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Nach der Idylle E-Book

Thomas Medicus

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Beschreibung

Das verunsicherte Land: Thomas Medicus' große Deutschlandreportage Brexit, Trump, nichts scheint mehr sicher – und mit einem Mal richten sich die Blicke auch auf Deutschland, das als ein Hort der Stabilität gilt. Die Schonzeit ist vorbei. Die Frage stellt sich: Was ist das für ein Land, in dem wir leben? Thomas Medicus will es herausfinden. Er reist durch Deutschland und trifft Menschen mit besonderem Blick: Eine Leipziger Wedding-Planerin offenbart das Sicherheitsbedürfnis der Thirtysomethings, eine deutsch-türkische Bundestagsabgeordnete zeigt, wie zwiespältig die Forderung nach Integration sein kann, eine polnische Reinigungskraft in Berlin erzählt vom kleinen Glück. Aber nicht nur Menschen, auch Orte, wie sie verschiedener kaum sein könnten, prägen dieses Land: Medicus reist nach Wittenberge, das von der Deindustrialisierung gezeichnet ist, und an den Tegernsee, wo in alpiner Idylle eine Parallelgesellschaft gedeiht; er sucht im säkularen Norden nach Gott und nach der märchenhaften verlorenen Mitte; in den so ähnlichen, so unterschiedlichen Städten Aachen und Görlitz zeigen sich die Brüche zwischen Ost und West, die manchmal auch durch ein ganzes Leben gehen. Thomas Medicus fühlt dem Land den Puls. Vielfach ist die Sehnsucht nach einem Gestern spürbar, nach dem stillen Glück im Winkel. Aber all das ist heute nicht mehr zu haben. Anders als die USA befindet sich Deutschland nicht in einer Krise – aber wo dann?

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Seitenzahl: 370

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Thomas Medicus

Nach der Idylle

Reportage aus einem verunsicherten Land

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Das verunsicherte Land: Thomas Medicus’ große Deutschlandreportage

 

Brexit, Trump, nichts scheint mehr sicher – und mit einem Mal richten sich die Blicke auch auf Deutschland, das als ein Hort der Stabilität gilt. Die Schonzeit ist vorbei. Die Frage stellt sich: Was ist das für ein Land, in dem wir leben?

Thomas Medicus will es herausfinden. Er reist durch Deutschland und trifft Menschen mit besonderem Blick: ein Leipziger Wedding-Planer offenbart das Sicherheitsbedürfnis der Thirtysomethings, eine deutsch-türkische Bundestagsabgeordnete zeigt, wie zwiespältig die Forderung nach Integration sein kann, eine polnische Reinigungskraft erzählt vom kleinen Glück. Aber nicht nur Menschen, auch Orte, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, prägen dieses Land: Medicus reist nach Wittenberge, das von der Deindustrialisierung gezeichnet ist, und an den Tegernsee, wo in alpiner Idylle eine Parallelgesellschaft gedeiht; im sächsischen Pirna, wo man sich vor Kriminellen aus Tschechien fürchtet, zeigt sich, was Grenzziehungen in Europa noch heute bedeuten können.

Thomas Medicus fühlt dem Land den Puls. Vielfach ist die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik spürbar, nach dem stillen Glück im Winkel. Aber all das ist heute nicht mehr zu haben. Anders als die USA befindet sich Deutschland noch nicht in einer Krise – aber wo dann?

Über Thomas Medicus

Thomas Medicus, geboren 1953 im mittelfränkischen Gunzenhausen, studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte. Nach seiner Promotion schrieb er u.a. für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», war Feuilletonredakteur des Berliner «Tagesspiegel» sowie stellvertretender Feuilletonchef der «Frankfurter Rundschau». Heute lebt Thomas Medicus als freier Publizist in Berlin und in Dolgie/Polen. Zuletzt erschienen von ihm «Melitta von Stauffenberg. Ein deutsches Leben» (2012) und «Heimat» (2014).

«Wer ist dieser Deutschland?»

Wie das so ist in einer Großstadt, man lässt sich durch die Straßen treiben, gelangt in Viertel, in denen man schon lange nicht mehr unterwegs war. Man hängt Gedanken nach, tagträumt. Karl-August-Platz im bürgerlichen Berlin-Charlottenburg, eine wilhelminische Platzanlage, Backsteinkirche in der Mitte, Linden, Kastanien, Wohnhäuser mit Stuckfassaden ringsum. Und plötzlich sticht da diese Schrift ins Auge, groß und rot und frech. «Wer ist dieser Deutschland?», flackert es an der fahlgelben Wand eines unschönen, fensterlosen Flachbaus. Wer hat das dorthin gesprüht, fast wie ein Menetekel? Ein Grübler, ein Witzbold oder ein des Deutschen noch nicht gänzlich mächtiger Immigrant? Wer immer der Urheber war, mich traf die Frage des Sprayers ins Herz. Sie war schon länger auch meine Frage gewesen.

Eigentlich scheinen die Antwort und damit auch die Lage klar. Inmitten politisch wie ökonomisch krisengeschüttelter, zum Teil neonationalistischer europäischer Länder steht Deutschland als Bollwerk der liberalen Demokratie und wirtschaftlichen Stabilität da. Aber ist es tatsächlich so einfach? Das ironisch falsche Demonstrativpronomen des Graffitos deutete Zweifel an. Ja, wer ist dieses Deutschland eigentlich? Ist es die weltoffene, heitere und freundliche Demokratie, als die wir uns so gern im Spiegel der Medien betrachten, oder hockt hinter der Fassade doch der vergrübelte, verinnerlichte, unpolitische und weltabgewandte deutsche Michel, als der wir so lange gesehen wurden? Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Deutschland, in West wie Ost, ein Selbstbild der Harmlosigkeit kultiviert. Dass die Wahrnehmung unserer europäischen Nachbarn auch ganz andere Bilder zeichnet, änderte bis heute wenig daran. Ein für andere Nationen bedenkliches, immer größeres und mächtigeres Deutschland zum Beispiel ist in unserem Selbstbild ein blinder Fleck.

Innerdeutsch schlug sich dieses Image der Harmlosigkeit anders nieder, in einer frappierenden Berechenbarkeit etwa. Die meisten kollektiven Erregungen klangen im nun bereits seit zwölf Jahren währenden demokratischen Ausgleich unter der Schirmherrschaft unserer Bundeskaiserin Angela immer schnell wieder ab. Ist das nun politische Reife oder Unreife? Die kollektive Unverdrossenheit der Deutschen nach dem Motto, außer beim Fußball und in der Arbeit keine Leidenschaft zu zeigen, kann erstaunen – sie kann aber auch skeptisch stimmen. Denn so recht will man dem Bild vom nach außen harmlosen, innerlich gefestigten deutschen Riesen in der Mitte Europas nicht trauen. Reich, stark, mächtig, selbstzufrieden, erfolgreich, so sieht die Oberfläche aus, aber was steckt dahinter? Gibt es keine Brüche, Risse, Unzufriedenheiten, Unsicherheiten, gar Verunsicherungen, bleibt nicht vieles subkutan, ungesagt oder zwischen den Zeilen? Auch die jüngste Vergangenheit ist bis hinein ins Heute betroffen von Umbruchprozessen, die in das Leben des Einzelnen wie in die ganze Gesellschaft eingreifen. Was zum Beispiel ist mit dem Mittelstand, seit je eine ökonomisch wie sozial wichtige Schicht? Schmilzt sie dahin, wie die einen meinen, oder ist sie stabil, wie andere behaupten? Und hat sich, ein weiterer Schauplatz, nicht unser aller Gefühlsleben verändert: Werden die Formen des Zusammenlebens nicht neu definiert und praktiziert, als Familie wie Ehe alter und neuer Art? Das berührt im Weiteren auch die Frage, woran man im spirituellen Sinn glaubt, in konfessioneller Hinsicht aber, woran man immer flächendeckender gar nicht mehr glaubt. Und haben wir es nicht immer noch mit je spezifischen Ost- und West-Befindlichkeiten zu tun, die sich als viel beständiger erweisen, als man lange annahm? Vor allem aber beschäftigt uns, wie wir mit dem Fremden, konkret den Fremden umgehen sollen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind. Darauf gibt es liberale, neuerdings aber auch immer mehr identitätsfixierte Antworten, eine Entwicklung, die Verunsicherung anzeigt, aber auch Verunsicherung stiftet. Die Sehnsucht nach einer möglichst widerspruchsfreien Wirklichkeit, nach einer sozialen Idylle, der man nachtrauert, weil sie angeblich einmal da war, oder nach einer, die es noch herzustellen gilt, ist groß.

Antworten auf solche Fragen zu finden, war in Berlin allein nicht möglich. Wir sind hier zwar in der Hauptstadt, und gewiss ist das ganze Land hier vertreten, aber es wäre ein grobes Missverständnis zu glauben, wer Berlin kenne, kenne auch Deutschland. Dafür sind wir viel zu unterschiedlich. Deshalb möchte ich mir von dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, ein Bild machen und in die Rolle eines Ethnographen, vielleicht auch Archäologen schlüpfen. Um ein Vollständigkeit beanspruchendes, föderales Gesamtbild geht es dabei nicht, und gerade die regionalen Unterschiede sollen nicht über den Kamm geschoren werden. Nein, es sollen so viele Einzelbilder zusammenkommen wie möglich, Aufnahmen aus verschiedenen Gegenden in Süd und Nord, Ost und West, Impressionen aus großen und kleinen Städten, auch aus Dörfern. Ein Mosaik soll daraus entstehen, eine vielschichtige, aufschlussreiche Momentaufnahme von Deutschland.

Mein Vorsatz lautet, während meiner Deutschlanderkundungen kein Flugzeug und nur im Notfall das Auto, stattdessen immer die Eisenbahn zu benutzen, weniger aus ökologischen als aus sozialen Gründen. Ich möchte aus dem Fenster blicken, etwas sehen können von diesem Land, mir während des Hinausschauens Notizen und Gedanken machen; möchte andere Reisende beobachten, vielleicht mit ihnen ins Gespräch kommen oder ihre Gespräche wenigstens belauschen. Am meisten interessiert mich, was einzelne Männer und Frauen erwarten und wünschen, was sie beschäftigt, was ihnen durch den Kopf geht; auch womit sie ihr Geld verdienen, was sie arbeiten. Gelingt es ihnen, ihr Leben so zu führen, wie sie es sich vorstellen? Ist es ihnen Last, Mühe oder Freude, haben sie Angst vor dem Scheitern? Haben sie einen Plan, an dem sie sich festhalten können, oder ist unser Leben unberechenbar geworden? Was gibt ihnen Sicherheit, was verunsichert sie? Wie unser Nachbar sein Leben führt, das wissen wir meist gar nicht so genau, wir glauben nur, etwas darüber zu wissen. Mein deutsches Panorama sollen Leute bevölkern wie du und ich, es soll aus Begegnungen mit unbekannten Einzelnen entstehen, aber auch aus gezielten Gesprächen mit Experten für bestimmte Sachfragen. Man könnte demnach auch von Gesellschaft sprechen. Von Leuten zu reden, ist aber konkreter. Der Zeitgeist spricht gerne von «den Menschen», als ob es eine natürliche menschliche Gemeinschaft gäbe. Menschen sind aber erst mal Leute, und das meist in sehr eigensinniger Weise. Wer also «ist dieser Deutschland»?

1. Mit dem ÖPNV durchs Tal der Schönen und Reichen

Es ist gar nicht so viel los auf dem Münchner Hauptbahnhof, wie ich es morgens um halb sieben Uhr erwartet hätte. Betrieb, aber nicht hektisch. Kein Geschiebe, Gestoße, Gedränge, Gerenne. Bin ich zu früh dran, um die morgendliche Rushhour zu erleben? Liegt es daran, dass es Freitag ist? Oder gibt es den einen großen Andrang gar nicht mehr? Vieles, was gestern noch da war, ist ja heute schon wieder vergangen. Haben sich die Arbeitszeiten der verschiedenen beruflichen Gruppen derart flexibilisiert, dass es in der deutschen Boomtown Nummer eins den irren großen rush nicht mehr gibt? Unmöglich. Mittlerer Ring, wer kennt den nicht? München ist die Pendlerhauptstadt Deutschlands, eine halbe Million Menschen täglich, zwei Drittel davon kommen rein, kein Wunder bei den nahezu unbezahlbaren innerstädtischen Mieten, ein Drittel fährt raus.

Aber natürlich: Wer um neun im Büro sein oder hinter dem Verkaufstresen stehen muss, braucht nicht vor acht am Bahnhof anzukommen. Eine Stunde später hätte ich wahrscheinlich mein blaues Wunder erlebt. Dann hätte ich allerdings meinen Zug verpasst, der fährt kurz vor sieben. Aber es ist mir ganz recht so. Viele Dutzend Male habe ich mich an diesem Bahnhof durch ein erdrückendes mittägliches oder nachmittägliches Menschengewimmel manövriert. Jetzt kann ich mir fast einbilden, ihn für mich allein zu haben, umso besser. Das Hotel habe ich ohne Frühstück verlassen, mein Magen ist leer, und mein Hirn braucht einen Weckruf.

Der Münchner Hauptbahnhof ist nicht auf dem neuesten Stand des hierzulande längst bahnüblichen Großkaufhauses mit Gleisanschluss. Er ist ein wenig zurückgeblieben und voller Patina, manche sagen schmuddelig, aber das ist übertrieben. Angesichts eines drohenden Neubaus ist über die Jahre nicht viel investiert, sind im Entree der Bahnsteighalle nur wenig feste Läden installiert worden. Stattdessen stellen sich den Ankommenden und Abreisenden diverse provisorische Fresspavillons animierend in den Weg. Das Angebot ist bayerisch-katholisch prunkvoll. Ditsch und Datsch oder wie das Zeug heißt, kann man gut aus dem Weg gehen. An keinem anderen deutschen Bahnhof dürfte ein derart exzellentes Mokka-Eclair angeboten, kein besserer Cappuccino serviert werden als in diesem auf den ersten Blick unscheinbaren, auf den zweiten Blick verführerischen Kiosk mit seiner Patisserie, an dem ich jetzt vorbeikomme. Zu Hause in Berlin hat mir mal jemand eine Freude machen wollen und Eclairs aus einer Bäckerei mitgebracht. Die waren groß wie Fünf-Kilo-Hanteln und schmeckten auch so. Kein Vergleich mit den Delikatessen hier. Ein Eclair verspeise ich sofort, zwei weitere lasse ich mir einpacken. Im Sinne meiner schlanken Linie hätte ich mich vielleicht besser an einer dieser Saftbars mit Fruchtsäften, Obstsalat und Müsli versorgen sollen. Aber ich habe eine weite und anstrengende Reise vor mir, und da brauche ich für eventuelle Stresssituationen ein paar nicht im allgemeinen Selbstoptimierungstrend liegende, im Notfall aber aufmunternde Süßigkeitsschocks. Ein paar Sandwiches nehme ich aus magenschonenden Gründen aber auch mit. Und zwei große Flaschen Wasser, man soll ja viel trinken, heißt es immer, das sei so gesund. Zum Glück gibt es aber noch die Speisewagen, die ich im Gegensatz zur Mehrheit der bundesdeutschen Zugreisenden gerne frequentiere. Ich werde sie auch brauchen: Ich möchte der Länge nach durch Deutschland fahren. Kurs Norden. Mein Ziel ist Flensburg. Das wird seine Zeit dauern, es sind an die tausend Kilometer.

Auf dem Münchner Hauptbahnhof freue ich mich jedes Mal, dass das Bahnhofsgebäude noch fast genauso dasteht wie bei seiner Fertigstellung 1960. Schon bestehende Abriss- und Neubaupläne sind vorerst auf Eis gelegt. Die sich einhundertvierzig Meter über Bahnsteige und Gleise spannende, kühne Dachkonstruktion ist ein Baudenkmal der alten Bundesrepublik. Voller Optimismus und Lebenselan greift dieses beeindruckende Ingenieurswerk die funktionale Sachlichkeit der Weimarer Moderne auf und demonstriert in der lichtdurchfluteten Halle die Transparenz der demokratischen, neuen und modernen Zeit nach 1945. Wessen Blick dem Liniengewirr der Schienenstränge bis zum Horizont folgt, der ahnt dort, auch wenn sich die Bahnsteighalle in westlicher Richtung öffnet, den Brenner, die Alpen, mehr noch, der ahnt ganz Italien. Man sieht hier zwar in einen geographischen Westen, schaut aber in einen imaginären Süden. Italien steht einem hier schon vor Augen, steigt einem schon in die Nase. Wer am Münchner Hauptbahnhof auf seinen Zug wartet, fühlt sich magisch nach Süden gezogen und meint, dessen Hauch schon auf dem Gesicht zu spüren, den Hauch einer Mittelmeerwelt, die gleich jenseits der Bahnhofshalle zu beginnen scheint. Vielleicht kommen solche Phantasien auch daher, dass der vom Baumeister Fritz Hart errichtete, ebenso schmale wie elegante Riegel des Gebäudes mit seiner weiten Halle an einen größeren und in seiner Monumentalität noch erhabeneren italienischen Bruder erinnert, den Bahnhof Roma Termini. Vor einem halben Jahrhundert konnte man in der Münchner Bahnhofshalle Gruppen der damals sogenannten Gastarbeiter aus Italien sich versammeln sehen. Das Gleis 11 war in dieser Zeit stadtbekannt, hier kamen die Züge aus Italien an, dort fuhren sie Richtung Brenner ab. Das ist auch heute noch so, wenn auch nicht mehr ausschließlich. Die italienischen Arbeiter trafen sich damals auf dem Bahnhof, um miteinander zu plaudern und sich der Illusion hinzugeben, sie seien schon halb zu Hause. Und in gewisser Weise stimmte das ja auch. Hier zu stehen, ist ein den Süden erfühlendes, sinnliches Erlebnis. Zumindest an einem heißen Sommertag wie diesem, an dem ich auf meinen ICE nach Hamburg warte. Lange Zeit war der Münchner Hauptbahnhof ein schon ziemlich ranzig gewordenes Erinnerungszeichen der alten Bundesrepublik, ihres demokratischen Aufbruchs, ihres Wirtschaftswunders, ihrer Italiensehnsucht wie auch des Heimwehs ihrer italienischen Arbeitsmigranten.

Dann wurde plötzlich alles ganz anders, und der Bahnhof erlebte seine vielleicht größten, gewiss dramatischsten Stunden. Im August 2015 waren hier Flüchtlinge unter anderem aus Eritrea gestrandet, die von Italiensehnsucht nichts wussten und die Heimweh zu empfinden keinen Grund hatten. Sie konnten von Glück reden, dass sie noch lebten. Sie hatten in Süditalien Züge Richtung Norden genommen, waren in Rom umgestiegen, nach Bozen gefahren, dort ausgestiegen und hatten sich mit Fahrkarten versorgt, die ihnen erlaubten, den Brenner zu überqueren. In den Sommerferien dieses Jahres konnte es passieren, dass in den Zügen zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinanderstießen, eine europäische und eine afrikanische. Braungebrannte deutsche und österreichische Urlauber im Wander- oder Radler-Outfit auf dem Weg nach Hause teilten sich die Abteile mit erschöpften, dunkelhäutigen Flüchtlingen auf dem Weg nach Norden. Häufig waren die Züge derart überfüllt, dass sie am Brenner so lange haltmachten, bis unter der Aufsicht von Grenzbeamten alle ausgestiegen waren, die keine Sitzplätze reserviert hatten. Der Münchner Hauptbahnhof glich damals zeitweise einem Heerlager, überfüllt, verschmutzt und überdies noch heimgesucht von Kleinkriminellen, die die Gunst der Stunde für ihre Zwecke zu nutzen gedachten. Aber das war erst der Anfang.

Wenige Wochen später, es war schon September, kamen aus Österreich noch weit mehr Menschen an, zunächst Tausende, dann Zehntausende, die meisten aus Syrien und Afghanistan. Wie die Eritreer hatten auch sie eine weite und lebensgefährliche Reise hinter sich. Sie hatten das Ägäische Meer in kleinen Booten überquert, waren lange Strecken zu Fuß gelaufen, oft Tausende von Kilometern, Männer, Frauen, Alte und Junge, Kinder, oft noch Säuglinge, waren in den Armen oder auf dem Rücken ihrer Eltern über Passau und Rosenheim am Münchner Hauptbahnhof eingetroffen. Am Ostbahnhof in Budapest, wo vielen von ihnen die Weiterreise von den ungarischen Behörden zunächst verweigert worden war, hatten die Flüchtlinge Schilder mit Parolen in die allgegenwärtigen Fernsehkameras gehalten. «We want to go to Germany» und, noch unglaublicher, «We love Germany», stand darauf zu lesen. Traumziel Deutschland. Solche Bekenntnisse hatten wir Deutschen bis dahin noch nie gehört. Endlich wurden wir geliebt – hatten wir das nicht immer gewollt? Aber wer war dieses «Wir» überhaupt, und wer waren die anderen? Solche Fragen stellte damals niemand, noch nicht. Die Münchner begrüßten zu Aberhunderten die Flüchtlinge mit Applaus, Carepaketen und Kinderspielzeug an den Bahnsteigen. Ein neues deutsches Wort wurde geboren, als Vorbote einer besseren Welt – «Willkommenskultur». Augenblicklich fand es seinen Weg in den deutschen Alltagswortschatz und selbst in ausländische Zeitungen und fremde Sprachen. Im Sommer und Herbst 2015 war der Münchner Hauptbahnhof die auffälligste Kraftstation einer sich weitgehend auf den alten deutschen Westen beschränkenden deutschen Willkommenskultur. Wer hätte das von den republikweit als saturiert geltenden Münchnern gedacht, von dieser so reichen und lebensfrohen, aber auch als selbstgefällig geltenden bayerischen Landeshauptstadt? Plötzlich war ihr Hauptbahnhof das Symbol einer zeitgeschichtlichen Zäsur, die jedem bewusst war, kaum jemanden beunruhigte, deren Folgen aber noch keiner einschätzen konnte. Aber als es hieß: «Wir schaffen das», begannen die Zweifel zu keimen, wer dieses «Wir» denn sei und was dieses «das» beinhalte. Und sie wuchsen schnell. Kopfschütteln über die «Willkommenskultur» der Deutschen gab es auch im Ausland, besonders in den ehemals sozialistischen Ländern im Osten der Europäischen Union. Aber nicht nur dort. Auch innerhalb der deutschen Grenzen meldeten sich Kritiker zu Wort, und nicht nur konservative. Der liberale Historiker Heinrich August Winkler warnte etwa vor einer neuen deutschen Sondermoral und der Gefahr moralischer Selbstüberhöhung als einer neuen Form deutscher Arroganz. Angela Merkels drei kleine Worte entpuppten sich als eine Pandorabüchse voller existenzieller Fragen. Im Kern stand das nationale Selbstverständnis der Deutschen: Wer wollten «wir» sein oder auch werden? Anders, als es hierzulande lange Gewohnheit war, lässt sich solch eine Frage, wenn überhaupt, nicht durch introspektive Grübeleien herausfinden, sondern nur in Auseinandersetzung mit einem Anderen, einem Gegenüber, einem Fremden. Die Flüchtlingskrise war eine echte Herausforderung für dieses Land.

 

 

 

Am Tag, bevor ich zu meiner Reise von München nach Flensburg aufbrach, war ich noch am Tegernsee unterwegs gewesen. An den Tegernsee fahre ich aus familiären Gründen seit über vierzig Jahren. Meist steige ich am Bahnhof Gmund am Nordende des Sees vom Zug um in einen Bus des öffentlichen Personennahverkehrs, der hier Regionalverkehr Oberbayern heißt. Gewöhnlich heißen die Busfahrer ihre Passagiere im deutschlandweit bekannten Tal der Schönen und Reichen, jedenfalls Bessergestellten, mit ausgesuchter Unfreundlichkeit und ruppiger Fahrweise willkommen. Auch dieser Tag war keine Ausnahme in meiner langjährigen Erfahrung des rund um den See verlaufenden Ringverkehrs. Unter den wenigen, die den Bus bestiegen, war ein fremdländisch aussehender junger Mann, das Haar pechschwarz, der Teint südlich-braun. In beiden Händen trug er je eine mit Lebensmitteln schwer bepackte Tasche, auf dem Rücken einen vollgestopften Rucksack, aus dessen zwei Seitentaschen jeweils ein bunter Milchkarton herausragte. Der Mann schwitzte stark, gelegentlich stöhnte und seufzte er sogar unter seiner Last. Die doppelflügelige Tür in der Mitte des Busses hielt der Fahrer hartnäckig verschlossen, weshalb der Fremde vorn einsteigen musste und relativ lang brauchte, um in die Mitte des Fahrgastraums zu gelangen und dort seine Last abzusetzen. Die auskragenden Milchtüten machten es ihm fast unmöglich, durch den schmalen Mittelgang des Busses zu kommen, immer wieder blieb er mit dem Rucksack an einer Sitzlehne hängen, obwohl er sich abmühte, seitwärts zu gehen, die eine der Taschen hinter sich auf dem Boden herziehend, die andere mit dem Fuß weiterschiebend. Kaum hatte sich der Mann seiner Bürde entledigt, wurde er vom Chauffeur unsanft nach vorne gerufen. Er besaß noch eine Fahrkarte vom früheren Hinweg, die er für gültig hielt, und verstand erst nach den geduldigen Erklärungen einer Mitfahrerin, dass er jetzt für den Rückweg ein weiteres Mal zwei Euro siebzig zu entrichten habe, obwohl er zuvor den gleichen Betrag schon einmal bezahlt hatte. Fünf Euro vierzig waren für den Mann, der für sich, vielleicht auch seine Familie, in einem zwar preiswerten, anscheinend aber ungünstig gelegenen Supermarkt eingekauft hatte, offensichtlich viel Geld. Aus der Menge der im Tegernseer Tal erholungsuchenden biodeutschen Rentner stechen exotisch aussehende Leute wie auch dieser Mann dadurch hervor, dass sie nur vereinzelt und meist sehr verschüchtert auftreten. In der Regel gehören sie zum Dienstleistungsproletariat, das in den Küchen und Wäschereien der Hotels, Sanatorien und Kurkliniken dieser Feriengegend einer unqualifizierten Arbeit nachgeht. An dem schwitzenden Mann im Bus haftete der «im Tal», wie man hier sagt, unverzeihlichste aller Makel: Er besaß kein Auto, am allerwenigsten ein sogenanntes Premium-Fahrzeug. Wer hier unter der Woche Bus fährt, ist entweder Schüler, Niedriglöhner oder zu alt, um selber zu fahren. Das Tegernseer Tal ist nicht nur das Tal der Bessergestellten und Reichen, was man nur selten merkt, weil sie sich meist nicht blicken lassen, sondern sowohl Germany’s Home of Satteldach (Flachdächer verboten!) als auch Germany’s Home of Premium Cars (ausnahmslos in Schwarz, nur 911er dürfen auch mal gelb oder rot sein). Die Berge sind hier schön, der See ist auch schön, aber am allerschönsten ist der Besitz eines schwarzen Premium-Gefährts (vorzugsweise das Münchner Fabrikat), übrigens auch für diejenigen, die gar nicht so viel Geld im Beutel haben, sich aber gerne den ortsüblichen Standards unterwerfen. Egalitarismus nach Tegernseer Art. In einem der vier am See gelegenen Orte gibt es einen Autohändler, der vor langer Zeit nur eine Tankstelle am Ortsrand war. Heute haben sich seine überdachten wie auch nicht überdachten Verkaufsflächen derart ausgeweitet, dass im Volksmund dem Familiennamen des Unternehmers entsprechend vom «K.-Viertel» die Rede ist. Wenn es so weitergeht, wird das K.-Viertel demnächst das protestantische Kirchlein eingeschlossen haben, das in unmittelbarer Nachbarschaft der hier weidenden Premiumvehikel auf einem hübschen Hügel sein Diasporadasein fristet. Diese Nähe wurde hier offenbar fraglos genehmigt, warum auch nicht, ist doch das gesamte Tal eine Art «K.-Viertel». Wer den Blick von der weißblauen Schönheit der Berge, des Himmels und des Sees mit seinen zahlreichen Wasservögeln abwendet, dem kann es leicht passieren, dass er kaum mehr etwas anderes sieht als zwischen sich bayerisch gerierenden Satteldachhäusern liebevoll geparkte, staubfreie und fleckenlose schwarze Premium-Fahrzeuge auf säuberlich geteerten Abstellflächen, -streifen und -ecken. Gegen den Individualverkehr ist in dieser altbundesrepublikanischen Landschaft, in der die Renten sicher, die Immobilienpreise hoch und die versiegelten Flächen ausufernd sind, kein Kraut und bis jetzt auch keine kommunal- beziehungsweise mobilitätspolitische Idee gewachsen. Dass Motorisierte, wie in anderen ländlichen Gebieten längst erprobt, Nichtmotorisierte in einem organisierten Verbundsystem freiwillig mitnehmen, ist hier unerhörte Zukunftsmusik. Luxus macht eben nicht erfinderisch.

 

 

 

ICE 1082. Der Waggon, in dem ich meinen Platz reserviert habe, ist kaum besetzt. Keine zehn Leute verteilen sich auf die Sessel. Die meisten klappen, kaum haben sie sich hingesetzt, ihre Köpfe nach hinten oder an die seitlichen Polster, schließen die Augen und dösen vor sich hin. Außer mir bis immerhin nach Hamburg fährt, wie ich an der Platzreservierung sehe, nur eine alte, sehr kurzsichtige Dame mit einer großen Brille. Ob es jemanden im Zug gibt, der wie ich bis Flensburg fährt? Aber warum sollte man eine solch langwierige Zugreise auf sich nehmen? Von München nach Hamburg zu fliegen, dauert nur eine gute Stunde und ist unter Umständen billiger als eine Bahnfahrkarte. Insgesamt werde ich mit dem ICE sechs Stunden bis Hamburg unterwegs sein und von dort aus noch einmal zwei Stunden. Würde ich nach Hamburg fliegen, würde ich aber doch nur zwei Stunden einsparen, denn ich müsste zum Flughafen fahren, dort einchecken und warten, also viel leere Zeit verbringen. Das möchte ich vermeiden, auch deshalb fliege ich nicht. Los geht’s in Richtung Augsburg mit sieben Minuten Verspätung. Die Strecke, die ich gewählt habe, ist die schnellste Nord-Süd-Verbindung, über Nürnberg statt Augsburg würde es zwei Minuten länger dauern. Die zwei Minuten sind mir egal, ganz so eilig habe ich es nicht, und wenn es mir einfällt, werde ich Abstecher unternehmen, aussteigen und mich umsehen. Wer weiß, ob ich heute überhaupt noch bis nach Hamburg komme.

Jahrzehnte zuvor war schon einmal einer mit der Eisenbahn auf ähnliche Weise umhergefahren. «Netzkarte» hieß das Buch, das der erst später berühmte Schriftsteller Sten Nadolny über seine Deutschlandreise geschrieben hat, sein Erstling im Übrigen. Nadolnys Alter Ego Ole Reuter, ein Lehramtskandidat, der wenig Lust verspürt, lebenslänglich in den Schuldienst einzutreten, und sich vor einer Entscheidung drückt, war im Frühjahr 1976, im Sommer 1978 und im Herbst 1980 unterwegs gewesen und hatte insgesamt dreißigtausend Schienenkilometer zurückgelegt. Zwar liest man das Buch noch immer gerne, im Nachhinein wirkt es aber eigentümlich kontextlos, vor allem in politischer Hinsicht. Im Mai 1976 wurde Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Gefängniszelle aufgefunden, es war die Zeit des sogenannten Deutschen Herbstes, in dem das rote Jahrzehnt zwölf Monate später seinen terroristischen Höhepunkt erlebte. Helmut Schmidt wurde nach den Bundestagswahlen im Oktober trotz Stimmenverlusten abermals Bundeskanzler; 1978 begann das Schah-Regime in Iran zu bröckeln, in Italien wurde im März Aldo Moro von den Roten Brigaden entführt und im Mai ermordet; in diesem Jahr erlebte die Welt drei Päpste, Paul VI., noch im neunzehnten Jahrhundert geboren, starb im achtzigsten Lebensjahr, sein Nachfolger Johannes Paul I. segnete schon kurz nach seiner Wahl mit erst fünfundsechzig Jahren das Zeitliche, im Oktober rückte der polnische Papst Johannes Paul II. nach. 1980 war die Islamische Revolution im Iran perfekt, sowjetische Truppen marschierten in Afghanistan ein, und im Herbst begann der Krieg zwischen Iran und Irak, der acht Jahre dauern sollte. Außen-, aber auch innenpolitisch war das eine Krisenzeit. Davon ist bei Nadolny wenig zu spüren, nicht einmal ein leises Beben, kein Blick auf das viele Blut, das damals geflossen war. In seinem Buch reist ein junger Mann durch sein Land, aber die Lebensverhältnisse, Alltag, Verhalten, Vorlieben und Abneigungen seiner Landsleute kommen eigentlich nicht vor.

Lag es daran, dass es Deutschland damals gar nicht wirklich gab, das Land geteilt war in zwei unterschiedlich große und starke Hälften, die völlig gegensätzlichen ideologischen Blöcken angehörten? Die deutsche Frage, wie man damals sagte, existierte für Nadolnys Bahnreisenden Ole Reuter nicht oder jedenfalls fast nicht, allenfalls ganz am Rand. Obwohl Ole im damals rundherum eingemauerten West-Berlin lebt und von dort aufbricht, ist ihm die DDR-Grenzkontrolle in Griebnitzsee nur zwei Zeilen wert. Das war’s. Die deutsche Teilung wurde offenbar nicht als ein Zustand empfunden, über den man sich hätte aufregen, den man bedauern oder gar betrauern hätte müssen. Sie war der Normalzustand, nicht schön, aber eben nicht zu ändern. Nadolnys Buch ist ein Buch über Deutschland, in dem über Deutschland nicht gesprochen wird. War der Eskapismus dieses Bahnreisenden Ausdruck des Stillstandes der unerschütterlich erscheinenden zeithistorischen Umstände, einer festgefügten Blockzeit, deren Wandel, geschweige denn Ende sich damals kaum jemand vorstellen konnte? Ein völlig unpolitischer Held ist Nadolnys Reuter allerdings nicht: Zur Politik hat er ein gebrochenes, hauptsächlich ironisches Verhältnis, für Veteranen der außerparlamentarischen Opposition nur ein mildes Lächeln übrig. Als Revoluzzer kann man sich Ole Reuter beim besten Willen nicht vorstellen. Er ist ein Verweigerer, nicht mal ein stiller Held, sondern gar keiner. Mit dem kämpferischen Lebensideal der Achtundsechziger kann er nichts anfangen.

Nadolnys halb dokumentarisches, halb literarisches Alter Ego ist zweifellos ein Nachfolger des berühmten Taugenichts von Joseph von Eichendorff. Die Liebe ist das gemeinsame Motiv der beiden Figuren, bei Reuter ist es allerdings eher der unruhige Trieb als das bis nach Italien hinabwandernde Gefühl Eichendorffs. Ole Reuters Reisegedanken sind, wie er gleich am Anfang kundtut, «ausschließlich erotisch». Der Leitfaden seiner Zugreise durch die westdeutsche Republik lautet dementsprechend: «… ich sinne auf Eroberungen.» Gemeint ist die von Frauen. Ole ist überall und nirgends zu finden, in Kreiensen, Göttingen, Würzburg, Nürnberg, Rendsburg, Hamburg, Kronach, Winsen an der Luhe, Köln, Bonn, Adenau, Coburg, Münster oder Freilassing. Er hat keinen Plan, nimmt den nächsten Zug, der irgendwohin abfährt, kommt so mal hier-, mal dorthin und hält – egal, wo – Ausschau nach jungen Frauen. An manchen Orten taucht er mehrfach auf, in Köln etwa wegen einer Judith, bei der zu bleiben er sich schlussendlich aber dann doch nicht durchringen kann. Zeit spielt kaum eine Rolle, sie ist im Überfluss, als Dimension vielleicht aber auch gar nicht vorhanden, man erfährt es nicht so genau. Nadolnys Taugenichts ist romantisch auf postmoderne oder posthistorische Weise. Genau wie sein damals unter der Obhut der Westalliierten stehendes Land, das die Verantwortung für seine Geschicke anderen überlassen konnte, sieht er keinen Sinn darin, erwachsen zu werden. Er muss nicht ganz souverän sein, halbsouverän genügt ihm. Er ist ein Zauderer, ein Mensch eigentlich schon der Achtziger, des Jahrzehnts der individuellen Lebensstile, die sich auch in Westdeutschland entfalten werden. Die politischen Befreiungsideologien der älteren Protestgenerationen sind ihm egal. Er will einfach nur leben, und das möglichst spontan und sorglos. Er lebt gar nicht in der wirklichen Welt, sondern in seiner eigenen Wunschwelt. Das macht diesen Ole zum Romantiker und bis heute sympathisch.

Solch ein Taugenichts bin ich auf meiner Reise nicht. Dazu fehlt es mir an Jugend wie an Zeit, beides ist mir ausgegangen, die Jugend ist vorüber, und die überbordende Zeitfülle einer längst vergangenen, stillstehenden Epoche des bleiernen Nachkriegs hat heute sowieso keiner mehr. Ich bin weder Wanderbursche noch ein Kreuz-und-quer-Bahnritter auf Minnefahrt, möchte es auch nicht sein. Es fehlt auch akut, schaue ich mich an diesem Morgen in meinem ICE-Waggon um, an anbetungswürdigen Objekten. Die attraktive Tablet-Generation beiderlei Geschlechts mit phones im Ohr sitzt im nächsten Großraumwagen, warum dort und nicht hier, wo ich bin, ist mir unerklärlich. Vielleicht eines der vielen Geheimnisse unseres technisierten Alltags und seiner unergründlichen Zufallsgesetze. Egal ist es mir sowieso, auf die Schienen gebracht hat mich weder die erotische noch die emotionale Sehnsucht eines Taugenichts.

Im Großraumwaggon ist es wie meistens viel zu kühl, in Hamburg, fürchte ich, werde ich irgendwann durchgefroren ankommen, vielleicht sogar erkältet. Das Tuch, das ich mir um den Hals gebunden habe, nützt nicht viel, auch mein Pullover ist zu dünn. Draußen ist es heiß, nicht mehr ganz so heiß wie ein paar Tage zuvor, als das Thermometer deutschlandweit auf über fünfunddreißig Grad Celsius kletterte. In Donauwörth verlassen die meisten Passagiere den ICE, überwiegend junge Männer, es ist neun Uhr. Warum man von München nach Donauwörth fährt, um ausgerechnet dort zu arbeiten? Ganz einfach, in Donauwörth ist die Helikopterproduktion von Airbus zu Hause, die entsprechende Zuliefererindustrie in unmittelbarer Nähe. Das deutsche Zentrum der europäischen Hightech-Luftfahrtindustrie ist der Großraum München, Oberpfaffenhofen gehört vor allem dazu, aber auch Donauwörth. Kurz bevor der Zug dort angekommen ist, hat er die Donau überquert, hier noch ein schmaler Fluss, den ich fast übersehen hätte. Im letzten Augenblick erhasche ich doch noch einen Blick aufs Wasser und schaue stromaufwärts in Richtung des etwa eine Stunde entfernten Ulm.

2. «Niemals aufgeben.» Die bayerisch-schwäbisch-türkische Politikerin Ekin Deligöz

Auf die Donau bei Ulm blickte Ekin Deligöz, als sie noch Kind war. Zum Fluss ging sie mit ihrer Mutter Hatice immer dann hinunter, wenn sie beide Heimweh hatten. Ekin war in Tokat in der Türkei als Tochter einer alevitischen Familie geboren worden. Von Anfang an lebte sie in zwei Welten, das war Glück und Unglück zugleich, aber letztlich vielleicht der Grund ihrer erfolgreichen Biographie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Ihre Religion konnte Ekins Familie in Tokat nicht praktizieren: Das Fasten musste geheim bleiben, und ihre Eltern, beide Lehrer an der örtlichen Grundschule, taten gut daran, ihre Glaubensrichtung zu verschweigen. Die Stadt Tokat selbst hat eine Geschichte, die es offiziell nicht gab und über die niemand offen sprach, das ist bis heute so. Die Stadt war früher armenisch gewesen, was unter anderem am besonderen Baustil, den auskragenden Wintergärten aus Holz im ersten Stock der Wohnhäuser, immer noch gut zu erkennen ist. Tscherkessen und Juden hatten ebenfalls dort gelebt, mit den Aleviten waren diese beiden religiös und auch sonst recht verschiedenen Bevölkerungsgruppen ohne Konflikt ausgekommen. Ein Ort der Vielfalt – in früheren Zeiten.

Als Ekin 1971 in Tokat geboren wurde, war das lange her. Die Moderne hatte hier nur langsam Einzug gehalten und war immer noch nicht weit gekommen. Ekin war eines der ersten Kinder, die im neu erbauten Krankenhaus das Licht der Welt erblickt hatten. Bald zogen die Eltern, weil sie dort besser verdienten, nach Istanbul und ließen sie, ihr einziges Kind, bei der Großmutter zurück. Der Vater, ein begabter Mathematiker, war unzufrieden, weil die kleine Ekin häufig krank und für die ärztliche Behandlung kein Geld da war. «Meinen Samen habe ich umsonst hergegeben», fluchte er, eine Demütigung, die Ekin nie vergessen und auch nie verzeihen konnte. Als sie mit Eintritt in die Grundschule ebenfalls nach Istanbul zog, war der Vater schon so gut wie weg, bald würde er Frau und Tochter ganz verlassen. Die Mutter Hatice erzog Ekin nun alleine, der Vater spielte auch in Zukunft im Leben beider keine Rolle mehr. So lernte Ekin erst bei der Großmutter in Tokat und dann bei der Mutter in Istanbul von früh auf, dass Frauen auch unabhängig von Männern im Leben bestehen können.

Ihr Alevitentum kam ihr dabei zugute. Die Aleviten wurden von dem in der Türkei vorwiegenden sunnitischen Islam als Glaubensrichtung nicht anerkannt und in osmanischen Zeiten zuweilen erbarmungslos verfolgt. Aleviten kennen bei ihren religiösen Zeremonien keine strikte Geschlechtertrennung, was für orthodoxe Imame immer wieder Grund für Verleumdungen und Unterstellungen war. Von Sunniten wie Schiiten als Häresie verurteilt, ist das mystische, synkretistische und nach innen gewandte, aber auch sehr diesseitsbezogene Alevitentum stark auf die eigene Gemeinschaft bezogen. Hier ist auf dem rechten Pfad, wer Gutes tut und Gott im anderen sieht. Die Glaubenssäulen und Vorschriften sind von geringerer Bedeutung als im orthodoxen Islam: Weder beten Aleviten fünfmal täglich, noch besuchen sie Moscheen; weder nehmen sie am Ramadan teil noch an der Hadsch, der Wallfahrt nach Mekka, auch Alkoholgenuss ist ihnen erlaubt, und weder Sitte noch Pflicht zwingt die Frauen zu Schleier oder Kopftuch.

Die Großmutter war für Ekin die prägende Figur ihrer Kindheit. Ihr Haupt war stets unbedeckt, sie hatte eine französische Schule besucht, war als erwachsene Frau viele Jahre Stadträtin gewesen und auch in der religiösen Hierarchie der Stadt eine geachtete Autorität. Sie setzte auf Bildung und Selberdenken, bestand auf der Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Nicht verwunderlich deshalb, dass ihre Enkelin bis heute der Überzeugung ist, dass die Integration der türkischen Minderheit in Deutschland in der Hauptsache von Frauen vorangebracht wurde, kaum von den Männern, die um ihren traditionellen patriarchalischen Status fürchten.

Das starke Erbe der Großmutter und des Alevitentums sowie ihre Erfahrung als Außenseiterin in der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft der Türkei: Das war das soziale Kapital, das Ekin am 29. Oktober 1979, ein unvergessliches biographisches Datum für sie, mit nach Deutschland brachte, als sie mit ihrer Mutter auf dem Münchner Flughafen landete. Hatice war damals siebenundzwanzig Jahre alt, ihre Tochter acht. Sie hatten zwei Koffer dabei, den einen voller Kleidung, den anderen mit ihren Lieblingsbüchern. Die meisten davon wurden in der Türkei bald verboten, als dort ein Jahr später wieder einmal das Militär putschte. Im Geldbeutel hatten sie nicht mehr als einhundert Deutsche Mark. Fünfzig gingen kurz nach der Ankunft für eine Barbiepuppe weg. Sie war das eine der beiden Lockmittel gewesen, um Ekin dazu zu bewegen, die türkische Heimat zu verlassen. Das andere war eine Reise nach Spanien, aber diese Sehnsucht musste lange unerfüllt bleiben. Weil das türkische Konsulat samstags geschlossen hatte und sie nicht wussten, wohin, verbrachten Ekin und Hatice das Wochenende vorerst in einem Heim in Neuperlach. Dort wohnten junge Türkinnen, die bei Siemens arbeiteten. An jenem Abend fand dort eine Party statt, auf der Kochgeschirr von AMC angeboten wurde, sündhafte teure Töpfe, die unter den Arbeitsmigrantinnen als eine Art Mercedes für die Frau galten. Wieder zurück in der Türkei, mussten die Käuferinnen dann oft feststellen, dass das Statussymbol nur auf Elektroherden funktionierte, während man in der Heimat damals überwiegend mit Gas oder Holz kochte. Da war das Geld für die heiß ersehnte Barbiepuppe schon besser angelegt.

Hatice war, anders als die meisten der Migrantinnen in dieser Zeit, nicht als Arbeiterin nach Deutschland gekommen. Als Lehrerin hatte sie sich für fünf Jahre verpflichtet, türkische Gastarbeiterkinder zu unterrichten. Aus diesem Grund galt für sie nicht der Anwerbestopp für «Gastarbeiter» aus Nicht-EG-Staaten, der von der Bundesrepublik im November 1973 verhängt worden war. Hatice genoss darüber hinaus den Vorteil eines doppelten Lehrergehalts, eines in- wie auch eines ausländischen. Darüber hinaus bedeutete ökonomische Unabhängigkeit für die junge Frau auch den endgültigen Ausbruch aus ihrer Ehe. Deutschland war ein Emanzipationsversprechen. Für Hatice. Aber auch für Ekin.

Ihr Bestimmungsort war Senden, ein Städtchen im Illertal, südlich von Neu-Ulm in Bayerisch-Schwaben, hart an der Grenze zu Baden-Württemberg. Hatices Lehrtätigkeit sollte die Kinder nicht etwa integrieren, sondern ihnen eine türkische Erziehung sowie eine vaterländische Gesinnung angedeihen und sie kein Deutsch lernen lassen. Daran war damals auch die Bundesrepublik interessiert, ihr lag an der irgendwann erfolgenden Rückkehr und nicht am dauerhaften Verbleib der sogenannten Gastarbeiterfamilien. Senden war unscheinbar, ein ehemaliges Dorf, angewachsen zu einer rein funktionalen Kleinstadt, im Laufe fortwährenden Strukturwandels hatte sich dort immer mehr Industrie angesiedelt. Ein gesichtsloser Ort, mehr Vorstadt als Stadt, für Ekin aber ein Wunder, fast eine Erlösung. Auch wenn es ihr schwergefallen war, die Türkei zu verlassen und in ein fremdes Land zu ziehen, war sie, kaum in Senden angekommen, augenblicklich froh, Istanbul hinter sich zu haben. Dort hatten Hatice und Ekin zwar viele schöne Dinge unternommen, waren ins Kino, in Konditoreien, am liebsten ins Kindertheater und anschließend Kebab essen gegangen. Dass Senden nicht schön war, fiel auch der kleinen Ekin auf. Aber der Ort war überschaubar, lag in einer grünen, hügeligen Landschaft, die Alpen waren nicht weit, und wenn es klar war, sah man die Silhouette der Berge am Horizont in bläulichem Dunst. Für Ekin sah es fast aus wie in Tokat, ein wenig ländlich, Natur und Landschaft in Sicht- und Reichweite. Zuhause.

Trotzdem quälte Mutter und Tochter oft das Heimweh. Wenn es ganz arg war, fuhren sie nach Ulm und spazierten am Donauufer entlang. Blickten sie auf das irgendwann nach Südosten fließende Gewässer, wussten sie, es würde mehr als zweitausend Kilometer entfernt in das Schwarze Meer münden, ein kleiner Teil dieses Wassers würde also irgendwann auch die Nordküste der Türkei umspülen. Das tröstete ebenso wie die Vorstellung, dass die Iller in die Donau münde und so eine direkte Verbindung von hier nach dort bestünde. Lange Zeit hing in Ekin Deligöz’ Büro das Gemälde eines lokalen Malers, es zeigte die Auen der Iller vor ihrer Mündung in die Donau in dramatisch düsteren Farben. Ihre Arbeitskollegen fanden das Bild deprimierend und mochten es nicht, aber Ekin Deligöz verstand es als Sinnbild ihrer doppelten Heimat. Irgendwann nahm sie das Gemälde von der Bürowand und hängte es in ihrem Arbeitszimmer zu Hause auf. Dort befindet es sich immer noch und erinnert an ihre zwei Welten, das anatolische Bergland und an Bayerisch-Schwaben, das doppelte Zuhause.

Immigranten geraten nach ihrer Ankunft im Aufnahmeland oft in eine Identitätskrise, die gemeistert werden muss; scheitern sie an dieser nicht leichten Aufgabe, droht Selbstisolierung. Gewohnte kulturelle Handlungs- und Deutungsmuster funktionieren in der neuen Umgebung nicht mehr, neue müssen erlernt werden. Hatice hatte bereits am Goethe-Institut in Istanbul einen Grundkurs in deutscher Sprache besucht, besaß also ein paar sprachliche Vorkenntnisse. Damit begnügte sie sich aber nicht, sondern belegte gleich nach ihrer Ankunft in Senden einen wöchentlichen Abendkurs zur Weiterbildung. Das erwies sich als schwierig, da sie ihre Tochter abends nicht allein lassen wollte und ihr auch die Sprachlehrerin nicht freigab, wenn Ekin krank war. Also brachte sich Hatice die deutsche Sprache kurzerhand selbst bei, absolvierte Sprachniveautests und war bald so fit, dass sie als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache offiziell anerkannt wurde.

Ihren unbedingten Willen zur Integration bewies Hatice durch einen weiteren bedeutenden Schritt. In Senden lebte zum damaligen Zeitpunkt bereits eine große Zahl türkischer «Gastarbeiter». Hatice traf kurz nach ihrer Ankunft aber die Entscheidung, nicht in ein für sie bequemes «türkisches Viertel» zu ziehen. Es gelang ihr, eine Wohnung in einem von mehreren der sogenannten Hochhäuser zu mieten, das Modernste, was die Kleinstadt in dieser Hinsicht damals zu bieten hatte. Die Miete war nicht billig, aber Hatice zögerte nicht lange. In den Häusern, nicht mehr als zehn Stockwerke hoch, wohnten sonst nur deutsche Mieter. Besser konnten es Hatice und Ekin nicht treffen. Als Ekin einmal krank war und die Mutter unterrichten musste, fragte sie die Nachbarn, ob diese nach Ekin sehen könnten. Die Familie, der Vater Arbeiter, die Mutter Hausfrau, hatte selbst zwei Töchter: Ulrike und Birgit, die von nun an Ekins Freundinnen waren, sie lernte von ihnen Deutsch, buk mit ihnen Weihnachtsplätzchen und sah gemeinsam mit ihnen, bester aller Deutschkurse, im Fernsehen «Die Sendung mit der Maus». Das war die ganz individuelle Willkommenskultur, eigentlich nichts weiter als eine damals selbstverständliche Nachbarschaftshilfe. Ekin hatte Glück, allerdings waren die Verhältnisse damals noch andere als heute. Die kulturelle Distanz zwischen Deutschen und Migranten war geringer, weil Türken damals nicht wie heute als Muslime betrachtet wurden, sondern als «Gastarbeiter», die zwar ihre Treffpunkte hatten, aber nur selten äußerliche Zeichen religiöser Zugehörigkeit trugen. Diese Säkularität kam auch Ekin und Hatice zugute.

Trotzdem stand die kleine Ekin noch für sehr lange Zeit buchstäblich auf der anderen Seite des Zaunes. In der türkischen Grundschule, die auch sie besuchte, versuchte der Lehrer alles, um das alevitische Mädchen zur rechtgläubigen Muslima zu erziehen. Die Gebete waren arabisch, Ekin verstand kein Wort, viel lieber hätte sie richtig Deutsch gelernt. Verführerisch bunt, so erschien ihr die Welt der deutschen Knaben und Mädchen, die in der benachbarten Grundschule unterrichtet wurden. Den Pausenhof benutzten die deutschen und türkischen Schüler gemeinsam, aber ein Zaun trennte sie voneinander. Auf die andere Seite zu wechseln, das war für die Türken zwar möglich, aber nur mit sehr guten Zensuren und sehr guten Deutschkenntnissen. Ekin schaffte es, unter vielen Tränen überwand sie die Bildungsgrenze zwischen Türken und Deutschen, die auch eine ethnische Grenze war. In der dritten Klasse kam sie in die deutsche Grundschule. Mit diesem Schritt hatte sie jedoch nach Ansicht der türkischen Schule die Seiten gewechselt und war in eine Welt gelangt, die ihr besser fremd geblieben wäre. Von ihren früheren türkischen Klassenkameraden, deren Eltern und Lehrern wurde Ekin von nun an gemieden, man betrachtete sie als Vaterlandsverräterin.

Es war nicht leicht, sich in der ersehnten bunten Welt der Deutschen einen Platz zu erobern. Mit ihren deutschen Mitschülerinnen kam sie gut aus, und die eine oder andere betrachtete sie als Freundin. Nie wurde sie jedoch zum Kindergeburtstag eingeladen, eine demütigende Ausgrenzung, die sich tief eingrub. Wegen ihrer guten Zensuren konnte Ekin nach der vierten Grundschulklasse auf das Gymnasium in das benachbarte Weißenhorn wechseln. Das traditionelle Credo aller integrationswilligen Emigranten – du musst fleißig und in allem besser sein als die anderen, damit du anerkannt wirst und Erfolg hast – beherzigte auch Ekin. Die Mutter stand ihr bei, aber es war schwer für das Mädchen, das immer noch nicht fehlerfrei Deutsch sprechen konnte, jetzt auch noch Englisch und Französisch lernen zu müssen. Auch sozial anerkannt zu werden, war schwer. Das Einkommen der Mutter ermöglichte zwar ein im Großen und Ganzen sorgenfreies Leben, Engpässe gab es dennoch. Als Ekins Gymnasialklasse zum üblichen Skikurs ins Kleinwalsertal nach Österreich fuhr, fehlte das Geld, um die passende Ausrüstung zu kaufen. Ein Lehrer schenkte Ekin die Skier eines seiner Kinder, das sie nicht mehr brauchte; irgendwie konnte sie am Ende dann mitfahren. Solche Gaben waren hilfreich, stigmatisierten aber auch. Die meisten Eltern von Ekins Mitschülern besaßen ein eigenes Haus mit Garten und mindestens ein Auto. Weißenhorn war das Gegenstück zum Arbeiterort Senden, eine alte Stadt mit hübschen, historischen Gebäuden, bewohnt vom wohlhabenden Mittelstand, der sich auch schöne Urlaubsreisen leisten konnte.

Davon konnte bei Hatice und Ekin keine Rede sein, Spanien blieb nach wie vor ein Wunschtraum. Als die Schülerfahrkarte nach Weißenhorn mit Beginn ihres sechzehnten Lebensjahres nicht mehr kostenlos war, überlegte Ekin, wie sie auf sparsame Weise zur Schule käme. Sie kaufte sich ein Rennrad, auf das sie lange gespart hatte, und bewältigte auf diesem täglich zwei Mal die zehn Kilometer zwischen Weißenhorn und Senden hügelauf, hügelab. Keine lange Strecke, aber bei Regen, Wind und Kälte auch kein Vergnügen. Ekin genoss es dennoch, sie fühlte sich frei und überlistete sich mit kleinen Tricks, etwa mit der Vorstellung: «Noch hundert Mal treten, dann bist du da und da, noch zweihundert Mal treten, und du bist schon fast angekommen.» Hier zeigte sich schon vieles, was sie später ausmachen sollte: Ein türkisch-alevitisches Mädchen, das im Ringen um soziale Anerkennung und sozialen Aufstieg keine Mühen scheute, strampelte und strampelte, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie war eines der ersten türkischen Mädchen, das es in Bayern geschafft hatte, an einem Gymnasium angenommen zu werden. Außer ihr gab es noch zwei türkische Jungs, nur einer von beiden legte am Ende das Abitur ab. Wie auch Ekin.

Auf dem Weg dorthin quälte sie oft ein Gedanke: «Was würde geschehen, wenn mich nicht nur die eine Welt, die türkische, fallenlässt, sondern auch die andere, die deutsche?» Es war durchaus nicht so, dass sie in der Schule von Erfolg zu Erfolg eilte, sie war keine Überfliegerin. Die achte Klasse des Gymnasiums musste sie wiederholen, es war alles viel zu viel geworden, die neuen Sprachen, der Lernstoff überhaupt, der Kampf um soziale Anerkennung, dazu die Pubertät mit all ihren Problemen und Konflikten. Sie musste lernen, Misserfolge hinzunehmen, nicht zu resignieren und nach einem Rückschlag wieder aufzustehen und weiterzukämpfen. Neben der Schule zu jobben, gehörte zu ihrem Alltag. Die Mutter konnte ihr kein Taschengeld geben, denn ein Gutteil von dem, was sie verdiente, floss an Verwandte in die Türkei. Ekin arbeitete deshalb als Küchenhilfe, sortierte Müll, gab Nachhilfeunterricht, übersetzte, wenn türkische Arbeitsemigranten kein Amtsdeutsch verstanden, füllte mit ihnen Formulare aus oder half, wenn türkische Familien von Handelsvertretern an der Haustüre zu ungewollten Abonnements überredet worden waren und Verträge gekündigt werden mussten. Schon als Gymnasiastin lernte sie das Bürgerliche Gesetzbuch als probates Mittel schätzen, mit dem man sich zur Wehr setzen konnte. All das war eine gute Vorbereitung für ihr späteres Studium als Verwaltungswissenschaftlerin – und für ihre Laufbahn als Parlamentarierin.