange auf das Bett einschlug, unter dem sich seine Mutter befand. Sie fuhr fort:

– Deine Oma Landa war schlimmer als die Stiefmutter von Schneewittchen. Am Tag schlug sie uns Kinder wegen jeder Kleinigkeit. Wenn am Abend der Vater von der Arbeit nach Hause kam, erfand sie Dinge, die wir angeblich angestellt hatten, um ihn gegen uns aufzuhetzen. Dann nahm er uns und ging mit uns aus dem Haus. Er zog seinen Gürtel aus und schlug so lange auf uns ein, bis wir grün und blau waren. Oma Landa hat sogar einmal mit dem Messer nach mir geworfen. Es ist ganz knapp an meinem Kopf vorbeigegangen und hat die Fensterscheibe zerbrochen.

Burkhard betrachtete das Küchenfenster und überlegte, ob das Messer mit der Klinge oder mit dem Knauf aufgeprallt sein musste, um die Scheibe zu zerbrechen. Dann dachte er an seine dicke Oma Landa und wunderte sich über ihre Geschicklichkeit im Messerwerfen.

Burkhard sah, dass seine Mutter Tränen in den Augen hatte, ohne eigentlich traurig auszusehen. Ihre Lippen waren schmal und verkniffen, sie zog hörbar die Luft in die Nase, hob den Kopf und blickte ihn mit einem stummen Vorwurf an. Er schwieg.

– Ich brauche frische Luft, sagte seine Mutter und erhob sich vom Tisch, ich gehe noch eine Runde über den Friedhof.

– Darf ich mitkommen?

Sie sah ihn kurz an und ihr Mund wurde noch schmaler. Mit einer langsamen, weit ausholenden Bewegung des Kopfes wandte sie sich von ihm ab.

– Ich werde ja wohl einmal fünf Minuten alleine sein dürfen.

Burkhard wollte sie überreden, dann sah er ihren Blick und unterließ es. Er schaute ihr zu, wie sie ihren Mantel anzog und das Haus verließ. Als das leere Haus die Angst in ihm wachrief, ging er ans Küchenfenster, von wo aus er sehen konnte, wie seine Mutter den menschenleeren Friedhof betrat. Sie ging an der Leichenhalle vorbei und folgte langsam den roten Splittwegen, vor einigen Gräbern blieb sie kurz stehen. Manchmal versperrte ihm ein Baum die Sicht, und seine Mutter verschwand für Augenblicke. Dann tauchte sie wieder auf und setzte ihren Weg fort. Er konzentrierte sich, um ihre Bewegungen mit dem Blick zu verfolgen. Seine Augen begannen zu brennen, denn er wagte nicht zu blinzeln. Er fürchtete, ein einziger Lidschlag könnte seine Mutter zum Verschwinden bringen. Als sie eine Wegbiegung erreichte, wusste er, dass er sie jetzt für kurze Zeit aus den Augen verlieren würde, weil er die Rückseite des Friedhofs nicht einsehen konnte. Burkhard wartete und starrte auf die Stelle, wo sie wieder erscheinen würde. Er versuchte, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie lange sie für den Weg brauchen würde, der nun für ihn im Verborgenen lag. Es gelang ihm nicht, die Ungeduld verzerrte sein Zeitgefühl. Als die Mutter wieder auftauchte, kämpfte er bereits mit Panik. Er beruhigte sich aber gleich wieder, denn jetzt konnte sie sich seinem Sichtfeld nicht mehr entziehen.

Burkhards Eltern hatten das Haus gebaut, als er vier Jahre alt war. Die Beengtheit im Haus des Bruders hatte zu Spannungen geführt, und man beschloss, ein eigenes Heim am anderen Ende des Dorfes zu bauen. Da die Eltern beide berufstätig waren, hatten sie bald genug Geld für den Baugrund gespart, der damals, Mitte der sechziger Jahre, noch zu Spottpreisen zu haben war. Das Werden des Rohbaus faszinierte Burkhard, vor allem die Männer in Arbeitskleidung, deren Gestik und Mimik stets etwas Bedeutsames ausstrahlten. Auch mochte er die fremden Gerüche nach Zement, Mörtel und frischem Estrich. Er bekam eine Plastikschubkarre und durfte sich am Herbeischaffen der Baumaterialien beteiligen.

Nach einiger Zeit begann er die fremde Umgebung des Hauses zu erkunden. Es war Sommer, die Kinder aus den Nachbarhäusern spielten auf der Straße oder in den Gärten hinter den Häusern. Er ging die Straße entlang und betrachtete die L-förmig angelegten Einfamilienhäuser mit ihren farbigen Blendklinkern. Vor einem Haus saß ein Junge auf einem Randstein. Er hatte einen Daumen im Mund und rieb sich mit dem Zeigefinger derselben Hand über die Nase. Burkhard blieb vor ihm stehen, und sie sahen sich eine Zeit lang schweigend an. Sie waren ungefähr gleich alt, aber äußerlich völlig verschieden. Burkhard war klein und mager, sein Kopf mit der hohen gewölbten Stirn und dem hellblonden Haar war überproportional groß im Vergleich zum Körper. Der andere Junge hatte braunes Haar und ein rundes Gesicht, er wirkte groß und etwas zu schwer für sein Alter. Nach einer Weile nahm er den Daumen aus dem Mund, deutete auf den Rohbau und fragte Burkhard, ob er dort wohnen werde. Der Junge stotterte, kämpfte manchmal sekundenlang mit einem Wort, bis er es endlich herausbekam. Die Vokale wurden ihm dabei zu steilen Hängen, für die er einen weiten Anlauf und langen Atem benötigte.

– Früher war unser Haus das nächste neben dem Friedhof, erzählte er mühsam, jetzt wohnt ihr direkt daneben. Mein Vater sagt, das ist das letzte Haus in der Reihe. Auf dem Feld direkt neben dem Friedhof darf man nicht bauen. Mein Vater kann sogar mitten in der Nacht ganz alleine über den Friedhof gehen und denkt sich nichts dabei.

Burkhard sah den Jungen staunend an. Ein Mensch, der zu so etwas in der Lage war, war außerhalb seines Vorstellungsvermögens.

Der Junge hieß Matthias, er führte Burkhard am nächsten Tag in den Garten hinter seinem Elternhaus, wo dieser seine Geschwister und seine Mutter kennen lernte. Als Burkhard mit seinen Eltern einige Monate später in das fertiggestellte Haus einzog, nahm er Matthias mit in sein neu eingerichtetes Zimmer und zeigte ihm seine Comic-Sammlung und seine Märchenschallplatten. Die beiden Jungen wohnten nun nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Für den Fall, dass einer von beiden in der Dunkelheit vom Haus des neuen Freundes zum eigenen Elternhaus gehen musste, hatten sie eine Abmachung getroffen. Der eine musste so lange an der Haustür warten und sich lautstark bemerkbar machen, bis der andere sicher zu Hause angekommen war. Erst auf ein verabredetes Zeichen hin durfte der Wartende sich ins eigene Haus zurückziehen. Die beiden Jungen waren keineswegs immer rücksichtsvoll zueinander. Aber ein vorzeitiges Schließen der Tür in einer solchen Situation wäre ein Treuebruch gewesen, der für sie beide völlig undenkbar war.

Das Erste, was die beiden Jungen miteinander teilten, war ihre gemeinsame Angst. Sie war einfach da, ein nie hinterfragter Teil ihrer kindlichen Welt. Ihre Freundschaft stand von Anfang an im Zeichen der Furcht – ein Bund gegen ein allgegenwärtiges Bedrohungsgefühl, dessen dunkle Quelle in ihren Familien lag. Nichtsdestotrotz war es für sie ein ungeschriebenes Gesetz, nie über die reale Furcht zu reden, die hinter den Türen ihrer Elternhäuser herrschte.

Schon bald entwickelten sie ein eigenes, stets aufs neue variiertes Spiel. Sie schlüpften in die Rollen von Figuren, die sie selbst entwarfen oder die sie aus dem Fernsehen oder aus Comics kannten. Es waren in der Regel Männer, die sich in Todesgefahr zu bewähren hatten. Auf das Stichwort „Du mötst jetzt …“ – oder: „Du müsstest jetzt“, womit gemeint war: „Stell dir vor, du wärest jemand anderer und stündest vor folgender Aufgabe“ – legte einer von beiden den Rahmen des Rollenspiels fest. Dann folgte eine kleine gespielte Geschichte, die meist in einen Kampf auf Leben und Tod mündete. Wenn der Gefährdete sein Leben gerettet hatte, durfte er zu seinem Heim zurückkehren, wo eine besorgte Frau auf ihn wartete. Die Freunde stritten oft um die attraktivsten Rollen, aber nie wurde die Inszenierung an sich in Frage gestellt. Auch teilten sie diese Art von Spiel nie mit anderen Kindern. Sie hatten zwar keine ausdrückliche Abmachung auf Exklusivität getroffen, aber die Anwesenheit eines Dritten wäre ihnen peinlich gewesen.

Eine Szene, die Burkhard immer wieder inszenierte, war eine Art nachdenkliche Betrachtung nach einem soeben abgewehrten Anschlag auf sein Leben. Der Pfeil eines heimtückischen Indianers hatte ihn um Haaresbreite verfehlt, und das nur, weil er ebenso verzweifelt wie geschickt um sein Überleben gekämpft hatte. Jetzt gewährte ihm seine Geschichte einen Moment der Besinnung, damit er sich über das Geschehene seine Gedanken machen konnte. Der Kampf hatte für alle Beteiligten ans Licht gebracht, wie sehr Burkhard an seinem Leben hing. Die tödliche Gefahr hatte ihn gezwungen, etwas höchst Intimes von sich preiszugeben. Es lag etwas Beschämendes in dieser Offenbarung, bei der Matthias lediglich die Rolle des Zeugen und Zuhörers zu spielen hatte. Und doch hatte dieser Verzweiflungskampf, den wohl jeder Mensch geführt hätte, wäre er an seiner Stelle gewesen, für Burkhard etwas Faszinierendes und Unergründliches an sich. Die Rollenspiele zogen sich über Jahre hin, sie endeten erst mit dem Einbruch der Pubertät.

Matthias stammte aus einer Arbeiterfamilie, er war das jüngste von fünf Kindern. Er besaß nur wenige Spielsachen und trug eine schiefe Ponyfrisur, weil seine Mutter ihm selbst die Haare schnitt. Burkhards Mutter behandelte ihn mit dem Dünkel des aufgestiegenen Mittelstands. Sie beargwöhnte die Freundschaft der Kinder, weil sie spürte, dass hier etwas entstand, auf das sie keinen Einfluss hatte.

Als Matthias einen Nachmittag im Haus von Burkhards Eltern verbracht hatte und gerade nach Hause gegangen war, kam die Mutter unter einem Vorwand ins Zimmer. Sie stellte sich vor den Sessel, auf dem der Freund gesessen hatte, kniete nieder und roch an der Sitzfläche. Mit einem Ausdruck des Ekels erhob sie sich.

– Er stinkt.

Dann führte sie Burkhard in die Küche und setzte sich mit ihm an den Tisch. Es war wieder Zeit für eine Geschichte. Aber diesmal hielt sie nach einigen Sätzen inne, dachte nach und sagte, sie müsse ihm etwas zeigen. Sie holte die Broschüre einer freichristlichen Glaubensgemeinschaft, in der Oma Landa Mitglied war, aus dem Schrank und blätterte darin, bis sie eine bestimmte Seite fand. Dann gab sie ihm das Heft und deutete auf ein ganzseitiges Schwarzweißbild.

– Burkhard, weißt du, was das ist?

Das Bild zeigte eine düstere, einsame Szenerie auf dem Meer. Im Lichtkegel des Mondes tauchte etwas aus dem Wasser auf, eine Art schwarze Echse mit gezacktem Schwanz und einem Horn auf dem Kopf. Burkhard schüttelte den Kopf und fragte seine Mutter leise, ohne den Blick von der Zeichnung zu heben:

– Nein, was ist das?

– Das ist das Tier.

– Was für ein Tier?

Seine Mutter rückte näher und begann, leise aus der Broschüre vorzulesen:

– Am Ende der Zeiten wird das Tier dem Meere entsteigen und seine Herrschaft antreten über die Erde und das Menschengeschlecht. Es wird Verwüstung, Mord und Raserei verbreiten, und niemand, dessen Herz voll Sünde ist, wird sich ihm widersetzen können.

Sie legte das Heft auf den Tisch und sah Burkhard an. Er wich ihrem Blick aus und schaute sich das Tier noch einmal genauer an. Er fragte sich, wie groß es wohl unter der Wasseroberfläche sei und wie lange es bis zum nächsten Ufer brauchen würde. Als seine Mutter nichts mehr sagte, stand er auf und verließ die Küche mit einem Gefühl der Beklemmung.

Burkhard vergaß das Tier, bis er ein paar Tage darauf im Fernsehen einen Ausschnitt aus einem Film sah, der gerade in den Kinos angelaufen war. In der Szene saß eine Familie spätabends mit geladenen Gästen an einem Tisch. Plötzlich erschien die Tochter der Gastgeber auf dem oberen Treppenabsatz und schaute auf die Runde herab. Das Mädchen hatte langes blondes Haar und trug ein weißes Nachthemd. Es sah geistesabwesend und verwirrt aus. Dann sah man, dass sich zwischen seinen Füßen eine Pfütze bildete. Das Kind stand einfach da und urinierte auf die Treppe; die Runde der Erwachsenen verfiel in ein verlegenes Schweigen. In einer anderen Szene lag das Mädchen im Bett. Es verdrehte die Augen, die sich verfärbt hatten, und stieß mit einer tiefen, verzerrten Stimme obszöne Flüche aus, deren Sinn Burkhard nur zum Teil verstand. An ihrem Bett stand ein Mann in einem schwarzen Anzug und las erregt und mit lauter Stimme Gebete aus einem Buch. Das Mädchen zerriss sich das Nachthemd, und man konnte sehen, dass auf seiner Brust in roten Buchstaben das Wort „Help“ stand. Burkhard spürte, wie sich ein widerwärtiges Gefühl der Taubheit in seinem Körper breitmachte. Er begann zu schwitzen, Übelkeit überfiel ihn. Er schleppte sich ins Badezimmer und übergab sich in die Toilette.

Als ihn in der darauf folgenden Nacht die Angst weckte, wusste Burkhard sofort, dass das nicht mehr die Angst war, die er kannte. Er lief nicht wie gewöhnlich ins Schlafzimmer der Eltern, sondern blieb in seinem Bett liegen. Das Reich der Eltern bot keinen Schutz mehr vor der Gefahr, die jetzt in sein Leben getreten war. Ein gewöhnlicher Mörder würde sich nie in das elterliche Schlafzimmer trauen, vor ihm war er im Bett seines Vaters sicher. Aber das Tier war nicht auf die verschwiegenen Momente der Verlassenheit angewiesen. Es war in ihm, wo es jederzeit in seinem eigenen Dunkel auf ihn lauerte. Burkhard fuhr mit der Hand über seine Brust und prüfte, ob er Schriftzeichen auf der Haut hatte. Dann konzentrierte er sich auf seinen ganzen Körper und tastete mit seinem inneren Sensorium nach möglichen Veränderungen. War da nicht ein ungewöhnlicher Druck in seinem Kopf? Spürte er nicht ein taubes Gefühl im Unterleib? Waren das die ersten Symptome für den Vormarsch des Tieres in seinem Inneren? Vielleicht war er längst besessen und wusste es nur noch nicht. Womöglich würde er am nächsten Tag in der Schule vor die versammelte Klasse treten und auf den Boden pinkeln. Keine ihm bekannte Macht konnte ihn vor dem Tier schützen, wenn es beschließen würde, von ihm Besitz zu ergreifen.

Das Tier wich nicht mehr aus seiner Welt, es war allgegenwärtig, denn er trug es beständig in sich. Es lauerte und wartete nur auf seine Gelegenheit. Nie machte er es zu einem Gegenstand der gemeinsamen Rollenspiele mit Matthias. Der Versuch, es in einer Inszenierung zu zähmen, hätte es womöglich erst auf den Plan gerufen. Die Angst hatte sich mit einer Macht verbündet, die jenseits aller Fassbarkeit war.

Das Dorf