Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman - Walter Laufenberg - E-Book

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman E-Book

Walter Laufenberg

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Beschreibung

Ein amüsant ironisch - auch selbstironisch - erzählter Gesellschaftsroman voll informativer Überraschungen. Im Zentrum steht der von allen nur Happy genannte Reiseleiter einer deutschen Studiengruppe auf Rundfahrt in China. Dieser überlegene Typ macht wirklich happy und präsentiert durch seine Erinnerungen an andere große Reisen den Lesern eine Welt voller Abenteuer und Liebeleien. Der 1935 geborene Walter Laufenberg ist ein deutscher Schriftsteller und Blogger. Als studierter Jurist und Volkswirtschaftler sowie promovierter Sozialwissenschaftler hat er in unterschiedlichen Berufen gearbeitet, u.a. als Verlagslektor, Filmemacher, Fernsehredakteur und Werbeleiter. Er hat eine Vielzahl an Büchern veröffentlicht, darunter "Hitlers Double", "Tage des Terrors" und "So schön war die Insel", alle bei Saga Egmont erhältlich.

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Walter Laufenberg

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman

 

Saga

Mensch in Menschenmassen - Ein Chinaroman Odysseus' DilemmaCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2001, 2020 Walter Laufenberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726749571

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Nur Reisen ist Leben,

wie umgekehrt das Leben Reisen ist.

(Jean Paul in: Das Kampaner Tal, 502. Station)

 

Es tut mir lang‘ schon weh,

daß ich dich in der Gesellschaft seh‘.

(Margarete in Goethe, Faust I)

1.

Ein kehliges Grunzen, ein lauter werdendes Brummen. So stand er da, der Jumbo. Unwillig, unentschlossen. Und wie gegen alle Welt anmurrend. Stand da in einem heftigen Vibrieren. Als ob alle vierhundertsechzig Menschen an Bord diesen einen Gedanken zitterten: Das kann nicht gutgehen.

Ein Zittern, das immer wieder neu anflutete und gleich darauf abebbte. An und ab, nervenzerrend, so schüttelte es den Jet. Auf der Startbahn des Flughafens von Hongkong. Abflugbereit. Aber im rabiaten Griff des Taifuns.

Warten auf den Ratschluß der Fluggötter in Cockpit und Tower. Warten. Was bleibt einem anderes übrig. Und all seine Zuversicht, all seine Hoffnung auf die setzen, die über Sein oder Nichtsein entscheiden. Die unbekannten Olympischen, weder mit Gebeten ansprechbar noch durch Opfer günstig zu stimmen. Nur mit geduldigem Warten zu verehren.

Es ist Freitag, der 20. August, und es geht mal wieder um beinahe nichts und doch um Leben oder Tod - das ist so menschlich. Wird die Starterlaubnis erteilt oder müssen wir wieder aussteigen? Das ist die Frage. Vielleicht doch besser, sich wieder hineinverrenken zu müssen in die Regenhäute, die von der Fluggesellschaft verteilt worden waren. Damit man nicht auf den paar Metern die Gangway hinauf völlig durchnäßt würde. Und dann wieder herumzustehen, wie sie vorher herumgestanden hatten, im Warteraum, einige Hundertschaften Heimkehrer, alle eingehüllt in den Regenschutz der Cathay Pacific, transparent und knöchellang und mit Kapuze. So gleichgemacht wie provisorisch verpackte Leichen.

Penni hatte wieder bei dem mit dem heruntergezogenen Schnäuzer gestanden. Mit diesem Hufeisenbärtchen. Soll wohl als Glückssymbol dienen. Hilft ihm jetzt aber auch nicht mehr. Gibt seinem Gesicht nur den blasierten Ausdruck der High Snobiety. Penni hat es also auch in dieser Situation nicht über sich gebracht, wieder an meiner Seite zu sein. Keine Versöhnung, kein Wort, das eine Brücke baut, nicht wenigstens ein Blick zu mir herüber, auch nicht im Angesicht des ... Nein, nein, ich will es nicht einmal denken. Jedenfalls jammerschade um sie. Eine Frau wie Penni, so einmalig, neben ihr sind alle anderen, die ich gehabt habe, nur als Komparserie aufgetreten. Um sie desto großartiger dastehen zu lassen.

Kaum in der Maschine, hatten die Stewardessen ihnen geholfen, sich das Kunststoffzeug hastig vom Körper zu reißen. Und hatten sie weitergeschoben. "Schnell durchgehen bitte, Platz machen für die Nächsten!"

Aber jetzt zurück in die Wartehalle? Noch einmal diese umständliche Prozedur? Noch länger auf den Heimflug warten?

Bedeutete jede Minute Verzögerung doch, daß das Auge des Taifuns näherkam. Starttermin für den Flug CX 289 war laut Timetable 22 Uhr 40. Zwischen 23.00 und 24.00 Uhr, so der Wetterbericht im Hongkonger Fernsehen, wird der Taifun "Tasha", von Südosten kommend, die Stadt erreichen. Und nun schon eine halbe Stunde über der Zeit und offenbar immer noch keine Starterlaubnis. Nur dieses Zitterrütteln.

Da endlich tobten die Triebwerke los. Daß kein Wort mehr zu verstehen war, kein Ton mehr von der Beruhigungsmusik aus den Lautsprechern. Und dieses Vibrieren plötzlich noch viel unangenehmer. Ein heftiges Zittern, dessen man sich doch nicht zu schämen brauchte. Weil es in allen war.

Also Abflug. Im Taifun. Sie riskieren es. Sie riskieren unser Leben. Wahnsinn! Die Maschine beschleunigte unheimlich schnell. Und sie hob ab, stieß schräg in den dunklen Himmel. Selbstbewußt und zielstrebig, allem Rütteln und Schaukeln zum Trotz. Was ihn ein wenig ruhiger werden ließ. Er konnte ja nicht ahnen, wo sie ihn hintragen würde.

Auf dem Bildschirm erschien das Flugzeug, nach halblinks oben gerichtet, und der Pfeil, der den Sturm anzeigte, kam von halbrechts unten. Windgeschwindigkeit 110 km/h, stand da. Aber Rückenwind. Also doch noch einigermaßen pünktlich heimkommen. Wenn nicht der Taifun uns aus dem Himmel schüttelt, wie wir früher die Äpfel aus dem Straßenbaum geschüttelt haben. Wie haben wir sie runterprasseln lassen. Weit verstreut. Und zermatscht. Was war uns schon ein Apfel? Was sind wir dem Sturm? Plötzlich - wie wertlos all die Reisemitbringsel, die vielen Filme, alles Neue, das wir gesehen, das Unerhörte, das wir gehört haben. Souvenirs, Souvenirs, der schöne Schaum der Ewigkeit von Flut und Ebbe, neuer Flut, neuer Ebbe. Und sogar ein nie zuvor gedachter Gedanke: wertlos. Wie das bißchen Veränderung des Weltbilds, dieses stolzneue Bewußtsein. Wie belanglos alles, wenn die Formen zerstört sind.

Und wenn das nun das Ende sein sollte – okay. Was habe ich denn noch zu verlieren? Ich, der ich alles falschgemacht habe. Wenn der Taifun uns zerschmettert, erspart mir das, selbst Hand an mich zu legen.

 

Schon bei der Ankunft der Gruppe aus China in Hongkong am Tag zuvor, nach der schikanös-langwierigen Einreisekontrolle im Bahnhof, hatte der örtliche Reiseleiter vom Taifun gesprochen: Windstärke 3. So stand es dann auch im Hotel auf dem Schild mit Kartenausschnitt und einem dicken roten Pfeil, der die Marschrichtung von "Tasha" anzeigte. Heute am späten Nachmittag noch waren einige aus der Gruppe mit der letzten Fähre gefahren. Kein anderes Schiff mehr unterwegs auf dem wildgewordenen Wasserarm zwischen Kowloon und der Viktoria-Insel. Auf dem hochgehenden Geschäume nur ein Polizeiboot, das mit seinen Lautsprechern gegen den Sturm anbrüllte: "Sofort die Strandpromenade verlassen!" Damit es die Leute nicht ins Meer weht. Einzelne Furchtlose gingen trotzig weiter, in so krasser Schräglage, wie sie ohne den Wind niemals möglich wäre. Was sie belustigte, sie verleitete, mit dem Sturm zu spielen. Und er selbst war einer von diesen Unerschrockenen. War ihm doch inzwischen alles egal. Immer wieder plötzliche Regenschüttungen, gegen die es keinen Schutz gab. In den Papierkörben zerfetzte Regenschirme. Die Wolkenkratzer am anderen Ufer verschwanden minutenlang in schwertriefenden Wolken wie unter Tarnkappen und leuchteten gleich darauf schweißglänzend wieder auf, so strahlend, als atmeten sie einmal kräftig durch: Nochmal gutgegangen. Das hatten seine Leute ja alles noch als recht amüsant empfunden.

Doch die Hotels, Restaurants und Läden waren plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Eine Stadt wie im Krieg. Überall schwere Eisenrollos herabgelassen. Und wo es keine gab, wo Fensterscheiben ungeschützt dem Unwetter ausgesetzt waren, da hatte man sie kreuzweise mit roten Streifen beklebt. Wie nach Moses und Aarons Weisung mit einem blutigen Kreuz dem rächenden Gott signalisiert: Dieses Haus verschone, denn hier wohnt einer aus deinem auserwählten Volk. Der Schiffsingenieur hatte es besser gewußt: "So beklebt können die Scheiben nicht so leicht vom Sturm eingedrückt werden. Das macht einige Kilopond Unterschied." Ein Livrierter hatte vor dem verrammelten Haupteingang des New World Hotel gestanden und sie auf einem Schleichweg durch eine stillgelegte Ladenpassage hintenherum hineingeführt. Da hatte die Tafel in der Lobby bereits Windstärke 8 angezeigt. Der rote Pfeil war der Stadt gefährlich nahegerückt. Und keine Chance, dem Unheil zu entgehen. Die Koffer waren unterwegs zum Flughafen, die Zimmer längst von neuen Gästen bezogen.

Happy zeigte sich von all dem nicht berührt. Auch "Tasha" brachte es nicht fertig, ihn aus der Ruhe zu bringen. Aber diese Ruhe war nicht seine gewöhnliche Gelassenheit, seine Allzeitbereitschaft zu Witzeleien. Einige aus der Gruppe sahen es genauer: Das war eher Resignation. Wenn ich erst wieder zuhause bin, überlegte Happy, ja, wenn überhaupt, dann werde ich mich jedenfalls nur noch mit Pflanzen umgeben. Sträucher und Blumen als mein Gegenüber. Daß sie mich mit ihrer unendlichen Geduld anstecken. Diese Gleichgültigkeit des Grünzeugs gegenüber den Menschen, dieses auf sich selbst Konzentriertsein. Beneidenswert. Wie hatte der pensionierte Richter ihm am Nachmittag gesagt: "Sie sehen aus, als wären Sie des Handelns müde, als hätten Sie nur noch Lust zum Denken." Und hatte dann noch erklärt: "Das ist ein Zitat von André Gide. Muß für Sie als Literaturwissenschaftler ja wohl bekannt sein."

Müde ja, und nicht nur das, hatte er gedacht - und nicht gesagt. Er hatte genug von den Leuten. Vier Wochen diese Menschen um sich, Tag und Nacht, das war mehr als genug, war unerträglich. Dabei sind sie nicht schlimmer gewesen als die in anderen Gruppen, mußte er sich zugeben. Die meisten wenigstens. Aber mit jeder neuen Gruppe das gleiche: Immer wieder neue Menschen und doch kaum mal was Neues. Immer nur Leute. Und gegen Ende der Reise dann dieses Gefühl, man könne es nicht mehr ertragen. Weil aller Reiz des Neuen dahinschmilzt wie Eis in der Sonne. Was da übrigbleibt, das ist die immer gleiche Unansehnlichkeit. Die meisten schonungslos alt und häßlich. Daß sie sich nicht zuhause verstecken. Ab dreißig ist man für sein Gesicht verantwortlich, sagte er sich manches Mal schaudernd. Anfangs, als er noch neugierig auf Frauen gewesen war, als er nur immer die Gelegenheit und dann den Punkt gesucht hatte, der sie tanzen ließ, als sein frischaufgedrehtes Spielzeug, damals hatten ihn die zerstörten Gesichter nicht gestört. Überhaupt nicht gesehen. Erst seit wenigen Jahren war das Dilemma für ihn sichtbar - und seitdem unübersehbar: Die schmalkniffigen Münder, die zerfingerten Nasen, die lichtlosen Augen. Und da meinten diese Frauen immer noch, in den einschlägigen Magazinen einschlägige Tips finden zu können gegen kleine Schönheitsfehlerchen: Gegen lose Haut unterm Kinn und Fältchen um die Augen und rote Ohren und für feineren Schwung der Augenbrauen, zur Kräftigung der Fingernägel. Einfach lachhaft. Und die Dreistigkeit, sich einem jungen Menschen, einem Mann in den besten Jahren so zu präsentieren. Wenn sie wenigstens Eleganz gezeigt hätten. Aber nein. Oder wenigstens die Schönwürde des Alters. Aber auch das nicht. Nur immer diese untauglichen Versuche, in den Jungbrunnen zu springen. Und diese flachgehende Neugier und gelangweilte Konsumlust. Und trotz alledem der unstillbare Wunsch nach einem Aufflackern in den Augen des Reiseleiters. Und dann dieses Sonder-Angebot von gestern nachmittag, das hatte ihn in einen brunnentiefen Zustand der Verzweiflung fallen lassen.

2.

Happy war, wie auf anderen Reisen so auch auf dieser, innerlich mehr als einmal aus der Rolle gefallen. Doch scheinbar blieb er immer noch Herr der Situation, wenigstens scheinbar der allzeit Überlegene. So, wie er seiner China-Gruppe im ersten Augenblick erschienen war. Am ersten Tag, unmittelbar vor dem Start in Frankfurt: Ein selbstsicherer Mann, groß, dunkelhaarig und vollbärtig, mit langen Schritten auf sie zugehend. Mit schnellen Blicken die passenden Kofferschilder erspähend. Um seine Gruppe beiseite zu bitten, sich ihr mit einer kleinen Ansprache vorzustellen: "Ich begrüße Sie sehr herzlich, auch im Namen meiner Gesellschaft und ganz Chinas. Ich bin happy. Und so heiße ich als Reiseleiter auch. Nennen Sie mich also einfach Happy und um Gottes willen nicht Erich Karl-Alfred Herckenrath, wie es in Ihren Unterlagen steht. Und auch nicht Herr Happy. Ein Reiseleiter ist kein Herr. Er muß nur immer Herr der Lage sein. Ja, also, ich bin Ihr Reiseleiter. Wir werden jetzt vier Wochen lang gemeinsam durch China reisen. Ach, was heißt reisen. Wir werden es erobern, werden es beäugen, erleben und kritisch durchleuchten. Und Sie können happy sein, daß Sie mit mir unterwegs sind, denn bei mir gibt es immer gutes Fotowetter und gutes Essen und gute Betten und so fort, also alles, was man fürs Happysein braucht." An der Stelle hatte er - wie immer – die erste Lachpause gemacht.

"Ja, im Ernst, Sie können froh sein, daß Sie nicht an so einen Langweiler als Reiseleiter geraten sind, der sich nur für die Kunstgeschichte interessiert oder nur für die Ornithologie oder - noch schlimmer - nur für die Geologie. Ich sage es Ihnen gleich, damit Sie sich nicht damit aufhalten müssen, mich vorsichtig auszufragen: Ich habe ein paar Semesterchen Wirtschaftswissenschaft studiert, aber keinen Gefallen dran gefunden. Da habe ich nur gelernt, daß der Tourismus weltweit die größte Wachstumsindustrie ist. Daß sich also alles um Sie, die Reisenden, dreht. Dann habe ich Literaturwissenschaft und Geschichte studiert, meinen M.A. gemacht und bin jetzt an meiner Doktorarbeit, und das schon seit vielen Jahren. Und wohl auch noch für den Rest meines Lebens, weil ich mir zwischendurch als Reiseleiter meinen Unterhalt verdienen muß. So, jetzt wissen Sie Bescheid über mich, und wir können uns um China kümmern."

Und bei einem schnellen Blick über den Kofferpulk. "Da und da fehlen noch die Kofferschilder unserer Gesellschaft. Wenn Sie die bitte noch anbringen vor dem Einchecken. Mein Unternehmen legt allergrößten Wert darauf. Fragen Sie mich nicht, warum."

"Ach Gott, das fängt ja gut an", kriegte er prompt von einer Dame zu hören. "Die müssen wir miteingepackt haben." Da konnte Happy sich gleich das erste Mal als Helfer in der Not erweisen: Zwei Ersatzpappen aus seiner Reisetasche.

Und konnte dann seine Vorstellung, die vielerprobte Ouvertüre zuendeführen: "Ach ja, das gleich auch noch: Das Thema meiner Dissertation lautet: ,Homers Odyssee als zeitunabhängig gültige Parabel der Identitätssuche des Menschen.‘ Sie sehen, das hat mit uns hier und heute nichts zu tun, braucht uns also nicht zu kümmern. Mit meiner Literaturwissenschaft können wir in China überhaupt nichts anfangen. Ihr Reiseleiter ist also kein Fachidiot, er ist eher ein Generalist. Von mir werden Sie deshalb ganz anderes über China hören als von jedem anderen. Über seine lange Geschichte, seine hohe Kultur, seine desolaten Verhältnisse, die aktuellen Schwierigkeiten, die Öffnung zum Westen hin, die Kapriolen der Wirtschaftspolitik, die Menschenrechtsfrage und so fort. Aber wohlgemerkt, ich erzähle Ihnen nichts, was Sie nicht betrifft. Bei mir sollen Sie nicht bloß das Objekt der Tourismusindustrie sein, sondern sein Subjekt. Wenn Sie nach dieser Reise ins Unbekannte Ihren Heimatort wiedersehen, dann werden Sie es erst so richtig zu schätzen wissen, wie schön, wie sauber, wie ordentlich daheim alles ist. Aber auch wie belanglos. Was Ihnen nämlich zuhause fehlt, das ist das Erlebnis. Und dieses Erlebnis, das werde ich Ihnen in den nächsten Wochen bieten."

"Schön."

"Sehr gut."

"Angenehm." Schüchterne Ansätze von Applaus.

"Aber, - sehen Sie mich bitte nicht als Alleinunterhalter an. Ich bin nicht dazu da, Sie zu unterhalten. Das wäre zu simpel. Sie müssen schon mitmachen. Was nicht schwer ist. Stellen Sie sich vor, so eine Reise ist ein Buch, das Sie lesen. Sie sind ja Menschen, die noch wissen, was das ist: ein Buch, so darf ich unterstellen. Sie kennen dieses extrem interaktive Erlebnis des Bücherlesens. Wir werden China wie ein Buch durchgehen, werden Seite für Seite dieses geheimnisvollen Landes aufschlagen, mit wachen Augen lesen und in uns aufnehmen. Sie brauchen sich nur für alles Neue, alles Überraschende offenzuhalten, vorurteilslos und einfach staunend. Wir machen gemeinsam den Ausstieg aus Ihrem Alltag. Sie sind jetzt Aussteiger auf Zeit, Artisten, die allerdings mit Netz und doppeltem Boden arbeiten. Ja, zu Ihrer Sicherheit. Da hat unsere Organisation vorgesorgt, sie stellt uns zu allem Überfluß auch noch überall einheimische Führer zur Verfügung. Dennoch sind Sie als Reisende richtige Artisten. Wenn Sie richtig mitmachen. Und das sollten Sie sich vornehmen. Denn ich will, daß Sie genau wie ich sind, nämlich happy. In diesem Sinne auf ins Land der roten Mandarine oder ins Reich der Mitte - ganz wie Sie wollen! Wir checken jetzt ein. Danach gehen wir sofort durch in den Warteraum. Nach nur neun Stunden Non-Stop-Flug sind wir in Peking oder - wie der Kenner sagt - in Beijing. Also denn: Yil— sh—nfeng - das heißt: guten Wind auf allen Wegen!"

3.

Das scheint Prinzip zu sein: Neun Stunden Flug haben im Fluge zu vergehen. Fast könnte man den alten Ausdruck deshalb von der Fliegerei herzuleiten versucht sein. Es wäre das ja nicht das erste Mal, daß eine dichterische Formel zur platten Realität wird. Happy dachte an die Reisenden, die auch den Flug als solchen erleben wollten. Er wußte, das soll nicht sein. Dafür wurde nicht gezahlt, sondern bloß für den Transport. Auch wenn wir nur um des Reisens willen reisen, ist doch niemals der Weg das Ziel. Der Flieger muß immer schneller fliegen, der Zug immer mehr rapido sein. Und pünktlich starten und pünktlich ankommen müssen sie. Statt des Flugerlebnisses die totale Ablenkung: Erst Zeitungen, Zeitschriften, dann Getränke, Kekse, danach schon bald richtiges Essen und Trinken. Und immer mal wieder Durchsagen, immer mal wieder Blinkhinweise, Klangsignale. Und die Stewardessen mit ihren Wägelchen, wie sie sich durch die engen Gänge drängen, da an eine Schulter stoßen, hier einen Fuß anfahren. Kopfhörerverteilung, Kopfhöreraufsetzen, Kopfhörergedröhne, Senderwahl, Lautstärkewahl, ungeschicktes Herumspielen mit den Fingern im Klappaschenbecher. Und an der Kippvorrichtung des Sessels. Schon gleich nach dem Start das Ausfahren des Projektors, der Werbefilm der Fluggesellschaft. Ein chinoiser Olympiawerbefilm. Und endlich der Spielfilm.

Endlich? Wieso das? Es gab kein Ende. Trotz Weggucken, trotz Weglegen des Kopfhörers, trotz aller Bereitschaft einzuschlafen. Erfolgloses Bemühen. Nur ein zeitvergessenes Dösen. Und schon wieder Wägelchen in den Gängen. Sie schieben die vor sich her, die austreten müssen oder sich einfach nur die Beine vertreten wollen. Dann die Landung. Und damit neun Stunden älter. Jeder und jede. Neun Stunden, die keine Spur hinterlassen haben, nicht in uns und nicht auf dem langen Weg um die halbe Erdkugel. Der Flug vergangen und wir so wie er. Und die Tageszeitung, ungelesen, längst auf dem Boden, unter die untätig unruhigen Füße geraten. Zeitungen vergilben im Fluge doppelt schnell: in der Zeit- wie in der Raumdimension total deplaziert. Wer immer noch glaubt, mit dem Fliegen Zeit zu gewinnen, dem ist nicht zu helfen. Flugzeit ist verlorene Zeit. Und wer nicht versteht, die Lücke, die der Flugplan aufreißt, mit Träumen zu füllen, mit schönen Erinnerungen, der muß mit dieser Leerstelle in seinem Leben weiterleben.

Während des ganzen Fluges kein Wort mit Penni gesprochen, auch unmittelbar vor dem Start nicht, außer der üblichen freundlichen Begrüßung jedes einzelnen Gastes. In neun Stunden kaum mal ein heimlicher Blick zu ihr zurück - sie saß zwei Reihen hinter ihm -, von ihr kaum merklich beantwortet: übervorsichtig.

Als Happy seine Armbanduhr auf die vom Flugkapitän zusammen mit guten Wünschen durchgegebene Ortszeit von Peking umstellen wollte, hatte er die Krone lose zwischen den Fingerspitzen. Meine Uhr macht nicht mit bei diesem Zeitbetrug, na gut. Es geht wohl auch ohne. - Aber, wenn das nur kein böses Omen ist, überlegte er, als er die Krone in sein Portemonnaie steckte. Wenn Zeus' Vater Kronos sich so deutlich verärgert zeigt, dann ist von der nächsten Zeit nichts Gutes zu erwarten.

Über Peking Wolken. Nichts zu sehen. Unter den Wolken gleich der Flugplatz. Und auf dem Flugplatz Smog. Und dann auch bei der Fahrt in die Stadt ringsum nur grauer Dunst und Staub. Da waren die Taxis - Personenwagen und Kleinbusse - eine wohltuende Unterbrechung fürs Auge. „Quittejelb und einfach überall“, wunderte sich eine seiner Reisenden. Das klang unüberhörbar nach Köln. Noch gar nicht lange gebe es die Taxis, aber nun seien bereits rund fünfundsechzigtausend auf den Straßen Pekings unterwegs, erklärte der örtliche Reiseführer, ein Chinese, in bestem Deutsch. Sein Name sei Li, so hatte er sich vorgestellt. Der Einsatz dieser örtlichen Führer, so hatte Happy seine Leute noch vor Fahrtbeginn informiert, sei in China überall Pflicht, hier viel strenger gehandhabt als in anderen Ländern. Mit einem deutlich hörbaren Leider in der Stimme. Die Freude über die Zwangspausen ist meine Sache, hatte er sich gesagt. So komme ich wenigstens mal dazu, einen Gedanken zu fassen.

Tust du das sonst nicht?

Doch, schon, aber man verausgabt sich schnell, wenn man dauernd reden muß. Hin und wieder die Dinge einfach so für sich sprechen zu lassen - und auch mal einen anderen, das ist ein ganz anderes Erlebnis.

 

Soll denn ich das Erlebnis haben oder nicht eigentlich die Gruppe?

Zugegeben, ich bin dazu da, diesen Touristenhorden was zu bieten, aber letztlich tue ich doch alles, was ich tue, für mich. Damit müssen die Leutchen sich halt abfinden. Und damit basta!

"Die meisten sind staatlich, ja, nur wenige sind privat", war Herr Li immer noch beim selben Thema. "Aber alles perfekt organisiert. Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie: Auf den Seitenfenstern steht jeweils der Kilometerpreis: 1 Yuan oder aber 1,6 Yuan, das ist dann mit Klimatisierung, oder sogar 2 Yuan in einem Fahrzeug der Luxusklasse. Ein Yuan, das ist für Sie nicht viel Geld, umgerechnet im Moment nur etwa 30 Pfennige. Aber für einen Chinesen ist das viel Geld, mindestens so viel, wie für Sie eine Mark ist."

Genug Beispiele vor und neben und hinter ihrem Bus. Fünf, sechs und sieben Taxen hintereinander. Gelb die beherrschende Farbe im Straßenbild, weil außer Taxen und Lastwagen zwischen den Unmengen von Radfahrern kaum andere Fahrzeuge zu sehen sind. "Die Pekinger", so der chinesische Führer, "sagen Sie übrigens bitte nie die Pekinesen." Auch er mit gekonnter Lachpausentechnik. "Die Pekinger sprechen bei dieser Taxiflut von der gelben Gefahr. Schon mal gehört, nicht wahr? Für die Pekinger ist das die gelbe Gefahr, weil die Taxifahrer meist viel zu viele Stunden hinter dem Steuer sitzen und deshalb viele Unfälle machen." Das kam an. So werden historische dumme Sprüche aktuell - und gleichzeitig entschärft, resümierte Happy für sich.

Gleich darauf eine andere Farbe: ein sattes Blau. Das Blau, die Farbe des Himmels, wenn auch nicht mehr über dem heutigen Peking, mußte der Führer zugeben. "Tiefblau wie der Himmel von früher sind die Ziegel auf den Dächern des Himmelstempels", erklärte er, was jeder sehen konnte. Die erste Besichtigung schon gleich nach der Ankunft in Peking. Aha, um dem Personal im Hotel Zeit zu lassen, die Zimmer zu machen, verstand Happy. Der Führer begründete diesen Schnellstart mit der Überfülle an Sehenswürdigkeiten, die Beijing zu bieten habe.

Die unausgeschlafenen Touristen sahen sich überrascht an und um. Noch kannte man sich nicht, da war man schon im Zentrum des alten kaiserlichen China, da erfuhr man, daß das Gelb dem Kaiser vorbehalten war, weswegen die glasierten Dachziegel hier nicht gelb, sondern blau sein mußten. Gab es denn keine anderen Farben? Aber man könnte doch nicht so eine dumme Frage stellen, wo man sich noch so fremd war. Nur die Namen der anderen kannte man. Die standen ja auf der Teilnehmerliste. Aber welche Namen zu welchen Leuten gehörten, das war die Frage. Ein Puzzlespiel. Da die Familie mit den beiden Kindern, klar. Und das da sind die beiden alleinreisenden Herren. Das ist die eine der beiden alleinreisenden Damen, das die andere, viel jünger. Doch die anderen, meist Paare, blieben austauschbar. Verschwanden jetzt auch schon in der Menge von Chinesen, die dem Himmelstempel einen Besuch abstatteten. Nicht allzu ehrfürchtig. Ein wunderliches Gedränge und ein sonderbares Gebrüll.

Von Sehenswürdigkeiten hatte der örtliche Führer gesprochen, doch die eigentliche Attraktion wurden die chinesischen Ausflügler. Da, in der Mitte dieses großen runden Podiums aus weißem Marmor, des Himmelsaltars, auf dem man gerade stehe, erklärte der Führer, sei ein einzelner Stein, der bei der Zahlenmystik, die hier alles bestimmt habe, übriggeblieben sei. Wenn man auf diesem Stein stehe und etwas rufe, dann werde das von allen Seiten von der Balustrade zurückgeworfen. Die Chinesen wissen das, sinnierte Happy. Denn da schiebt sich jeder zur Mitte vor, dicht umdrängt von anderen Besuchern. Und jeder, der meint, in der Mitte zu stehen, brüllt was fürs Echo, das sich vor lauter Gebrüll die Ohren zuhält. Ein Aha-Erlebnis, das so eigentlich nicht vorgesehen war: Daß auf den einzelnen Stein ein einzelner Mensch gehört, mit einem einzelnen Ausruf, das ist in diesem Ameisenstaat offenbar nicht vorstellbar.

Da erlaubst du es dir als westlicher Besucher, stolz auf deinen Individualismus, den Kopf zu schütteln?

Ja, selbstverständlich.

Siehst du, das ist genauso sinnlos.

Irgendwo muß ein Stand sein, an dem man seine Kinder nicht vorbeizerren kann, ohne ihnen eine von diesen Entenhandpuppen zu kaufen, die einen lauten Quietschton machen und dabei die Zunge lang herausstrecken. Ente, daheim im Chinarestaurant immer das beste Gericht. Hier das beste Geschäft: Pro Qietschente eine Familie auf dem Gelände des Himmelstempels.

Weiter in den nächsten Hof, wo sich die Menge an die runde Umwallung drückte wie an die Klagemauer zu Jerusalem. Jeder sprach halblaut vor sich hin und genoß das Wissen, daß man sein Gerede noch an der Mauer gegenüber verstehen kann. Verstehen könnte, wenn es nicht so laut wäre in diesem Hof. Ein gesichertes Wissen, überlegte Happy, das offenbar sowenig auf eine Bestätigung durch Erfahrung angewiesen ist wie das Gerede selbst auf einen Zuhörer. Da darf man sich doch wohl die Frage stellen: Fehlt den Leuten hier der nötige Abstand zu den Dingen? Oder haben sie im Gegenteil schon zuviel Abstand genommen? Und fand für die zweite Antwort gleich die Bestätigung: Bei den Schreinen mit den Namen ihrer frühen Kaiser galt zwar ein striktes Fotografierverbot - als Zeichen der Hochachtung. Doch die Nachfahren der braven Untertanen standen da und schleckten ihr Eis, hatten Baseballkappen auf, manche auch schon Turnschuhe an den Füßen und redeten und knipsten und blitzten wild durcheinander. Und die lebensgroßen Puppenmandarine, die dort als Wächter standen, sahen ausdrucksvoll aufs Volk und wie durch diese ihnen fremden Menschen hindurch. Nur der große Ventilator in der Ecke schüttelte stellvertretend für die steifen Mandarine den Kopf, unermüdlich.

Der örtliche Führer bemühte sich, die Gruppe vor der Halle der Ernteopfer zusammenzutreiben. Um sie wortreich in frühere Jahrhunderte zu versetzen. Sie erleben zu lassen, wie der Kaiser zweimal im Jahr von seinem Palast, der sogenannten Verbotenen Stadt, in farbenprächtiger Prozession, begleitet von rund tausend Hofleuten - Ministern, Beamten und Eunuchen - zum Himmelstempel zog, um dort die Opferzeremonien durchzuführen. Ein Ritus, der für die Bitte um eine gute Ernte wie für den Erntedank vorgeschrieben war. Auf diese wichtige Amtshandlung bereitete der Kaiser sich jeweils eine Nacht lang im Palast der Enthaltsamkeit vor, ohne Speise und ohne seine Frauen.

Gerade war es Penni gelungen, im Gewühl wie zufällig einmal an Happys Seite zu kommen und heimlich seine Hand zu drücken, mit herabhängenden Armen beide. Und dabei ihr geflüstertes: "Guten Morgen!" Und sein ebenso leises: "Guten Abend wär‘ mir lieber."

Der Führer wurde dann aber schnell prosaischer: "Neununddreißig Meter hoch ist die Halle der Ernteopfer, ein wunderschöner Holzbau, der ohne einen einzigen Nagel gebaut wurde." Derweil schlugen die chinesischen Besucher vor dem spitzmützigen Gebäude die Hände überm Kopf zusammen. Allerdings auch wieder nur des Echos wegen. Noch so ein Brauch, den hier jeder kennt, verstanden die Neuankömmlinge. Doch Echo, eindeutig der Gott dieser Lokalität, stellte Happy amüsiert fest, läßt sich nicht hören.

Als sie vom Flughafen losgefahren waren, hatte Happy das Mikrophon genommen und den einheimischen Führer sowie den Fahrer vorgestellt. "Bei der Gelegenheit", hatte er gesagt, "einen guten Rat: Denken Sie immer daran, daß Sie gerade nur soviel von ihren Reiseerlebnissen haben, wie Sie selbst investiert haben. Und damit meine ich nicht das Geld, das Sie bezahlt haben. Auch nicht die Zeit, die Sie dafür aufbringen. Nein, Sie müssen schon mehr investieren, um was davon zu haben, daß Sie jetzt durch China reisen. Man kann sich beispielsweise das Außergewöhnliche klarmachen, daß man selbst gerade hier ist. Wie Goethes sich selbst bestaunender Ausspruch: Auch ich in Arkadien! Das ist eine Art des Genießens. Eine stark ichorientierte, zugegeben. Eine andere Art ist, sich in das Lebensgefühl der Menschen in dem fremden Land zu versetzen, sich hineinzufühlen in diese Gesellschaft. All die Länder und Städte mit den exotischen Namen, sie haben ja nur für uns was Exotisches. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Für die jeweiligen Einheimischen sind sie Alltag, sind sie Arbeit, lebenslanges Sichabplacken, Krankheit und Not, also Trivialität. Daneben aber sind die für uns fremdartigen Namen für die Chinesen Heimat, sind glückliche Erinnerung und Wehmut und Anhänglichkeit, Geborgenheit - Selbstverständlichkeit. Am besten, Sie versuchen, wo Sie stehen und gehen, sich als einer der Chinesen zu sehen und wie sie zu fühlen. Zufällig hier geboren, hier aufgewachsen und ohne jede Chance, jemals rauszukommen aus diesem Land. Riskieren Sie den lchaustausch. Keine Angst, davon kriegen Sie keine Schlitzaugen."

Und als das prompte Gelächter versiegt war: "Ganz im Ernst. Da gibt es einen einfachen Trick: Im Hotel nicht in den Spiegel schauen, nie mehr, statt dessen den Einheimischen intensiv ins Gesicht. Sie werden überrascht sein, wie schnell Sie sich als einer von ihnen empfinden können. Und schon sagen Ihnen die Dinge, die Sie auf dieser Reise zu sehen kriegen, viel mehr."

Das war für den einheimischen Führer offensichtlich schon etwas zuviel Eingriff in seine Funktion. Mit chinesisch freundlichem Lächeln zwar, aber auch mit betonter Selbstverständlichkeit hatte er Happy das Mikrophon aus der Hand genommen, "Relaxen Sie!" zu ihm gesagt und seine Führung begonnen. Wohinein sollte ich auch sprechen, hatte er sich damit abgefunden. Selbst wenn ich das Mikrophon noch hätte, bei diesen Leuten, kaum gelandet, gibt es schon keinen Zugang mehr, so groß wie ihre Kameras die Augen aufreißen.

4.

Nach dem Abendessen sagte ihm seine Reiseleitererfahrung: Nur schnell verschwinden! Die List des Verlorengegangenseins am ersten Abend. Nur möglichst lange unauffindbar bleiben. Auch nicht per Zimmertelefon erreichbar. Für lästige Fragen, für kleinkarierte Kümmernisse, für Reisewehwehchen. Für die schlechte Stimmung nach dem ersten anstrengenden Tag. Und für die Neugierde der Leute. Für dieses lästige Sich-Abklopfen-Lassen. Ich habe mich ihnen vorgestellt. Das muß genügen. Wie alt oder jung, ob verheiratet oder nicht, welche Weltanschauung und so fort und wie's darinnen aussieht, wen geht das was an. Je länger ich ihnen in all diesen Beziehungen ein Geheimnis bleibe, um so besser. Denn um so länger bin ich noch für sie interessant, sind sie noch besonders freundlich zu mir. Aus Vorsicht, aus Unsicherheit, aus Berechnung - also letztlich auch wieder nur aus Neugier. Nur weg jetzt!

Das war kein Klopfen, das war eher ein leises Kratzen an ihrer Tür, dreimal kurz, wie verabredet. Und schon ging die Tür auf. Sie muß am Pfosten gestanden haben, dachte er noch, da war die Zimmertür schon wieder geschlossen und verriegelt. Und sie stand da, mitten im Raum, und er stand vor ihr und nahm sie in die Arme. "Penni, endlich!" Und sie antwortete mit einem „Pst“, flüsterte "Odysseus" und küßte ihm vorsichtshalber weg, was er noch sagen wollte, wieder viel zu laut sagen könnte.

Wie lange hatten sie auf diesen Augenblick gewartet. Sie fast ein Dreivierteljahr lang und er fast ein Dreivierteljahr lang. Und so war es ihnen auch vorgekommen: Beinahe wie anderthalb lange Jahre plus einem schier endlos langen Flug und einer nervtötend langen Besichtigungstour durch Peking. Nun mußte Happy erst einmal Abstand nehmen, einen Schritt zurücktreten und sie anschauen. Alles wiedererkennen. Ein besonders gescheites Kompliment schaffte er in der Situation nicht. Nur: "Wie süß du aussiehst." Sie hatte die dunklen, kurzen Haare offenbar frisch zurechtgezaust, sich nur wenig geschminkt, aber das Augen-Make-up erneuert und die Wimpern wieder neckisch hochgebogen. Mit dieser martialisch aussehenden Wimpernklemme, die er noch kannte, die ihm immer vorgekommen war wie eine Wolfsfalle en miniature. Und von der er sich doch nicht hatte abschrecken lassen.

Nun sah sie ihn wieder so stummscheu und doch auch vertrauensselig an, die Ein-Kopf-Distanz mit einem unverwandten Aufblick überbrückend, hellblau. Genau so hatte er sie in Erinnerung behalten. In weißer Bluse und buntem Rock. Und mit den schwarzen Riemchenschuhen, die ihm so gefallen hatten. Nicht flach und nicht hochhackig, einfach genau richtig.

Und wieder wie schon früher dieser Widersinn, daß ihm ihr Anblick so gefiel, wie sie da reglos vor ihm stand, wortlos, und sich betrachten ließ, daß er sich nicht zurückhalten konnte, das schöne Standbild zu demontieren. Daß er die Bluse öffnete, langsam, Knopf für Knopf, um sie von den Schultern und Armen zu streifen, sie mit Schwung wegzuwerfen. Daß er über den Büstenhalter fuhr, seine beiden Hände als Schalen um die Schalen legte, sie leicht anhebend - wie sie wiegend - und leicht drückend. Und daß er dann um die warm-weiche Statue herumgriff und die zwei Häkchen im Rücken ausklinkte, das störende Utensil einfach fallenließ und ihre Brüstepracht streichelte. Dieses nachgiebig Feste, Heiße. Um dann ganz schnell den Rockbund aufzuhaken, um sie im Höschen vor sich zu sehen. Dabei stieg sie schon aus den Schuhen und huschte ihm unter den Händen weg, ins Bett. Das Höschen, er erinnerte sich, zieht sie immer selbst runter und immer erst unter der Bettdecke.

 

Das Beijing International Hotel begeisterte seine Gäste. Happy sah und hörte es am nächsten Morgen mit Schaudern. Einer von diesen Kästen im internationalen Protzstil, die überall ein klein wenig anders und doch alle gleich aussehen. Wie gerade erst rübergeholt aus Los Angeles oder Johannisburg oder Sydney. Das einzig Besondere: Im Foyer und auf allen Fluren, einfach überall, die Mädchen, die herumstehen wie Statuetten. Wie zu Königinnen verkleidete Elfen in Habachtstellung. Feinmodellierte Gesichter aus Biskuitporzellan. Um die Augen diese überraschende Variationsidee der Natur, die raffinierte Vereinfachung. Um so ausdrucksstärker die dunklen Blicke der Mädchen. Sehr junge Mädchen, sehr grazil. Das gefällt den fülligen deutschen Gästen. Kein Gedanke daran, daß die Elfen nur hier herumstehen, weil es viel zu viele von ihnen gibt. Und daß ihnen zum Fettwerden das Futter fehlt. Der weitere Unterschied zur amerikanischen McDonald's-Kultur ist gerade nur noch, daß die übertriebene Dienstbereitschaft fehlt. Die Elfenköniginnen stehen halt nur dekorativ da in ihren langen, enganliegenden Kleidern im Hotellook, hochgeschlitzt. Wie von einem geschickten Dekorateur überall dort aufgestellt, wo die Architektur einen mit Öde und Kälte überfallen will. Mit diesem holden Lächeln und dem ewigen Good-Morning auf den Lippen. Die frappierende Sprachvirtuosität der Mädchen geht gelegentlich sogar bis zum Guten-Morgen. Mehr aber ist nicht mit ihnen anzufangen. Soll nur niemand versuchen, sie einmal etwas zu fragen. Ihre Ausbildung ist offenbar über einen Schminkkurs nicht hinausgekommen. Und wehe, wenn da so ein deutscher Hagestolz versucht, eins von den Mädchen zum persönlichen Gebrauch mit auf sein Zimmer zu nehmen. Die eiskalt sozialistische Prüderie ist beinahe das letzte, was hier vom Sozialismus übriggeblieben ist.

Hauptsache, die Reisenden sind zufrieden. Daß im Lift die Plakette eines deutschen Herstellers hing, wurde mit Wohlgefallen bemerkt. Daß das Zimmer, vor allem Bett und Bad, nicht deutsch sondern amerikanisch war, gefiel erst recht. Die gleiche positive Überraschung beim Frühstück. Aber dann gingen sie hin und drehten alles und jedes dreimal um, weil sie wissen mußten, wo es herkommt: Die Butter aus Neuseeland, die Marmelade aus der Schweiz, doch der Zucker verriet seine Abstammung nicht. Und Happy mußte schon am frühen Morgen erklären, erklären, erklären. Auch, daß den Chinesen Milch und Milchprodukte fremd sind. Schon ging das Gerede über Enzymunverträglichkeit los. Wie die Juden mit ihrem Schweinefleisch. Wie die Araber auch. Man kennt das ja: Immer gibt es mindestens einen in der Gruppe, der alles noch besser weiß. Daß die Wirtschaftsbeziehungen zum sozialistischen Bruderland Kuba noch bestehen, aber nicht mehr so intensiv sind, weil die Kubaner keine Devisen haben, servierte er ihnen zum Frühstückskaffee. Zuviel Zucker als Bezahlung macht halt jeden Handelspartner sauer. Kein Widerspruch. Offensichtlich niemand in der Gruppe, der die Reise aus marxistisch-leninistisch-maoistischer Überzeugung macht. Angenehm. Zwar hatte der Schiffsingenieur schon Luft geholt, um was zu sagen. Doch hatte ihn seine Frau mit einem bühnenreif kräftigen Ellbogenstoß in die Seite erfolgreich davon abgelenkt.

Man wartete noch auf den örtlichen Reiseführer. Also hatte Happy die Chance weiterzuerzählen. Daß Peking, der Regierungssitz, nur die zweitgrößte Stadt des Landes sei, rangmäßig erst nach Shanghai komme. Und daß die chinesische Hauptstadt genau so eine extreme Randlage aufweise wie Berlin. Wie übrigens auch Washington. Weitere Beispiele kamen aus der Gruppe. Dann trat der chinesische Führer mit einem fröhlichen Guten-Morgen auf und lud zur Stadtrundfahrt ein. Und schon wurden Happys Angaben ergänzt, schon wurde brav mit Staunlauten quittiert, daß es in Peking-Stadt nur sechs bis sieben Millionen Einwohner gebe, im Kreis Peking aber rund zwölf Millionen. Und daß die etwa acht Millionen Fahrräder bewegen.

Happy saß stumm hinter Herrn Li und beschäftigte sich damit, die Räder mit Gangschaltung zu zählen, und kam dabei nicht über ein Dutzend hinaus. Hier fährt man also noch mit Primitivrädern ohne jede Schalthilfe und sogar ohne Rücktritt. Und da redet man vom Land des Fahrrades. Kaum über das Laufrad des Freiherrn von Drais hinaus. Irgendwem fiel auf, daß die Fahrräder fast alle ohne Beleuchtungsanlage waren.

"Na und, bei uns haben alle Fahrräder Beleuchtung, und doch fahren die meisten im Dunkeln ohne, weil es sich so leichter fährt, so ein bißchen leichter", schimpfte einer der Reisenden los. "Dafür riskiert man bei uns gern sein Leben."

"Es sind ja zum Glück nur die Dümmsten, die bei uns ohne Licht fahren. Und wenn die dabei verunglücken, das ist dann natürliche Zuchtwahl", beruhigte ihn ein anderer.

Und Happy erinnerte sich, wie das mit den Fahrrädern ohne Beleuchtung einem seiner Reisenden in Nordnorwegen aufgefallen war. Die Erklärung eines Einheimischen hatte er nur zu gern weitergegeben: Im Sommer brauchen wir kein Licht am Fahrrad, weil es die ganze Nacht durch hell bleibt, und im Winter brauchen wir es nicht, weil das Fahrrad im Schuppen bleibt; denn draußen liegt der Schnee dann drei Meter hoch. Nun gut, das galt am Nördlichen Polarkreis. Aber hier, etwa dreißig Grad südlicher? Die Beleuchtung sei früher Pflicht gewesen, erklärte der örtliche Führer. "Aber eine Beleuchtung ist sehr teuer. Das war zuviel Aufwand für die einfachen Leute. Deshalb ist diese Pflicht bei der Kulturrevolution abgeschafft worden."

 

Aha, verstand und verschwieg Happy vorsichtshalber, manchmal bringt eine Revolution ja doch etwas für den kleinen Mann. Wenn auch nur eine klitzekleine Kleinigkeit. Wie war das noch bei der 1848er Revolution in Berlin? Fast das einzige, was die Leute erreicht haben, war, daß sie endlich auch auf der Straße rauchen durften. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.

"Bis etwa 1950", so erklärte Herr Li in bestem Deutsch weiter, "bestand Peking aus unzähligen ebenerdigen Häusern, die jeweils um einen rechteckigen Hof herumgebaut waren. Sogenannte Hofhäuser, jeweils von einer Familie bewohnt. In den fünfziger Jahren gab es dann eine große Veränderung." Wie dezent so ein staatlich geprüfter Führer sich ausdrücken kann: große Veränderung. Es lohnt sich schon, genauer hinzuhören, amüsierte Happy sich.

"Die Häuser wurden alle verstaatlicht, und schon bald mußten jeweils mehrere Familien in einem Hofhaus wohnen, in jedem Raum eine, weil es nicht genügend Häuser gab. Da war natürlich für manche Dinge kein Platz mehr. So gab es dann für mehrere solcher Hofhäuser mit ihren jeweils vier bis fünf Familien irgendwo abseits eine Gemeinschaftstoilette."

Das Thema gefiel den Reisenden. Zumal bei der Fahrt durch die Stadt da und dort noch Straßenfronten mit den niedrigen Hofhäusern zu sehen waren. Es gab zwar nur schmale Durchgänge, in die man nicht weit hineinschauen konnte. Doch wie bestellt ein Mann, der an eine Hauswand pinkelte. Da spielende Kinder, dort Frauen beim Gemüseputzen.

"In den letzten Jahren hat man mit dem planmäßigen Abriß dieser Quartiere begonnen. Auf den freiwerdenden Flächen werden Hochhäuser gebaut. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts sollen alle Hofhäusersiedlungen aus Beijing verschwunden sein. Die Leute freuen sich, daß sie erstmals eine richtige kleine Wohnung für sich haben, mit eigenem Wasseranschluß und eigener Toilette."

Da wird eine Gesellschaft gewaltsam umgekrempelt, überlegte Happy, und dazu sagt der Mann: Die Leute freuen sich. Da werden die, die sich damit abfinden mußten, auf engstem Raum zusammmengepfercht zu sein, keinerlei Distanz mehr zu halten, keinen Intimbereich mehr zu haben, die gelernt hatten, aus Not friedlich zusammenzuleben, einfach auseinandergerissen und in irgendwo abseits stehende Hochhäuser verladen, übereinander gestapelt, Familie für Familie wie in eine Schublade geschoben. Tür zu und nichts mehr zu tun mit den anderen rundum. Und nicht nur denen aus dem sechsten Stock muß schwindelig werden, wenn sie aus dem Fenster schauen.

Herr Li sprach von der unausweichlichen Notwendigkeit dieser gigantischen Sanierungsaktion. Und er sagte kein Wort dazu, daß die Sanierung erst nötig geworden ist durch die vorausgegangene Verstaatlichung, die den Bau weiterer Hofhäuser gestoppt hatte, und durch die rücksichtslose Überbelegung mittels Zwangseinweisung von immer mehr Familien in die vorhandenen Hofhäuser. Schon war der einheimische Führer nur noch mit den neuen Hochhäusern beschäftigt. Daß es anfangs eine reine Verteilung der Wohnungen gegeben habe, seit einem Jahr aber nur noch den Verkauf. "Standard ist die Zwei-Zimmer-Wohnung. Nur selten werden größere gebaut. Sie hat durchweg etwa 45-60 Quadratmeter. Und sie kostet 20-30 tausend Yuan, wenn man sie von der Firma bezieht, bei der man arbeitet. Man braucht also einen Berechtigungsschein. Dafür gibt es aber auch prozentuale Ermäßigungen je nach der Zeit der Firmenzugehörigkeit."

Daneben gebe es auch schon einen freien Wohnungsmarkt, erklärte der Führer. Da koste der Quadratmeter etwa 1.900 US-Dollar. Gerade die Chinesen aus Amerika und Europa und Australien, wie auch die aus Hongkong und aus Taiwan kauften sich neuerdings gern hier ein, um eines Tages einen Alterssitz in der Heimat zu haben.

5.

Am Abend trafen sich etliche der deutschen Touristen in der sogenannten Hotelbar, einer hohen Halle mit ein paar Sitzen um viel Leere herum. Mit einem weißen Flügel als Zentrum, auf beifallheischendem Podest pathetisch aufgeklappt, als wollte er davonfliegen. Aber mit einem Schwarzbefrakten vor ihm, der ihn beidhändig festhielt. Nur ein Vögelchen, das aus Versehen hereingekommen war, flatterte aufgeregt über den Köpfen der wenigen Gäste. Hoch oben, wo die Zigarettenrauchkringel nicht mehr hinkamen, wo ihm nur noch die höchsten Töne der drei chinesischen Sänger in die Quere kamen bei der verzweifelten Suche nach einem Schlupfloch. Nur raus, raus!

Dabei war das ein veritables Opernkonzert, was die abwechselnd auftretenden Sänger boten. Alle drei mit wunderbar vollen Stimmen: Ein schwerer Bariton, ein beinahe schon tenoröser Bariton und ein massiver Baß.

Schade, daß der Beifall so dünn ist, dachte Happy. Sie hätten mehr verdient. Doch mußten die Sänger sich die Aufmerksamkeit des spärlichen Publikums im üblichen Geplapper immer wieder neu erkämpfen. Als dann die ersten Klagen kamen über den heftigen Wind, den die Klimatisierung mache, zog er sich schnell auf sein Zimmer zurück. - Zunächst auf seins. Sollen sie sich doch bedeckt halten. Sollen sie doch ihre Hütchen und Mützchen aufsetzen, wenn sie in der Bar sitzen, diesen blödpraktischen Putz, den sie sich nur ferieninkognito erlauben, immerhin das schönste an diesen Köpfen. Ihr ahnungslosen Leutchen, ihr werdet euch noch wundern. Das bißchen Luftzug ist erst der Anfang. Über den Häuptern der Menschen hier, die sich so amerikanisch international wie unmöglich geben, toben immer noch die alten Götter ihre Kämpfe aus, machen die Dämonen einen Wind, daß einem die Haare zu Berge stehen.

 

Wie ein Dämon fühlte er sich, als er zu Penni hinüberschlich. Die schon im Bett gelegen hatte. Nur schnell zur Türe gehuscht zum Öffnen und wieder zurück unter die Decke.

"Mein Odysseus."

"Meine Penni."

Happy ruck-zuck aus den Kleidern und als ein böser Dämon ihr die Zudecke weggerissen, sich breitbeinig über ihr aufgebaut. Sie mit seinem rotglotzenden Protz anstarrend. Sie anraunend: "Kennst du das größte der sieben Weltwunder?"

Und sie griff gleich zu: "Na klar, den Leuchtturm von Pharos." Und zog den Protz zu sich herab: "Komm, so komm doch schon, du Weltwunder! Du sollst nur für mich leuchten. Im dunklen, dunklen Wald." Und nahm ihn auf in ihr Gewölle. Das er erst am Abend zuvor als den deutschen Wald bejubelt hatte, dieses unheimlich-düstere Phänomen, von den Deutschen mit Inbrunst besungen, atavistisch geliebt, als einzige Heimat ersehnt und als ewige Überraschung gefürchtet, mutterweich, klafterweise Wärme, märchenhafte Fremde ... Was ihm dazu alles an Unsinn eingefallen war. Jetzt nahm ihm Penni die Luft und damit jedes Wort, wie sie ihn umklammerte. So konnten sie beide nicht feststellen, ob er ihn wirklich erhellte, der Weltwunderleuchtturm den dunkeldeutschen Wald. Aber dieses Leuchten in ihren Augen, das verbuchte Happy machoselbstverständlich für sich.

Als er wieder sprechen konnte, gestand er ihr, es leid zu sein. Penni erschrocken: "Was bist du leid?" Er habe längst jedes Interesse an fremden Ländern verloren, erklärte er schnell. Von einer Begeisterung fürs Reisen ganz zu schweigen.

"Die Namen all der Länder und Städte, die für mich Zauberklang hatten, seit meiner Kindheit mich faszinierten, bei dieser Herumreiserei werden sie zu schlichten Bezeichnungen auf dem Ablaufplan. Ich bin ein Herumirrender, von fremder Hand gesteuert. Wie von den Göttern verflucht. Allem Schönen, das die Welt zu bieten hat, reiße ich mit meinen Kurzbesuchen die Dekoration herunter, doch ehe ich noch dahinterschauen kann, ehe ich was vom fremden Leben mitkriege, bin ich schon wieder weg, schon wieder weiter. Bei der nächsten Destruktionsarbeit. Ein Städte- und Länderzerstörer."

„Aber …“, versuchte Penni ihn zu stoppen. Vergebens.

„Ja, aber, das ist richtig. Aber, muß ich sagen, vielleicht ist ja darin der Sinn des Reisens zu sehen: Daß man Erinnerungen sammelt, daß man wie eine läufige Festplatte hinter allem Neuen her ist, daß man alles abspeichert, abspeichert, damit man irgendwann, in einer leer-lahmen Stunde, etwas hat, das man sich auf den inneren Bildschirm holen kann. Und sei es bloß als Ablenkung. Vielleicht als alter Opa im Schaukelstuhl, beim Blick auf die Geranien auf dem Fenstersims, die wieder dringend Wasser brauchten. Aber man ist zu lahm zum Aufstehen, kommt nicht mehr hoch mit dem Arsch. Dann kann ich den welkenden Blumen von längst verwelkten Reisenden erzählen."

"Ach, Odysseus, so ein Gejammere, das wundert mich. Du warst doch immer so begeistert von der Reiseleiterei."

"Ja, aber allmählich erkennt man, in jedem von uns ist ein Troja zerstört worden. Wir alle kommen aus rauchenden Trümmern. Doch wir holen uns mit unserem blinden Tapsen um die Welt, mit unserem Grapschen nach dem Glück keine Helena zurück."

"Aber warum machst du dann weiter diesen Job?"

 

Und als Happy auf diesen allzu prosaischen Einwurf nicht gleich antworten konnte, hakte sie schnell nach: "Ein Job, der dich doch nur davon abhält, endlich deine Dissertation fertigzumachen und dich anschließend um eine Position mit guter Bezahlung zu bemühen. Du bist jetzt Mitte dreißig, Odysseus, wie lange willst ..."

"Nein, mit solchem Gerede, Penni, darfst du mir nicht kommen, so gut wie wir uns verstehen. So nicht." Wenn das Bett nicht so schmal gewesen wäre, in dem Moment wäre er demonstrativ von ihr abgerückt.

"Ich versuche ja, dich zu verstehen, Odysseus. Und das ist nicht immer ganz einfach. Aber vielleicht erklärst du mir mal, warum du immer noch weiter Reiseleiter spielst."

"Ich muß reisen. Ich bin einfach lieber unterwegs als daheim."

"Das geht mir auch so."

"Aber mir geht es anders. Nenn‘ es Verrücktheit, nenn‘ es einen Fluch: Nicht, daß ich reisen will, nicht, daß ich reisen möchte, nein, ich muß reisen. Du hast ja so recht mit dem Namen Odysseus. Ich glaube, mir zürnt irgend so ein Poseidon, weil ich den Leuten die Augen öffne in der Art, wie ich ihnen fremde Länder und Städte zeige. Und das, von Poseidon verfolgt zu sein oder auch als ein fliegender Holländer unterwegs sein zu müssen oder als ein Ahasver, das ist ein Fluch."

"Ein Fluch? Ach was. Ich finde, die Sache ist ganz einfach so: Je länger du herumfährst, um Geld zu verdienen, um so länger zieht es sich hin, bis du endlich deinen Doktor hast und eine Position finden kannst, die dir entspricht. Das ist der Teufelskreis, in dem du dich bewegst."

"Viel zu simpel gesehen." Kalt dahingesagt und dabei nun doch ein wenig von ihr abgerückt.

"Das nennst du simpel?“

„Ja, supersimpel!“

„Das enttäuscht mich, Odysseus. Ich wollte dir gerade vorschlagen, daß wir zusammenziehen. Was brauchen wir zwei Wohnungen? Viel zu teuer. Und fürs erste kämen wir beide mit einem einzigen Gehalt aus. Mit meinem. Damit wärst du ausgebrochen aus dem Teufelskreis und könntest endlich ..."

"München als mein Ithaka? - Ach Penni, die Wahrheit ist: Ich kann einfach nicht irgendwo zuhause sein, kann nicht Tag für Tag die Zeitung lesen, die Tagesschau sehen und es hinnehmen, wie ich verarscht werde. Diese totale Wehrlosigkeit gegenüber den Institutionen, gegenüber den Politikern, den Presseleuten. Das könnte ich nicht ertragen. Ich müßte gewalttätig werden, wenn ich das immer mitansehen und hören müßte: Wie die Politiker in aller Welt die Volksgruppen sich gegenseitig abschlachten lassen und dabei was für ihr Prestige tun und nebenher damit ihr Geschäft machen. Wie die Vertreter von Religionsgemeinschaften immer noch glauben, die Menschen in Konflikte und Kriege hetzen zu dürfen. Wie Spitzenverdiener sich mehr um kleinste finanzielle Vorteile kümmern als um notwendige Reformen. Wie der Waffenhandel und der Buchhandel zu angeblich neutralem Marktgeschehen erklärt werden. Wie die Medienherren das Volk mit Gewalttätigkeiten in jeder Form füttern und darüber jammern, es müsse eine neue Moral her. Wie sogenannte Honoratioren sich vergeblich abmühen, ihre feisten Gesichter in Falten zu legen, wenn sie den Leuten raten, den Gürtel enger zu schnallen. Wie sie Weihnachtsreden raunen und Neujahrslügen hecheln. Immer diese schönen Worte, so gestenschwer und inhaltsleer."

"Nun hör‘ aber auf mit dem Geschimpfe, Odysseus. Mein Odysseus. - So lieb, wie du sein kannst." Penni wieder ganz der Wattebausch.

"Ja, du hast ja recht, ich kann ruhig aufhören zu schimpfen. Daß die Politiker und die Geldleute das Gemeinwohl nicht im Auge haben, sondern auf den Lippen, ja, ist dieser kleine Ausrutscher denn ein Wunder bei den verfetteten Gesichtern?"

"Ach, Odysseus, kannst du nicht einmal einen Moment sachlich bleiben?"

"Sachlich? - Ich weiß, daß du genau das Gegenteil meinst. Aber egal. Also ganz sachlich: Aus unserer pluralistischen Gesellschaft ist klammheimlich eine dualistische gemacht worden: Auf der einen Seite die Manipulanten, nämlich Geldleute, Politiker und Publizisten, auf der anderen Seite die Manipulierten, nämlich die Fernseher und Überhaupt-Konsumenten. Auf eine kurze Formel gebracht: Wir sind ein Volk der Lenker und Abgelenkten geworden. - Und in so einer Gesellschaft soll ich Karriere machen? Da bleibe ich doch lieber gleich im Bett. Am liebsten natürlich mit einer Frau wie dir." Womit sie sich endlich wieder einig waren.

 

Die erste Aufgabe: Die Gruppe in den Griff kriegen. Das heißt zunächst einmal: Sie in den Kopf kriegen. Beim Anflug und noch bei den Besichtigungen am ersten Tag, da waren es nur die Gesichter und bestimmte Auffälligkeiten in der Kleidung, die Happy erkennen ließen: Die gehört zu mir, der gehört zu mir. Nach dem ersten Zusammensitzen war das Gruppenbild ausgemalt, mit wenigen kräftigen Strichen zwar nur, aber doch mit genügend deutlichen Farbklatschen. Die Namen, gut, die hatte er auf der Liste, und die hatten sie ihm auch gesagt beim ersten Händeschütteln. Aber sich sofort die Namen zu merken, davon war Happy längst abgekommen. Ein paar würden sich ihm ganz von selbst schnell einprägen. Weil sie von den anderen öfter genannt werden. Die letzten konnte er meist erst am Ende der Reise mit Namen ansprechen. Schließlich doch noch gelernt, wenn auch nur, um sie sofort wieder zu vergessen. Weil ihm schon die nächste Gruppe bevorstand. Wozu auch die Namen? Wahrhaftig Schall und Rauch. Was sagen Namen über den Menschen aus? Nichts. Und trotzdem ist dem einzelnen Menschen sein Name das Allerwichtigste, sein Allerheiligstes. Wo gibt es wohl etwas mit einer ähnlich großen Diskrepanz zwischen der eigenen Bewertung und der durch andere.

Für Happy stand fest: Die Funktion ist viel aufschlußreicher als der Name, weil sie den Menschen geformt hat, weil sie beinahe alles an ihm erklärbar macht. Nicht alles, nein, nur beinahe alles. Da bleibt ein Rest, der nichts mit der Funktion, mit dem gewählten Beruf zu tun hat. Und das ist wahrscheinlich genau der Teil des Menschen, der ihn für diesen Beruf eigentlich untauglich sein ließ. Was er ein Leben lang zu überspielen gezwungen war.

Zum Beispiel der pensionierte Richter mit seiner Frau. Zwei Menschen in betont konventioneller, schon übertrieben solider Kleidung. Für die beiden stand bereits am zweiten Abend fest: Das größte Peking-Erlebnis war das Opernkonzert in der Hotelbar. Wie sie dagesessen hatten, als hätten sie ein Abonnement für die erste Reihe der Met. Sonntäglich feingemacht. Die Beine gewollt weltmännisch übereinandergeschlagen. Beide. Die Hände im Schoß. Beide. Die Gesichter auf genießerisch geschaltet, bei beiden. Und vier Lippen murmelten jeden Text mit, natürlich auf italienisch.

Ganz anders der Mathematiklehrer aus München, sportlich salopp. Er hatte dauernd damit zu tun, die Redebegeisterung seiner Frau, sportlich schick, zu minimieren. Ihre permanente Kaufseligkeit zu stoppen hatte er offenbar längst aufgegeben. Er verstaute brav in seinem Rucksäckchen allen Klimbim, den sie mit freudigem Aufschrei entdeckt und sofort erworben hatte. Ein vorbildlicher Ehemann. Ruhig und aufmerksam sein, höchste Tugenden dessen, der lernen will, hatte er gesagt. Sie hätten ja noch so viel kennenzulernen. Dabei waren sie schon fast überall, konnten im Gespräch beiläufig Nepal mit Tasmanien und Teheran mit Rio verknüpfen und die Sixtinische Kapelle neben den Kreml stellen, zum gefälligen Vergleich. Sein Fach sei ja so herrlich international, hatte er gesagt, die Mathematik sei überall gleich - und überall nicht zu gebrauchen. Deshalb reisten sie so gern überallhin. Und all das Überall in Superacht festgehalten, selbst geschnitten und kommentiert, jederzeit zugreifbar archiviert. Die ganze Welt auf bayerisch.

Mit seiner alten Schmalfilmkamera konnte er genaugenommen neben dem Computermann aus Schwaben, der mit großer Videoausrüstung auftrat wie ein Kameramann vom Fernsehen, kaum bestehen. Unübersehbar ein Freizeit-Profi. Groß und massig, immer im durchgeschwitzten Hemd, aber die schützende Windbluse genauso immer dabei. Die Rechte permanent nach hinten abgeknickt an der Schulter, weil sie die schwere Kamera hielt. Denn das Gesetz, unter dem er angetreten war, hieß: Immer die Augen offenhalten für den reizvollen, den ganz typischen Take. Den Mund auch, weil er immer was zu sagen wußte. Und dabei ein Ohr für den Sänger in der Bar, den örtlichen Reiseführer oder wen auch immer und eins für seine Frau, die genauso mitteilsam war wie er - im übrigen betont lieb in ihrem Gänseliesellook. Sie habe in ihrer Kleinstadt ein Obst- und Blumenlädchen, erfuhren ihre Mitreisenden. Mit fester Stammkundschaft. Und wie sie das sagte. Man glaubte, den Duft der Blüten und Früchte wahrnehmen zu können.

Die beiden älteren Damen, die zusammen ein Doppelzimmer gebucht hatten, ergaben noch kein klares Bild. Die üblichen kleinen, grauen Schwundmenschen, die ihre Rente verleben. In der Unterhaltung beschränkten sie sich auf die gängigen Höflichkeitsformeln. Sie belästigten nicht mit Privatdingen, und sie stellten keine Fragen. Und beides gekonnt. Ohne die Mitreisenden damit vor den Kopf zu stoßen. Was jahrzehntelange Übung in guten Umgangsformen doch ausmacht. Die beiden Damen hatten den Benimm zu so was wie Tarnkappen ausgebaut. Oder geht das Bild zu weit? Vielleicht könnte man eher von Kaffeewärmern sprechen, sorgsam über die beiden bauchigen Kannen mit dem lauwarmen Rest Muckefuck gestülpt.

Die Familie - Vater, Mutter, Söhnchen von vielleicht zehn und Töchterchen von vielleicht dreizehn Jahren - fiel auf, weil sie die einzige Familie war. Wer eine aus der Mode gekommene Lebensform vorführt, kann noch so leise auftreten, er fällt auf. Die beiden Kinder machten vor allem dadurch auf sich aufmerksam, daß sie keinen Ton von sich gaben, ihre Eltern dadurch, daß sie darin auf die Vorbildfunktion setzten. Die Familie trat als Die Vier Adretten auf.

Dann waren da noch die beiden einzelnen Herren von vielleicht Mitte dreißig, der eine grau in grau auf konservativ getrimmt, mit dezenter Krawatte und goldener Krawattennadel, der andere mit Schnäuzer und auch sonst betont modisch aufgemacht. Beide besonders morgens sehr penetrant duftend. Sie taten zwar so, als wären sie sich fremd. Aber wie der eine tänzelnd zu gehen pflegte, der andere bemüht staksig, und wie sie sich ansahen, manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, das schien Happy doch eine intimere Bekanntschaft zu verraten.

Dann gab es da noch ein paar weitere Pärchen, bisher konturlos geblieben. Nur eines von ihnen hatte sich wenigstens schon dadurch bemerkbar gemacht, daß der Mann kein S sprechen konnte und seine Frau überhaupt nicht sprach. Das typische Bild einer schönen Frau, bei der man leider nur fünfzehn Jahre zu spät kommt, fiel Happy sofort auf. Wir sind schon unverschämt, wir Männer. Tun einfach so, als ginge es bei einer Frau immer nur um die Restsüße, wie bei einem Wein. Nun gehört sie diesem Lispelmann. Radiomoderator sei er, hatte er gleich am ersten Tag gesagt. Sein Name sei ihnen ja sicher geläufig. Und seine Zuhörer mußten dieses Wörtchen -icher mit dem nur angehauchten S erst mal als sicher identifizieren. Und dann sich das Lachen verbeißen bei dieser affektierten Sprechweise. Das S sei der Todfeind des Mikrophons, hatte er gesagt. "De-halb mu- e- auch in der Alltag--prache augerottet werden." Den Namen des Radiomannes würde er sich nie merken, war Happy klar. So was lief bei ihm unter Gedächtnishygiene.

Zur Gruppe gehörte auch noch eine einzelne ältere Reisende, eine große Erscheinung. Zwar verkargt wie ein Abreißkalender im November, aber mit wachen Augen und so elegant gekleidet und mit designergestyltem Schmuck veredelt, daß man sie nur als eine Dame der besseren Gesellschaft bezeichnen konnte. Was Happy insgeheim auch gleich tat. Sie hatte, nicht zu übersehen, die teuersten Gepäckstücke. Ihr halbkölscher Ausruf „Quittejelb“ bei den Pekinger Taxis war ihm aufgefallen. Im übrigen zählte sie zu denen, die noch nicht über den Status als bloße Namen auf seiner Liste hinausgewachsen waren. Die einzige alleinreisende jüngere Teilnehmerin dagegen schon. Ja, Penni. Und ob. Aber das war eine andere Geschichte.

Am deutlichsten ins Bild gesetzt hatte sich gleich am ersten Abend ein untersetzter, wenn nicht sogar kleiner Mann mittleren Alters, geschmacklos praktisch gekleidet, Cargohose und Anorak, dazu schlecht rasiert, als er hinter seinen Koffern her war. In berechtigter Empörung. Nun hatte man sich schon den ganzen Tag in der Stadt herumgetrieben, während die Koffer gleich zum Hotel transportiert worden waren. Aber auf den Zimmern waren sie am frühen Abend immer noch nicht. Schließlich will man sich doch mal frischmachen und umziehen. Ein paar passende Worte zu den Mädchen, die herumstanden. Die natürlich nichts verstanden. Dann laut nach dem Manager verlangt. Und dem Mann mit seinen leider nur drei Brocken Englisch sehr laut soviel zur Erweiterung seines Wortschatzes serviert, bis hin zu Flüchen und Injurien, wie sie nur Insider kennen, daß der Manager für diesen Nachhilfeunterricht eigentlich hätte dankbar sein müssen, aber nur völlig hilflos war. Die zugehörige Frau, groß, hager und weit weg von ihrem nicht einmal mehr zu vermutenden Blühen, bemühte sich hinterher vor der Gruppe, den Rauhbeineindruck glattzupolieren: "Mein Mann war zwei Jahrzehnte in Afrika, wissen Sie, und da lernt man sich durchsetzen. Da wird man etwas lauter. Man kann die Bimbos nicht anders ansprechen, das kommt bei denen gar nicht an." Und erzählte von Ostafrika, wo ihr Mann als Schiffsingenieur gearbeitet habe. Und jeder hörte ihr höflich zu. Vorsichtshalber kommentarlos. Wenn der Mann schon nicht gemerkt hatte, daß Chinesen keine Bimbos sind, wer weiß, ob er bei den mit ihm reisenden Mitteleuropäern klarer sieht.

 

„Wenn der Mann nur nicht so fürchterlich sprechen würde. Genau wie Ulbricht“, hatte Penni am Abend gesagt, als Happy auf ihrem Zimmer war. Als sie Wichtigeres schon hinter sich hatten, sich wieder wie erwachsene Leute unterhalten konnten. Daß diese Sprache fürchterlich sei, das konnte Happy so nicht stehenlassen.

„Das ist sächsisch. Die Leute kommen von drüben. Vermutlich hat der Mann in Ostafrika für eine der sozialistischen Regierungen als eine Art Entwicklungshelfer gearbeitet, hat geholfen ein Flottenprogramm zu verwirklichen. Vielleicht hat er auch nur Polizeiboote repariert. Oder er hat Kanus rot angestrichen und mit Hammer und Sichel bemalt. Jedenfalls muß er ein strammer Kommunist gewesen sein, bei dem nicht die Gefahr bestand, daß er abhaut; sonst hätte man ihn nicht ins Ausland geschickt.“

„Eine schreckliche Art zu sprechen. Nicht anzuhören.“

„Das ist halt der Dialekt der Leute dort.“

„Ein scheußlicher Dialekt.“

„Das kann man doch so nicht sagen, Penni. Du sprichst ja auch Dialekt.“

„Aber einen schöneren.“

Happy lachte über diese naive Äußerung, die ihm wieder so typisch Penni schien: Ungeschützt ehrlich dahingesagt, was sich vorwitzig auf die Zunge drängt.

„Du mußt dir nur einmal vorstellen, Penni, du wärest zufällig nicht in Bayern auf die Welt gekommen, sondern in Sachsen. Nein, unterbrich mich nicht! Dann hätten deine Eltern sächsisch gesprochen und dir sächsisch beigebracht und nicht bayerisch.“

„Wie schrecklich.“

„Dann würdest du heute sagen: Sächsisch ist ein schönerer Dialekt als bayerisch.“

„Niemals, das glaube ich nicht.“

„Ach, Penni, aller Dialekt ist Mutterlaut, ist weich und voller Wärme, ist anheimelnd, und ist damit dem Hochdeutschen unbedingt überlegen. Und Mutter ist Mutter, da wie dort. Deshalb kann man Dialekte nicht in schöner und weniger schön einteilen.“

„Das mit dem Mutterlaut, das hast du schön gesagt, Odysseus. Das kann ich mir gut vorstellen. – Und trotzdem, wenn dieser Hallodri aus Sachsen lospoltert, also das als Mutterlaut zu bezeichnen, ich weiß nicht.“