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Beschreibung

Mentoring gestaltet gemeinsam, regt durch Begleitung an und schreibt nicht vor. Gestaltung meint ein verstehendes, dialogisches Miteinander und kein überredendes Gegeneinander. Mentoring führt zu einem Werden, wenn wir das Gestalten gemeinsam aktiv wahrnehmen und bildend begreifen. Mentoring, sei es formal als auch informell, möchte bedürfnisorientiert einen dialogischen Austausch in der Profession fördern und Professionalisierung an jeweilige Situationen viabel angepasst ermöglichen. Wenn Lehrpersonen ihr eigenes Lernen, das Lernen der Kolleg*innen und der Schüler*innen durch einen Dialog mitgestalten, so werden die Beteiligung und das Verantwortungsbewusstsein gefördert. Dieser Mentoring-Fortsetzungsband eröffnet Möglichkeitsräume für Schule zur ko-konstruierenden und ko-kreierenden Gestaltung.

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Johannes Dammerer | Christian Wiesner | Elisabeth Windl (Hrsg.)

Mentoring als Möglichkeitsraum

Professionalisierung und Qualifizierung von Lehrpersonen

Wahrnehmen, wie wir gestalten

Inhaltsverzeichnis

Erwin RauscherZum Geleit

Johannes Dammerer, Christian Wiesner & Elisabeth WindlVorwort der Herausgeber*in

I.     Grundlagen im Mentoring: Kompetenzen, Literacy, Literacies und Modellierungen

Christian Wiesner & Tanja PrielerKompetenzen sehen lassen. Die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten aus der Sicht der Kompetenz im Mentoring

Christian Wiesner & Tanja PrielerLiteralität, Literacy und Literacies auf der Spur. Die Ausformung von Vermögen durch Literacies im Mentoring

Sarah-Maria Rotschnig & Stefan ZehetmeierWas Mentor*innen wissen und können (sollen)

Hannelore Zeilinger & Johannes DammererZur Modellierung von Lehrer*innen-Kompetenz im Berufseinstieg.Systemische und individuelle Anforderungen an beginnende Lehrpersonen

II.   Theoretische Fundierungen für das Mentoring

Christian Wiesner & Michael GebauerDas In-der-Welt-Sein als Grundverfassung des Mentorings.Das An-Sich-Erfahren und das Zu-Sich-Sein im Mentoring

Elisabeth Windl„Wie ist es Ihnen in der Unterrichtsstunde ergangen?“Die Unterrichtsnachbesprechung im Fokus der Ausbildung von Praxislehrpersonen

Johannes DammererMentoring – nicht übereinander reden, sondern miteinander entwickeln.Zu den möglichen Entwicklungen durch formelles Mentoring in der Schule über den Berufseinstieg hinaus

Claudia SchreinerDie Strategien formativen Assessments – eine Rahmung für Mentoring-Prozesse in der Induktionsphase?

Christoph HofbauerMentoring und Schulentwicklung. Das Rolff’sche Drei-Wege-Modell weitergedacht: Fokus auf Schulkultur, Profession und Praxis

Robert NehfortGibt es pädagogische Kunstfehler? Wenn ja, wie gehen wir damit um?

III.  Formen, Bilden und Gestalten im Mentoring

Ilse SchrittesserMentor*innen als „Teacher Educators“

Elisabeth Haas, Christian Kraler & Ann Kathrin DittrichDie Entwicklung des Mentorings in der Lehrer*innenbildung – vom Lehrmeister-Denken zur kooperativen Professionalisierung

Petra Heißenberger & Michaela TscherneDie zentrale Rolle der schulischen Führungskraft bei der Implementierung von Mentoring-Programmen in der autonomen Schule

Stephan Gerhard Huber & Nadine SchneiderMentoring in der schulischen Führungskräfteentwicklung in Deutschland. Ein Plädoyer für Mentoring als effektive Maßnahme der individuellen Professionalisierung

Monika Hofer-Rybar & Simone BreitPraxis neu denken und gestalten. Lernorte- und Mentoring-Konzept im Hochschullehrgang Elementarpädagogik

IV.   Einblicke durch aktuelle Studien zum Mentoring

Manuela Keller-SchneiderRollengestaltung im Mentoring der Berufseinführung in der Schweiz

Johannes Dammerer, Lisa Stieger & Elisabeth WindlAllen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann! Rollenfindung von Mentor*innen – eine Herausforderung?

Silvia Pichler & Anne FreyIch habe den Weg finden müssen, wie ich die Schüler*innen führen kann. Eine Interviewstudie zu den Entwicklungsaufgaben im Berufseinstieg

Katharina NeuberPotenziale der kollaborativen Reflexion von Schülerrückmeldungen in der Lehrkräftebildung

Claudia Weinzettl & Sabine ZenzQuereinstieg in das Lehramt. Eine qualitativ-empirische Untersuchung zu Unterstützungsmaßnahmen für Quereinsteigende der Sekundarstufe Allgemeinbildung

Johannes Dammerer, Verena Ziegler & Stefanie Artner-NinanDer Hochschullehrgang mit Masterabschluss „Mentoring: Berufseinstieg professionell begleiten“ der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich. Perspektiven von Absolvent*innen

V.    Wohlbefinden und Resilienz im Mentoring

Kurt AllabauerResilienzförderung für (beginnende) Lehrer*innen hilft auch deren Schüler*innen, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen umzugehen

Andrea Magnus & Helmut RothWas kann Mentoring in der Ausbildung angehender Lehrkräfte zur Förderung von Resilienz beitragen?

Sabine HöflichResilienz – Was in den pädagogisch-praktischen Studien stark macht. Perspektiven von Studierenden im Bachelorstudium Primarstufe

Benjamin DreerMentoring als Mittel zur Förderung des Wohlbefindens von erfahrenen und angehenden Lehrkräften

Die Autor*innen

Erwin Rauscher

Zum Geleit

Nun also.

Was in aller Welt mag das sein, dachte er, der Sack ist wohl mit lauter Edelsteinen angefüllt; den sollte ich billig auch noch haben, denn aller guten Dinge sind drei. Wir alle kennen diesen Satz aus dem Grimm’schen Märchen Tischlein deck dich. Nun also Sammelband Nummer drei zum Mentoring: Drei – Zahl des Glücks und des Erfolgs?! Die Theologie nennt die Dreifaltigkeit; die Heiligen Drei Könige; die Auferstehung am dritten Tag; die Dreiheit Himmel, Erde und Hölle oder auch Glaube, Hoffnung und Liebe. In der griechischen Mythologie kennen wir die drei Götter Zeus, Poseidon und Hades; in der ägyptischen die Gottheiten Isis, Osiris und Horus; im Hinduismus die Götter Brahma, Vishnu und Shiva. Richard Wagners Rheintöchter sind drei, auch Shakespeares König Lear hat drei Töchter. Die Grundmuster vieler Märchen zeugen von drei Wünschen, drei Schwestern/drei Brüdern oder von drei Prüfungen.

Nun also Mentoring als Möglichkeitsraum: Robert Musil konfrontiert uns in seinem Mann ohne Eigenschaften mit konträren Möglichkeiten, die Welt zu beschreiben. Schon seit Sokrates wissen wir, dass alles auch anders sein könnte. Möglichkeitsmenschen lieben den Konjunktiv, manche nennen sie Träumer und Visionäre, andere Besserwisser oder Schwächlinge. Will also dieser dritte Band eine neue Ordnung entwerfen wie Musil, also Utopie, oder will er die Wirklichkeit kritisieren? Oder ist der Mensch einer Freiheit verpflichtet (in Sartres Fliegen dazu verurteilt), sich zu dem zu machen, was er sein möchte? Wenn wir die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind, mahnt uns Goethe in seinen Wilhelm Meisters Lehrjahren. Sind es die Lehrjahre junger Lehrer*innen, die Mentoring brauchen oder gar suchen?

Nun also (schon wieder oder noch immer) Professionalisierung: Entwicklung des Tuns zum Beruf. Qualitätsverbesserung und Standardisierung. Standesorganisation und Beratung. Aber ist Beratung umkehrbar? Braucht Professionalisierung mehr Modelle oder mehr Gewissen? Diskutiert sie Möglichkeiten oder strebt sie nach Wirklichkeit? Setzt sie berufsbiografisch an oder wissensbasiert? Wie steht sie zur Macht, zum System, zur Struktur? Will sie den Status (des Lehrberufs) kritisieren, erklären oder verändern und verbessern? Ist sie angebotsseitig verbrämt oder gar nur selbstentwicklerisch erwerbbar? Verändert sie den Arbeitsmarkt oder verfestigt sie ihn?

Nun also (auch nach dem Studium) Qualifizierung: Verbesserung und Fortschreiben von Qualifikation. Erweiterung und Überwindung hochschulischer Qualifikation zugleich. Ist Mentoring ein Beitrag zum Nachher des Studiums und/oder zum Vorher des Berufs? Degradiert Mentoring die Ausbildung zur Grund- und die Fortbildung zur Weiterqualifizierung, überhöht es alles Bisherige durch Requalifizierung? Überwindet Mentoring das Studium durch Meisterlehre? Oder macht ein*e Mentee die Meisterlehre zur Meisterleere? Braucht es Standard Operation Procedure oder sucht es nach Individualised Work Design?

Nun also Wahrnehmen, wie wir gestalten: Also subjektiv Information gewinnen aus Umwelt, Mitwelt und Innenwelt. Unbewusst und/oder bewusst. Durch Transformation von Reizen oder durch Integration von Anlässen? Gestalten als kreatives Entwickeln und modifizierendes Tun. Also bloß informiert werden über das Eigene? Oder angeleitet werden zum Fremden? Das Gestalten wahrnehmen – welch Antagonismus dazu, das Wahrnehmen zu gestalten.

Nun also das Sein zu dritt – das War, das Wird, sie kommen mit. Der dritte Band sei ein lachender: Denn wenn es der Dritte weiß, so weiß es die Welt.

Baden, Juli 2023

Univ.-Prof. MMag. DDr. Erwin Rauscher ist Rektorder Pädagogischen Hochschule Niederösterreich

Johannes Dammerer, Christian Wiesner & Elisabeth Windl

Vorwort der Herausgeber*in

Als Herausgeber*in freuen wir uns, mit diesem nun dritten Sammelband ein offenes Ende anbieten zu können. Die drei Sammelbände stellen im Sinne eines ersten Abschlusses einer Trilogie nunmehr eine über einige Jahre gewachsene und wertvolle Zusammenarbeit zwischen verschiedenen hochschulischen und universitären Institutionen dar. Über die Jahre des Zusammenwirkens hinweg versuchen die Sammelbände das pädagogische Mentoring als wesentlichen Auftrag und als essenzielle Aufgabe für die Lehrer*innenbildung in den Vordergrund zu rücken und zugleich die Gelingensbedingungen von Mentoring wie auch das tatsächliche Verständnis von Mentoring als ein Verfahren der Begleitung von Menschen herauszuarbeiten. Der vorliegende Sammelband ist sicherlich nicht der Abschluss dieses Prozesses, vielmehr sind hier noch viele Theorie- und Forschungsfelder weiter zu beackern, um begriffsnah weiterhin den wissenschaftlichen Boden für das pädagogische Mentoring aufzubereiten. Der erste Band erläutert den pädagogischen Kontext des Mentorings (2020), der zweite Band diskutiert Mentoring als Auftrag zum Dialog (2022). Der dritte Band zum pädagogischen Mentoring widmet sich den Möglichkeitsräumen, dabei werden erneut mannigfaltige Facetten aufgeboten, wodurch der Blick auf die Ausbildung, den Berufseinstieg und die Fort- und Weiterbildung theoretisch, forschungsrelevant und praxisorientiert geschärft werden kann. Die kreierten und geschaffenen Möglichkeitsräume ermöglichen wahrzunehmen, wie wir Mentoring gestalten.

Die Pädagogische Hochschule Niederösterreich involviert sich als Bildungsinstitution in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrpersonen und Schulleitungen wesentlich bei der Schaffung, Verwirklichung und Weiterentwicklung einer bestmöglichen Gestaltung eines professionellen Mentorings und sieht sich im Besonderen in der pädagogischen Herausforderung mitverantwortlich, ein ganzheitliches Professionalisierungskontinuum von Lehrpersonen zu ermöglichen.

Der vorliegende Sammelband wendet sich erneut an ein möglichst breites Publikum, da die Beiträge für die Akteur*innen im Bildungssystem, in der Forschung und Schulentwicklung wie auch in der Professionalisierung von Lehrpersonen geschrieben wurden. Der Band strukturiert sich nach unterschiedlichen Dimensionen, die möglichst die Herausforderungen des Mentorings sowohl in der Professionalisierung, der Theorieentwicklung als auch in der Forschungsmethodik behandeln.

Erwin Rauscher verweist in seinem Geleit „Nun also“ als Auftakt zum dritten Sammelband auf die Symbolkraft der Zahl „3“, reflektiert Möglichkeit und Wirklichkeit und wünscht dem dritten Mentoring-Band, dass er ein „lachender“ sei. Das Grundthema des dritten Bands ist das Mentoring als Möglichkeitsraum. Das für diesen Sammelband bestimmende Wort des Möglichkeitsraums verbindet die Begriffe Raum und Möglichkeit. Möglichkeit verweist mit Blick auf Pfeifer (1993a) etymologisch sowohl auf „Vermögen“ als auch auf „Gelegenheit, Chance“. Raum meint den „Platz zur freie[n] Bewegung oder zum Aufenthalt“ wie auch die „raumhafte Darstellung“ (Räumlichkeit) und deren „Wirkung“ (Pfeifer, 1993b). Beide Begriffe werden in unterschiedlichen Kontexten und in Metaphern verwendet (Nieke, 2016, S. 63), wodurch unterschiedliche „theoretische Weltorientierung[en]“ mittels der Begriffe angeboten werden. Da der Mensch grundsätzlich ein „räumliches Wesen“ (Burghardt & Zirfas, 2016, S. 51) ist und das Räumliche Orientierungsmöglichkeiten bietet, wird das menschliche Sein auch stets von räumlichen Erfahrungen geformt. Der Mensch orientiert und verständigt sich mit Bezug auf Kamper (2005) auf Grundlage von räumlichen Begriffen, dafür werden auch für das Lernen vielfältige raumbestimmende Wörter herangezogen, wie nachfolgend, oberhalb von, unterhalb von, davor oder danach u. a. m. Ebenso die Begriffe für Seiten (vorn, hinten, links, rechts, oben, unten) und für Richtungsangaben (vor mir, hinter mir, nach vorn, nach hinten, links von mir und rechts von dir u. a. m.). Jeder räumliche Verweis dient zugleich einer gedanklichen Orientierung und der intellektuell-analytischen Entwicklung. Jede räumliche Orientierung ist eine Bestimmung des Bezugspunkts, der Positionalität und des Standpunkts. Damit wird die Verinnerlichung der Seiten und der Richtungen der Ausgangspunkt aller möglichen Entwicklungen (Wiesner, 2020a). Entwicklung und Veränderung beruhen damit auch auf Bewegung und Stabilität, die räumlich verstanden sowohl ein Stillstehen als auch eine Bewegung nach vorn, hinten oder ebenso eine seitliche Bewegtheit bedeuten kann. Die Mentees können den Mentor*innen folgen oder vorangehen, sich selbst bewegen oder sich eben auch nicht bewegen lassen. Der Mensch formt sich also einen inneren Vorstellungsraum, der alle Möglichkeitsräume bereitstellt (Kamper, 2005b).

Wird der Bezugspunkt und Standort gedreht und gewechselt, dann dreht sich das Gesamtsystem, die Struktur muss sich anpassen und ein neuer, anderer Mittelpunkt kann entstehen. Dabei handelt es sich um Prozesse, die sich in der menschlichen Entwicklung über die Lebensspanne mehrmals ereignen und den Menschen als Person und Individuum wachsen lassen (Wiesner, 2020b). Auch die Begleitung durch das Mentoring wird so für die Mentees zu einem Erfahrungsraum: Räume und ihre Möglichkeiten bieten dem Menschen grundsätzlich sowohl Offenheit als auch Geschlossenheit und lassen das Gestalten erleben. Im Erfahrungsraum des Mentorings wird daher reflexiv und bewusst auf die professionelle Qualifizierung für die Praxis geachtet, diese wird ausdrücklich wahrgenommen und aktiv gestaltet. Mit Blick auf das Lernen im Mentoring ist die eigene Verortung die wesentliche Voraussetzung für die Aneignung eines professionellen Lehrpersonenhabitus wie auch dafür, andere Personen und deren Lernen als deren Bezugspunkte und Standpunkte aus einer unterscheidbaren Positionalität aus zu verstehen – nämlich von dort aus und aus deren Sicht.

Mit Blick auf Göhlich (2016) lässt sich festhalten, dass Räume freilassend, warm, kalt, anregend, freundlich und auch unfreundlich erfahren und erlebt werden können. Daher können die Beschreibungen auch die Möglichkeitsräume durch das Mentoring annehmen. Wesentlich ist dabei, dass es sich um Räume des Lernens handelt, die ebenso das Lernen sowohl öffnen als auch schließen können. Daher geht es im Besonderen um die kritisch-emanzipative Wahrnehmung der Gestaltung des jeweiligen Lernraums, wodurch erst vielfältige Lernmöglichkeiten bewusst geschaffen werden können. Gerade der Begriff Raum ist nach Nieke (2016, S. 64) mit dem „Terminus cultura“ verbunden, also mit der „semantisch[en] Basis der heutigen Termini Kultur und culture“. Mit dieser Sicht eröffnen Möglichkeitsräume daher immer auch kulturelle Räume sowie eine kulturelle Vielfalt des Möglichen. Ebenso ist der Begriff der Grenze „eine Raummetapher“ (S. 71), weshalb das Mentoring auch die Grenzen des Lernens und Lehrens aufzuzeigen hat.

Alle Möglichkeitsräume schaffen einen „Handlungsraum und Vorstellungsraum“ (Burghardt, 2014, S. 190), wodurch jede Art und Weise von „Anschauung“ (Piaget & Inhelder, 1948, S. 520) wie auch das Rekonstruieren von Sachverhalten, Gegenständen und Welt erst möglich wird. Weltbilden und Weltanschauung im Sinne von Lehren und Unterrichten durch Zeigen, Vermitteln und Erkunden braucht einen Vorstellungsraum, in welchem gehandelt werden kann. Lernen als Prozess oder in anderen Worten der Lernprozess ist deshalb grundsätzlich geprägt vom vorzufindenden und vorgefundenen Möglichkeitsraum. Nur Raum (und Zeit) ermöglicht Lernen in und durch Gemeinschaft.

Möglichkeitsräume kreieren zugleich immer auch einen „Kulturraum und Sozialraum“ (Nieke, 2016, S. 66), wodurch ein spürbarer „Nahraum“ entsteht, der zu einem unmittelbaren Kommunikationsraum wird. Raum und Möglichkeiten rahmen also die pädagogische Situation und Praxis, darin wohnen die Lernenden und Lehrenden und darin öffnen und schließen sich vielfältige Formen des Lerngeschehens (Göhlich, 2016). Mit Blick auf Nieke (2016) kann Lernen von oben, unten oder unter als im Geschehen stattfinden, was auf Gleichheit und Ungleichheit wie auch auf das Inmitten des gemeinsamen Erfahrens und Erlebens hinweist. Daher kann Lernen auch nach vorn oder hinten fortschreiten und zwei Schritte vorwärts und einen zurück machen. Ebenso kann Lernen von links nach rechts oder von rechts nach links verstanden, begriffen, geordnet und systematisiert stattfinden. Lernen kann umgreifendes Lernen sein, in dem etwas begriffen und erfasst wird, oder erkundendes Lernen, in dem etwas verstanden und durchschaut wird. Auch kann Lernen durch Zeigen erfolgen und das Schauen das Nachahmen ermöglichen. Alles Lernen ist dabei in Möglichkeitsräume eingebettet. Das Rundherum schafft Überblick, der Weitblick ordnet das Ganze übersichtlich und Beziehung eröffnet einen Nahblick, damit die Welt mit den Sinnen berührt werden kann. Der Raum als Vorstellungsraum und Handlungsraum, als Sozialraum und Kulturraum schafft diese vielfältigen Möglichkeiten.

Diese Idee der Möglichkeitsräume und der Räumlichkeit auch zur Verortung und Positionierung, die im und vom Mentoring kreiert, gestaltet und eingenommen wird, ist in den vorliegenden Beiträgen im Sinne eines roten Fadens als grundlegender Gedanke und anschauliches Vorstellungsbild auffindbar. Der erste Abschnitt des Sammelbands führt zu eröffnenden Perspektiven durch theoretische Fundierungen und Grundlagen, die sich auf die Formen von Facetten von Möglichkeitsräumen beziehen. Der Blick richtet sich im Sammelband auf die Vielfältigkeit von Möglichkeitsräumen als Vorstellungsräume, Handlungsräume, Lernräume, Sozialräume, Kommunikationsräume, Interaktionsräume und Kulturräume, die von den Mentor*innen in der Ausbildung von Lehrpersonen geöffnet und/oder geschlossen werden können.

Der erste einleitende Beitrag zum ersten Themenbereich Grundlagen im Mentoring von Christian Wiesner & Tanja Prieler erkundet das Thema Kompetenzen sehen lassen. Dabei werden ein Weg zu einer Theorie des Mentorings sowie dazu die möglichen Kompetenzräume wie auch die dahinterliegenden Theorien aufgezeigt, um alle Herangehensweisen an Kompetenzen und Kompetenzmodelle kritisch und emanzipativ analysieren zu können. Im zweiten Beitrag Literalität, Literacy und Literacies auf der Spur stellen die beiden Autor*innen Christian Wiesner & Tanja Prieler als Vervollständigung zum einleitenden Artikel die vielfältigen Theorien des Vermögens und der Literalität vor und die Räume des Vermögens auf, die sich grundsätzlich von den Theorien zu den Kompetenzen unterscheiden lassen. Sarah-Maria Rotschnig & Stefan Zehetmeier stellen im darauffolgenden Beitrag die dazu ergänzende Frage Was Mentor*innen wissen können und müssen und weisen darauf hin, dass trotz vermehrten Forschungsinteresses es bisher nicht gelungen ist, ein Kompetenzmodell für diesen speziellen Bereich der Lehrer*innenbildung zu erarbeiten. Vielmehr gibt es bislang vor allem wünschenswerte Handlungspraktiken sowie formulierte Aufzählungen und Rezepte, jedoch nur wenige Modellbildungen. Daher versuchen Hannelore Zeilinger & Johannes Dammerer in ihrem Beitrag Zur Modellierung von Lehrer*innen-Kompetenz im Berufseinstieg ein Professionsmodell anzubieten, welches die systemischen und individuellen Anforderungen an beginnende Lehrpersonen auch in Rückbezug auf die Beiträge von Wiesner & Prieler in einem Kompetenzstrukturmodell abbilden.

Der zweite Themenbereich zur theoretischen Fundierung des Mentorings wird von Christian Wiesner & Michael Gebauer mit dem Titel Das In-der-Welt-Sein als Grundverfassung des Mentorings eröffnet und zeigt mögliche Räume und Wege zu einer Theorie des Mentorings auf, in welcher zugleich Modellierungen von literacies angeboten werden. Elisabeth Windl bietet anschließend weitere theoretische Einsichten an und setzt sich mit Entwicklung des berufsbezogenen Selbstkonzepts und der berufsspezifischen Selbstwirksamkeitserwartung als Basis für Verbesserung der Unterrichtsqualität auseinander. Dabei wird basierend auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen ein Strukturmodell der aktiven Unterrichtsnachbesprechungen als ein Modell der Auseinandersetzung angeboten. Johannes Dammerer hält in seinem Beitrag fest, dass es im Mentoring darum geht, dass nicht übereinander geredet, sondern miteinander entwickelt wird. Daher werden die möglichen Entwicklungen durch formelles Mentoring in der Schule über den Berufseinstieg hinaus ausgiebig diskutiert und erörtert. Ein weiterer theoretischer Einblick kommt von Claudia Schreiner zu den Strategien formativen Assessments, indem sich der Beitrag mit der Rahmung von Mentoring-Prozessen in der Induktionsphase beschäftigt, und dabei das ursprüngliche Modell des formativen Assessments aus dem schulischen Lernen weiterentwickelt wird. Christoph Hofbauer bietet danach einen umfänglichen Blick auf Mentoring und Schulentwicklung und denkt das Rolff’sche Drei-Wege-Modell mit einem Fokus auf Schulkultur, Profession und Praxis weiter. Robert Nehfort stellt danach am Ende dieses Abschnitts in einem kurzen Beitrag die spannende Frage, ob es im Mentoring pädagogische Kunstfehler gibt und wenn ja, wie wir damit umgehen.

Den dritten Themenbereich zu Formen, Bilden und Gestalten im Mentoring eröffnet Ilse Schrittesser mit dem Blick darauf, dass die erworbenen professionellen Kompetenzen eng mit spezifischen, im Studium und in den Praktika eröffneten Lerngelegenheiten zusammenhängen und daher Mentor*innen als Teacher Educators im Sinne der Lehrer*innenbildung zu betrachten sind. Elisabeth Haas, Christian Kraler & Ann Kathrin Dittrich zeigen die Entwicklung des Mentorings in der Lehrer*innenbildung auf und betonen dabei den Wandel in Österreich vom Lehrmeister-Denken zur kooperativen Professionalisierung. Die zentrale Rolle der schulischen Führungskraft bei der Implementierung von Mentoring-Programmen in der autonomen Schule wird von Petra Heißenberger und Michaela Tscherne herausgearbeitet und dabei im Besonderen das Mentoring als Teil der Führungskultur benannt. Inhaltlich wird der bestehende Faden durch Stephan Gerhard Huber, Pia Eßer & Nadine Schneider weitergeführt, um im Beitrag Mentoring in der schulischen Führungskräfteentwicklung in Deutschland ein Plädoyer für Mentoring als eine sehr effektive Maßnahme der individuellen Professionalisierung vorzutragen und um Mentoringprogramme in Deutschland exemplarisch aufzuzeigen. Der daran anschließende Beitrag von Monika Hofer-Rybar & Simone Breit lässt die Praxis neu denken und gestalten und gewährt Einblicke in die Lernorte- und Mentoring-Konzepte in der Elementarpädagogik.

Manuela Keller-Schneider führt mit ihrem Beitrag Rollengestaltung im Mentoring der Berufseinführung in der Schweiz in den vierten Themenbereich zu den aktuellen Einsichten in das Mentoring durch Studien ein und präsentiert aktuelle Erkenntnisse und Ergebnisse aus Studien zum Mentoring. Die Rollenfindung von Mentor*innen und die daraus sich eröffnenden Herausforderungen werden danach von Johannes Dammerer, Lisa Stieger & Elisabeth Windl unter dem Titel Allen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann mit einem deutlichen Blick auf die Idee der Passung thematisiert. Anne Frey & Silvia Pichler thematisieren den Weg, der zu finden ist, damit Lehrpersonen Schüler*innen führen können und zeigen dabei Entwicklungsaufgaben im Berufseinstieg auf. Anschließend fragt Katharina Neuber nach den Potenzialen der kollaborativen Reflexion von Schülerrückmeldungen in der Lehrkräftebildung und stellt ausgewählte Befunde ihrer Studie vor. Claudia Weinzettl & Sabine Zenz berichten in ihrem Beitrag ausführlich zum Quereinstieg in den Lehrberuf über eine qualitativ-empirische Untersuchung zu Unterstützungsmaßnahmen für Quereinsteigende in das Lehramt. Abschließend wird der Hochschullehrgang mit Masterabschluss „Mentoring: Berufseinstieg professionell begleiten“ der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich aus den Perspektiven von Absolvent*innen betrachtet, indem Johannes Dammerer, Verena Ziegler & Stefanie Artner-Ninan die erlebte Kohärenz in Ausbildungen thematisieren.

Den fünften Themenbereich zum Wohlbefinden und zu Resilienz im Mentoring leitet Kurt Allabauer mit der Resilienzförderung für (beginnende) Lehrer*innen ein, die auch deren Schüler*innen hilft, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen umzugehen. Dabei geht es wie im gesamten Themenbereich vor allem um Gelingensbedingungen für einen Unterricht, der die Lernenden in der Entwicklung ihrer sozialen und emotionalen Fähigkeiten begleitet. Andrea Magnus & Helmut Roth stellen im Folgenden die Frage, was Mentoring in der Ausbildung angehender Lehrkräfte zur Förderung von Resilienz beitragen kann. Daran anschließend schreibt Sabine Höflich über Resilienz und gibt Auskunft darüber, was in den pädagogisch-praktischen Studien Lehrpersonen stark macht. Der abschließende Beitrag zu diesem Themenbereich stammt von Benjamin Dreer und trägt den Titel Mentoring als Mittel zur Förderung des Wohlbefindens von erfahrenen und angehenden Lehrkräften. Darin wird ein Modell der Zusammenhänge von Wohlbefinden und Mentoring präsentiert.

Der vorliegende Sammelband und auch die Professionalisierung des Mentorings an der Pädagogischen Hochschule in Niederösterreich wären ohne die wohlwollende Unterstützung des Gründungsrektors Erwin Rauscher nicht möglich gewesen. Die Herausgeber und die Herausgeberin danken im Besonderen allen Autor*innen und den Mitarbeiter*innen des Studienverlags für die verlässliche und wertschätzende Zusammenarbeit bei der Herstellung und der Publikation dieses Werks. Wir danken den Gutachter*innen für die kritische Durchsicht und das immer konstruktive Feedback, wodurch die Qualität der eingereichten Beiträge maßgeblich gesteigert werden konnte. Ganz besonders danken wir allen Mitarbeiter*innen im Thema Mentoring an der PH NÖ (Verena Ziegler, Kathrin Schwab, Manuela Stieder, Claudia Weinzettl, Eva Ortmayr) und Hannelore Zeilinger, Mitarbeiterin und Lehrende an der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich im Bereich Mentoring, für die Unterstützung der Herausgeber*in. Herzlichen Dank!

Johannes Dammerer, Christian Wiesner & Elisabeth WindlHerausgeber und Herausgeberin des SammelbandsMentoring als MöglichkeitsraumBaden, August 2023

Referenzverzeichnis

Burghardt, D. (2014). Homo spatialis. Eine pädagogische Anthropologie des Raums. Beltz.

Burghardt, D. & Zirfas, J. (2016). Anthropologie und Raum: Pädagogische Zugänge. In C. Berndt, C. Kalisch & A. Krüger (Hrsg.), Räume bilden − Pädagogische Perspektiven auf den Raum (S. 51−62). Klinkhardt.

Dammerer, J., Wiesner, C. & Windl, E. (Hrsg., 2020). Mentoring im pädagogischen Kontext: Professionalisierung und Qualifizierung von Lehrpersonen: Wahrnehmen, wie wir bilden (Band 1). Pädagogik für Niederösterreich. Band 10. Studienverlag.

Göhlich, M. (2016). Raum als pädagogische Dimension. Theoretische und historische Perspektiven. In C. Berndt, C. Kalisch & A. Krüger (Hrsg.), Räume bilden − Pädagogische Perspektiven auf den Raum (S. 36−50). Klinkhardt.

Kamper, G. (2005a). Ich bin der Bezugspunkt meines Systems − Und Du? Über Seiten, Richtungen und Beziehungen und räumliche Begriffe. Alfa-Forum: Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung, 60, 17–18.

Kamper, G. (2005b). Von dieser Position aus gesehen … Über Standpunkte und Perspektiven – von Feldern und Buchstaben bis zu anderer Leute Schuhe. Alfa-Forum: Zeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung, 60, 19–21.

Nieke, W. (2016). Redeweisen über Raum aus kulturtheoretischer Perspektive in ihrer Relevanz für die Erziehungswissenschaft. In C. Berndt, C. Kalisch & A. Krüger (Hrsg.), Räume bilden − Pädagogische Perspektiven auf den Raum (S. 63–74). Klinkhardt.

Pfeifer, W. (1993a). Möglichkeit, die [Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache]. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. https://www.dwds.de

Pfeifer, W. (1993b). Raum, der [Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache]. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. https://www.dwds.de

Piaget, J. & Inhelder, B. (1948). Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde: Gesammelte Werke 6 Studienausgabe (Auflage 1975). Klett-Cotta.

Wiesner, C. (2020a). Strukturdynamische Modellierung von Mentoring: Bewegungen, Richtungen und Ausrichtungen. In J. Dammerer, E. Windl & C. Wiesner (Hrsg.), Mentoring im pädagogischen Kontext: Professionalisierung und Qualifizierung von Lehrpersonen. Wahrnehmen, wie wir bilden (S. 85–111). Studienverlag.

Wiesner, C. (2020b). Wege in die Entwicklungspädagogik. Einsichten in die pädagogische Entwicklungslehre. R&E-Source: Open Online Journal for Research and Education, 14, 1–25.

Wiesner, C., Windl, E. & Dammerer, J. (Hrsg., 2022). Mentoring als Auftrag zum Dialog. Professionalisierung und Qualifizierung von Lehrpersonen. Wahrnehmen, wie wir interagieren (Band 2). Pädagogik für Niederösterreich. Band 12. Studienverlag.

I. Grundlagen im Mentoring: Kompetenzen, Literacy, literacies und Modellierungen

Christian Wiesner & Tanja Prieler

Kompetenzen sehen lassen

Die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten aus der Sicht der Kompetenz im Mentoring

Abstract

Auf dem Weg zu einer Theorie des Mentorings setzt sich der Beitrag mit dem Begriff der Kompetenz auseinander und analysiert vielfältige dahinterliegende Theorien, um die wesentlichen Paradigmen von Kompetenz aufzuzeigen. Diese wirken und prägen das Mentoring und es erscheint essenziell, bevor bestimmte Kompetenzen im Mentoring eingefordert oder grundgelegt werden, dass das jeweilige Verständnis von Kompetenz zuvor geklärt und transparent gemacht wird. Es ist risikoreich, Kompetenzen zu formulieren, ohne das dahinterliegende Menschenbild und die Weltanschauung vorzustellen. Kompetenzen werden aus Theorien heraus entwickelt und formuliert, die Paradigmen zuordenbar sind und meist so selbstverständlich erscheinen, dass deren Strebungen und Motive nicht thematisiert oder deren Geltungsansprüche und Sinnhaftigkeit kaum diskutiert werden. Jedoch ist es gerade für das Mentoring als ein reflexives Konzept von Begleitung unumgänglich, Vorstellungen von Kompetenzen kritisch und emanzipativ zu analysieren und damit Begleitung zu professionalisieren.

1. Hinführung

Auf dem Weg zu einer Theorie des Mentorings, wie sie durch die zusammenhängenden Sammelbände von den Herausgeber*innen Dammerer et al. (2020), Wiesner et al. (2022) und Dammerer et al. (2023) erarbeitet wird, erscheint es unumgänglich, sich mit der Idee von Kompetenzen im Mentoring auseinanderzusetzen. Jedoch erfordert ein solches Vorhaben zunächst die Erkundung und Klärung des viel verwendeten Worts und der dahinterliegenden Vorstellungen wie auch Menschenbilder. Der Begriff der Kompetenz ist grundsätzlich als eine „Container-Formel“ (Tröster & Schrader, 2016, S. 42) zu verstehen, die ein bestimmtes Verständnis von Fähigkeit und Fertigkeit ausformuliert. Die Gemeinsamkeit aller Kompetenzansätze besteht also darin, dass diese auf der Idee, dem Konzept und dem Konstrukt der Fähigkeiten und Fertigkeiten beruhen und Konstrukte von Konstrukten darstellen. Um daher die Idee der Kompetenz und die vielfältigen theoretischen Ausformulierungen zu erläutern, sind vorab einige Begriffsklärungen zur Schaffung einer Ausgangslage notwendig. Das Wort Fähigkeit verweist nach Vukovich (1977, S. 295) sowohl auf geistige Vollzüge als auch auf die „leistungsbezogenen“ Tätigkeiten und meint ebenso ein körperliches Tun. Der Begriff fähig hat zudem noch etwas Anschauliches und bedeutet etymologisch „imstande sein zu etw.“ (Pfeifer, 2011, S. 316), dabei leitet es sich von „fahren“ und „fangen“ ab, wodurch es ursprünglich ein „imstande sein zu fassen, aufzunehmen, empfänglich“ meint, „sowohl körperlich (von Gefäßen) als auch geistig“. In der Rechtssprache nimmt der Begriff Bezug auf „berechtigt (vgl. erbfähig)“, in der Jagd ist etwas „fangbar“ und in der Geisteswissenschaft sind Menschen „befähigt“, also mittels „Vermögen“ in der Lage und imstande, etwas zu erfassen, zu begreifen, aufzunehmen und zu erlangen. Vermögen ist als Begriff jedoch mehr mit Literacy und literacies verbunden als mit dem Konstrukt der Kompetenz. Davon zu unterscheiden sind die Fertigkeiten, die pädagogisch betrachtet als „geübte Verhaltensweisen“ zu verstehen sind. Das Wort fertig bedeutet etymologisch „bereit, beendet, erschöpft“ (Pfeifer, 2011, S. 337) und meint als Fertigkeit die „Übung“ und die „Geschicklichkeit“, die aus der „Fähigkeit“ und aus der „[Fertigung f.] Herstellung“ hervorgehen und auf ein „zustande, zu Ende bringen“ hinweisen. Die Talente sind davon zu unterscheiden, sie sind etwas Ungewöhnliches, nicht Erlernbares und gehen etymologisch auf eine „antike Gewichtseinheit“ (S. 1409) und die „entsprechende Geldsumme“ zurück. Also auf das „Vermögen“, auf einem „Gebiet etwas zu leisten, wozu nicht jedermann in der Lage ist“, und eine „von Gott verliehene Gabe des Verstandes bzw. Geistes“. Davon zu trennen sind noch die Begabungen im Sinne von Gabe, Geschenk und „Erbanlagen“ (Vukovich, 1977, S. 295). Zusätzlich ermöglicht die Differenzierung in Fähigkeits- und Fertigkeitsgrade, Niveaus oder Stufen, die Vollzüge, Tätigkeiten und Akte deutlicher und klarer zu erhellen und Erkennbares sowie Unterscheidbares zu offenbaren (Schreiner & Wiesner, 2022; Wiesner & Schreiner, 2020). Durch das Erkennen, Unterscheiden und Beurteilen von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Talenten und Begabungen entsteht die Verbindung zum Begriff der „Diagnose (griech. diágnōsis)“ (Wiesner, 2020a, S. 591) als „Lehre des Erkennens“ und der angemessenen Beobachtung, um zu Evidenzen zu gelangen (Schratz et al., 2019; Wiesner et al., 2018). Die Lehre des Erkennens ist somit die Voraussetzung zur Klärung der Ideen von Kompetenz.

2. Einführung

Diagnostik als Erkennen, Unterscheiden und Beurteilen ist eine Analysefähigkeit und damit wesentlich, um Paradigmen und Theorien der Kompetenz zu bestimmen. Zugleich ist Diagnostik maßgeblich für die Beziehung zwischen Mentor*innen und Mentees wie auch Lehrenden und Lernenden. Diagnostik ist daher ein wesentlicher Bestandteil jeder Bewertung und Begutachtung und hat „in schulischen Entscheidungssituationen den Zweck, [Daten und] Informationen [und Wissen] zur Optimierung [und Entwicklung] des pädagogischen Handelns zu gewinnen“ (Reulecke & Rollett, 1976, S. 177), um Entscheidungen theorieund praxisnahe vorzubereiten. Pädagogische Diagnostik im Mentoring meint dreierlei, das Erkennen und Beurteilen des eigenen Mentoring-Daseins, des Miteinanders, also die Beziehung, den Bezug und die Bezogenheit zwischen dem Mentoring, den Mentees und den Vollzügen, Tätigkeiten und Akten. Zeichentheoretisch kann im Sinne von Peirce (1903a, S. 137) von der „triadische[n] Relation“ gesprochen werden (Wiesner, 2022a), oder anders ausgedrückt: Es handelt sich wie bei einem gezeichneten Bild um eine Vorstellung, welche die wesentlichen Relationen im Mentoring darstellt und aus dem anschaulich Praktischen zu einer Modellierung und Theoretisierung führt. In den Vordergrund rückt also die Kompetenz der Mentor*innen, die Kompetenz der Mentees und das Konzept von Kompetenz überhaupt. Ob, was von und wie Lehrerarbeit wirklich messbar ist (Zeilinger & Dammerer, 2022) oder ob und welche Formen von Kompetenzmodellen als „zentrale Aspekte der formalen Gutachtenvorlage“ tatsächlich zur Beurteilung angehender Lehrer*innen gewinnbringend, dienlich und brauchbar sind (Kruse, 2022, S. 38), solche Fragen werden durch den vorliegenden Beitrag nicht nur herausgefordert, sondern vielmehr wird die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff und der Idee der Kompetenz eingefordert.

Wesentlich zur Erkundung und Klärung von Kompetenz ist daher, die dahinterliegenden Ideen, also die Konzepte von Kompetenz, zu erörtern, um ein gemeinsames Bild der Vorstellungen über das Wesen von Kompetenz zu ermöglichen und um Kompetenzmodelle im Vergleich zu Literacy- oder literacies-Konzepten beurteilen zu können. Geht es wie in diesem Beitrag um das Auffinden von Denkfiguren und Denkgebäuden, dann spricht man oftmals von Paradigmen, die einen mehr oder weniger großen Reichtum an unterschiedlichen Theorien und Modellen in sich aufnehmen und in sich wohnen lassen. Daher ist jedes Verständnis von einem Paradigma deutlich „von einer konkreten Theorie zu unterscheiden“, erläutert Wiesing (2020, S. 21), da ein Paradigma (wie eine Makro- oder Megastruktur) einen gemeinsamen Rahmen von Theorien und Modellen formt, welchen sich eben „mehrere Theorien teilen“ und „innerhalb dessen gearbeitet [entdeckt, erklärt und aufgeklärt] wird“. Der „Ausdruck ‚Paradigma‘ […] ist die Komponente der gemeinsamen Positionen einer Gruppe“, schreibt Kuhn (1969, S. 198) und das Gemeinsame innerhalb eines Paradigmas besteht daher aus einer „Reihe von Theorien“ (S. 194), die bestimmende „Vor- und Grundannahmen“ (Wiesing, 2020, S. 21), „Grundüberzeugungen und Fragestellungen“ wie auch „Verallgemeinerungen oder Modelle“ (Kuhn, 1969, S. 196) sowie „Werte“ teilen. Diese Überzeugungen und Annahmen werden von „mehreren Theorien für so selbstverständlich gehalten […], dass sie mit ihnen arbeiten und denken, ohne diese Ansichten selbst zu thematisieren, geschweige denn in ihrer Geltung und Sinnhaftigkeit zu diskutieren“ (Wiesing, 2020, S. 21).

Der vorliegende Beitrag erkundet und klärt vielfältige Formen des Kompetenzverständnisses und zeigt im Besonderen diejenigen auf, die für das Mentoring und für den Weg zu einer pädagogischen Theorie des Mentorings wesentlich erscheinen. Die Vielfalt von Möglichkeiten, Kompetenz zu begreifen und zu erfassen, stellt auch für Klieme & Hartig (2007, S. 11) „Traditionen“ dar, die sich „überlagern“, und „manchmal in schwer durchschaubarer oder widersprüchlicher Weise“ im wissenschaftlichen Diskurs verwendet werden.

3. Dem Begriff der Kompetenz auf der Spur

Was ist Kompetenz? In der „Forschungsliteratur findet sich keine einheitliche Definition des Begriffs ‚Kompetenz‘“, schreibt Maag Merki (2009, S. 493), was nicht verwunderlich erscheint, sobald die Idee der Paradigmen mitbedacht wird. Zunächst würde die am Beginn gestellte sokratische Was-Frage von Overton (1991, S. 20) folgendermaßen paradigmenübergreifend und metaanalytisch beantwortet werden: „First, competence is a type of explanation, not a type of description. A competence explanation is characterized by being normative and abstract. Competence refers to an idealization of the organization, pattern, design, form, or structure of the event or system being explained.“ Bei dem Konzept der Kompetenz geht es demnach um das Erklären und nicht um die „reine“ Beschreibung eines möglichst stabilen und dauerhaften Konstrukts, wodurch zugleich die Entwicklungsdimension oftmals unthematisiert bleibt: „Competence is introduced into scientific discourse to explain the relatively stable, enduring components of the domain under examination“ (Overton & Chapman, 1991, S. 19; vgl. Overton, 1985, 1990; Overton & Newman, 1982).

Etymologisch betrachtet stammt der Begriff der Kompetenz aus dem lateinischen competentia ab und meint „Fähigkeit“ wie auch „Recht auf Abgabe, Einkünfte, Lebensunterhalt“ sowie „Zugehörigkeit, Zuständigkeit“ (Pfeifer, 2011, S. 699). Das lateinische Verb competere bedeutet „zutreffen, entsprechen“ und weist auf „angemessen, geeignet, zustehen, zukommen“ hin, das Adjektiv competens meint „zuständig, befugt, rechtmäßig, ordentlich“ (Redecker, 2017). Aus diesen Auffassungen heraus entwickelt sich ab dem 18. Jahrhundert das Verständnis von kompetent als „fähig, sachverständig“ (Pfeifer, 2011, S. 699) und biologisch betrachtet im Sinne Blüm (2017) die Fähigkeit zu antworten. Ab Anbeginn liegt die Betonung im psychologischen oder pädagogischen Kontext daher auf einer sachlich-inhaltlichen Ebene, die den Moment der individuellen Fähigkeit und des Fähig-Seins des Individuums (zu Entscheidungen) wie auch die Zuständigkeit (Antwortbarkeit, Verantwortung) hervorhebt. Kompetenz richtet sich nach Michel (1977, S. 178) ausdrücklich an das „‚Zuständig für‘ aufgrund von ‚Fähigkeit zu‘“ aus wie auch an das (hierarchisch gedachte) ‚Zuständig für‘ in Verbindung mit einem Amt oder einer Position. Ebenso wird Kompetenz „‚als Zuständigkeit‘ angestrebt“, was die „Zuständigkeit jedes Menschen für mündige [Ich- und] Selbstverwirklichung“ (Erg. d. Verf.) sichtbar macht und damit eine „Grundbedingung von Erziehung“ darstellt.

Umgreifende und ausformulierte Theorien der Kompetenz, die über „reine“ Begriffsklärungen hinausgehen und umgreifende Modellierungen über mehrere Perspektiven anbieten, liegen bislang kaum oder nicht vor. Zwar gibt es immer wieder Theorien mit „Berufung auf Piaget“ in Verbindung mit der „Kompetenz-Performanz-Unterscheidung“, diese sind nach Sutter (2010, S. 173) jedoch „wenig überzeugend“ und verweisen meist auf ein unzureichendes Verständnis des Konstrukts der Kompetenz. Gerade wenn beispielsweise die Onlineausgaben der Encyclopædia Britannica (2022) unter Human Behaviour die entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Kompetenz und Performanz höchst vereinfacht mit der Akkommodation-Assimilation-Theorie von Piaget innerhalb eines Absatzes gleichsetzen, zeigt sich in Bezug zu Sutter (2010, S. 173) in den gegenwärtigen Klärungsversuchen dennoch nur „die wenig reflektierte Einführung und Verwendung des Begriffs der Kompetenz“. Im Besonderen in Bezug zu „Piaget, […der] selbst nicht explizit mit Problemen [der Kompetenz oder Performanz] befaßt war“ (ebd.). Dennoch liegen von anderen Autor*innen wie von Neimark (1985) und Davidson & Sternberg (1985) klärende Auseinandersetzungen zur Kompetenz-Performanz-Differenzierung in Bezug zur gesamten Theorie von Jean Piaget vor, die keine vereinfachenden oder reduktionistischen Aussagen im Sinne von Trültzsch-Wijnen (2020) oder der Encyclopædia Britannica (2022) tätigen.

4. Theorien zur Kompetenz

Im Mentoring geht es um das Lernen durch Begleitung und Beziehung, wie es von Wiesner (2020b, S. 85) deutlich durch den Hinweis als Wegweiser und als Geste des Zeigefingers auf die Bedeutung der mythologischen Figur des „Mentor [… als] gebildete[r] und (lebens-) erfahrene[r] Freund“, „väterlicher Förderer, wissender Ratgeber und kluger Begleiter“ hervorgehoben wurde. Zugleich ist diese Figur nicht nur ausgezeichnet durch „Fachkundigkeit“, sondern steht als „Identifikationsfigur“ zur Verfügung, aus welcher die „Personifizierung der Weisheit“ (Roscher, 1889, S. 686) selbst, die Göttin Athene zur „menschlichen Lebensführung“ (Brugger & Schöndorf, 2010, S. 565) spricht. Diese Betonung greift auch Christoph Hofbauer in Mentoring und Schulentwicklung in diesem Sammelband auf, um das Menschenbild in seiner Professions- und Praxisentwicklung zu fundieren. Mentoring bezieht sich also auf das Verfahren und die Methoden der Weitergabe von Erfahrungswissen und Erfahrungskönnen, zur Professionalisierung, Förderung und Entwicklung. Die Idee des Mentorings beruht also im Besonderen auf dem Erkennen der Figur des Mentors (als Person) und den ihm als Modell zugeschriebenen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Talenten und Begabungen. Diese Vorstellungen zu den Vollzügen, Tätigkeiten und Akten formen die Richtschnur und den Wegweiser für das Mentoring, worauf und wonach sich die Ethik des Mentorings mit einem kritischen und emanzipativen Blick ausrichtet (Wiesner & Prieler, 2022). Förderbar sowohl bei Mentor*innen als auch bei Mentees sind die Fähigkeiten und Fertigkeiten und diese sind aktuell durch zwei unterschiedliche Konzepte und Konstrukte dem Verstehen und dem Verständnis zugänglich. Die Idee der Kompetenz wird im vorliegenden Beitrag behandelt und dabei werden vielfältige Herangehensweisen an diese Vorstellung aufgezeigt. Der andere Ansatz ist das Konzept der Literacy (und literacies), auf welches in dem vorliegenden Beitrag oftmals verwiesen wird, um den Kontrast, also das Erkennen des Unterschieds zu ermöglichen. Dennoch verlangt die Herangehensweise an Literacy (und literacies) und die daraus hervorgehende Komplexität – ähnlich der Klärung von Kompetenz – einen gesonderten Beitrag. Daher ist im vorliegenden Sammelband ein weiterer Beitrag vorzufinden, der sich diesem Ansatz widmet.

Erst aufgrund von Paradigmen ist es möglich, „Theorien zuverlässig zu unterscheiden“ (Kuhn, 1969, S. 217). Vor allem, da Theorien und Modelle eine je spezifische „Auseinandersetzung mit [..] der Welt“ (Längle, 2008, S. 26; vgl. Längle, 1992) vorgeben oder anders ausgedrückt als jeweils eine spezifische Lesart und Betonung von der Welt als Zeichen zu betrachten sind, die sich aus der jeweiligen Objektsprache der Theorie ergeben. Nach Waldenfels (2010, S. 486) wird die „Vorherrschaft von Paradigmen“ oftmals dadurch „erschüttert“, dass sich Interessen „verlagern“ und dabei den „Blickwinkel verschieben“, ohne dass die Sinnhaftigkeit kritisch-emanzipativ hinterfragt wird. Der vorliegende Ansatz im Beitrag ist eine integrative Metaanalyse über Phänomene und Objektsprachen, um Theorien und Modelle vergleichend strukturphänomenologisch analysieren zu können. Solch ein Vorgehen wie auch die Methode sind „eng mit der Forschung zur Wirksamkeit von Psychotherapie verknüpft“ (Döring & Bortz, 2016, S. 898; vgl. Hanji, 2017).

Theorien selbst sind nach Allport (1955) charakterisiert als „explanatory system“ wie auch als „a point of view“ (S. 7), wodurch nach Baacke (1973, S. 59) jeweils eine bestimmte „Darstellung und Ordnung“ angeboten wird, die „so viel Fakten wie möglich in einer einheitlichen Perspektive“ verbindet. Theorien sind daher nach Wippler (1978, S. 197) grundlegende „Arbeitstraditionen und Vorbilder der wissenschaftlichen Tätigkeit“, in die bestimmten Modelle, Methoden und Techniken mehr oder weniger „hineinpassen“ und aus denen Begriffe, Modelle, Methoden und Techniken wiederum abgeleitet werden. Modelle sind wie Theorien „Erkenntnisgebilde“ (Stachowiak, 1973, S. 56) und erfassen „im [A]llgemeinen nicht alle Attribute“, sondern nur solche, die aus der jeweiligen theoretischen Perspektive „relevant erscheinen“, also die „als wesentlich erachteten Elemente und Beziehungen“ (Burkart, 1998, S. 478 f.). Modelle bieten weniger komplex als Theorien „Problemeinsichten ebenso wie Problemlösungen“ (Hondrich, 1976, S. 19) an. Damit deuten und interpretieren Modelle „die Axiome“ (Saam & Gautschi, 2015, S. 25) von Theorien und stellen „eine alternative und leichter zugängliche Möglichkeit dar, über die Theorie nachzudenken“.

4.1 Kompetenz0 als Umgreifendes

Eine erste und wesentliche Quelle in Bezug zum Mentoring stammt von White (1959) und bezieht sich nach Heckhausen (2017) auf die „Entwicklung grundlegender Fähigkeiten“, die weder als selbstorganisierte noch als behavioristisch-instrumentelle Reifeprozesse verstanden werden (können und sollen), sondern als selbstverantwortete Entwicklungsprozesse und Lernprozesse. White (1959) nimmt in seiner Theorie im Besonderen eine Wirksamkeitsmotivation („effectance motivation“, S. 321) an, welche vor allem als Streben die Erkundung von und Interaktion mit der Welt fördert. Etwas Funktionales wie die Bedürfnisbefriedigung, die triebtheoretischen Erfüllungen oder andere defizitorientierte Motive („deficit motive[s]“) werden bei White (1959) ausdrücklich nicht betont oder gefordert, sondern vielmehr (modern gesprochen) Prozesse des Willens, der Exploration und der Neugierde. Diese Prozesse differenzieren sich im Entwicklungsverlauf in vielfältige Möglichkeiten aus, nämlich in Momente des Strebens wie auch in einzelne Motive (Erkenntnisgewinn, Leistung u. a. m.). Diese Prozesse werden zugleich von einem Gefühl der Wirksamkeit oder (modern gesprochen) Gefühle der Wirkkräftigkeit und Wirkfähigkeit („feeling of efficacy“, S. 322) begleitet und fundiert1. White (1959) versucht damit aus dem Blick der 1960er Jahre über viele Paradigmen hinweg eine fundierte Theorie der Kompetenz zu begründen, die weit über das aktuelle Verständnis von Kompetenz hinausgeht. Dabei verweigert die Theorie, jede Reduktion, mechanische Vereinfachung oder Atomisierung wissenschaftlich hinzunehmen. Vieles ist in späteren Theoriebildungen auf der Ebene der Phänomene in der Bindungstheorie von Bowlby (1969, 1973, 1980) und Ainsworth et al. (1978) wiederzufinden, da gerade auch die gestaltorientierte geistige Entwicklung des Kindes von Karl Bühler (1918) sowie die Klärung des Reality Principle von Charlotte Bühler (1954, S. 642) in die Theorie Eingang gefunden haben. Solche umfänglichen Betrachtungen besitzen gerade für das Mentoring eine Gültigkeit: „It is indeed true that if a patient [a mentee, a mentor, AMM] is rebuilding reality and rediscovering the difference between external and internal origins of actions [through learning], there is a strong emotional background to all these experiences.“ Die daraus zu erschließenden Perspektiven sind grundlegend für das Mentoring und wesentliche Hinweise für eine Theorie der Begleitung von Individuen als Personen: „The most important practical consequence is that the dynamically oriented […] educator will not only direct his attention to the resistance − and defense provoking experiences in an individual’s history but also to the problem of failures to use opportunities and to the problem of detrimental need increase by excess supply“ (S. 645 f.).

Der beträchtliche theoretische Umfang bis hin zur Verbindung der Kompetenz mit neopsychoanalytischen Ideen erlaubt es auch mit Blick auf Heckhausen (2017) eben nicht − wie bei Klieme & Hartig (2007, S. 16) nachzulesen −, White (1959) einfach einer „funktionalpsychologische[n] Sichtweise“ zuzuordnen oder ihm diese zu unterstellen. Dieser Ansatz kann als reflexiver Ausgangspunkt für jegliche Klärung von Kompetenzen herangezogen werden, ohne unkritisch jede Idee, Position oder eingebettete Theorie übernehmen zu müssen. Durch die Erstheit des Ansatzes kann dieser als Kompetenz0 bezeichnet werden, die eine überaus umgreifende Konzeptionalisierung vorlegt: „Competence will refer to an organism’s capacity to interact effectively with its environment“ (White, 1959, S. 297). Die wesentlichen Strebungen von Kompetenzen sind Exploration, Neugierde, Interesse, Aktivität, Stimulation, Kreativität und Beeinflussung sowie Wirkung auf die Welt. Damit wird auch die „Funktionslust“ von Bühler (1918, S. 209)2 als „lebhafte[s] [… und …] treibende[s …] Motiv“, welches die „spielende Betätigung“ der „Vorstellungstätigkeit“ (S. 210) mit den „Spielübungen“ (S. 209) verbindet und aus der auch die „intellektuellen Freuden […] des Könnens entspringen“ (S. 358)3, im theoretischen Entwurf von White (1959) berücksichtigt. Das Ich bezeichnet dabei den Standort als Origo des Personalen, in welchem sich die Wirksamkeitsmotivationen und die Gefühle der Wirkfähigkeit integrativ verbinden und in der späteren Entwicklung ein Empfinden eines Kompetenzgefühls überhaupt erst ermöglichen. Die Entwicklung des Selbst ist neben der Förderung des Ich ebenso im Vordergrund, da es hierbei um die Entwicklung und Begleitung der Responsivitätsfähigkeit und der daraus entstehenden Adaptierfähigkeit geht. White (1959, S. 317) vergleicht Kompetenz daher mit „the play of contented children“, woraus sich ein umgreifendes Verständnis von Kompetenz ableitet:

Competence means fitness or ability, and the suggested synonyms include capability, capacity, efficiency, proficiency, and skill. It is therefore a suitable word to describe such things as grasping and exploring, crawling and walking, attention and perception, language and thinking, manipulating and changing the surroundings, all of which promote an effective – a competent – interaction with the environment. I shall argue that it is necessary to make competence a motivational concept; there is a competence motivation as well as competence in its more familiar sense of achieved capacity (White, 1959, S. 317 f.).

Aus dieser ersten Denkfigur zur Kompetenz heraus und „spurred by White’s classic article on competence“ entwickelten sich nach DeCharms & Muir (1978, S. 104) und Heckhausen (2017) bereits mehrere Herangehensweisen an die (kognitive) Wirksamkeitsmotivation, u. a. der Ansatz der persönlichen Verursachung von DeCharms (1968, S. 5; vgl. Decharms, 1972) als „concept of […] Personal Causation“, die Theorie der Intrinsischen Motivation von Deci (1975, S. 21; vgl. Deci & Ryan, 1985) als „category of human motivation – intrinsic motivation“, der Ansatz der Selbstwirksamkeit von Bandura (1982, S. 122; 1977) als „Self-Efficacy Mechanism in Human Agency“ oder die Theorie der motivationalen Handlungsfähigkeit in Bezug zum selbstregulierten Lernen von Rheinberg et al. (1999, S. 515; Rheinberg, 1983, 1989) mit den „activity-specific incentives“, die sich deutlich von den „consequence-related incentives“ (S. 516) unterscheiden. Solche Konzepte und Ansätze wurden bislang für das Mentoring sowie für die Gestaltung des Mentorings noch zu wenig aufbereitet und vor allem auf der Ebene des theoretischen Vergleichens und der praktischen Wirkung noch nicht ausreichend beachtet. Zugleich liegen im Grunde noch keine Ansätze oder Vorschläge für die Erkundung und Klärung der (affektiven) Gefühle der Wirkfähigkeit im Mentoring bzw. für eine Theorie der Begleitung vor.

4.2 Die funktional-instrumentelle Klärung von Kompetenz1

Eine überaus funktional-instrumentelle und behavioristische Perspektive auf Kompetenzen ist ab Anfang der 1970er-Jahre bei McClelland (1973, 1998, S. 331) vorzufinden, worauf sich auch das „competency-assessment movement“ gründet. McClelland (1973. S. 1) versucht gegenüber den „testing movements“ der „akademischen“ Intelligenzdiagnostik eine Kompetenztestung zu positionieren (McClelland, 1994), die sich durch ein kriteriumsbezogenes Vorgehen ausweist und „Anforderungen in realen (z. B. beruflichen) Situationen“ (Klieme & Hartig, 2007, S. 16) hervorhebt: „The best testing is criterion sampling. […] If you want to know how well a person can drive a car (the criterion), sample his ability to do so by giving him a driver’s test. Do not give him a […] general intelligence test, etc. (McClelland, 1973. S. 7). Criterion sampling, in short, involves both theory and practice“ (S. 8). Gerade die Betonung von Maag Merki (2009, S. 493), dass „McClelland (1973) in der Intelligenzforschung“ tätig war, um Kompetenzen zu erforschen, ist nicht zutreffend: „It was McClelland’s (1973) belief that intelligence testing should be replaced by competency-based testing. His argument against intelligence testing rested on the assertion that intelligence tests and aptitude tests have not been shown to be related to important life outcomes“ (Barrett & Depinet, 1991, S. 1012).

Kompetenztests sollen nach McClelland (1973) vor allem den individuellen Lernerfolg als Leistungsergebnis erheben und dabei auf das operante und respondierende Verhalten achten: „Tests should be designed to reflect changes in what the individual has learned“ (S. 8), „Tests should assess competencies involved in clusters of life outcomes“ (S. 9) und „Tests should involve operant as well as respondent behavior“ (S. 11). In solchen Kompetenztestungen werden Denkmuster und Regeln erfasst, um eine möglichst hohe Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zu erhalten4 und diese „should be made public and explicit“ (S. 9). Der Schwerpunkt solcher Testungen liegt daher auf der Beurteilung von individuellen Lernfortschritten, meist, um Merkmale für Auswahl- und Selektionszwecke zu erheben. Im Mentoring und in der Begutachtung von Mentees wird bei dieser funktional-instrumentellen Herangehensweise an Kompetenzen auf vorab bestimmte individuelle Fortschritte als Optimierungen geachtet, die aus dem Verhalten der Mentees scheinbar objektiv abgeleitet werden können und sozusagen realen Tätigkeitsanforderungen entsprechen. Das Wort „scheinbar“ meint hier nach Pfeifer (1989, S. 1505) im etymologischen Sinne eben „nicht wirklich“, dennoch „offenbar“ (ersichtlich) und zugleich nur „dem Scheine nach (aber nicht in Wirklichkeit)“.

Eine korrespondierende Auffassung, die auf Organisationen übertragbar ist, stammt u. a. von Snyder & Ebeling (1992) und Hartle (1997, S. 16): Kompetenzen dienen dabei dem Verständnis von scheinbar objektivierbaren Zielen. Dabei sollen solche Ziele, Setzungen und Bestimmungen, die „business objectives“ genannt werden, grundsätzlich Maßnahmen zur Erhöhung der Produktivität und Effektivität herbeiführen. Dafür sind instrumentelle Standards sowie ein Qualitätsmanagement mit funktionaler Perspektive einzuführen oder bestehende Systeme dahingehend zu verbessern, wodurch zugleich Kosten durch Optimierungen reduziert werden sollen (Wiesner & Heißenberger, 2019). Im Bereich „Human Ressource Management Objectives“ geht es nach Hartle (1997, S. 16) auch um die Verbesserung der (funktionalen) Kommunikation in Bezug zu den „business objectives“, damit die Fähigkeiten im Management und in der (instrumentellen) Motivationsförderung erhöht werden. Der Blick gilt demnach funktional-managebaren Kompetenzen. Im Bereich der „Individuals’ Objectives“ (S. 17) wird von erwarteten Kompetenzen als Leistungserwartungen gesprochen, die Mitarbeiter*innen oder Lernende erfüllen oder vorzuweisen haben. Zugleich sind wiederkehrende Feedbacksysteme einzuführen, die mit klaren Vorgaben von Themen wie auch effektiven Belohnungs- und Prämiensystemen arbeiten. Kompetenz wird aus der Perspektive des Managements und der Fähigkeit zur Steuerung betrachtet. Der gesamte Ablauf des „Performance Improvement[s]“ (S. 67) findet durch „Output Targets“, „Tasks/Standards“ und „Competencies/Skills“ innerhalb eines „Performance Management Cycle“ (S. 94), also in einem Kreislaufsystem statt (Schratz et al., 2019). Solche Ansätze favorisieren den Output und verwenden sprachlich eine kompetenzbasierte und datenbasierte Herangehensweise. Ebenso ist so eine Denkfigur im Mentoring als „Imperator“ (Hennissen et al., 2008, S. 117) und bei Wiesner (2020a, S. 100) als „leitende“ oder anleitende Perspektive bekannt. In der Rhetorik von Aristoteles (2007, 1358b) wurde dieses Herangehen an die Welt als ableitend-juristische, also vorgebende Rede bezeichnet. Kompetenzen sind in dieser Herangehensweise als „testbezogene Mischung aus ergebnisorientierter und inhaltsbezogener Norm“ (Brinkmann, 2009, S. 103) zu verstehen.

Diese instrumentell-funktionale Denkfigur erörtert den Begriff der Kompetenz maßgeblich über das Synonymisieren von Kompetenz, Performanz und Verhalten (Delamare-Le Deist & Winterton, 2005), wodurch Kompetenz im Besonderen ein Naheverhältnis zum Wort Leistung erhält (siehe Abbildung 1a). Overton (1991, S. 25) beschreibt diese Herangehensweise folgendermaßen: „[…] these explanations are framed by a functional understanding of the nature of human systems of behavior and behavioral development […] and the causal features attend to manifest or real-time processing in relation to inputs, outputs, and other internal states of the organism“ (Garfield, 1988). Aus diesem Blickwinkel heraus wäre nach Hymes (1977) der Begriff der Leistung zutreffender, um eine konsistentere Bedeutung der Begriffe zu eröffnen. Oder anders und in den Worten von Klieme & Hartig (2007, S. 16) ausgedrückt: „[Unter] ‚Kompetenz‘ wird hier, um es holzschnittartig zu formulieren, gerade das verstanden, was bei CHOMSKY und seinen Nachfolgern ‚Performanz‘ ist.“ Das Lernen solcher Kompetenzen benötigt als Begleitungskonzept im Mentoring daher das Verständnis des Trainings durch Anweisung: „Training […] the provision of learning experiences enabling learners to develop specified skills or competence“ (Gordon & Lawton, 2005, S. 243). Bei solchen „Ansätzen fällt auf, dass der unmittelbare Bezug“ (Maag Merki, 2009, S. 493) zum „konkreten“ Verhalten vorliegt und „spezifische Tätigkeiten“ gemeint sind. Diese können jedoch einer Objektivierung nur durch vorliegende Kompetenzmodelle zugeführt werden, die nach Klieme & Hartig (2007, S. 24) tatsächlich „die individuellen Kompetenzausprägungen empirisch möglichst eindeutig“ bestimmen und aufzeigen. Daher können funktionale Kompetenzmodelle bei näherer Betrachtung mittels des Geltungsanspruchs der Wahrheit zu unbegründbaren, rein vorgebenden „Könnensbeschreibungen“ (sogenannten „Can-Do-Statements“) (Schreiner & Wiesner, 2019, S. 14) führen. Im Besonderen dann, wenn keine ergänzenden Kompetenzstufenmodelle und deren Graduierungen vorhanden sind, aus denen sich tatsächlich „die Auswertungsroutinen für die Bildung von Messwerten“ (Klieme & Hartig, 2007, S. 25) ableiten lassen. Auch werden „nur“ in dieser Perspektive Kompetenzen als stabile Merkmale eindimensional modelliert, die ermöglichen, das Wissen und Können eines Individuums im Sinne statischer Werte in Leistungsmaßen darzustellen.

Leistung und Kompetenz – ein Exkurs …

Um den Begriff der Leistung im Vergleich zur Kompetenz zu betrachten, ist die Idee der Leistung als etwas Erstrebenswertes zu konnotieren, jedoch immer mit Blick und in Bezogenheit zu den Konstrukten der Kompetenz und der Literacy (und literacies). Leistung ist ein bestimmtes Verhalten und Ergebnis, welches durch soziale Standards als Leistungsnormen und Werte als Leistungsvergnügen je Gesellschaft und Kultur aufgeladen wird. Der Begriff Leistung wie auch „seine soziale Relevanz“ beruft sich maßgeblich auf die Bewertung und Selbstbeurteilung von „Arbeit“ (Kißler, 1977, S. 234) sowie auf „Produktionsweisen“ und meint so sowohl die individuelle „Arbeitsleistung“ als auch die damit verbundenen kollektiven „Ziele“ (S. 235). Vor allem die Leistungskonkurrenz ist der „Motor gesellschaftlichen Fortschritts“ und der „Treibstoff“ beruht auf gleichen Leistungsausgangslagen und gleichen Leistungschancen von Individuen. Es sind gerade diese Prinzipien, die die Funktion der Stabilisierung in Bezug zur sozialen Gleichheit oder zur sozialen Ungleichheitslage von Gesellschaften instrumentell begründen. Im Lernkontext meint der Begriff Leistung die „Forderungen“ und Erwartungen an die Lernenden, sowie die „Tätigkeit“ der Lernenden und deren individuelles „Ergebnis“ und dient einem kollektiven „Beitrag […] für die Gesellschaft“ (Lichtensteiner-Rother, 1977, S. 235). Dieser Leistungsbeitrag bedeutet die „Sicherung des volkswirtschaftlichen Leistungspotentials“ (Heller, 1978, S. 14) und nur durch die Einführung von instrumentellen Standards können unterschiedliche Ausformungen von Leistungen differenziert werden, meist in dynamische und statische Momente. Beim Lernen und Unterrichten geht es daher um die dynamischen „Lernprozess[e]“ und statischen „Lernprodukt[e]“, die nur durch die Beachtung von „Gütemaßstäbe[n]“ im Sinne von Klafki (1976, S. 90) und durch das Verwenden von „Bezugsnormen“ (Rheinberg, 2001, S. 59; vgl. Schreiner & Wiesner, 2019) als Orientierungsrahmen beurteilbar werden. Leistung ist zugleich oftmals mit Vorstellungen von Kraft, Fitness, Wettbewerb (Sport), Ranking sowie mit dem Begleitungskonzept des Trainings im Zeichen der (Neuen) Steuerung bzw. der Steuerbarkeit verbunden, u. a. mit „Lesetraining, Rechtschreibtraining, Methodentraining“ (Brinkmann, 2009, S. 98), um „Leistungssteigerung[en]“, Optimierungen und Perfektionierungen zu erzielen, wodurch im Grunde ein „technologisches Verständnis des Lehrens und ein kausales Modell des Lernens“ angesprochen wird. Die funktional-instrumentelle Perspektive richtet sich daher maßgeblich nach den Lernprodukten der Lernenden als erbrachte Leistung aus. Die struktural-kognitive Herangehensweise stellt hingegen die bewirkten Lernprozesse der Lehrenden in den Vordergrund. Funktional werden die Mentees im Mentoring (oder in einem Gutachten) durch ihre Leistung, Fitness, Produkte und Ergebnisse innerhalb einer sozialen Bezugsnorm beurteilt, dabei wird die Lehrperson zur Lehrkraft und Arbeitskraft. Wesentlich ist, dass solche Zugänge zuvor Standards zu definieren haben, die ebenso vorab transparent gemacht werden und von denen Mentor*innen als Beurteilende nicht beliebig oder willkürlich abweichen können. Zugleich bedeuten solche Konzepte, immer mit höchst eingeschränkten, rein instrumentellen Perspektiven zu arbeiten und vielfältige „blinde Flecken“ selbstverantwortlich zu produzieren. Ebenso erfolgt durch diese Herangehensweise eine funktionale „Gewöhnung“ (Brinkmann, 2009, S. 108) im Sinne eines instrumentellen Blicks auf Kompetenzen, wodurch immer auch eine „Gewöhnung an Zeitdruck und Wettbewerb, Hierarchisierung und Segregation“ stattfindet.

4.3 Die struktural-kognitive Klärung von Kompetenz2

Durch den Ansatz von Chomsky (1957) als „Wegbereiter des modernen Kognitivismus“ (Klieme & Hartig, 2007, S. 15), wird die Kompetenz von der Performanz analytisch getrennt, wodurch eine Abgrenzung von der behavioristischen Herangehensweise stattfindet. Dabei wird ein kognitives Verständnis von Kompetenz ermöglicht, da Kompetenz als Fähigkeit verstanden wird, die sich vom Gezeigten in „konkreten Situationen“ (Maag Merki, 2009, S. 494) und „beobachtbaren manifesten Handlungsweisen unterscheidet“. Nach Krämer (2001, S. 53) verhält sich die „Kompetenz [… nun] zur Performanz wie ein Kenntnissystem zu seinem aktualen [regelorientierten] Gebrauch“. Also es liegt die „Kompetenz […] der Performanz zugrunde“, wodurch die Kompetenz „verborgen“ bleibt und nur die Performanz zum „beobachtbaren Phänomen“ wird. Ein solches Verständnis geht auf das Linsen-Modell von Brunswik (1934, 1952; Wiesner, 2022a) zurück und eröffnet einen strukturalen Blick. Die zentrale Frage beschäftigt sich damit, „wie kognitive Strukturen in die Theorie der Performanz eingebettet sind“ (Chomsky, 1977, S. 64), dazu werden „Erwerbsmechanismen geprüft“ (S. 65), um die „Fähigkeiten zu handeln und Erfahrungen zu interpretieren“ (S. 66) fördern zu können. Es geht darum, „das ganze System der kognitiven Strukturen durchsichtig zu machen“ (S. 67) und damit richten sich die Klärungen und die Erkenntnisse an die Professionalist*innen, also die Lehrer*innen und Mentor*innen, um das entdeckte Wissen in die Praxis und Lehre zu bringen. Ein solches Vorgehen kann eben nicht wie die funktional-instrumentelle Herangehensweise Auswahl- und Selektionszwecke begründen, sondern bietet als möglichen Fokus eine Entwicklungsorientierung an. Diese Perspektive verschiebt demnach auch im Mentoring den instrumentell-funktionalen Blick auf eine kognitivistische Betrachtungsweise, obgleich weiterhin im Besonderen die „Fragen der syntaktischen Produktivität“ (Krämer, 2001, S. 52) im Vordergrund bleiben. Deshalb schreibt Searle (1969, S. 17) zur Klärung der kognitivistischen Herangehensweise: „lt still might seem that my approach is simply, in Saussurian terms, a study of ‚parole‘ rather than ‚langue‘. I am arguing, however, that an adequate study of speech acts is a study of langue.“ Dabei wird auch keine „scharfe Grenze zwischen den semantischen Eigenschaften [… und] des Common Sense“ (Chomsky, 1977, S. 72), also der syntaktischen Produktivität als „System einer formalen Grammatik“ (S. 74) mit „logischen Formen“ angenommen.

Chomsky (1959) wendete sich also mit einer radikalen Kritik gegen eine behavioristisch, instrumentell-funktionale Theorie der Kompetenz und somit gegen eine Verkürzung von Kompetenz im Sinne einer „mathematischen Kommunikationstheorie“ (Chomsky, 1968, S. 15) sowie gegen „ein System von Stimulus-Response-Beziehungen“ (S. 120) im Sinne der „Verhaltenspsychologie“. Auch für Heursen (1995, S. 476) ist die instrumentelle „Annahme risikobehaftet“, nämlich zu glauben, „daß am Ende der Entwicklung des Individuums mehr Rationalität […] und Individualität stehe“. Ebenso risikoreich sind funktional-konstruktivistische Idealisierungen, deren Widersprüchlichkeiten u. a. auch in der Systemtheorie von Luhmann auftreten und eine „Nähe zur biologisch-organologischen Pädagogik“ (S. 477) aufweisen. Damit positioniert sich die Herangehensweise gegenüber der funktionalistischen und der konstruktivistischen Denkfigur. Dabei ist die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz von Chomsky (1957, 1959, 1968), die nach Hempfer (2018, S. 110 f.) „nicht immer angemessen rezipiert worden zu sein scheint“, „für eine adäquate Theoretisierung […] aber zentral“, um diese struktural-kognitive Denkfigur zu verstehen.

Die Kompetenz-Performanz-Differenzierung geht „ursprünglich auf Chomsky (1965)“ (S. 110) und nicht wie bei Trültzsch-Wijnen (2020, S. 121) auf den „Begriff […] von Austin (1962, 1969)“ zurück: „Zunächst ist einmal festzuhalten, dass Austin nicht den Begriff der performance einführt“, klärt Hempfer (2011, S. 15) auf, „sondern denjenigen der ‚performativen Äußerung‘, wobei das Adjektiv ‚performativ‘ explizit als Neologismus ausgewiesen wird“. Das Performative verweist jedoch mit Blick auf die Chomsky’sche Performanz auf „gänzlich unterschiedliche Theoriebildungen“. Vielmehr greift Chomsky (1965, S. 14) bei der Differenzierung auf die strukturalistischen Begriffe von „‚langue‘ (Sprache)“ und „‚parole‘ (Sprechen)“ von de Saussure (1916, S. 17) zurück (Behse, 2017). Dabei wird Kompetenz als „Kenntnis“ und „knowledge of …“ und damit als langue bezeichnet. Performanz bedeutet die „Verwendung“ und „the actual use of …“ und betont den kognitiven Moment der parole. Das „Kriterium der Performativität“ (Harras, 2004, S. 141) aus der Sprechakttheorie von Austin (1961, 1962) meint hingegen die Performativität der parole und hebt den Handlungscharakter hervor. Nur durch die „Ästhetik des Performativen“ (Hempfer, 2018, S. 117) kommt es zu einem „Versprechen, Auffordern, Warnen oder Behaupten“. Nach Krämer (2001, S. 143) wird das „Performativa […] nicht einfach gesprochen, sondern [es] wird im Sprechen etwas inszeniert“, wodurch ein Bezug zum „Theatermodell“ (Hempfer, 2018, S. 117), zur „Rolle auf der Bühne“ (Moreno, 1954, S. 190), zur Raumbühne und zur „Bühnenstruktur“ entsteht – also Aspekte und Momente, die vor allem dem Konstrukt der Literacy zuordenbar sind. Im Grunde kann mit Blick auf die Rhetorik von Aristoteles das Performative als epideiktische Rede identifiziert werden, die sich von der ableitend-juristischen wie auch von der beratenden Rede, die beide auf die Performanz hinweisen, unterscheiden. Beim Performativen zählt also nicht allein das „sinnhafte Wort“ (Krämer, 2001, S. 143), nicht nur „was […] gemeint wird“ (S. 144), sondern „wie etwas gesagt“ werden kann. Performativität verweist daher auf den Begriff der „Aufführung“ (Hempfer, 2011, S. 14), dabei findet immer die persönliche Haltung ihren Ausdruck. Performanz drückt im Unterschied dazu die Ausführung aus. Diese Differenzierung ist wesentlich, um auch Impulse, Interventionen und Begleitungskonzepte des Mentorings umfänglich und tiefgehend begreifen zu können: Auf der Bühne des dynamischen Lebens wird das lebendige Unterrichten der kongruenten, stimmigen Person mittels der persönlichen Haltung zur Aufführung, wodurch das Individuum das selbstverantwortete Können der herstellenden, produktiv-schöpferischen und beratenden Lehre ausführt. Die Kompetenz-Performanz-Unterscheidung achtet also auf ein „System von Regeln“ (Chomsky, 1968, S. 35) und somit auf „die Tiefen- und Oberflächenstrukturen und die transformationellen Relationen“, um die kognitiven Momente und Relationen zu charakterisieren.

Zur Unterscheidung von Performanz und Performativität gibt es daher eine nachvollziehbare Klärung von Searle (1989, S. 536): „Austin originally introduced the notion of performatives to contrast them with constatives; and his idea was that performatives were actions, such as making a promise or giving an order; and constatives were sayings, such as making a statement or giving a description. Constatives, but not performatives, could be true or false. […] though every utterance is indeed a performance, only a very restricted class are performatives“ Chomskys Herangehensweise meint mit Performanz die „Ausführung“ (Hempfer, 2011, S. 14) und daraus ergibt sich auch die „Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Terme (performances vS. performatives)“. Daher ist auch in Bezug zur Kompetenz „die Diskussion um Performanz und Performativität der letzten beiden Jahrzehnte […] nun freilich gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie die von Searle angemahnte Differenzierung nicht aufnimmt“, vielmehr werden von vielen Autor*innen die Begriffe „‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ als mehr oder weniger synonym“ verwendet, obwohl es sich um „ganz unterschiedliche Performanzkonzepte“ und differenzierbare Zielsetzungen handelt. Die jeweilige Idee nimmt „im Rahmen von Chomskys […] Ansatz eine ganz andere Systemstelle [… ein] als bei Austin“ (Wirth, 2002, S. 11; Hempfer, 2011, S. 15). Diese beiden Systemstellen können durch die Klärung von Kompetenz im Vergleich zur Literacy erkannt und nachvollzogen werden und haben für das Mentoring eine besondere Relevanz, die einer eigenen Klärung bedarf.

Abbildung 1: Die Erkundung und Klärung einer Kompetenz, hier als Beispiel die Lesekompetenz (in Anlehnung an George, Robitzsch et al., 2019, S. 60 und S. 61)

Die zentrale Frage des struktural-kognitiven Ansatzes ist, „welche Anzahl von […] Subkompetenzen zu einer möglichst guten Beschreibung“ (George, Robitzsch et al., 2019, S. 53) von kognitivem Lernen führt und wie die Relationen solcher Subkompetenzen zueinander zu betrachten sind. Gerade George, Robitzsch et al. (2019) zeigen exemplarisch auf höchstem Niveau, wie diese struktural-kognitive Herangehensweise an Kompetenzen zu verstehen ist, indem vor allem zwei Richtungen hervorgehoben werden: Einerseits untersuchen Studien die Lernprozesse auf Grundlage von statischen Modellen und in Verbindung mit mehr oder weniger „feinkörnigen“, allgemein-kognitiven Aspekten (Verständnis von Wortbedeutungen, Arbeitsgedächtnis u. a. m.), um Lernprozesse anhand „gefundene[r] Subkompetenzen zu beschreiben“. Andererseits können in Studien mit „kognitiv diagnostische[n] Modelle[n]“ (S. 64) die Lernprozesse durch spezifische fachwissenschaftliche Subkompetenzen aus den „fachwissenschaftlichen Theorie[n]“ (S. 57) heraus verstanden werden, also u. a. durch Verstehens- und Absichtsprozesse und deren Bedeutung. Als Beispiel verwenden die Autor*innen die Lesekompetenz, die in dem vorliegenden Beitrag nur als Beispiel dienen soll, um die vielfältigen Herangehensweisen des struktural-kognitiven Ansatzes anschaulich aufzuzeigen (siehe Abbildung 1). Somit sind nicht die Ergebnisse der Studie für diesen Beitrag relevant, sondern die Struktur des Herangehens, woraus ersichtlich wird, dass solche Ansätze über die Performanz die Struktur einer Kompetenz kognitiv verständlich über mehrere Alternativen hinweg erfassen möchten. Die daraus gewonnenen Ergebnisse haben die Potenzialität, Lernen generell im kognitiven Bereich zu fördern, „fachdidaktische Konsequenzen abzuleiten“ (S. 66), und ermöglichen „Schlüsse auf die Gestaltung von differenzierten Aufgaben […] im Unterricht“. Connell et al. (2003, S. 130) etablierten einen nachvollziehbaren Aufbau, um Kompetenzen aus der struktural-kognitivistischen Perspektive zu verstehen, indem zunächst eine „potential ability“ bei einem Individuum vorhanden sein muss, woraus sich das „realized a competence“ ermöglicht und durch ein „set of criteria“ die „performance“ gemessen, bewertet und innerhalb unterschiedlicher Bezugsrahmen als ein „level of expertise“ verglichen werden kann.

Struktural-kognitiv werden Mentees im Mentoring (oder in einem Gutachten) immer durch Lernprozesse