Melitta von Stauffenberg - Thomas Medicus - E-Book

Melitta von Stauffenberg E-Book

Thomas Medicus

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Beschreibung

Als Melitta von Stauffenberg im Januar 1943 von Hermann Göring höchstpersönlich das Eiserne Kreuz II. Klasse erhält, ist dies der vorläufige Höhepunkt einer fast unglaublichen Karriere. Nicht nur beherrscht sie als Testfliegerin und Ingenieurpilotin alle damals bekannten Flugzeugtypen, hat sagenhafte zweitausend Sturzflüge absolviert, selbst ausgewertet und so den Bombenkrieg der Luftwaffe perfektioniert – sie bewahrt auch ein Geheimnis: «Flugkapitän Gräfin Stauffenberg» ist nach den Kriterien der Nazis eine «Halbjüdin». Nur mit Hilfe von ganz oben gelingt es ihr, den Fängen der Rassenjustiz zu entkommen. Für einige Jahre kann sie sich sicher wähnen – bis sie nach dem 20. Juli 1944 in Sippenhaft genommen wird. Enkelin eines jüdischen Textilhändlers aus Odessa, Schwägerin des späteren Hitler-Attentäters, Stuka-Amazone, tragische Heldin ihrer Zeit: Melitta von Stauffenbergs Geschichte erscheint fast wie ein Spiegelbild des totalitären 20. Jahrhunderts, das Eric Hobsbawm das «Zeitalter der Extreme» genannt hat. Ihre Liebe zum feingeistigen Althistoriker Alexander von Stauffenberg war genauso bedingungslos wie ihre Hingabe an die Fliegerei, die ihr am Ende zum Verhängnis wird. Thomas Medicus beschreibt auf der Grundlage bisher unbekannter Quellen dieses ebenso faszinierende wie radikale Leben. Ein einzigartiges Frauenschicksal – und ein dramatisches Kapitel deutscher Geschichte.

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Seitenzahl: 529

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Thomas Medicus

Melitta von Stauffenberg

Ein deutsches Leben

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Sturz, Flug, Krieg

ERSTES KAPITEL

«Immer anders als die anderen»: Kindheit im Zeichen des Krieges

ZWEITES KAPITEL

«Drang nach dem freien Spiel der Kräfte»: Eine junge Frau will nach oben

DRITTES KAPITEL

«Wunder undeutbar für heut»: Der Dichter und die Ingenieurpilotin

VIERTES KAPITEL

«Dipl. Ing. Flugkapitän Gräfin Stauffenberg»: Karriere im Dritten Reich

FÜNFTES KAPITEL

«Diese begeisterte und opferbereite Frau»: Soldatin ohne Uniform

SECHSTES KAPITEL

«An der Steilküste der Seele»: Der Luftkrieg und das EK II

SIEBTES KAPITEL

«Am Orte, Liebstes, wo Du weilst»: Der Absturz

EPILOG

Adel verpflichtet

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Danksagung

Bildnachweis

PrologSturz, Flug, Krieg

Da staunte Dr.Georg Pasewaldt, Oberst im Generalstab und Entwicklungschef im Technischen Amt des Reichsluftfahrtministeriums. Eine Frau mit solch höllischem Wagemut hatte er noch nicht erlebt. Pasewaldt war auf Inspektionsbesuch in Rechlin – hundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Berlin lag zwischen Wiesen, Wäldern, Feldern und Seen in Mecklenburg die bedeutendste Flugerprobungsstelle der Reichsluftwaffe. Hier wurden verschiedene fliegende Waffensysteme auf ihre militärische Einsatztauglichkeit überprüft, Flugzeugtypen, Bordinstrumente, Bordwaffen, Bomben. Ein Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren im Zuge der noch geheimen Aufrüstung der Luftwaffe im Umkreis Rechlins die Bewohner mehrerer Dörfer umgesiedelt, sodann Gutshöfe, Stallungen, Kirchen bombardiert und schließlich die Ruinen abgerissen worden. So schuf man am Südufer der Müritz Platz für ein fast kreisrundes Flugfeld von mehr als anderthalb Kilometern Durchmesser sowie moderne Flughafengebäude und Wohnsiedlungen. In diesem Sperrbezirk konnte Tag und Nacht für den deutschen Endsieg geflogen, geschossen, gesprengt, berechnet und gemessen werden.

Als Pasewaldt Anfang 1942 zum Himmel über Rechlin blickte, traute er seinen Augen nicht. Sollte die Ju 88, das von den Dessauer Junkers-Werken konstruierte zweimotorige Bomberflugzeug mit seiner so typischen Vollsichtkanzel, etwa zum Absturz gebracht werden? Was denn Sinn und Zweck solch eines waghalsigen Sturzfluges sei, wollte der Oberst wissen, das müsse doch ungeheure Vibrationen erzeugen, ließe sich da der Sturz überhaupt noch abfangen und das Flugzeug in den Normalflug zurückmanövrieren? Wer denn der Pilot sei, der an den «Grenzen des Zulässigen»1 fliege und diese enormen Beschleunigungskräfte aushalten könne?

Es war, erfuhr Pasewaldt von den Umstehenden, «die Melitta bei ihren Sturzversuchen». In den gemäßigten Sturzflug abzutauchen, erinnerte sich der promovierte Jurist und fronterfahrene Kampfpilot nach dem Zweiten Weltkrieg, habe «mancher männliche Pilot bereits als Heldentat»2 betrachtet. Für Melitta von Stauffenberg seien die extremsten Wagnisse über Jahre hinweg Alltag gewesen.

Sie brauchte keinen Schutzengel. Sicher wie immer setzte sie die Ju 88 auf, rollte über die Landebahn zum Hangar und entstieg frisch und wohlbehalten der Maschine. Die zierliche Frau war eine erfahrene und begabte Fliegerin. In Rechlin verbrachte sie gut zwei Jahre als Ingenieurpilotin und testete optische Zielgeräte von Sturzkampfbombern für den präzisen Bombenabwurf, sogenannte Sturzflugvisiere. Dabei hatte sie es auf fast tausend «vermessene und gefilmte steile Zielstürze, durchschnittlich von 5000 auf 1000m Höhe»3 mit verschiedenen Kampfflugzeugtypen gebracht. Als sie diese Tätigkeit im Frühjahr 1944 beendete und bereits Mitarbeiterin der Luftkriegsakademie in Berlin-Gatow war, hatte sich die Zahl ihrer Sturzflüge auf rund 2200 erhöht – rekordverdächtige zwölf, später sogar fünfzehn Stürze pro Tag. Darauf war sie ebenso stolz wie auf ihre körperliche Konstitution, die solche extremen Belastungen, wie sie beteuerte, unbeschadet überstand. Im Gegensatz zu anderen Piloten machte sich bei ihr der sogenannte Schleier, eine mit Sehstörungen verbundene Blutleere im Gehirn, erst bei sehr hohen Sturzgeschwindigkeiten bemerkbar.

Niemand zuvor, ob Mann oder Frau, hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt derart riskanten Strapazen ausgesetzt. Mehr als vier Jahre lang raste sie regelmäßig mit heulenden Motoren dreißig Sekunden lang senkrecht dem Erdboden entgegen, um in letzter Sekunde und bei größtmöglicher Bombenzielsicherheit ihr Flugzeug abzufangen, nach Hause zu fliegen und dort Berechnungen anzustellen. Diese fliegerische wie wissenschaftliche Ausnahmeleistung würdigte der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, im Januar 1943 höchstpersönlich mit der Verleihung des Eisernen KreuzesII. Klasse. Das Goldene Militärfliegerabzeichen mit Brillanten und Rubinen bekam die ihren männlichen Kollegen in allen professionellen Belangen ebenbürtige, wenn nicht gar überlegene Ingenieurpilotin im Herbst desselben Jahres verliehen.

Der taktisch wie technisch versierte Kampfpilot Pasewaldt hatte Melitta von Stauffenbergs «geradezu einmalige Lebensauffassung», den «wahrhaft tödlichen Ernst ihrer Arbeitsweise»4 bei seinem Besuch in Rechlin intuitiv erfasst. Hinter der Maske der Unnahbarkeit, von der alle berichten, die ihr jemals begegneten, verbarg sich die nervöse Unrast einer extremen Persönlichkeit. Mit kühlem Verstand und heißem Herzen bis an die Grenzen des Möglichen zu gehen, das und nichts anderes war ihr Leben. Bequem, sicher und beschaulich leben, das wollte, das konnte sie nicht. Melitta von Stauffenberg liebte die Technik, die Maschine, die Geschwindigkeit. «Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen», schrieb Filippo Tommaso Marinetti im ersten Satz seines «Futuristischen Manifestes», «die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.» Dieser kämpferischen Melodie folgte Melitta von Stauffenberg ein Leben lang auf ihre ganz eigene Weise. Als Marinetti sein Gewalt, Zerstörung und die Kraft der Maschine verherrlichendes «Manifest» 1909 in der Pariser Tageszeitung «Le Figaro» veröffentlichte, war Melitta gerade sechs Jahre alt. Wenige Jahre später sollte der Erste Weltkrieg ihr Leben von Grund auf erschüttern.

Melitta von Stauffenberg war eine Ausnahmegestalt. Bis heute sind Frauen im Cockpit eine Seltenheit – der erste weibliche Flugkapitän in der Geschichte der Deutschen Lufthansa wurde im Jahr 2000 ernannt. Ehrenhalber hatte Melitta, die auch nach ihrer Heirat mit Alexander von Stauffenberg ihren Mädchennamen Schiller bevorzugte, den Titel «Flugkapitän» schon 1937 erhalten. Sie durfte sich so bezeichnen, weil sie die Flugzeugführerscheine aller Qualifikationsklassen erworben hatte und in der Lage war, sämtliche damals verfügbaren Flugzeugtypen zu fliegen, von der kleinsten Sport- bis zur schweren viermotorigen Kampfmaschine, eine in der Luftfahrt der dreißiger und vierziger Jahre phänomenale Leistung. Dass sie als eine von wenigen Frauen ihrer Zeit Technische Physik studiert hatte und anschließend Karriere als Diplomingenieurin in der Luftfahrtforschung der späten Weimarer Republik wie des Dritten Reiches machte, war ebenfalls singulär. Neben Hanna Reitsch, ihrer lebenslangen Kontrahentin, war sie die wichtigste Testpilotin im militärischindustriellen Komplex des NS-Staates. Doch anders als Reitsch besaß sie als Ingenieurin die Fähigkeit, die technischen Daten ihrer Testflüge selbst auszuwerten, Konstruktionsvorschläge zu unterbreiten oder auch Patente anzumelden.

Außergewöhnlich war Melitta von Stauffenberg aber nicht allein wegen ihrer Fähigkeiten als Fliegerin oder Luftfahrtingenieurin. Als Pilotin stand sie sogar im Schatten ihrer berühmteren, Höhen-, Strecken- und andere Rekorde brechenden Kolleginnen, neben Hanna Reitsch etwa Elly Beinhorn, Thea Rasche oder Marga von Etzdorf. Zwar zählte Melitta zu den Flugpionierinnen, die in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren für mediale Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Anders jedoch als ihre deutschen, aber auch englischen oder amerikanischen Kolleginnen war sie kein fliegender Star, dessen Rekorde in die Geschichte der Luftfahrt Eingang gefunden hätten. Und doch ragten ihre Karriere und ihr Schicksal auf besondere Weise heraus. So widersprüchlich, so zerrissen waren ihr Leben und ihre Persönlichkeit, dass ihre Biographie geradezu als Sinnbild eines politisch wie ideologisch extremen Zeitalters erscheint.

Von Beginn ihres Studiums bis zu ihrem gewaltsamen Tod vier Wochen vor Kriegsende im April 1945 hielt sich Melitta Schiller überwiegend in einer männlich geprägten Umgebung auf. Als Studentin der Technischen Physik an der TH München war sie in den zwanziger Jahren weit mehr als nur eine Ausnahme, unter den männlichen Studenten dieser Disziplin war sie ein Einzelfall. Bereits am Ende des Jahrzehnts fand die Expertin für Aerodynamik ihren Platz in der Luftfahrtforschung und der Rüstungsindustrie, mit Beginn des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie in Rechlin und in Berlin-Gatow überwiegend in militärischen Sperrbezirken, die unter Geheimhaltung standen, lebte sie unter Soldaten und Offizieren, in Kasernen und auf Flugplätzen. Allein unter Kriegern in einem totalitären System, das sich die Züchtung «rassereiner» Supermänner und stahlharter Kämpfer auf die Fahnen geschrieben hatte – wie konnte das funktionieren?

1931 lernte Melitta Schiller ihren späteren Mann Alexander von Stauffenberg kennen, den Zwillingsbruder von Berthold und älteren Bruder des Hitler-Attentäters Claus von Stauffenberg. Gemeinsam mit seinen Brüdern gehörte er seit Mitte der zwanziger Jahre zum Kreis der Jünger um Stefan George. Zeitlebens verstand sich der Historiker Alexander von Stauffenberg vor allem als Dichter. Wie passte ein solches Paar zusammen, die Ingenieurin verheiratet mit dem Dichter? Versöhnte sich hier etwa die technische Moderne mit dem auf eine ideale griechische Antike eingeschworenen, fortschrittsfeindlichen Ästhetentum des George-Kreises? Wie kam eine Ingenieurpilotin der Reichsluftwaffe, tätig in einem fast ausschließlich männlichen Beruf, mit einem Dichterhistoriker aus, der Mitglied eines homoerotischen Kreises von Wissenschaftlern und Künstlern war? Melitta lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Berlin, Alexander wanderte in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre als unbezahlter Dozent von Universität zu Universität, bevor er 1936Professor für Alte Geschichte in Würzburg wurde. Konnte eine solche Ehe glücklich sein?

Als die Katastrophe von Stalingrad sich ihrem Höhepunkt näherte und Göring in seiner Berliner Residenz in Anwesenheit zahlreicher Gäste Melitta Schiller das Eiserne Kreuz verlieh, trank man Sekt, plauderte und fand sich sympathisch. Sie erhielt die Auszeichnung, obgleich ihr Vater Jude war und Melitta in der Terminologie der Nationalsozialisten als «jüdischer Mischling ersten Grades» galt. Wie konnte es ihr gelingen, in die militärische Funktionselite des Nationalsozialismus aufzusteigen, als Frau und sogenannte Halbjüdin dazu? Ein verwirrendes, an Unwahrscheinlichkeiten reiches Leben, in dem vieles vereinbar ist, was auf den ersten Blick unvereinbar erscheint.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sogar behauptet, sie sei in die logistischen Planungen des Attentats vom 20.Juli 1944 einbezogen gewesen und durch Claus von Stauffenberg persönlich über die Absichten des militärischen Widerstands zur Beseitigung Hitlers eingeweiht worden.5 Die Gräfin habe angeblich ihren Schwager nach dem Attentat auf den «Führer» in der Wolfschanze mit einem Fieseler Storch von Ostpreußen nach Berlin zurückfliegen sollen, damit dort der Walküre-Plan ausgeführt würde. War Melitta von Stauffenberg also in irgendeiner Form an den Vorbereitungen des 20.Juli beteiligt? Dann wäre sie die einzige Frau, der es gelang, in dem ausschließlich von Männern getragenen militärischen Widerstand eine aktive Rolle zu spielen. Sollte der seit Jahrzehnten ausgedehnten Forschung zur Geschichte des 20.Juli 1944 dieser Ausnahmefall bisher entgangen sein?

Tatsächlich erscheint in dieser Biographie nichts unmöglich. Von trennscharfen Bruchlinien oder klaren Frontverläufen kann im Falle Melitta Schillers keine Rede sein. Zu den herkömmlichen Deutungen wie Kategorisierungen von Lebensverläufen im NS-Regime steht ihr Werdegang in fundamentalem Widerspruch. Melitta von Stauffenberg, bei der man stets geneigt ist, sie Melitta Schiller zu nennen, war nicht nur eine bemerkenswerte, sie war auch eine rätselhafte Frau. Eine «Halbjüdin» im Dienst des NS-Regimes, eine Frau, deren Beruf Krieg, Waffen und Zerstörung sind – diese Widersprüche werfen viele Fragen auf.

Über eine historische Figur ist immer nur das bekannt, was die Archive an Material preisgeben. Bei Melitta von Stauffenberg ist die Quellenlage äußerst schwierig, denn kaum etwas aus ihrem persönlichen Besitz hat den Zweiten Weltkrieg überlebt. Beim Luftangriff der Royal Air Force am 16.März 1945 auf Würzburg, bei dem die historische Altstadt in Schutt und Asche versank und fünftausend Zivilisten starben, erhielt auch die gemeinsame Wohnung von Melitta und Alexander von Stauffenberg einen Volltreffer. Niemand war da, der in den Trümmern nach Überresten hätte suchen und diese hätte aufbewahren können. Was nicht verbrannt oder zerstört war, wurde gestohlen, kein einziger persönlicher Gegenstand, kein einziges persönliches Dokument blieb erhalten. Im August 1945 schrieb Melittas jüngste Schwester Klara Schiller an ihre älteste, in Neumünster lebende Schwester Marie-Luise Lübbert, «in Würzburg» sei «alles abgebrannt, nicht eine Stecknadel ist übrig geblieben»6. Dennoch konnte der Verfasser der vorliegenden Biographie unerwartet viel, bislang unbekanntes Quellenmaterial in privaten wie auch in öffentlichen Archiven ausfindig machen und auswerten. Hilfreich waren hier besonders die reichhaltigen Archive der drei Schwestern Klara, Jutta, vor allem aber Marie-Luise Schiller. Selbstzeugnisse von der Hand Melitta von Stauffenbergs aus den zwanziger und dreißiger Jahren sind allerdings auch hier so gut wie nicht vorhanden. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden die in den Privatarchiven zahlreich vorhandenen Fotografien als Quellendokumente herangezogen. Damit war auch der Versuch verbunden, Bild- und Textdokumente gleichrangig zu behandeln. Viel detektivischer Spürsinn und Kombinationsvermögen waren erforderlich, um das Zwielicht dieses von Dämonen heimgesuchten, so eigentümlich deutschen Lebens zu erhellen. Vertreiben wir also die Düsternis, begleiten wir die Rätselfrau Melitta von Stauffenberg auf ihren verschlungenen Lebenswegen.

Erstes Kapitel«Immer anders als die anderen»: Kindheit im Zeichen des Krieges

Melitta Schiller wurde am 9.Januar 1903, einem Freitag, in Krotoschin als drittes von fünf Kindern der Eheleute Michael und Margarete Schiller geboren. Ihr Vater stammte aus Leipzig, die außerordentlich schöne Mutter, eine gebürtige Eberstein, aus Bromberg. Krotoschin, eine Kleinstadt mit kaum dreizehntausend Einwohnern1, lag im fernen deutschen Osten in der Provinz Posen. Diese Region besaß im Reich eine Sonderstellung, denn Posen war sowohl in ethnischer wie auch in geographischer Hinsicht Grenzland. Preußen hatte den größten Teil nach der ersten polnischen Teilung 1772 und weitere Gebiete nach dem Wiener Kongress 1815 okkupiert. Von den etwa zwei Millionen Einwohnern stellten die Polen die Mehrheit, nur knapp vierzig Prozent waren Deutsche. Nördlich und östlich von Krotoschin wurde überwiegend Polnisch gesprochen, in der Stadt selbst waren etwa zwei Drittel der Bevölkerung Polen, ein Drittel Deutsche, hinzu kam eine kleine jüdische Minderheit von etwa fünfhundert Personen.

In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts hatte sich Krotoschin zu einem regionalen Verwaltungs- und Gerichtszentrum entwickelt; es gab einige Industriebetriebe, der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen florierte. Auf vier mächtige Kasernenkomplexe verteilten sich über tausend Soldaten des «Füsilier-Regiments von Steinmetz Nr.37», genannt das «Westpreußische». Auch deshalb war die Stadt Knotenpunkt eines überregionalen Eisenbahnnetzes. Preußen hatte Sicherheitsvorkehrungen getroffen, denn die Provinz Posen war einer doppelten Bedrohung ausgesetzt, sie musste sich im Inneren wie an ihren Außengrenzen für den Ernstfall wappnen. An der von Krotoschin kaum fünfzig Kilometer entfernten Staatsgrenze kollidierten die Interessen der beiden Großmächte Deutschland und Russland, im Inneren galt es, die als Reichsfeinde geltenden Polen in Schach zu halten. Melitta war in einer der krisenhaftesten Regionen des Deutschen Kaiserreiches zur Welt gekommen. Kaum eine andere preußische Provinz östlich von Oder und Neiße war so gefährdet wie Posen.

Dennoch führte die Familie Schiller bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Krotoschin ein angenehmes Leben. Die brenzlige Situation nahmen sie nur beiläufig zur Kenntnis. In Krotoschin schien die Zeit stillzustehen, als sei der Wechsel der Jahreszeiten der einzige Wandel, den man hier stets aufs Neue erlebte. Die knapp anderthalb Jahrzehnte vor 1914 waren für Michael und Margarete Schiller mit ihren fünf Kindern Marie-Luise, Otto, Melitta, Jutta und Klara ein Goldenes Zeitalter, nie wieder sollte es so beschaulich, friedlich und glücklich zugehen. Melittas Vater hatte in Krotoschin das Amt des Königlich Preußischen Landesbauinspektors inne und in dieser Eigenschaft «für die Herstellung und Unterhaltung der Chausseen… Sorge zu tragen»2. Als preußischer Beamter gehörte Michael Schiller der tonangebenden, exklusiven deutschen Lokalelite an, in der Polen nichts verloren hatten. Bis 1914 verlief das Leben der Familie Schiller wie ein großer, immerwährender heiterer Sommer.

Die Krotoschiner Zeit der Schillers ist bis hinein in die Nachkriegsjahre aus erster Hand außerordentlich gut dokumentiert. Aufschlussreich sind die schriftlichen Erinnerungen Jutta Schillers an ihre Schwester Melitta, in denen Krotoschin einen breiten Raum einnimmt.3 Noch bedeutender ist der Beitrag von Melittas ältester Schwester Marie-Luise, genannt Lili. Über mehr als ein halbes Jahrhundert schrieb sie unermüdlich Tagebücher und Familienchroniken, sammelte Stammbäume sowie familiengeschichtliche Dokumente.4 Als hätte sie den Untergang des Hauses Schiller in Krotoschin vorhergesehen, wurde Lili schon in jungen Jahren zur wichtigsten Archivarin und Chronistin ihrer Familie.

Im Vorkriegsgarten: Die Familie Schiller, um 1913, ganz rechts Melitta.

Die Schillers besaßen eine geräumige Villa in der Schollstraße5 am Krotoschiner Stadtrand. An der ehemaligen Landstraße lagen die pompösen Villen begüterter Stadtbürger in einem neuen Viertel aufgereiht wie Perlen an einer Kette. Hinter dem Haus erstreckte sich die Ebene des Großpolnischen Tieflandes mit Bauern- und Gutshöfen sowie Windmühlen, die ein wenig Abwechslung in die eintönige Landschaft brachten. Der große, teilweise verwilderte Garten der Villa Schiller, die Gärten der Nachbarsfamilien, die angrenzenden Felder und Wiesen waren für Melitta und ihre Geschwister ein wahres Paradies. Dank ihrer sozialen Stellung genossen die Schiller-Kinder die typischen Vergnügungen einer wohlsituierten, aller materiellen Sorgen ledigen leisure class. Landrat Konrad Hahn, Nachbar, Freund und Kollege Michael Schillers, besaß einen eigenen Tennisplatz, die Schiller-Kinder trafen sich häufig mit den Hahn-Kindern. Im großen Schiller-Garten spielten Kinder und Erwachsene Krocket oder man turnte an Reck, Ringen und Barren, die dort aufgestellt worden waren. Im Sommer pilgerte die Mutter mit den Kindern in das moderne Freibad, alle fünf hatten sich bereits freigeschwommen, bevor sie eingeschult wurden. Leibesertüchtigung zählte viel im Hause Schiller.

Die Erziehung und der spielerische Drill zielten aber nicht allein auf die Körper-, sondern auch auf die umfassende Bildung der kindlichen Geisteskräfte. In der Schule beste Leistungen zu erzielen war selbstverständliche Pflicht für alle fünf Kinder, ob Sohn oder Tochter. Hoch hinauszugelangen schien vor allem Melittas erklärtes Ziel schon als Schulmädchen. Ihr Ehrgeiz übertraf sogar den ihres zwei Jahre älteren Bruders Otto. Durchsetzungsfähigkeit und kapriziöser Eigenwille waren offenbar ihre hervorstechenden Charakterzüge. Litta, wie sie genannt wurde, erklomm gerne Baumkronen und liebte es, durch ihr Zimmerfenster auf die Giebeldächer der Villa mit ihren Erkern und Türmchen hinauszuklettern. Hier studierte sie, so will es die Familien-Saga, mittels verschieden großer Steine und anderer Gegenstände Fallgesetze oder eroberte den Nachthimmel mit Hilfe einer Sternenkarte. Melitta galt in der Familie als mathematischphysikalisch begabte Eigenbrötlerin, ein Ruf, den ihr Bruder Otto mit den Worten «immer anders als die anderen» auf den Punkt brachte.6

Schöner Wohnen in Krotoschin: Vorne die Villa des Fabrikanten Auerbach, dahinter versetzt das Wohnhaus der Familie Schiller. Um 1915.

Anders war Melitta auch deshalb, weil sie doppelt begabt war, nicht nur naturwissenschaftlich, sondern auch künstlerisch. Ihre Scherenschnitte zeugten von außerordentlicher Finesse, sie zauberte phantastische Traumlandschaften, «zarte Birken im Mondenschein, Winterlandschaften, Tieridylle»7. Zum Ergötzen ihrer Familie glänzte sie auch als Porträtistin und Karikaturistin, dank dieser Fähigkeiten erhielt sie über den schulischen Kunstunterricht hinaus zusätzlich Mal- und Zeichenunterricht.8 In dieser Begabung machte sich der Einfluss ihrer Tante Gertrud bemerkbar, eine der drei Geschwister von Melittas Mutter Margarete. Tante Miezel, wie sie gerufen wurde, war die Bohemienne in der Familie. Nach einem Studienaufenthalt an der Breslauer Kunstschule zog sie noch vor der Jahrhundertwende ins Mekka der reichsdeutschen Künstlerszene, nach München. Dort lernte sie ihren späteren Mann Lothar von Kunowski kennen, einen aus Schlesien stammenden kunstpädagogischen Schriftsteller, mit dem sie in Rom wie Berlin eine Malschule gründete.

Gertruds Malerei beeindruckte durch ein opulent farbiges, freudvolles Neuheidentum. Ihre Ausstellungen in München, Breslau und Leipzig zu Beginn des 20.Jahrhunderts waren wohlwollend besprochen worden. In dieser Zeit war Tante Miezel häufig zu Gast in Krotoschin, meist um sich in der Villa Schiller von ihrem kärglichen Künstlerleben zu erholen. Bei solchen Gelegenheiten porträtierte sie ausgiebig sämtliche Mitglieder der Familien Schiller und Eberstein. Die Porträtmalerei war ihre Hauptdomäne, ihr bevorzugtes Modell Melittas Mutter Margarete. Die bunt drapierte Kleidung, die Gretel dabei als Märchenfee ferner künstlicher Paradiese trug, waren Entwürfe von Gertrud. Nur Melitta gehörte nicht zu den Porträtierten, unter den Werken Gertrud von Kunowskis findet sich kein einziges Bildnis von ihr.9 Wie porträtscheu Litta auch gewesen sein mag, für ihr zeitlebens vorhandenes praktisches Interesse an der bildenden Kunst wie der Porträtkunst im Besonderen hatte Tante Gertrud das Fundament gelegt.

Die Mutter: Margarete Eberstein, um 1895.

Bis zum August 1914 verlief das Krotoschiner Leben der Familie Schiller nahezu ereignislos bildungsbürgerlich. Abwechslung brachten gelegentliche Konzerte oder Theateraufführungen, sofern eine Sängerin oder eine Theatertruppe überhaupt den Weg zu einem Gastauftritt nach Krotoschin gefunden hatte. Ansonsten spielten die Schiller-Kinder unter Anleitung der Mutter Theater im häuslichen Salon, die Stücke hatten sie gemeinsam verfasst, die Kostüme selbst entworfen und geschneidert. Das Lesen von Büchern war für Melitta wie ihre Geschwister eine der Hauptunterhaltungen. Oft unternahm man auch Ausflüge in die Umgebung, stieg in die Bahn, fuhr in einen der benachbarten Orte, besuchte dort Freunde, ging im Wald spazieren, tafelte zuletzt in einem Gasthof. Häufig blieben die Kinder unter sich, trieben Schabernack im Wald und schürten Lagerfeuer. Am schönsten waren die Ferienreisen zur Großmutter Sidonie Eberstein, die in Cunnersdorf bei Hirschberg im schlesischen Riesengebirge als Witwe lebte. Meist fuhr Litta mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern ohne den wenig reisefreudigen Vater mit dem Zug nach Breslau, dort machte man halt, um die Kinder von angesehenen Ärzten untersuchen zu lassen und Hüte in einer Fasson und Stoffe in einer Qualität zu kaufen, wie sie Krotoschin nicht zu bieten hatte. In Cunnersdorf angekommen, wurde im nahen Riesengebirge tagein, tagaus gewandert, ein Einheimischer zeigte sich 1912 verwundert, dass sogar Melittas erst vier Jahre alte jüngste Schwester Klara, «solch ein Pims»10, mit von der Partie war. Den Spitznamen behielt Klara, zu der Melitta bis zu ihrem Tod das vermutlich engste geschwisterliche Verhältnis pflegte, für den Rest ihres Lebens.

Gewiss das größte Vergnügen für die älteren Schiller-Kinder, vor allem für Litta und ihre Schwester Lili, war in der Vorkriegszeit der Tanz. Zwar kam es vor, dass die Mädchen auf Tanzböden außerhalb der Stadt oder bei Schützenfesten tanzten, bis ihnen der Atem ausging. Meist aber blieben die Kinder der Krotoschiner Hautevolee unter sich. Tanzen lernten Lili, Otto und die 1913 erst zehnjährige Melitta nicht in öffentlichen, sondern in streng privaten Kursen in den Salons der elterlichen Villen. Hier taten sie unter Anleitung einer Tanzlehrerin die ersten Schritte zur Musik aus dem Phonographen und legten den Arm um Schultern und Hüften von Partnern und Partnerinnen, die als standesgemäß galten. Das waren nicht nur die Töchter und Söhne von Beamten und Kaufleuten, sondern auch die der Offiziere des ortsansässigen Füsilierregimentes.11 Angesichts der Bedrohung durch die polnische Bevölkerungsmehrheit war in Krotoschin eine innige Allianz aus konservativem deutschen Bürgertum, preußischer Beamtenschaft und preußischem Militär entstanden. Wie in der gesamten Provinz Posen war man auch hier staatstreuer, monarchistischer und militaristischer gesinnt als anderswo im Reich. Wer deutsch war und der sozialen Oberschicht angehörte, konnte hier sein Leben so genießen, wie es der Historiker Friedrich Meinecke Jahrzehnte später beschrieb: «Nur wer vor 1914 gelebt hat, weiß eigentlich, was leben heißt.»12

Der Vater: Michael Schiller, um 1900.

Wann und unter welchen Umständen Michael Schiller nach Krotoschin kam, ist unklar, vermutlich war es um 1890.13 Vielleicht lockte ihn die Gehaltszulage, die allen Beamten zustand, die durch einen Umzug in den Osten ihren Teil zur Festigung des Deutschtums in der Provinz Posen beitrugen. Wenige Jahre vor Michael Schillers Ankunft waren die gesetzlichen Maßnahmen der preußischen Regierung zur Germanisierung der Polen über die diskriminierende Sprachen-, Schul- und Religionspolitik hinaus durch eine aggressive Bodenpolitik ergänzt worden. Von der Maßnahme, polnische Güter aufzukaufen und deutsche Bauern anzusiedeln, profitierte auch Michael Schiller. Der Bau von Brücken und Straßen, der in seine Zuständigkeit fiel, war Teil des Kampfes um den Boden, mit dem das Deutschtum gestärkt und das Polentum geschwächt werden sollte. Für die der preußischen Regierungspolitik als nicht assimilierbar geltenden Polen dürfte Michael Schiller wenig Verständnis gehabt haben. Wenn einer vom Nutzen ethnischer wie religiöser Assimilation überzeugt war, dann er, der Königlich Preußische Landesbauinspektor.

Eines der interessantesten wie bewegendsten Dokumente sind die «Jugenderinnerungen», die Michael Schillers Vater Moses als alter Mann in Leipzig unter dem Titel «Aus meinem Leben» um 1905 verfasste. Dank dieser Memoiren sind wir über den ostjüdischen Migrationshintergrund der Familie Schiller bestens informiert.14 Sowohl Moses als auch seine Frau Chaija, Melitta Schillers Großeltern, waren in Brody geboren worden, Moses 1828, Chaija 1838.Damals gehörte die Kleinstadt nordöstlich von Lemberg mit ihrer überwiegend jüdischen Bevölkerung zur österreichisch-ungarischen Monarchie.15 Ursprünglich orthodox, hatte sich die Handelsstadt seit den Reformen des Kaisers JosephII. zu einer deutschen Kulturinsel und zu einem Zentrum der jüdischen Aufklärung entwickelt. Um den gewaltigen sozioökonomischen Umbrüchen dieser Zeit standzuhalten, ihren Lebensunterhalt zu sichern wie auch Verfolgungen zu entgehen, verließ eine große Zahl galizischer Juden ihre Heimat und wanderte nach Mittel- und Westeuropa, meist aber in die Vereinigten Staaten aus. Moses Schillers Weg führte von Brody über Odessa nach Leipzig. Damit ließ auch er die traditionsverhaftete, religiös gebundene Welt des ostjüdischen Schtetls hinter sich.

Es kostete den jungen Moses viel Zeit und Mühe, sich die Bildungsgüter und Aufstiegsmöglichkeiten der säkularen modernen Gesellschaft zu erobern. Um die Zobelpelzmütze und den langen schwarzen Kaftan ablegen, die Schläfenlocken abschneiden, seine jiddische Muttersprache aufgeben zu können, galt es die Widerstände einer strenggläubigen Verwandtschaft zu überwinden. Wäre er gescheitert, hätte er weiter die Talmud-Tora-Schule besucht, wäre aus ihm ein Gelehrter oder ein Rabbi geworden. Endlich durfte er nun die israelitische Realschule in Brody besuchen und alles lernen, was für ein weltliches Leben notwendig war, «deutsche Sprachlehre, Geographie und Geschichte, Physik und Naturgeschichte»16. Kaum hatte er die Schule abgeschlossen, folgte er seinem Vater, der Brody auf der Suche nach Arbeit längst verlassen hatte, über die österreichischrussische Grenze nach Odessa. Dort angelangt, legte er nicht nur seinen bisherigen jüdischen Familiennamen Hirsch ab und nahm den bildungsbürgerlichen deutschen Nachnamen Schiller an. In der kosmopolitischen und polyglotten Hafenstadt besorgte ihm sein Onkel Handtuch auch «die nötigen deutschen Kleider – bis dahin trug ich zwar Pantalons, aber mit langem Rock»17. In Odessa wurde aus Moses ein moderner Angestellter und weltläufiger Großstädter.

Dennoch blieb er seinem Volk und seinem Glauben treu. Das noch junge, erst Ende des 18.Jahrhunderts gegründete Odessa mit seinem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil bot einem jungen Mann wie ihm gute Aufstiegschancen. Die Anhänger der Brodyer Aufklärung stellten die tonangebende jüdische Kaufmannsschicht, auf der von Persien über Odessa bis nach Leipzig führenden Handelsroute waren sie bestens aufgestellt. Durch Vermittlung seines Vaters wurde Moses in einem jüdischen Unternehmen angestellt, dem «grossen und angesehenen Modewarengeschäft von B.Eghis & S.Barmas»18. Hier lernte er den Textilhandel von der Pike auf, sprach bald fließend Russisch, aber auch Französisch und Italienisch.

Irgendwann hatte Moses als Buchhalter, Kassierer und Geschäftsführer genügend Erfahrung für seine erste große Handelsreise gesammelt. Die Reise an seinen Zielort Leipzig dauerte sechs bis zehn Tage, im Winter länger als im Sommer. Die Route führte per Schiff zunächst über das Schwarze Meer, dann die Donau aufwärts bis Pest, von dort brauchte er, teils per Bahn, teils per Kutsche, noch einmal zwei Tage. Auf den Leipziger Messen nahm Moses «Weißwaren, Tüll, Spitzen, Bänder, schwarze Tafte, Samt und Atlas, Leinen, Taschentücher, Tischzeug, Batiste… feine Parfümerien und Seifen»19 aus Paris und Berlin in Kommission und verschiffte sie nach Odessa.20 Um 1860 waren seine Geschäfte so erfolgreich, hatte seine Kommissionstätigkeit einen solchen Umfang erreicht, dass er beschloss, sich in Leipzig niederzulassen. Kurz darauf zog seine Frau, die Advokatentochter Chaija Serebrennyi, die er in Odessa kennengelernt und dort geheiratet hatte, zu ihm. In rascher Folge kamen neun Kinder auf die Welt, die ersten vier, darunter auch Melittas Vater Michael, noch als russische Staatsbürger.21 Die hohen Einkünfte, die Moses in seiner grenzübergreifenden beruflichen Tätigkeit als «Commissionär»22 erzielte, hatten ihm zunächst das Aufenthaltsrecht gesichert, nach einem langwierigen Verfahren wurde 1865 sämtlichen Mitgliedern der Familie das sächsische Untertanenrecht verliehen.

Die Leipziger Familie Schiller: In der Mitte Moses Schiller, ganz rechts sitzend Melitta Schillers Vater Michael. Vor 1890.

Als ehrenwerter Geschäftsmann war Moses auch anerkanntes Mitglied der «Israelitischen Religionsgemeinde» in Leipzig. Seine neun Kinder schickte er auf die Israelitische Grundschule, stellte sich als Gemeindeverordneter zur Wahl, in der Katharinenstraße 16 in der Nähe des berühmten Brühl, der Weltstraße der Pelze, führte er sein «Commissions-, Export- & Speditions-Geschäft M.Schiller»23. Als er 1917 mit fast neunzig Jahren starb, anderthalb Jahrzehnte nach seiner Frau, hinterließ er einen Nachlass im Wert von «über 200000M aber unter 500000M»24. Moses war ein reicher Leipziger Bürger geworden, weil er das Schtetl, Brody, Galizien, Österreich-Ungarn, Odessa und Russland verlassen, deutsche Kleidung angezogen hatte und deutscher Reichsbürger geworden war. In Sachsen angekommen, vollzogen er und seine Frau einen letzten Namenswechsel. Moses nannte sich Moritz, Chaija hieß Clara. Ungeachtet aller Modernisierung und Liberalisierung wendeten sich Moses-Moritz wie auch Chaija-Clara vom Glauben ihrer Väter und Vorväter jedoch niemals ab. Auf Moses’ Grabstein steht die hebräische Inschrift: «Ein aufrechter und gerechter Mann war Moshe ben Avraham Schiller, der in Brody geboren und zu seinem Volke gerufen wurde zu Leipzig am 25. des Monats Iyar im Jahre 5675.»25 Moses-Moritz Schiller und seine Frau hatten sich als Juden emanzipiert, mit dem Jüdischen gebrochen aber hatten sie nicht. Dieser Schritt blieb ihrem ältesten Sohn Michael vorbehalten.

Michael Schiller ging den Weg der Juden, die im Kaiserreich auf der sozialen Leiter trotz aller Hindernisse nach oben kommen und es zu mehr bringen wollten als ihre Väter. Aufstieg durch Bildung und Ausbildung hieß die Devise der Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft, der Michael unbeirrbar folgte. Von 1879 bis 1882 studierte er in Dresden am Königlich Sächsischen Polytechnikum Ingenieurwissenschaften26, in den folgenden beiden Jahren schloss er seine Ausbildung an der Technischen Hochschule in Hannover ab. Dort spezialisierte er sich auf die Konstruktion von Brücken aller Art, den Eisenhoch- und den Eisenbahnbau.27 Mit seinem Ingenieurstudium, einem der modernsten seiner Zeit, hatte Michael Schiller den ersten Schritt getan, die berufliche wie religiöse Tradition seiner Vorväter, die Rabbiner und Händler waren, hinter sich zu lassen. Der zweite – wann genau, ist unklar – folgte nach seinem Studienabschluss, als er sich taufen ließ, der dritte, als er sich in Krotoschin niederließ und eine «Mischehe» einging. In Hannover hatte er im Matrikelverzeichnis der TH als Konfession noch «israelitisch»28 angegeben, als er 1896 mit fünfunddreißig Jahren die erst neunzehnjährige Margarete Eberstein in Breslau heiratete, war er Protestant.29 Ohne Konversion hätte er kaum preußischer Beamter werden und nur schwerlich Karriere machen können. Dass er sich im Lauf der achtziger Jahre taufen ließ, ist auch deshalb nicht erstaunlich, als in diesen Jahren auf den Boom der Gründerzeit eine wirtschaftliche Depression folgte und der sich rassentheoretisch legitimierende moderne Antisemitismus entstand. Ohne Assimilation gab es kein Vorankommen.

Kein Wunder, dass sich Michael Schiller nach dem Ende seines Studiums Zug um Zug eine reichsdeutsch-preußische Identität aneignete, in die er hineinschlüpfte wie in einen maßgeschneiderten neuen Anzug. Den Schnurrbart gezwirbelt, die Haltung militärisch stramm, ausgesuchte Kleidung, exzellente Manieren, fertig war der Grandseigneur, dessen jüdische Herkunft niemand mehr erahnen konnte. Fast hat es den Anschein, als habe der Bauingenieur Michael Schiller den Aufruf des jüdischen Maschinenbau-Ingenieurs Walther Rathenau beherzigt, der in seinem 1897 erschienenen Aufsatz «Höre, Israel» den Juden «die bewußte Selbsterziehung einer Rasse zur Anpassung an fremde Anforderungen»30 empfohlen hatte.

Für solch einen Prozess war Margarete Eberstein die ideale Partnerin. Die protestantische Schulratstochter brachte das gesamte kulturelle Kapital des preußisch-wilhelminischen Bildungsbürgertums ein, das ihr längst zur zweiten Natur geworden war, während es sich der am Klavier gern dilettierende Parvenü Michael erst mühsam erarbeitet hatte. Seine Ehe mit der musisch begabten Margarete erlaubte es ihm, sich in Denkungsart, sprachlichem Ausdruck, Lebensstil und Bildungsgut des wilhelminischen Bürgertums auf eine Weise einzuwurzeln, die in Gestalt seiner Schwägerin Gertrud von Kunowski sogar die künstlerische Moderne des Fin de Siècle mit einschloss.

Der Gipfel seiner alles Jüdische preisgebenden Vollassimilation aber war nach Konversion und Mischehe die Tatsache, dass er nicht irgendwo im Deutschen Reich, sondern in Krotoschin lebte. Hier residierte der Königlich Preußische Landesbauinspektor nicht etwa in einer kargen Amtsstube, vielmehr hatte Michael Schiller sein Büro in seiner Villa eingerichtet, Brücken und Straßen kontrollierte und inspizierte er von der Kutsche aus oder vom Rücken eines Pferdes wie ein preußischer Junker. Anderswo als in der Provinz Posen hätte diese Mimikry nicht so leicht funktioniert, und wäre Michael Schiller als Ingenieur und Techniker von den traditionellen Eliten Adel, Militär, Beamtenschaft, Bildungsbürgertum verachtet worden, hätte er bestenfalls zu «den Randgruppen des Bildungsbürgertums» gezählt.31 In der ethnischen Enklave Krotoschin fiel solch ein Außenseitertum jedoch nicht ins Gewicht. Umgeben von den polnischen Feinden der deutschen Nation musste er um seine Integration in die lokale Elite weder als Ingenieur noch als konvertierter Jude fürchten, hier hielten alle, die zur Oberschicht zählten, gegen die Polen zusammen.

Angesichts seiner erfolgreichen Karriere musste er sich ohnehin fragen, was an Assimilierung und Akkulturierung an die deutsche Kultur falsch sein könne. Patriotismus war für einen vom Generationenerlebnis der Einigungskriege und der Reichsgründung geprägten Wilhelminer wie ihn obendrein erste Bürgerpflicht. Früh schon hatte er den Gott seiner Väter gegen Kaiser, Kanzler, Militär und Nation eingetauscht, sah der in seinem Garten mit Asphaltdecken als automobilgerechtem Straßenbelag experimentierende Ingenieur seinen Messias im Fortschritt von Technik und Wissenschaft. Im Grenzland der Provinz Posen gelang es Michael Schiller, sich endgültig nicht mehr als Jude, sondern ausschließlich als Deutscher zu fühlen. Einen loyaleren, treueren, idealeren Kolonisator als ihn konnte es nicht geben. Krotoschin hatte ihn gelehrt, innere wie äußere Abweichungen von der herrschenden Norm nicht zuzulassen. So lautete das Vermächtnis, das Michael Schiller seinen Kindern hinterließ und das diese ihr Leben lang beherzigen sollten. Zwar versteckte er seine jüdische Herkunft vor seiner Familie nicht und pflegte zu seinen Leipziger Verwandten wie seinen Geschwistern, die ihn Mischa oder Mips nannten, gute Beziehungen. Dennoch war seine Loslösung vom Judentum so radikal, dass seine Kinder in allem Jüdischen weitgehend ahnungslos blieben.

Der Krieg

1914 waren die Vorkriegstänze Melitta Schillers ausgetanzt. In der Villa Schiller war nichts mehr wie vorher, die Vertreibung aus dem Krotoschiner Garten Eden nahm ihren unabänderlichen Lauf. Schon früh nistete sich der Krieg in der Familie Schiller ein wie eine chronische Krankheit, und an den östlichen Grenzen des Reiches war die anfängliche Siegeseuphorie schnell verflogen. Bereits vor der offiziellen Mobilmachung hatte das Füsilier-Regiment von Steinmetz Nr.37 die Eisenbahnbrücken und Luftschifferanlagen im nahen Grenzbereich gesichert, zunächst mit einzelnen Wachtrupps, bald mit mehreren Kompanien. Schon am 1.August musste ein Angriff russischer Patrouillen auf eine Brücke nur fünfzig Kilometer nordöstlich von Krotoschin abgewehrt werden. Die Stadt war voller gespannter Unruhe, Schutzwachen patrouillierten, Marsch- und Gefechtsübungen wurden abgehalten, Pferde und Fahrzeuge besorgt, Reservetruppen eingekleidet, bewaffnet und verpflegt.32 Die militärische Situation war lange unklar, mal nahm die Gefahr eines russischen Vordringens zu, mal flaute sie wieder ab. Je nach Lage wurden Ersatzregimenter des «Westpreußischen» sicherheitshalber nach Westen ins Landesinnere verlegt, wurde eine ganze Nacht lang die gesamte Ausrüstung von ein- bis zweitausend Mann quer durch die Stadt zum Bahnhof befördert. Als im November 1914 die deutschen Truppen vor den Russen zurückwichen und diese über Łodz hinaus in unmittelbare Grenznähe vorstießen, spitzte sich die Lage abermals dramatisch zu, und wieder musste sich ein Ersatzregiment kurzfristig in Sicherheit bringen. Und als die ersten Flüchtlinge aus grenznahen Orten evakuiert und in den Häusern der Krotoschiner einquartiert wurden, herrschte Ausnahmezustand. Zu diesem Zeitpunkt waren Melitta und ihre jüngsten Schwestern Jutta und Klara schon nicht mehr in Krotoschin, sondern nach Cunnersdorf zu ihrer Großmutter geflüchtet. Weihnachten 1914/​15 hatte sich die Lage beruhigt, und sie kehrten wieder nach Hause zurück.

Im Frühjahr 1915 errang die deutsche 11.Armee bei Gorlice-Tarnow den entscheidenden Sieg. Damit war die größte Bedrohung der östlichen Reichsgrenzen vorüber, dennoch wollte bei den Schillers keine Ruhe einkehren. Die gleich nach Kriegsbeginn gegen die Mittelmächte verhängte britische Seeblockade zeigte Wirkung an der Heimatfront, selbst in dem von Bauernland umgebenen Krotoschin wurden die Lebensmittel knapp, und in der Villa Schiller begann der Hunger umzugehen. Margarete Schiller entließ die Dienstboten, grub den Garten um, baute Gemüse an, melkte die Ziege, bislang Spielkamerad der Kinder, braute aus Haselnussblättern Tee, ging zu den Bauern auf das Land und hamsterte. Als im Winter die Brennkohle knapp wurde, konnten nicht mehr alle Räume beheizt werden und man rückte zusammen. Immer häufiger fiel die Schule aus, die meist männlichen Lehrer waren an der Front, plötzlich fehlten die Familienväter, und die Mütter blieben mit ihren Kindern allein zurück.

Vater in Uniform: Michael Schiller als Landwehrhauptmann in Skalmierschütz, einem Lager für russische Kriegsgefangene, 1916.

Auch Michael Schiller rückte ein. Trotz seiner dreiundfünfzig Jahre hatte er sich als guter Preuße freiwillig gemeldet. Zum Schiller’schen Familienroman gehört die Erzählung, er sei Hauptmann der Reserve gewesen, ob der Wunsch, Offizier zu werden, gar ausschlaggebend für seine Konversion gewesen ist, lässt sich nicht mehr nachweisen.33 Glück hatte Hauptmann Schiller offenbar in mehrfacher Hinsicht. Von den sich häufenden Diskriminierungen jüdischer Soldaten seit der Zunahme der deutschen Kriegsniederlagen schien er nicht betroffen zu sein, den Tod im Schützengraben musste er ebenso wenig fürchten, aus Altersgründen war er nicht mehr fronttauglich. Sein Kriegsdienst spielte sich hauptsächlich in Krotoschin und Umgebung in der Landwehr ab, dort konnte man in Preußen bis zum sechzigsten Lebensjahr seine vaterländische Pflicht erledigen. Er wurde nach Skalmierschütz befehligt, ein Lager für russische Kriegsgefangene kaum fünfzig Kilometer von Krotoschin entfernt. Dort war er Briefzensor und Dolmetscher.34 Seine russischen Sprachkenntnisse, das Odessaer Erbe seiner polyglotten Eltern, waren exzellent. Für seine Verdienste soll er sogar, wie er später behauptete, als die Nazis an der Macht waren, das Eiserne KreuzII. Klasse erhalten haben.35 In der Provinz Posen zweifelte niemand daran, dass Michael Schiller in unerschütterlicher Treue zu Kaiser und Reich stand.

Noch bevor Männer für Melitta eine Erfahrung sein konnten, war es der Krieg. Ein Fronterlebnis wie die jungen Herren, die die Krotoschiner Salons leer und kalt zurückgelassen hatten, besaß sie zwar nicht. In einem Grenzland wie Posen war jedoch auch ein junges Mädchen dem Krieg und seinen Auswirkungen viel stärker ausgesetzt als seine Altersgenossen im Innern des Reiches. Der Weltkrieg war für sie kein Abenteuerspiel, über dessen angeblich immer siegreichen Verlauf man aus der Zeitung oder aus den Heeresberichten erfuhr. Krieg fand in ihrer unmittelbaren Nähe statt und rückte, je mehr er an sein Ende kam, von Tag zu Tag immer näher. Der russische Feind war zwar besiegt. Als sich aber die deutschen Niederlagen an der Westfront häuften, mehrten sich die Rufe der polnischen Bevölkerungsmehrheit nach nationaler Eigenständigkeit, und im Posener Grenzland begannen die latenten ethnischen Konflikte nun offen auszubrechen. Es verging kaum ein Tag, an dem den Deutschen in der Provinz nicht schmerzlich vor Augen geführt wurde, dass sie nicht mehr lange die Herren im ihrer Meinung nach eigenen Haus sein würden.

In dieser brandgefährlichen Situation verließ Melitta die elterliche Villa. Wollte sie auf eine gymnasiale Schulbildung nicht verzichten, musste sie fort aus Krotoschin. Eine Sondererlaubnis für den Besuch des örtlichen Knabengymnasiums war ihr trotz der unruhigen Zeiten verwehrt worden, mit der «Städtischen Höheren Mädchenschule» wollte sie sich nicht mehr begnügen. Also ging die ehrgeizige Vierzehnjährige bei einer ältlichen Dame in Posen in Pension und besuchte nach dem Osterfest 1917 das Mädchengymnasium der Königlichen Luisen-Stiftung. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Krieg mal mehr, mal weniger deutlich bis zu Melitta vorgedrungen. Die nächtlich in den Schlaf dringenden Geräusche genagelter Soldatenstiefel, das Geklapper der Pferdehufe, die Kommandorufe der Offiziere, die besorgten Reden der Eltern, die plötzliche Flucht zur Großmutter nach Hirschberg, Siegesmeldungen von der Ostfront, im Westen anfängliche Erfolge, dann Stellungskrieg, in diesem Wechsel von Aufregung und Beruhigung waren die ersten beiden Kriegsjahre vergangen. Mangel an Nahrung und Heizmaterial, Selbstversorgung aus dem Garten durch eigener Hände Arbeit, die Abwesenheit des Vaters prägten die Jahre seit Mitte des Krieges. Mit dem Beginn ihrer Gymnasialzeit in Posen drangen die bis dahin eher indirekten Auswirkungen des Krieges deutlicher denn je in das Bewusstsein der jetzt vierzehnjährigen Melitta.

Die Mittelmächte hatten 1916 die Wiederherstellung des Königreiches Polen proklamiert, ein taktisches Versprechen, das an der preußischen Germanisierungspolitik nichts änderte. Die Spannungen zwischen Deutschen und Polen nahmen mit den ausbleibenden Kriegserfolgen der Mittelmächte an der Westfront in der Provinz Posen stetig zu. Im Januar 1918 forderte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson in einem 14-Punkte-Programm einen eigenständigen polnischen Staat, im August war die militärische Niederlage des Reiches entschieden und das Spiel für die Posener Deutschen verloren. Als das ethnische Pulverfass der preußischen Provinz explodierte, war Melitta Augenzeuge. Den Waffenstillstand am 11.November 1918, die Bildung von Soldatenräten, den Triumph der neuen polnischen Herren, den Einmarsch polnischer Legionäre in die Stadt Posen, all diese revolutionären Vorgänge erlebte sie aus nächster Nähe.

Als die Niederlage der Mittelmächte unübersehbar war, konnte sie von Glück reden, dass ihr Vater mittlerweile in das Oberkommando Ost nach Posen überstellt worden war, so konnte er wenigstens gelegentlich ein Auge auf seine Tochter haben. Als jedoch Ende Dezember 1918 der «Großpolnische Aufstand» losbrach, Posen in einem Meer aus weißroten Fahnen schwamm, musste Melitta fluchtartig nach Krotoschin zurückkehren. Im Winter 1918/​19 brach für die Familie Schiller eine Welt zusammen. Die preußische Provinz Posen gab es nicht mehr. «Man könnte verzweifeln», schrieb Lili in ihr Tagebuch, «und alle beneiden, die diese tiefste Erniedrigung nicht mehr mitzuerleben brauchen.»36

Zum Jahresende 1918 herrschte im Hause Schiller eine gedrückte Stimmung. Es war bitterkalt, Schnee bedeckte die weiten Ebenen ringsum. «Litta muß auch dableiben», schrieb Lili, «denn in Posen ist es wenig schön. Da war neulich, als die 6.Gren. [Grenadiere] einzogen, eine große Schießerei mit vielen Opfern. Die Polen hatten englische und amerikanische Fahnen gehisst und die wurden von deutschen Soldaten ja heruntergerissen und da kam es zu einer Schlägerei. Die Republik haben sie schon ausgerufen… Es ist uns allen ja schon klar, daß Posen zu Polen kommt.»37 So geschah es. Pünktlich zu Jahresbeginn 1919 rückte polnisches Militär in Krotoschin ein, auf dem Marktplatz wurde paradiert, der preußische Adler durch den polnischen ersetzt, die Soldaten des Ersatzbataillons des «Westpreußischen» rafften ihre Habseligkeiten, die Offiziere die wichtigsten Aktenstücke zusammen, dann verließen alle Mann die Garnison. Die Demarkationslinie zwischen dem neuen polnischen Nationalstaat und dem Deutschen Reich, im Januar 1919 als Staatsgrenze noch nicht endgültig festgelegt, verlief keine acht Kilometer südlich von Krotoschin. Die niederschlesische Gegend jenseits davon, wo die Schillers all die Jahre zuvor ihre Sonntagsausflüge unternommen hatten, wo Breslau, Hirschberg und das kreuz und quer erwanderte Riesengebirge lagen, war jetzt kaum erreichbares Ausland, der neue Grenzstreifen umkämpftes Gebiet.

Die Demarkationslinie wurde von den Polen scharf kontrolliert, Übergänge waren rar, Passierscheine wurden nur ausnahmsweise ausgestellt, wann Züge fuhren, wusste man nicht. Wer trotzdem hinüber nach Deutschland wollte, musste das Wagnis auf sich nehmen, sich an den polnischen Wachposten vorbeizuschleusen. Die Schillers wüteten gegen die «Schufte und Vaterlandsverräter» in Berlin, die deutschen Unterhändler bei den Friedensverhandlungen, die ihrer Meinung nach den deutschen Osten verschacherten, die «Radikalen und Spartakisten», die nichts anderes im Sinn hätten, als es den Bolschewiki in Russland gleichzutun.38 Ihrer sozialen Privilegien wie ihrer Herrenrolle beraubt, den drohenden Verlust ihrer Heimat vor Augen, war die Familie auf ihre polnischen Nachbarn mehr als nur wütend, sie begegnete ihnen mit Hass. Er erreichte einen Höhepunkt, als «die widerliche Sippschaft» der «Polackei»39 in Gestalt von Freischärlern Michael Schiller im Januar 1919 als Geisel nahm und ihn nach Skalmierschütz deportierte, genau dorthin, wo er 1916 zum militärischen Wachpersonal russischer Kriegsgefangener gezählt hatte. In Szczypiorno, wie das Lager jetzt hieß, wurden bis Mitte 1919 vornehmlich ehemalige deutsche Würdenträger wie Angehörige der deutschen Oberschicht interniert.40 «Oh, es ist entsetzlich!», schrieb Lili am 9.Januar 1919 in ihr Tagebuch, als ihr Vater verhaftet und abgeführt worden war. «Nun denkt man, der Krieg ist zu Ende, und es kommt noch schlimmer!»41 Zehn Tage später kehrte Michael Schiller in halbwegs guter Verfassung zurück, «wegen seiner Herzkrämpfe»42 war er vorzeitig entlassen worden. Bis dahin mussten Lili, Litta, Jutta und Pims alleine zurechtkommen, die Mutter hatte sich nicht davon abhalten lassen, dem einzigen Sohn Otto, der sich nach Breslau durchgeschlagen hatte, dort eine Unterkunft zu besorgen. Melittas sechzehnter Geburtstag am 9.Januar 1919 war trist und einsam.

Gedrückte Stimmung: Weihnachten in Krotoschin 1918 nach der deutschen Niederlage. Melitta ernst in der Mitte.

Michael Schiller war nicht grundlos verhaftet worden. Kurz nach dem Zusammenbruch der Westfront im November 1918 waren von der Obersten Heeresleitung Freiwilligenverbände unter dem Namen «Heimatschutz Ost» gegründet worden, kurz darauf umbenannt in «Grenzschutz». Zu Beginn des Jahres 1919 versuchten die sich an der Demarkationslinie gegenüberstehenden deutschen und polnischen Freischärler die zukünftigen Staatsgrenzen mit Waffengewalt zu den eigenen Gunsten zu verschieben. Von einer durchgehenden Frontlinie konnte nirgendwo die Rede sein. Es gab Scharmützel mit Toten und Verletzten, es kam zu Sabotageakten. Im Grenzbereich konnte man nie wissen, was am folgenden Tag geschah, ob es friedlich oder kriegerisch zugehen würde, ob das nächstgelegene Gehöft, der nächstgelegene Bahnhof, die nächstgelegene Landstraße, ein Wasser- oder ein Gaswerk polnisch oder deutsch sein würden. Geiselnahmen sollten die deutschen Unterhändler bei den Friedensverhandlungen zur Nachgiebigkeit und die deutschen Grenzschützer zur Aufgabe zwingen. Grenzschützer waren auch Melittas Bruder Otto sowie der Offizier Ernst Eberstein, der Bruder ihrer Mutter. Schon wegen dieser beiden Freikorpskämpfer war der lokalprominente Michael Schiller für die Polen eine nützliche Geisel gewesen.

Kaum war der Vater aus dem Lager zurück, nahm Melitta ihre Schulbesuche in Posen wieder auf. Von ihren Eltern unterstützt, war sie nicht gewillt, ihre Zukunftschancen zu verpassen. Von einem geregelten Schulalltag konnte allerdings nicht die Rede sein. In den großen Städten war die Ernährungslage schlechter als auf dem Land, die Energieversorgung wie anderswo auch in Posen eingeschränkt. Gab es in der Wohnung ihrer Pensionswirtin kein Gas mehr, erledigte Melitta ihre Schularbeiten mutterseelenallein «oft in Mantel und Decke gehüllt»43 entweder «bei Benzinlämpchen oder aber im kalten Hausflur bei elektrischer Treppenbeleuchtung»44. Über heroischen Lerneifer hinaus war das der Selbstschutz eines jungen Mädchens, das sich immer dann zurückzog, wenn es galt, mit den zunehmenden Nöten und Entbehrungen des Kriegsalltags fertig zu werden. «Litta war», wie Lili bereits während des Krieges aufmerksam beobachtet hatte, «froh, wenn sie sich einspinnen konnte.»45 Als in der zweiten Kriegshälfte nur noch zwei Räume der Villa Schiller beheizt werden konnten, hatte sie sich im größten der Kinderzimmer, in dem nun alle Geschwister gemeinsam unterkommen mussten, «aus Puppenmöbeln und anderen Gegenständen ein Refugium geschaffen, das für alle Anderen tabu war, und in dem sie sich so total abschalten konnte, daß nichts aus der nahen und nächsten Umgebung zu ihr drang»46. Auf die Widrigkeiten des Krieges reagierte Melitta weitaus sensibler als ihre Schwestern, von denen Jutta und Klara noch zu jung, Lili mit ihren zwanzig Jahren bereits erwachsen war. Inmitten der immer dichter an sie heranrückenden Kriegsgeschehnisse hatte sie zudem mit den emotionalen und körperlichen Veränderungen zurechtkommen müssen, die ein junges Mädchen in der Adoleszenz erlebt.

Im Winter 1918/​19 war Melitta alt genug für die erste Liebe in den Zeiten des Krieges. Am Posener Mädchengymnasium war ein junger Lehrer in eine heftige Schwärmerei für sie verfallen. Wie so vieles wurde auch diese verwirrende, neue Erfahrung durch die aktuellen Ereignisse bald wieder beendet. Im Frühjahr 1919 kehrte Melitta nicht mehr nach Posen zurück. An der Königlichen Luisenstiftung waren die deutschen Jahrgänge am Ende des Schuljahres ausgelaufen und das Mädchengymnasium polnisch geworden. «Chaos» oder «die Temperamente» hießen unter vielen anderen die gegenstandslosen Farbkompositionen, mit denen Melitta versuchte, diese Zeit des äußeren wie inneren Umbruchs künstlerisch zu bewältigen.47 Doch allmählich verschoben sich die inneren Gewichte, und die militärischen Grenzkämpfe setzten eine entscheidende biographische Kehre in Gang.

Ernst Eberstein, Onkel Ernstel genannt, Jahrgang 1886, war seit Beginn des Jahrhunderts Dauergast in der Familie Schiller, kam zu allen Familienfeiern und wanderte mit den Schiller-Kindern durch das schlesische Riesengebirge. Seiner Scherze wegen allseits beliebt, wurde er für seine militärischen Leistungen verehrt. 1906 war er Leutnant, 1915Hauptmann.48 Schon im ersten Kriegsjahr erhielt er das Eiserne KreuzI. wieII. Klasse. Ursprünglich Infanterieoffizier, wechselte er noch vor Beginn des Krieges zu einer Feld-Flieger-Abteilung, mit dreißig war er Kommandeur des Fliegerhorstes Schwerin. Ausgebildet zum Beobachter, saß er in den Doppeldeckern jener Zeit hinter dem Piloten, nahm das Geschehen am Boden ins Visier, fertigte Fotos an, schoss die Artillerie mittels Signalpistole ein und bediente, sofern vorhanden, das bewegliche Maschinengewehr.49 Während der Schlacht von Tannenberg in den letzten Augusttagen 1914 in Ostpreußen leistete Ernst Eberstein einen entscheidenden Beitrag zum Sieg der deutschen 8.Armee unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff. Aus etwa zweieinhalbtausend Metern Flughöhe entdeckte er, was am Boden unbemerkt geblieben war, dass nämlich der Feind auf dem Rückzug war und das deutsche 1.Armeekorps erneut zum Angriff übergehen konnte. «Das Eiserne Kreuz für Tannenberg erhalten», notierte er unter dem Datum des 27.August 1914 in sein Tagebuch, in dem er bis zu einer endgültigen Abmusterung im Oktober 1919 seine gesamte Kriegsdienstzeit detailliert festhielt.50 Im ersten Kriegsjahr hatte Onkel Ernst entscheidend dabei mitgeholfen, es «den Russen heimzuzahlen» und sie für die Verwüstungen zu bestrafen, «denen unser schönes ostpreußisches Land ausgesetzt» war.51

Ausflug ins Riesengebirge 1912: Onkel Ernst und Mutter Margarete mit den Kindern Melitta, Otto und Marie-Luise (von links).

Im Winter 1918/​19 war der «Held von Tannenberg» der richtige Mann, es den Polen mit gleicher Münze wie den Russen heimzuzahlen. Nachdem er Weihnachten und Silvester in der Villa Schiller verbracht hatte, schlug er sich wenig später, «seine Browning»52 im Gepäck, über die Demarkationslinie nach Breslau durch und trat dort dem «Freikorps Schlesien» bei. Der erst siebzehnjährige Otto Schiller schloss sich unter Onkel Ernstels Einfluss den Grenzkämpfern an, Melitta beeindruckte Eberstein auf andere Weise nachhaltig. Wäre sie nicht in der Provinz Posen groß geworden, hätte sie keinen Krieg, nicht die Grenzkämpfe des Grenzlandes erlebt, wäre die Heldin ihrer adoleszenten Jahre vermutlich ihre Malertante Gertrud von Kunowski gewesen und sie wäre Künstlerin geworden. Weiblich, empfänglich, verletzlich, ästhetisch empfindsam zu sein, gestattete sie sich von nun an jedoch nur von Fall zu Fall. Tante Miezel, die künstlerische Avantgardistin, trat in den Hintergrund, und das Leitbild des militärischen Avantgardisten Ernst Eberstein rückte vor. So wie ihr Vater Michael einst in die Rolle des guten Preußen geschlüpft war, begann sich Melitta die des heroischen Frontkämpfers anzueignen, der von seinen Kriegserlebnissen nicht loskam und seinen inneren Erschütterungen zäh standzuhalten wusste.

Ende Juni 1919 unterzeichnete das besiegte Deutschland den Friedensvertrag von Versailles, der Verlauf der neuen deutschen Ostgrenze entlang der Demarkationslinie stand damit fest. Mit der Abtrennung der Provinz Posen vom Deutschen Reich kam auch Melittas Krotoschiner Leben an sein Ende. Um ihre schulische Ausbildung endlich durch berechenbare Lebensumstände abzusichern, gab sie ihr Elternhaus auf, zog nach Hirschberg und besuchte dort die Städtische Höhere Mädchenschule. Die Großmutter war bereits bei Kriegsende gestorben, Tante Ella, die unverheiratete älteste Schwester der Mutter, die sich um Sidonie Eberstein gekümmert hatte, sorgte nun für Melitta. Das war zwar Obhut in vertrauter Umgebung, dennoch bedeutete der Umzug eine weitere biographische Zäsur von großer Tragweite. Ihr Weggang nach Schlesien beschleunigte ihre existenzielle Entwurzelung, die im Ersten Weltkrieg begonnen hatte.

Als Melitta im Oktober 1919 zusammen mit ihrer Schulkameradin Lieselotte Lachmann den Zug von Krotoschin nach Hirschberg bestieg, war das Riesengebirge von der ehemaligen Provinz Posen weiter entfernt als der Mond. Auf direktem Weg war kaum ein Ort in Deutschland mehr zu erreichen. Um seine Nationalstaatlichkeit gegenüber der antipolnischen deutschen Außenpolitik wie den revanchistisch gesinnten Deutschen im eigenen Land zu beweisen, praktizierte das neue Polen an seiner Westgrenze ein scharfes Kontrollregime. Es dauerte mehr als vierundzwanzig Stunden, bis Melitta und Lieselotte nach vielen Zwischenaufenthalten, Zugwechseln und Nebenstrecken in Polen wie Deutschland Hirschberg erreichten.53 Vor dem Krieg hatte die Reise nur ungefähr vier Stunden gedauert. Für die Deutschen im Reich war «Versailles» ein Symbol nationaler Demütigung, für junge Frauen wie die beiden Gymnasiastinnen war «Versailles» mit der Erfahrung einer unmittelbar körperlichen Bedrohung verbunden. In überfüllten, kalten und dunklen Zügen reisen, auf abgelegenen Bahnhöfen stranden, auf Koffern sitzend übernachten, sich gieriger Blicke und mancherlei Zudringlichkeiten erwehren zu müssen war für Melitta, sobald sie nach Krotoschin fuhr, um ihre Eltern zu besuchen, nicht ungewöhnlich.54 In solchen Momenten nahm die später so häufig beschriebene Unnahbarkeit des «feinnervigen Wesens»55 dauerhafte Gestalt an, keimte die extreme Persönlichkeit auf, zu der sie sich in der Folgezeit entwickelte. In den entscheidenden Jahren ihrer Entwicklung war es Melitta zur Gewohnheit geworden, sich, wie es ihre Schwestern Jutta und Lili so treffend beschrieben hatten, abzuschalten und sich emotional einzukapseln, um gegen die übermächtige Wirklichkeit des Krieges bestehen zu können. Fast exemplarisch personifizierte Melitta das Drama des ebenso begabten wie sensiblen Kriegskindes, das seine traumatischen Erinnerungen dadurch zu überwinden glaubte, dass es sie ignorierte. Vom Krieg geschädigt, blieb Melitta auf den Krieg fixiert. Der Erste Weltkrieg war ihr prägendes Jugenderlebnis, fortan am Limit zu leben dessen unauslöschbare Erbschaft.

Konzentrierte Lektüre: Melitta 1918, fünfzehn Jahre alt.

Zweites Kapitel«Drang nach dem freien Spiel der Kräfte»: Eine junge Frau will nach oben

Lehrjahre

Melitta blieb zweieinhalb Jahre in Hirschberg, von Oktober 1919 bis zum Frühjahr 1922.Die Erschütterungen Mitteleuropas waren auch hier spürbar. Von 1919 bis 1921 tobte der russischpolnische Krieg, der Sieger Polen gewann beträchtliche Gebiete hinzu, ökonomisch wie innenpolitisch blieb die Lage jedoch instabil. In Melittas Hirschberger Schulzeit fielen auch die Volksentscheide in Ost- und Westpreußen, die die nationale Zugehörigkeit der Regionen zu Polen oder Deutschland regeln sollten. Dabei votierten die ost- und westpreußischen Abstimmungsgebiete mehrheitlich für Deutschland. Das gleiche Ergebnis führte in Oberschlesien, das nach Meinung polnischer Rebellen vom Deutschen Reich abgetrennt werden sollte, zu militärischer Gewalt. Ein erster Aufstand brach im August 1919 aus, zwei Monate bevor Melitta in Hirschberg ankam, der zweite 1920, der letzte fand seinen blutigen Höhepunkt im Mai 1921 in der Schlacht am St.Annaberg südlich von Oppeln. Die Konfliktregion lag kaum zweihundert Kilometer von Hirschberg entfernt. Sollte etwa auch Oppeln verlorengehen, wo die Großeltern Eberstein gelebt hatten und Onkel Ernst geboren worden war?

Hauptmann Ernst Eberstein kämpfte für das Freikorps Schlesien bis März 1920, danach zog er den Waffenrock aus und versuchte sein Glück in Chemnitz. Melittas Bruder Otto war schon früher ins Zivilleben zurückgekehrt und studierte in Breslau Landwirtschaft. Die Schlacht am St.Annaberg dürften Melitta, Otto und Ernst mit großer Sympathie verfolgt haben. Die Vertreibung der polnischen Rebellen durch die deutschen Freikorps war allerdings ein Pyrrhussieg. 1922 wurde das ostoberschlesische Industriegebiet polnisch. Und die neuen Grenzen des deutschen Ostens blieben ein beunruhigender Konfliktherd.

Melittas Großmutter Sidonie Eberstein war lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ins niederschlesische Cunnersdorf gezogen – schon damals gab es eine Straßenbahnlinie, die ins Hirschberger Zentrum, das benachbarte Bad Warmbrunn und weiter in die Berge führte. Schlesien, ehemals österreichisch und von Friedrich dem Großen für Preußen erobert, war dank seiner guten Böden, seines Bergbaus wie seiner Textilindustrie ökonomisch, als jahrhundertealte Kunstlandschaft aber auch kulturell bedeutend. Zu Melitta Schillers Zeiten am berühmtesten war der Literaturnobelpreisträger und gebürtige Schlesier Gerhart Hauptmann. Seit Anfang des 20.Jahrhunderts lebte er unweit von Hirschberg in Agnetendorf in den Bergen, sein Haus Wiesenstein zog zahlreiche Landschaft, Volk und Volkskunst suchende Künstler und Lebensreformer an. Zu diesem Zeitpunkt hatten längst auch erholungsbedürftige Großstädter aus Breslau und Berlin das Riesengebirge für sich entdeckt. Im Sommer wurde gewandert, im Winter luden Schneekoppe und andere Gipfel zur neuen Sportart des Skifahrens ein, Hotels, Pensionen, Cafés, Ausflugslokale und Restaurants sorgten für die Behaglichkeit der Feriengäste. Mit seinen zahlreichen Kunstdenkmälern bildete das knapp dreißigtausend Einwohner zählende, überwiegend barocke Hirschberg in idyllischer Lage das Tor zum Riesengebirge.

Nach den Aufregungen der Kriegs- und Nachkriegszeit konnte es für Melitta keinen erholsameren Platz geben. Offenbar lebte sie nur anfangs bei ihrer Tante Ella, den Angaben ihrer Kameradin Lieselotte Lachmann zufolge verbrachte sie den Großteil ihrer Hirschberger Schulzeit in einem Mädchenpensionat.1 Damals begann sich Melitta nun intensiv ihren lebenslang währenden Leidenschaften zu widmen, dem Sport und den Naturwissenschaften. Ohne naturwissenschaftliche Lektüre sei sie, so Lieselotte, auch in ihrer Freizeit nie gesehen worden. Das heute noch gebräuchliche «Lehrbuch der Physik» von Ernst Grimsehl, 1914 als Hauptmann bei Langemarck gefallen, sei ihr ständiger Begleiter gewesen, ebenso Carl Oppenheimers «Grundriss der anorganischen Chemie».2 Ob sich Melitta außerhalb des Unterrichts und des dort verordneten Lehrstoffs mit schöner Literatur befasst hat, darüber teilt Lieselotte Lachmann nichts mit. Künstlerisch war sie jedoch zeitweise derart produktiv, dass sie bei der Berufswahl in einen Zwiespalt geriet und nicht wusste, welcher ihrer Neigungen sie den Vorzug geben sollte.

Am Hirschberger Mädchengymnasium war Günther Grundmann auf Melittas «Zeichnungen und Malereien» aufmerksam geworden und hatte sie «ermuntert, auf diesem Wege weiterzugehen»3. Grundmann, 1892 in Hirschberg geboren, war Lehrer an der Anfang des 20.Jahrhunderts gegründeten Holzschnitzschule Warmbrunn. Die Holzschnitzerei hatte im Riesengebirge eine lange Tradition, die auch international bekannte Schule wollte die vom Aussterben bedrohte Volkskunst retten.4 Aus Melittas Gymnasialzeit sind nur wenige filigrane Scherenschnitte überliefert,5 vermutlich waren es aber die Holzskulpturen, das Hauptfach der Warmbrunner Schule, die sie am meisten beschäftigten und beeinflussten. Modelliert hatte sie schon in Krotoschin.

Als Melitta nach Hirschberg kam, war die Institution allerdings weniger eine Schule für Schnitzkunst als ein Heim für Kriegsversehrte. Nach Kriegsende versammelten sich hier viele «Kriegsverletzte, die das Tischlern und Holzschnitzen als neuen Beruf erlernen wollten; ehemalige Offiziere: Leutnants, Oberleutnants und Hauptleute, die sich nun dem Kunsthandwerk widmeten»6. Grundmann war einer dieser Kriegsheimkehrer. Seinem Rat, ihren künstlerischen Weg weiterzugehen, folgte Melitta allerdings nicht. Sie wollte sich nicht im Leiden kriegstraumatisierter Offiziere wiedererkennen, die sich im Grübeln über ihre Fronterlebnisse verloren. Was sie immer mehr zu locken begann, war das Antipathos der heroischen Tat.

In den schneereichen schlesischen Wintern lief Melitta Ski, im Sommer wanderte und kletterte sie, am meisten liebte sie das Schwimmen in der Bober und dem Stausee der Bobertalsperre, der damals größten Talsperre Europas. Das Bauwerk kannte Melitta aus ihrer frühen Kindheit, 1912 war sie mit ihrer Familie dort gewesen, hatte das Elektrizitätswerk mit seinen tosenden Wassermassen bestaunt, sich mit ihren Eltern und ihren Geschwistern im nahen Restaurant erfrischt und war dann wieder nach Cunnersdorf zurückgekehrt.7 Damals hatte die Familie ihren Ausflug auf dem bequemsten Weg per Bahn unternommen, ein knappes Jahrzehnt und eine weltgeschichtliche Epoche später ging es abenteuerlicher zu. Melitta, Lieselotte und zwei weitere Mädchen wanderten morgens um vier Uhr in Cunnersdorf los, unterwegs warteten zwei junge Burschen auf sie, die ihnen den Weg zu einer der zahlreichen Buchten des aufgestauten Flusses zeigten. Dort sprangen die Mädchen, ihre Badeanzüge schwimmbereit unter dem Dirndlkleid, ins eiskalte Wasser, begleitet nur von einer Schar Reiher, die als graue Schatten über das dunkle Wasser der engen Bucht strichen. Warm und sonnig wurde es erst in der nächsten Bucht, als die Gruppe auf den Staudamm zuschwamm. Dort angekommen, sprang Melitta von der Krone der Staumauer hinunter in den tiefer liegenden See, je nach Wasserstand waren das mindestens zehn Meter.8 Waghalsig war sie aber nicht nur beim Schwimmen, Springen und Klettern, sondern auch beim Skifahren, wenn sie gefährliche Abfahrten hinunterfuhr, die sich sonst niemand zutraute.

Allmählich begannen asketische Körperdisziplin und mönchische Selbstkasteiung Melittas gesamte Lebensweise zu bestimmen. In der Oberprima las und lernte sie mit Vorliebe in einer zugigen, schlecht beheizbaren Dachkammer des Mädchenpensionats, aß und trank sie nur das Nötigste und verschenkte restliches Essen an angeblich verfressene Kameradinnen. Von den Jünglingen, die sie beim Schwimmen oder Skifahren begleiteten, nahm sie keine Notiz. Das Kriegskind, das gelernt hatte, durch Schmerzunempfindlichkeit zu überleben, begann rücksichtslos gegenüber sich selbst zu werden und sein kompliziertes Gefühlsleben einzukapseln. «Die deutsche Jugend», so erinnerte sich Melitta Schiller zwei Jahrzehnte später als erfolgreiche Fliegerin an ihre Hirschberger Jahre, fühlte sich nach dem Ersten Weltkrieg «an die geprägten Formen fragwürdig gewordener Übereinkünfte und Überlieferungen, kurz an die Konvention in keiner Weise mehr gebunden.»9 Beherrscht worden sei sie damals vom «Drang nach dem freien Spiel der körperlichen Kräfte, nach ihrer Schmeidigung und Stählung – ein Trieb des ursprünglich ‹sportlichen› Menschen»10. Demgegenüber war das elementare Bedürfnis, ausreichend und gesund ernährt zu werden, nebensächlich, hieß es für die Schülerin überdies «billige Vergnügungen (dazu gehörte auch der ‹Kintopp›)»11 zu vermeiden. Damit meldeten sich zwar die antibürgerlichen Ideale der Jugendbewegung aus der Vorkriegszeit zurück, doch modern und antimodern zugleich, beließ es Melitta nicht bei Lagerfeuerromantik. In Hirschberg betrat sie den Pfad einer stählernen Romantik, in der Technik, Kultur, Natur, Seele und Beseeltheit versöhnt sein sollten.

Ein erster Schritt in diese Richtung war der Segelflug. In Grunau, einem Dorf wenige Kilometer nördlich von Hirschberg, hatten 1921 ehemalige Kriegsflieger eine Segelflugschule gegründet. Die Fluglehrer ließen dort «fliegerisch interessierten jungen Leuten eine Art paramilitärischer Ausbildung»12 angedeihen. Frauen waren in Grunau nicht vorgesehen, aber auf der Suche nach neuen Herausforderungen und Wagnissen war Melitta offenbar durchsetzungsfähig genug, sich ihren Platz in der Männerdomäne zu erobern. Dank der theoretischen Kenntnisse, die sie sich autodidaktisch durch die Lektüre einschlägiger Fachbücher angeeignet hatte, war es irgendwann so weit. Dass sie, wie Lieselotte Lachmann berichtet, auf ihrem ersten Flug ohne Begleitung in der Kanzel saß, entsprach den Tatsachen, Zweier-Cockpits gab es damals noch nicht. Dennoch wird die Flugstrecke weder sehr weit noch die Höhe sehr groß gewesen sein. Erst im August 1922 gelang dem versierten Segelflieger Arthur Martens der erste Ein-Stunden-Flug auf der Wasserkuppe, Thermikflüge gab es erst am Ende der zwanziger Jahre, 1925 betrug die größte Flughöhe nicht mehr als 350Meter. Länger als zwei Minuten blieb 1920 kein Segelflugzeug am Himmel. Vermutlich schwebte Melitta nur für einen Moment in der Luft, war es kaum mehr als ein Abheben, Gleiten und Wiederaufsetzen.

Ein unvergessliches Erlebnis blieb es dennoch. Dass eine junge Frau den Mut besaß, ein Segelflugzeug zu steuern, war damals sensationell. Zwar sollte es noch lange dauern, bis Melitta wieder als Pilotin in einem Cockpit sitzen, geschweige denn bis sie sich für die Luftfahrtwissenschaft entscheiden würde. Grunau war aber offenbar doch so maßgebend, dass im letzten Schuljahr nach langem Hin und Her die Würfel fielen. Melitta beschloss, nach München zu gehen und dort nicht Kunst, sondern Naturwissenschaften zu studieren. Damit war der Schwenk von den musisch begabten Frauen zu den technisch begabten Männern