Mischa und der Meister - Michael Kumpfmüller - E-Book

Mischa und der Meister E-Book

Michael Kumpfmüller

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Beschreibung

In seinem neuen Roman stellt sich Michael Kumpfmüller eine ganz und gar »unmögliche« Frage: Was würde geschehen, wenn Jesus für ein paar Tage zurück auf die Erde käme, ins Hier und Jetzt der Stadt Berlin? Die Antwort: Es würde alles ganz anders, schön und erfreulich, wie es in Wirklichkeit kaum ist – und auch im Roman nicht von Dauer. Wenn man göttlichen Beistand anruft, hat das normalerweise keine Folgen. Nicht so bei Mischa und Anastasia, Studenten der Slawistik, vernarrt in die russische Literatur und – wie sie feststellen werden – ineinander. Sie laden Jeschua ein, und Jeschua nimmt die Einladung an. Aber das ist nicht die einzige Überraschung: Jeschua zeigt sich irdischer als gedacht, vollbringt kein einziges Wunder und steckt doch alle Menschen, denen er begegnet, mit Liebe an. Und die grassiert bald in der ganzen Stadt, was in Kürze eine Bande von Teufeln auf den Plan ruft. Denn für sie sind Freundlich- und Glückseligkeit ein Alptraum. »Mischa und der Meister« ist ein wunderbar leichtfüßiger, herrlich grotesker und komischer Roman über das Heilige und das Teuflische und die unstillbaren Sehnsüchte und Begierden der Menschen, die zu allen Zeiten dieselben sind.

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Seitenzahl: 397

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Michael Kumpfmüller

Mischa und der Meister

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Michael Kumpfmüller

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Erstes Buch Teufeleien

1 Die Treppe ins Paradies

2 Sprechen Sie nie mit Unbekannten

3 Der Flug

4 Was sollen wir nur tun?!

5 Der große Ball beim Satan

6 Auf vollen Touren

7 Es hat begonnen

8 Der Psalm

Zweites Buch Eine wirklich fantastische Epidemie

9 Das Erscheinen des Helden

10 Wir entwickeln Energie

11 Die Abenteuer beginnen

12 Vom richtigen Essen

13 Die zweite Nacht

14 Hokuspokus

15 Nach Hause

16 Zum höheren Ruhme Gottes

17 Ein unruhiger Tag

18 Die Verfolgung

19 Die illustre Bande

20 Der böse Freitag

21 Ein Anfall von Neurasthenie

22 Schizophrenie, wie gesagt

23 Die unglücklichen Besucher

24 Finale

Drittes Buch Zur Hölle mit ihnen!

25 Höchste Zeit! Höchste Zeit!

26 Grauen

27 Gemeinsames Schaffen

28 Im Kerzenlicht

29 Wer ist sie?

30 Das bunte Gekräusel

31 Ein unerwartetes Ende

32 Status praesens

Zettelkasten

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Dank

Inhaltsverzeichnis

»Es gibt nichts Übernatürliches im Leben. Weil alles darin übernatürlich ist.« Michail Bulgakow

Inhaltsverzeichnis

Erstes BuchTeufeleien

1Die Treppe ins Paradies

Berlin, die alte Göre, erwachte und hatte schlechte Laune. Eine Gruppe lärmender Engländer mit Rollkoffern, die zu spät zu ihrem Easyjet-Flug nach Bristol aufgebrochen waren, hatte sie geweckt, oder worum immer es sich gehandelt hatte, das Geschrei einer Gebärenden im Urban-Krankenhaus, ein illegales Autorennen auf dem Ku’damm oder das Pfeifen des Windes über dem Müggelsee, wo an den Anlegestellen das Wasser gegen Jollen und Yachten klatschte.

Es war Mitte April, morgens gegen halb fünf. Ein stürmischer Tag stand bevor, es begann zu dämmern, und sie hasste die Stunde, in der es dämmerte und niemand wusste, wer genau er war, am wenigsten sie selbst.

Sie hatte mächtig zugelegt in den vergangenen Jahren, in denen wenig Aufregendes passiert war, sie war träge, sie langweilte sich und litt unter ihrer Langweile, schlief nicht besonders und hatte regelmäßig die allerdüstersten Gedanken.

Die Zeitungen waren jeden Tag voll mit ihr, na gut – doch wann, bitte, hatte sie zuletzt jemand gestreichelt oder ihr ins Ohr geflüstert, so wie damals der amerikanische Präsident, der sie vor aller Welt wie eine Geliebte behandelt hatte, aber leider nie wiedergekommen war.

Wie viele Jahre, nein, Jahrzehnte, lag das zurück!

Es war schon nicht mehr wahr, so lange her war das, und geblieben war der Traum, und dass sie seither niemanden richtig an sich heranließ, von den Russen allenfalls abgesehen, denn sie schienen ihr ähnlich zu sein, sie sehnten sich, ohne zu wissen, nach was, etwas, das sie erhob und wenig später zu Boden warf, sie vernichtete und im selben Moment unsterblich werden ließ.

Der glühende Junge – wie hieß er gleich – fiel ihr ein, recht jung, in seinen frühen Zwanzigern, Student der Slawistik, stürmisch und ruhig zugleich, dazu hübsch anzusehen mit seinen blonden Locken und zwei Augen wie der schimmernde Wannsee an einem Augusttag, so blau.

Sie hatte ihn entdeckt, als er in der U7 Richtung Spandau am Fenster saß und Die Brüder Karamasow las, zwischendurch nickte und in sein Notizbuch schrieb und anschließend neuerlich las und plötzlich aufsprang und rief: »Ja, genau. Warum nicht? Das ist mal ein Gedanke.«

Mischa, ja richtig, hieß er – ein dostojewskischer Träumer, wie er im Buche stand, mit Mädchen wahrscheinlich eher schüchtern, was gelegentlich umso anziehender wirkt.

Sie würde ein Auge auf ihn haben, nahm sie sich vor. Vielleicht würde es ja unterhaltsam, ihm eine Weile auf der Spur zu bleiben, da sonst bestimmt nichts groß passierte, außer dass es nun richtig stürmte und vereinzelt zu kleineren Vorfällen kam: In Bohnsdorf stürzte ein Baugerüst auf parkende Autos; entwurzelte Bäume versperrten diverse Nebenstraßen, ohne dass jemand Schaden genommen hatte; ein paar Mützen und Hüte flogen von den Köpfen und wurden wieder eingesammelt, und dann ging gegen halb sieben die Sonne auf, und ein stinknormaler Mittwoch begann.

Für unseren Helden, Mischa, begann an diesem Mittwoch das Semester. Er saß in einem gut gefüllten Seminarraum der Freien Universität und hörte mit halbem Ohr zu, wie die Dozentin die Referatsthemen vorstellte, schaute sich ein bisschen um und entdeckte, halb rechts auf derselben Höhe, eine Dunkelhaarige, die neugierig in seine Richtung schaute und sich für das Lachen bei Gogol interessierte, sieh an.

Mischa war wirklich eher schüchtern, doch er hatte Augen im Kopf, und so erwiderte er den Blick und dachte sich wenig dabei, und später, im Café Kauderwelsch, setzte sie sich an seinen Tisch und bat noch nicht mal um Erlaubnis.

Anastasia.

»Ich habe dich gesehen und mir gedacht, wir könnten uns über Gogol unterhalten«, sagte sie.

Mischa fand es anfangs schwierig, in ihrer Anwesenheit zu denken, denn wie sich zeigte, hatte sie eine Stimme, sie hatte Augen, Hände, sie roch, sie atmete, war in Bewegung, und das musste er erst mal sortieren, und wie sie da gerade in seinem Leben Platz nahm, so fühlte es sich nämlich an.

Sie hat einen einladenden Mund, war zunächst alles, was er an Gedanken zustande brachte, dass sie ihm gefiel, das einfache schwarze Strickkleid, das sie trug, das dunkle Haar, das so lockig wie seines war, die charmante Lücke zwischen ihren Schneidezähnen nicht zu vergessen, und wie sie sich freute, dass er Gogols Mantel kannte und natürlich die Toten Seelen, wenn auch bloß den Anfang.

Und so fanden sie recht mühelos ins Gespräch. Mischa erzählte, dass er eine Wohnung suche und derzeit nur Dostojewski lese, und Anastasia erzählte, dass sie derzeit nur Gogol lese und mit einem weiteren Studenten bei einer älteren Dame lebe, die sie ohne weitere Erklärung als verrückt bezeichnete.

Auch das russische Thema wurde berührt und dass sie beide Mischwesen waren, bei Anastasia der Vater und bei Mischa die Mutter russisch war, und eine weitere Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie praktisch keine Eltern hatten, denn die von Anastasia flogen als Kunsthändler ganzjährig durch die Welt, während die von Mischa seit Jahren überhaupt verschwunden waren.

»Verschwunden?«, fragte Anastasia.

»Kurz nach meinem Abitur sind sie eines Morgens nach Russland und haben sich nie wieder gemeldet«, erklärte Mischa. Seither lebe er bei seinem Onkel.

Und so erzählte Mischa von Onkel Wladimir und Anastasia von ihrer verrückten Edita, die ebenfalls nach Russland wollte, um das Grab ihres Vaters zu besuchen, der eines Tages bis nach Stalingrad gewandert war und von dort weiter nach Sibirien, wo es ihm so gut gefiel, dass er nie mehr zurückkehrte.

»Na ja, gewandert«, sagte Mischa.

Und Anastasia: »So erzählt es Edita. Du kannst mich ja mal besuchen, dann wirst du sehen, was für eine wunderbare Person sie ist.«

Und weil man nun sozusagen verabredet war, tauschte man Telefonnummern, um zum Abschluss neuerlich die Wohnungsfrage zu streifen; Mischa hatte morgen früh eine Besichtigung, von der er sich allerdings nicht viel versprach.

Anastasia war, wie sich herausstellte, für radikale Maßnahmen in der Wohnungsfrage, besetzen und enteignen, meinte sie, anders gehe es nicht, worauf Mischa frei nach Bulgakow erwiderte: »Wohnungen gibt es in Berlin nicht. – Aber wie wohnt man denn dort? – Man wohnt eben so. – Ohne Wohnungen.«

Bis zum Abend hatte Mischa nicht das Gefühl, dass groß etwas mit ihm geschehen war. Es gab einen neuen Punkt, den man innerlich ansteuern konnte, ein gewisses Wärmegefühl, dazu einen Namen, den er mochte.

Einen Namen und eine Telefonnummer.

Man konnte sich anrufen, man konnte kurze oder lange Nachrichten schicken, doch siehe – keiner machte von der Möglichkeit Gebrauch.

Mischa hatte seit Tagen nicht eingekauft, er brauchte neuen Kaffee, dazu Brot und Butter, etwas Aufstrich, zwei Flaschen Bitter Lemon und was sonst er im Vorübergehen erwischte und anschließend nach Hause trug, bevor er sich lange nach zwei auf den Weg ins Schostakowitsch machte, wo er täglich mehrere Stunden arbeitete.

Das Schostakowitsch war ein Feinkostladen mit Restaurant und Catering und gehörte seinem Onkel, der ein ausgebildeter Koch war und leider wenig von Geschäften verstand, weshalb der Laden nicht besonders lief.

Mischa war seit Langem der Meinung, dass das zu einem nicht geringen Teil an der Musik lag, denn der Onkel war ein unbeugsamer Liebhaber von Dmitri Schostakowitsch, den er nicht nur zum Namenspatron seines Lokals gemacht hatte, sondern von morgens bis abends in erheblicher Lautstärke spielte, die geraden Wochen chronologisch sämtliche Werke vom Scherzo bis zur Sonate für Viola und Klavier und in den ungeraden nacheinander die Sinfonien, die Streichquartette, alle möglichen Klavierlieder, usw.

Heute liefen die Streichquartette, viel zu laut wie üblich, aber okay, die Streichquartette mochte Mischa.

»Du siehst so vergnügt aus«, sagte zur Begrüßung der Onkel, der sich seinerseits bester Laune zeigte, da es eine große Bestellung für eine Abendgesellschaft in Lichterfelde gab, in einer Zahnarztpraxis, wenn er sich nicht verhört hatte, doch das würde Mischa, der bis achtzehn Uhr liefern musste, ja sehen.

Vorläufig half er dem Onkel in der Küche, schnitt den Lachs, die Rote Bete, machte die Kaviardosen auf, kontrollierte die Temperatur des Krimsekts in den großen Kühlschränken und dachte jetzt doch recht ausgiebig an seine Bekanntschaft aus der Cafeteria.

So gegen halb fünf machte er sich auf den Weg, kam auch einigermaßen durch, obwohl es anschließend schwierig war, einen Parkplatz zu finden, und er ewig brauchte, um die Lieferung nach oben in die Zahnarztpraxis zu schleppen.

Die Party fand tatsächlich in einer Zahnarztpraxis statt. Jemand wurde fünfzig, wie nicht schwer herauszufinden war, da in allen Fluren und Zimmern Tempo-50-Schilder standen; zwei herausgeputzte Zahnarzthelferinnen führten ihn in ein leer geräumtes Wartezimmer und zeigten ihm, wo er was abstellen sollte.

»Und Sie sind wer genau?«, fragte ein herbeieilender Mann, der sich als Dr. Muhlack vorstellte, und Mischa sagte »Mischa« und dass er das Essen aus dem Schostakowitsch bringe.

»Mischa, so, so«, sagte der Zahnarzt, als sei das der ungewöhnlichste Name, den er je gehört habe.

»Ziemlich schräge Location für einen Geburtstag, nicht wahr? Als Zahnarzt bin ich ja eher fürs Gerade, also habe ich mir überlegt, zur Feier des Tages etwas Schräges zu machen.«

Und da Mischa nicht wusste, was er darauf antworten sollte, nickte er unbestimmt und wünschte einen angenehmen Abend, worauf ihn der seltsame Zahnarzt entließ und die Arbeit für heute überhaupt erledigt war.

Die erste Nachricht kam, als er sich die Zähne putzte.

»Ich habe an dich gedacht«, schrieb sie. »Noch wach?«

Und Augenblicke später: »Wie schön, dass wir uns getroffen haben.«

»Du bist lustig«, schrieb er zurück.

Und sie: »Dostojewski und Gogol.«

Und Mischa: »Der Meister und Margarita.«

Es entstand eine kleine Pause, ehe sie schrieb, dass das eines ihres absoluten Lieblingsbücher sei und ob er morgen in die Vorlesung komme.

Sie war erstaunlich flink, dachte er mit gemischten Gefühlen, weil er nicht recht mitkam und ihr Kleid vor sich hatte und die Stiefel und die Lücke zwischen ihren Zähnen, die ihn beinahe am stärksten beschäftigte.

Die Geschichte der russischen und ukrainischen Literatur im 20. Jahrhundert hatte er sich ursprünglich nicht anhören wollen, aber wenn sie da hinging, warum nicht, ja, er komme; auch für einen weiteren Kaffee verabredeten sie sich.

»Gut, bis morgen«, schrieb sie, und Mischa ebenfalls: »Bis morgen«, ohne ihr eine gute Nacht zu wünschen, wenngleich er sich anschließend etwas vage Nächtliches vorstellte und beinahe schon erträumte.

Nach dem Ende der Vorlesung lud ihn Anastasia zur Teestunde bei ihrer Vermieterin ein.

Der Saal war so überfüllt gewesen, dass sie sich nicht sofort fanden. Anastasia saß in einer der vorderen Reihen und hielt wie er regelmäßig Ausschau, irgendwann mit Erfolg, und dann setzte man sich mit einem Lächeln nebeneinander, wobei die bekannten Wärmephänomene auftraten, bevor man wieder auseinanderging.

Die Teestunde sei so ab fünf, hatte Anastasia erklärt, Fjodor, ihr Mitbewohner, sei in sein Kloster gefahren, deshalb würden sie heute lediglich zu dritt sein.

»Kloster?«, fragte Mischa. »Wieso Kloster?«

»Er hat sich kürzlich entschieden, ins Kloster zu gehen, weit weg in Brandenburg, bitte frag mich nicht, warum.«

»Fjodor«, hatte Mischa versonnen gesagt.

Da er den Nachmittag freihatte, las er weiter in den Brüdern Karamasow, machte einen Kurzbesuch im Schostakowitsch, um ein passendes Gastgeschenk auszusuchen, und stand Punkt fünf mit einer Schachtel russischem Konfekt vor der Sentastraße Nummer 7 in Friedenau.

Die Wohnung lag im dritten Stock, Mischa musste ziemlich viele Treppen steigen, und nun begann er doch ein klitzekleines bisschen nervös zu werden, je höher er stieg, desto mehr, obwohl er anfangs wenig davon bemerkte, sich gründlich mit jeder einzelnen Stufe beschäftigte und bald jede einzelne geradezu liebte oder auf jeden Fall lobte, weil sie ihn zur Teestunde mit Edita führte.

Anastasia trug das Kleid von gestern und freute sich.

»Hier, links, da wohne ich und gegenüber Fjodor, der nicht da ist wie gesagt, und dahinten ist das Reich von Edita, auch wenn es sich eher um eine Höhle handelt.«

Höhle war der richtige Begriff, denn das Zimmer war so groß wie dunkel: Ein altmodisches Bett war im Hintergrund zu sehen, es gab einen runden Tisch, um den Sessel und Stühle standen, an den Wänden diverse Ikonen sowie ein russischer Stadtplan von Stalingrad aus dem Jahr 1934.

Die alte Dame saß in einem der Sessel und hieß Mischa mit tiefer Stimme, näher zu treten.

»Bitte, bitte, ich bin Edita, sei willkommen.«

»Und das ist Mischa«, erklärte Anastasia. »Er sucht gerade verzweifelt eine Wohnung.«

Erst aus der Nähe konnte Mischa erkennen, wie klein Edita war; Anastasia hatte gesagt, dass sie Mitte siebzig sei, doch sie sah zehn Jahre jünger aus.

»Wer möchte sich um den Samowar kümmern?«, fragte sie, und weil Anastasia keine Anstalten machte, kümmerte sich Mischa.

Der Samowar seines Onkels heizte elektrisch, aber dieser schien aus der Zeit Peters des Großen zu stammen; Mischa brachte ihn ewig nicht zum Brennen, sei es, dass die Hobelspäne oder die Kohle nicht trocken waren, sei es, dass er sich ungeschickt anstellte oder beides.

Aber irgendwann funktionierte es, wofür ihn Edita sehr lobte und einen richtigen Russen nannte, bevor sie die üblichen Fragen zu stellen begann: geboren wann und wo, Vater Mutter, wie sein Studium verlief, die Arbeit im Schostakowitsch, von dem sie meinte, bereits gehört zu haben.

Anastasia nickte mehrfach zu Mischas Antworten, und als er fertig war, erzählte sie noch einmal, wie sie sich kennengelernt hatten, obwohl es zu erzählen streng genommen nicht viel gab.

»Das hast du gut gemacht«, sagte Edita und meinte, dass sie Mischa eingeladen hatte und sie zusammen die Teestunde verbrachten und Mischas Konfekt verspeisten.

»Ich kannte ja vor langer Zeit einen Mischa«, fuhr sie fort. »In den ersten Monaten nach Kriegsende. Mein Vater war nicht da, und so hatte meine Mutter Freundschaft mit einem russischen Soldaten geschlossen, der uns regelmäßig besuchte und mich jedes Mal hochhob und dann fliegen ließ. An das Fliegen erinnere ich mich nicht, nur wie er mich hochhob, was ich sehr mochte. Ich war zwei und er nicht viel älter als zwanzig, aus Sibirien stammte er.«

»Also hast du gleich zwei Gründe, weshalb du nach Sibirien willst«, sagte Anastasia.

»Ich habe Gründe zuhauf«, erwiderte Edita. »Wobei ich die meisten wahrscheinlich gar nicht kenne.«

Der Gedanke gefiel Mischa. Ihm gefiel, dass sie zusammen Tee tranken, Anastasias Kleid gefiel ihm, ihre vorsichtigen Blicke, das Gefühl, dass alles richtig und passend war, als wäre das Leben ein Schuh, wie er seltsamerweise dachte, obwohl bei ihm neue Schuhe regelmäßig drückten.

Später zeigte ihm Anastasia ihr Zimmer. Es war unwesentlich größer als das seine beim Onkel, mit Bett und Stuhl und Schreibtisch, jedoch alles auf eine Weise, als hätte es immer gerade so und nicht anders gestellt und arrangiert werden müssen. Es gab kein überflüssiges Ding, nichts war willentlich dekoriert, das Bettzeug weiß, an der Wand ein Schwarzweißfoto, auf dem ein Mädchen mit Zöpfen zu sehen war, auf dem Schreibtisch in einer Vase ein paar Ranunkeln und der aufgeklappte Laptop; daneben ein vollgestopftes Bücherregal.

»So ein Zimmer würde ich auch gerne haben«, sagte er.

»Ja, gefällt es dir bei mir?«

»Sehr.«

Sie machte eine Bemerkung zu dem Mädchen auf dem Foto, das natürlich sie war, und zeigte ihm anschließend ihre Bücher, von denen sie die meisten gelesen hatte, überwiegend Erzählungen und Romane, ungefähr ein Drittel auf Russisch und der Rest in Übersetzung.

Bei den Autoren gab es viele Übereinstimmungen; sie hatte mehr Tschechow und weniger Dostojewski und sonst alle bekannten Namen, die Gedichte von Puschkin und einiges anderes, das ihm nichts sagte.

Sie hatte sich neben ihn gestellt und schaute ihm zu, wie er das eine oder andere aus dem Regal zog und ein paar Zeilen las und in der Hauptsache mit ihrer Nähe beschäftigt blieb.

»Andrej Bitow, Mensch in Landschaft, aha«, las er. »Sascha Sokolow, Die Schule der Dummen.«

»Das musst du unbedingt lesen, ich liebe es«, sagte sie dazu. – »So, und jetzt bringe ich uns noch eine Kleinigkeit zu essen, such dir bitte einen Platz, ich bin gleich zurück.«

Mischa hatte es lediglich geschafft, auf dem blauen Sessel Platz zu nehmen und heimlich an der dort abgelegten Bluse zu riechen – und da kam sie schon und brachte Brote mit Lachs und einen Rest nicht mehr allzu heißen Tee.

Sie setzte sich auf ihr Bett und sah ihn erwartungsvoll an.

»Eigentlich weiß ich nichts von dir«, sagte sie. »Du kannst mit einem Samowar umgehen, du liest, du bist hier, starrst mein Kleid an, auf eine Art, dass es mir sogar gefällt, du arbeitest im Restaurant deines Onkels, doch das wird es wohl nicht sein.«

Sie wollte wissen, was er wollte; später, im Leben, meinte sie; wenn es nach ihr ginge, würde sie ja gerne als Übersetzerin arbeiten, vielleicht als Lehrerin, sie wisse noch nicht genau.

»Und du?«

Und weil sie so hübsch und hartnäckig fragte, gestand er: »Ich will schreiben.« – »Du bist der erste Mensch, dem ich das sage«, fügte er hinzu. »Lach mich ruhig aus.«

Aber Anastasia dachte nicht daran, ihn auszulachen, sondern hörte nun erst recht aufmerksam zu – dass er hauptsächlich mit Nachdenken beschäftigt sei und kein Thema habe, trotzdem seit Jahren wisse, dass er schreiben wolle.

»Derzeit lese ich vor allem.«

Anastasia kannte Die Brüder Karamasow nicht, also erklärte er ihr in groben Zügen die Handlung, das, was er bisher gelesen hatte, die Geschichte vom Großinquisitor eingeschlossen, die er eben heute Nachmittag beendet hatte, und wie er sich beim Lesen immerzu gesagt habe, ja, die Freiheit ist nichts und das Brot alles, aber auch Jesus recht habe, und dieses Rechthaben sei sein Schweigen.

»Ja, Schweigen ist schön, wenn auch schwer«, meinte Anastasia, und darauf schwiegen sie wie zur Probe eine Weile, bevor sie fragte: »In Sevilla, sagst du?«

»Fünfzehnhundertirgendwas.«

»Ich würde mich ja freuen, wenn er uns besuchen käme.«

»Es ist nur eine Geschichte«, sagte Mischa.

»Soll ich ihn rufen? Ich rufe ihn einfach mal. Kannst du, lieber Herr Jesus, bitte kommen und uns hier in Berlin besuchen?«

Sie lachte und wirkte ganz unbekümmert dabei, als wäre es ein Witz und zugleich keiner, und spätestens jetzt begann Mischa zu begreifen, wie lieb er sie bereits gewonnen hatte.

Er musste morgen früh raus, trotzdem konnte er sich lange nicht losreißen, machte einen Versuch um elf und einen zweiten gegen Mitternacht, bloß dass er diesmal einfach aufstand.

»Ja, ja, die Besichtigung«, sagte Anastasia und wollte wissen, wann genau sie stattfinde, worauf Mischa antwortete: »Um acht.«

2Sprechen Sie nie mit Unbekannten

Mischa war ein miserabler Wohnungssucher. Meistens suchte er gar nicht, sondern träumte das Suchen mehr, und ergatterte er ausnahmsweise einen Besichtigungstermin, ging er entweder nicht hin oder wusste schon an der Haustür, dass es bestimmt nichts wäre, fand an der Küche oder den Lichtverhältnissen etwas auszusetzen und war nicht selten der Erste, der kopfschüttelnd nach Hause ging.

»Wenn ich schreiben will, brauche ich eigene vier Wände«, hatte er sich und dem Onkel erklärt, doch weder Mischa noch der Onkel glaubten richtig daran, zumal man sich im Alltag gut verstand, ab und zu eine Meinungsverschiedenheit, aber kein Grund, viel Geld für eine eigene Wohnung auszugeben.

Mischa war wie oft spät dran, nach den vielen Aufregungen des vergangenen Tages hatte er lange träumend im Bett gelegen, bevor er sich endlich aufraffte und nach Schöneberg in die Gleditschstraße begab.

Die Wohnung befand sich im rechten Seitenflügel, zweiter Stock links, und hörte sich nicht sonderlich vielversprechend an. Bereits aus der Ferne sah Mischa die Menschentraube vor dem Eingang, die sich soeben in Bewegung setzte und wenig später in gespielter Ruhe in die Wohnung ergoss, die aus einem einzigen Zimmer bestand, dazu Küche, Bad, winzig und deutlich abgewohnt, Wände, Böden; von Fenstern und Türen blätterte der Lack ab.

Mischa zählte an die dreißig Interessenten. Das Gedränge war entsprechend groß, man sah Leute nicken und andere, die den Kopf schüttelten, nach fünf Minuten waren zwei Drittel weg.

In letzter Sekunde bemerkte er die Frau.

Sie war mindestens zehn Jahre älter als er, Mitte dreißig vermutlich, groß und schlank, überaus gepflegt, wie er unweigerlich dachte, jemand, der sich zu kleiden wusste und in hellen, geschmackvoll eingerichteten Räumen bewegte, was die Frage aufwarf, warum sie eine schäbige Wohnung in der Gleditschstraße besichtigte, die noch dazu im Seitenflügel lag.

Auch die Frau schaute zwei-, dreimal in seine Richtung, wechselte ein paar Worte mit dem Makler, der sich womöglich ebenfalls wunderte.

Irgendwie französisch sah sie aus, ein bisschen wie die junge Stéphane Audran in den Filmen von Chabrol, die Mischa mochte, aber wie sich herausstellte, sprach sie ein makelloses Hochdeutsch.

Unten auf der Straße kam sie auf ihn zu und bot ihm eine Zigarette an.

»Sie sehen aus, als wäre heute so ein Tag«, erklärte sie und meinte: um zu rauchen, als würde sie wissen, dass Mischa allenfalls Gelegenheitsraucher war, aber nach diesem Fehlschlag soeben, warum nicht, ja, gern.

Sie holte eine Packung Pall Mall aus ihrer Handtasche und gab ihm Feuer.

»Ach ja, der Wind«, sagte sie, denn es wehte ein kräftiger Wind, da war es mit Zündhölzern schwierig, es bedurfte mehrerer Anläufe, bis sie endlich Feuer gaben.

Und so rauchten sie, sprachen über das Rauchen, Wind und Wetter, die Wohnungsfrage.

Wie lange sie denn bereits suche, wollte Mischa wissen.

Und darauf sie: »Nein, nein, ich suche nicht, ich bin nur hier, um mich mit dir zu unterhalten.«

Sie lächelte, als sie das sagte, offenbar hatte sie eine spezielle Art von Humor, stellte sich nun auch vor und nannte ihren Vornamen: »Luna.«

»Mischa«, sagte Mischa.

Er mochte ihr Muttermal unten am Kinn, ihren Blick, der auf ihm ruhte und sehr wohlwollend war, etwas fragend, weil sie erkennbar fror und daher vorschlug, sich zum Aufwärmen wenige Straßen weiter in ein Café zu setzen.

Keine zehn Minuten später saßen sie im Gottlob. Mischa hörte von dem Café zum ersten Mal, während Luna offenbar schon da gewesen war und Prosecco und ein Glas heißes Wasser bestellte und für Mischa ein zweites Frühstück, das aus Espresso und Bitter Lemon bestand.

Mischa war selbstverständlich eingeladen und musste nun jede Menge Fragen beantworten, seine Wohnsituation betreffend, was er studierte, die Arbeit beim Onkel, der ein Russe war, so, so, mit russischem Essen kenne sie sich einigermaßen aus.

»Vielleicht magst du mir bei Gelegenheit etwas zusammenstellen und bringen, ich habe ewig nicht russisch gegessen, früher natürlich dauernd.«

Mischa verstand nicht.

»Mein Mann ist Russe«, erklärte sie. »Vielmehr war er das. Ich meine, er lebt, ist jedoch nicht mehr mein Mann, was dich sicher brennend interessiert.«

»Das tut mir leid«, sagte Mischa.

Und die Frau: »Das muss dir gewiss nicht leidtun, es ist ja niemand gestorben, im Gegenteil – ich bin überhaupt erst am Leben, seit er das Weite gesucht hat und sich wer weiß wo herumtreibt, während ich mit einem hübschen jungen Mann im Café sitze und mich jede Minute amüsiere.«

So formulierte sie es.

Am Ende lud sie ihn zu einem kleinen Ausflug ein.

»Jetzt gleich habe ich einen Termin, doch heute Abend, wenn du Zeit und Lust hast, sagen wir um sieben, könnten wir uns weiterunterhalten.«

Für abendliche Ausflüge schien das Wetter nicht günstig, fand Mischa, aber wie sich herausstellte, wollte sie vor allem eine Kleinigkeit essen und das nächtliche Berlin studieren.

Auf den Fernsehturm wollte sie.

»Ich weiß, ich weiß, machen bloß Touristen«, sagte sie. »Aber warte ab, hoch oben in den Lüften über dem Alexanderplatz ist es wirklich schön.«

»Ich bestelle uns einen Tisch«, erklärte sie. »Eingeladen bist du auch. Allerdings man muss Einladungen ja nicht annehmen.«

Sie tauschten Telefonnummern, für den Fall, dass einem von ihnen etwas dazwischenkäme.

»Mischa«, sagte sie und winkte der Kellnerin, um zu bezahlen.

Die nächsten Stunden brachte Mischa irgendwie hin, räumte im Schostakowitsch neue Ware in die Regale, freute sich vage, obwohl er bis zur letzten Minute versucht war, abzusagen.

Zehn vor sieben stand er am Fuß des Fernsehturms und beobachtete bei Nieselregen den Publikumsverkehr. Für den Lift brauchte man Tickets, das hatte er nicht gewusst, und als er kurz davor war, welche zu kaufen, entdeckte er sie drinnen hinter der Glastür, wie sie mit zwei Karten winkte.

»Ich bin leider jemand, der regelmäßig zu früh ist«, sagte sie entschuldigend, worauf Mischa sofort annahm, er sei zu spät gekommen, und seinerseits eine völlig unnötige Entschuldigung murmelte.

Sie trug einen teuren schwarzen Mantel mit Kapuze und erklärte, dass es auch für sie das erste Mal sei, es könne also viel schiefgehen, was sie offenbar nur so sagte.

Die Liftfahrt dauerte keine Minute. Es gab einen merklichen Ruck, und es zog sie nach oben. Ein Gruppe Koreaner oder Japaner machte unverständliche Bemerkungen zum rasanten Tempo, während Luna, halb an die Liftwand gelehnt, Mischa versonnen anlächelte, wartete, bis alle raus waren, und ihn ins Restaurant führte.

Und dort drehte sich alles.

Das hatte Mischa gelesen und zwischenzeitlich vergessen: dass sich das ganze Restaurant drehte und sich bei den Touristen ebendeshalb großer Beliebtheit erfreute; man aß und fuhr mit Blick auf die Stadt unablässig im Kreis, und die Stadt war ein funkelndes Spielzeug und gleichzeitig nah und fern und schön.

Für einen Augenblick freute sich Mischa wie ein Kind. Luna hatte es geschafft, in letzter Minute zwei Plätze am Fenster zu ergattern, bestellte noch im Stehen eine Flasche Crémant und sagte: »Und da haben wir uns nun also tatsächlich getroffen und sitzen im Berliner Himmel.«

Mischa war damit fürs Erste beinahe überfordert, denn er hatte vieles zu bestaunen, zuallererst dieses dauernde Gedrehtwerden, dazu die weit unten ausgebreitete Stadt, die jede Minute eine andere wurde, Luna natürlich, die in der Karte blätterte und, wie ihm vorkam, einen leicht schwefelhaften Geruch verströmte.

Essen wollte sie nur eine Vorspeise, das Duo vom Lachs, und als Nachspeise die lauwarme Birnentarte, während Mischa sich für die Kartoffelsuppe nach Kaiser-Wilhelm-Art entschied und als Hauptgang für das Rindfleisch in Burgunder.

Als das erledigt war, entstand eine kleine Pause, man stieß ein zweites Mal an und plauderte recht munter los, wobei sich beide abwechselnd duzten und siezten, bis sich Mischa mitten im Satz an den Kopf schlug und sagte, dass er seine Geschenke vergessen habe.

»Ich habe etwas für Sie.«

»Für dich«, korrigierte Luna. »Ich würde gerne Luna für dich sein. Hallo Luna. So bitte sag zu mir.«

Er nickte und lächelte und überreichte ihr eine Flasche Krimskoye-Rosé, die der Onkel verkaufte, und dazu eine Handvoll bunte Bonbons, die nicht besonders schmeckten und dafür sehr russisch aussahen.

»Weil du doch mit einem Russen verheiratet gewesen bist.«

»Hör mir auf mit den Russen«, gab sie zurück.

»Du sitzt mit einem am Tisch.«

Worauf sie erklärte, ihres Wissens sitze sie mit einem jungen Mann namens Mischa am Tisch, und den gebe es bloß ein einziges Mal, während man die russischen Männer überhaupt nicht zählen könne.

Als die Vorspeisen kamen, rückten sie noch einmal weiter zusammen; ließen sich gegenseitig probieren und fanden nichts dabei, dass es von derselben Gabel und demselben Löffel war.

Mischa schnitt ihr eine Scheibe von seinem Rindfleisch ab und erkundigte sich, ob er sie nach ihrer Arbeit fragen dürfe.

»Du darfst mich alles fragen, was nicht heißt, dass ich jede deiner Fragen beantworten muss.«

Mischa sollte raten.

Lehrerin war eher kalt, Ärztin ein bisschen wärmer, Managerin, ja, wenn auch anders als Mischa glaube, Priesterin, nein, nein, auch Hexe nein; Hexe sei sie lediglich nebenbei.

»Ich bin so etwas wie eine Lebensberaterin«, sagte sie. »Ich coache Leute, die sich gerade neu erfinden oder es versuchen – neue Arbeit, neue Liebe, neues Leben.«

Es gab Räume, in denen sie ihre Klienten empfing, nicht weit von hier in der Rosmarinstraße, wobei sie offenließ, ob sie dort auch lebte.

»Und was macht mein Mischa, wenn er nicht Leute mit Sekt und Kaviar versorgt?«

Aha, ein Roman.

Denn so lautete Mischas Antwort, dass er vorhabe, einen Roman zu schreiben, eines Tages.

Anders als bei Anastasia sprach er beiläufig-spöttisch darüber, erwähnte Dostojewski und den Großinquisitor, aber bitte, streng genommen bestehe die Sache aus Luft, mehr sei da nicht, die Wahrheit tat weh, trotzdem war es die reine Wahrheit.

»Aber nein«, widersprach Luna.

»Nein?«

»Du musst Geduld haben. Warten lernen.«

»Ja, warten.«

Trotzdem freute er sich, dass sie sich dafür interessierte, sogar den Großinquisitor schien sie zu kennen, fand ihn toll, wenngleich sie den Teufel persönlich ja interessanter finde.

»Ich helfe dir.«

Sie griff nach seiner Hand, was Mischa rührte, weil er das nicht kannte, dass jemand Hilfe anbot, und womöglich hatte er Hilfe ja nötig.

Er dachte oder sagte: »Aber wie?«

Worauf sie antwortete: »Du wirst schon sehen, wie.«

Sie bestellten Kaffee und dazu zwei eisgekühlte Russian-Standard-Platinum-Wodkas, denen zweimal zwei weitere folgten.

»Vertrau mir«, sagte sie. »Es lohnt sich.«

Und Mischa: »Gut.«

»Ich habe da nämlich so gewisse Talente«, erklärte sie. »Gaben, wenn du willst. Du wirst ja sehen.«

Sie konnte Gedanken lesen.

»Soll ich dir etwas über deine Gedanken erzählen, seit wir hier sind?«

Mischa wurde auf der Stelle rot, denn er hatte sich schöne, schlimme Sachen vorgestellt.

»Siehst du? Das alles weiß ich. Ich weiß ziemlich viel von dir.«

Er blickte an ihr vorbei auf ein Stück glimmerndes Reinickendorf, unangenehm berührt, obwohl er am Rande bemerkte, wie es ihm gefiel, dass sie so vieles von ihm wusste und ihm weiter gar nichts übel nahm.

»Ganz im Gegenteil«, sagte sie.

Was Mischa erst recht gefiel.

»So, und jetzt möchte ich mit dir nach oben.«

Auf die Aussichtsplattform, meinte sie; das Restaurant und der Turm würden demnächst geschlossen, allerdings sei der Abend damit nicht zu Ende, im Gegenteil, wenn es nach ihr ginge, finge er nun überhaupt erst an.

3Der Flug

Und dann stiegen sie auf die Aussichtsplattform. Der Himmel war klar, man hatte wie beim Essen einen guten Überblick, nur dass sich der Boden nicht drehte und man sich bewegen musste, um die Perspektive zu wechseln.

Mischa versuchte, die Gegend um das Schostakowitsch zu lokalisieren, was allerdings unmöglich war; man erkannte in der Ferne die Stadtautobahn, den Funkturm, nicht allzu weit weg die dunkle Spree, Rotes Rathaus und Kanzleramt, dichtes und weniger dichtes Licht, die wechselnden Farben der Ampeln, weit weg in der Ferne einen Mond mit sehr hellem Hof.

Inzwischen waren sie den Kreis zweimal abgelaufen. Luna hatte ihm gezeigt, wo in etwa ihre Wohnung lag, beinahe um die Ecke, wie sie nebenbei bemerkte, um zwischenzeitlich etwas zu bedenken, was aber nicht weiter hinderlich schien, denn als sie fertig damit war, küsste sie ihn oder er sie, sie einander, auf die übliche Weise.

Ah, so ist das, dachte Mischa, der noch nie so geküsst hatte und gewissermaßen ein neues Reich betrat, jedoch schnell lernte und sich nur wunderte, dass er sich so wenig wunderte.

Es dauerte eine Weile, bevor er und sie Luft holten und sich mit einem neuen Erstaunen ansahen.

»Oh!«, sagte sie. »Das tut gut. Oh, oh, oh.«

Und Mischa lächelte, weil er sozusagen ein anderer Mensch geworden war und sich nur vorsichtig fragte, wie es nun weitergehen sollte, da sie ja angekündigt hatte, dass der Turm in Kürze geschlossen würde.

»Das bestimmen allein du und ich«, antwortete sie, weil sie offenbar nicht aufhörte, seine Gedanken zu lesen, und regelrecht in ihm herumspazierte, und das durfte man doch streng genommen nicht, so wenig es Mischa auch störte.

»Komm, wir fliegen«, sagte sie.

»Fliegen?«

Es war ein Witz, so gut meinte er sie inzwischen zu kennen, und dann zeigte sie es ihm, und sie flogen.

Mischa musste eine Tür übersehen haben, obwohl er sich später beim besten Willen an keine Tür erinnerte; nur dass er plötzlich im kalten Wind stand und keinen Boden unter seinen Füßen hatte, dafür Lunas Hand und ihre Stimme, die ihm zurief, was er zu beachten hatte.

»Die Steuerung übernehme ich, halte du nur immer meine Hand, sonst brauchst du weiter nichts zu tun.«

Er sah Lunas flatternden Mantel, der nicht ganz zugeknöpft war, oben am Hals ein Stück Kleid und wie sie sich regelmäßig zu ihm umdrehte, um neuerlich nach vorne zu blicken und mit einer winzigen Drehung des Kopfes den Kurs zu korrigieren.

Die ersten ein, zwei Minuten vergaß Mischa vor Angst beinahe das Atmen, aber danach fand er es zunehmend herrlich.

Auf direktem Weg hätte der Flug auch nicht viel länger gedauert, doch Luna baute unzählige Kurven und Schleifen ein, damit sie etwas davon hatten und Mischa sah und spürte, wie einfach und angenehm es war.

Sie überflogen den Neptunbrunnen und wandten sich dann nach rechts Richtung Dom und anschließend nach links Richtung Schloss, bevor Luna noch einmal stärker nach rechts lenkte und sie das Gorki-Theater und die St.- Hedwigs-Kathedrale überflogen.

»Wir sind gleich da«, rief sie ihm zu. »Gefällt es dir? Und wie es dir gefällt! – Pass auf, wir landen gleich.«

Mischa hatte sich schon gefragt, wo um Himmels willen sie landen würden, unten auf der Straße wohl eher nicht, und tatsächlich steuerte Luna einen begrünten Dachgarten an, wobei sie zweimal so tat, als träfe sie den Landeplatz nicht, und sich und ihn in einer elegant ausgeführten Halbkurve neben zwei jungen Birken absetzte.

»Und da wären wir«, erklärte sie. »Läufst du mir jetzt auch bestimmt nicht weg?«

Aber Mischa dachte nicht daran, er hätte auch nicht gewusst, wie, außerdem hatte er jede Menge Schwierigkeiten zu bewältigen; vom kalten Wind tränten ihm die Augen, er fror, zweifelte an seinem Verstand, war allerdings halbwegs sicher, dass er bei Sinnen war, berauscht und auf eine ungläubige Weise beglückt, wie vorher beim ersten Kuss.

»Wir haben es nicht mehr weit«, ließ ihn Luna wissen. »Ein paar Schritte noch.«

Eine schmale Treppe runter auf den Dachboden, hieß das, und durch eine Metalltür weiter ins dunkle, stille Treppenhaus, wo Mischa nun doch für einen Moment ins Zweifeln geriet und sich ein paar letzte Tränen aus den Augen wischte und den Zweifel gleich mit.

Lunas Wohnung bestand aus zwei mittelgroßen Zimmern mit Küche, Bad, ziemlich hell und geschmackvoll-schlicht, mit einem leicht japanischen Einschlag, wie Mischa glaubte, obwohl letztlich nur das niedrige Bett japanisch war und der Kimono, der darauf lag und bei den weiteren Geschehnissen keine Rolle spielte.

Für Mischa blieb das meiste neu; seine Augen hatten tüchtig zu tun, weil es haufenweise Bilder und Szenen gab: Luna, gegen den Türstock der Küche gelehnt, Luna mit einem Glas Weißwein in der Hand, Luna, die ihr Telefon stumm schaltete.

Sie war alles Mögliche.

Sie war nackt und legte ihre Kleider ab, sie war heiser und gab ihm kleine Tipps, lachte, ließ die Dinge weitestgehend laufen, was überraschend und lehrreich für ihn war, in einem nachgiebig-verzeihenden Stil.

»Ich bin fünfzehn Jahre älter als du, aber weißt du, wie egal mir das ist?«, sagte sie.

»Du bist so anders; ganz besonders bist du«, sagte sie.

»Ja, da, bitte. Ja, so.«

Und Mischa, man kann es nicht anders sagen, war selig.

Gegen zwei hatten sie endlich genug.

Mischa lernte noch kurz ihr Badezimmer kennen, ihr Parfüm, das Narcisse Noir hieß, die Schminksachen, ihre Haarbürste, die Nagelfeilen, den bunten Buddha auf der Ablage unter dem Spiegel.

Sie ließ ihn wissen, wie sehr sie es mochte, wenn er nackt an ihrem Bett vorüberging und ebenso nackt zurück ins Bett schlüpfte, weil das ja nun mal das Beste sei, dieses Schlüpfen und Bleiben, meinte sie, da Mischa ja nun hoffentlich bleiben würde.

Als Luna am nächsten Morgen erwachte, schlief der Junge noch. Es war fast zehn, doch zum Glück hatte sie bis zum Abend keine Termine und konnte in aller Ruhe zusehen, wie Mischa schlafend in ihrem Bett lag.

So im Schlaf erschien er ihr auf bestürzende Weise jung, halb ein Kind, wie sie dachte und sich freute über ihn und nicht genug davon bekam, ihn zu betrachten und eigentlich zu beschützen.

Einmal schien er wach zu werden, um nach einem Seufzer weiterzuschlafen, nicht mehr allzu tief, als wüsste er schon, dass er nicht allein und bei ihr war.

Sonderlich viel Arbeit – nein – würde sie mit ihm nicht haben; er war gewitzt, er lernte schnell und gern, konnte warten, war empfänglich für Möglichkeiten, hörte zu, kam auf Dinge zurück oder probierte neue, packte zu.

Er trinke von morgens bis abends Kaffee, hatte er erwähnt.

Na dann mache ich uns jetzt mal einen Kaffee, sagte sie sich und hantierte eine Weile in der Küche, bis sie alles beisammenhatte, ihre Gedanken und die Tassen mit dem Kaffee und die dänischen Kekse, aus denen manchmal ihr Mittagessen bestand und die nicht besonders schmeckten.

Der Junge saß halb aufrecht im Bett und erwartete sie.

»Ausgeschlafen?«

Sie war in ihren Kimono geschlüpft, ohne ihn richtig zuzumachen, und sie mochte, wie er sie musterte und ihren Kaffee trank und so tat, als wüsste er gar nicht, unter welchen Umständen er in ihrem Bett gelandet war.

Ob er bleiben könne, fragte er.

»Bleiben sollst du, wenn es nach mir geht, unter allen Umständen.«

Und so begann der Morgen.

Er sang, er küsste ihre Narbe über der Augenbraue, die vor ihm noch keiner geküsst hatte, wollte, dass sie laut war, dass sie redete, obwohl er ihr anschließend kaum zuhörte und mehrfach die Hand auf den Mund legte und erklärte, der Kaffee sei wieder kalt.

Mischa.

Sie würde ihn nicht lange behalten dürfen, das wusste sie, nicht auf diese Weise jedenfalls, eine andere vielleicht, wenngleich auch das nicht sicher war.

Gegen Mittag erklärte sie ihm, wie es weitergehen würde.

Mischa richtete sich sofort auf, als wäre da eine Gefahr, vor der er sich wappnen müsste, ein Preis, den er zu bezahlen hätte, Höhe unbekannt.

So offenbar dachte er.

Sie ließ ihn eine Weile zappeln, weil es hübsch anzusehen war, wie er innerlich rechnete und zu keinem Schluss kam und sich nun regelrecht fürchtete.

»Ich bin zu allem bereit«, sagte er. »Nur wiedersehen muss ich dich.«

»Das trifft sich gut«, gab sie zurück. »Denn das ist meine Bedingung, dass wir uns wiedersehen, einmal die Woche.«

»Mehr verlangst du nicht?«

Mischa war erleichtert.

»Einmal die Woche, sagst du?«

»So habe ich gedacht.«

Sie hatten Schwierigkeiten, ein Ende zu finden, als das erledigt war, sie mehr als er, der irgendwann erklärte, dass er losmüsse, kein Ziel oder einen Termin nannte, sondern einfach aufstand und sich anzog und sie zum Abschied flüchtig küsste.

Danach war sie ziemlich entspannt. Machte sich in der Küche einen Tee und ging ein paar ausgewählte Szenen durch, mochte, dass sie nach ihm roch, dass er noch da war, sein Blick, vorher – nachher, wie neu und überraschend er alles gefunden hatte, weshalb auch ihr alles neu und überraschend erschienen war.

Das Nächste war, dass sie in die Badewanne stieg und über ihren Zahnarzt, Dr. Muhlack, nachsann, bei dem sie sich vierteljährlich die Zähne polieren ließ, um bei der abschließenden Kontrolle zu hören, dass alles in bester Ordnung sei.

Luna liebte es, zu Dr. Muhlack zu gehen, weil er sich regelmäßig neue Komplimente für ihre Zähne ausdachte und sie bei Gelegenheit mit den weißen Stadtmauern orientalischer Städte verglichen hatte, auf denen er eines Tages gerne spazieren gehen würde, was sie mit der Drohung beantwortet hatte, ihn bei passender Gelegenheit mit Haut und Haaren zu verschlingen.

Und dann lachte Zahnarzt Dr. Muhlack und zeigte seinerseits Zähne, die noch viel weißer und strahlender als ihre waren und, wenn sie recht überlegte, eigentlich teuflische.

Er habe eine kleine Bitte an sie, hatte er beim letzten Termin gesagt.

Da er ein rechter Schelm war, hatte Luna mit wer weiß was gerechnet, aber er sprach lediglich eine Einladung aus; er sei ein passionierter Segler und als solcher Mitglied eines Vereins, der alljährlich einen großen Ball veranstalte, mit an die hundert Gästen, die immer andere seien, auch die Ballkönigin sei alljährlich eine andere, und da habe er sich gedacht, ob nicht dieses Jahr sie das Amt übernehmen könne.

»Bitte, meine verehrte Luna«, hatte er so in einem flehenden Ton gesagt. »Niemand wäre geeigneter als Sie!«

Sie hatte nicht lange gezögert und gesagt: »Gut, ich mach es.«

Worauf ihr der Zahnarzt versichert hatte, dass sie weiter keine großen Vorbereitungen zu treffen habe, man schicke einen Wagen, um sie abzuholen, kleide sie vor Ort ein, erläutere ihr die Abläufe; zu essen und trinken gebe es selbstverständlich, haufenweise und in Strömen.

»Wenn Sie es sich über Nacht anders überlegen, rufen Sie mich gerne an«, hatte er gesagt, was so klang, als solle sie es bloß nicht wagen.

Aber es fiel ihr gar nicht ein.

Dr. Muhlack hatte ganz andere, jüngere Patientinnen, die er hätte fragen können, aber gefragt hatte er sie, und das schmeichelte ihr; außerdem war so ein Ball sicher ein großer Spaß, womöglich traf man auf interessante Leute, auch zum Tanzen würde sie mal wieder kommen und Champagner trinken bis zum frühen Morgen.

So ungefähr stellte sie sich die Sache vor.

Sie ließ mehrfach heißes Wasser nach, bis sie genug hatte; inzwischen war es halb fünf, Zeit, dass sie sich anzog, das kleine Schwarze, das sie in Kürze wieder ausziehen würde, den Schmuck, Strümpfe, Schuhe. Sie sprühte ein wenig Narcisse Noir in ihre Halsbeuge, kontrollierte die Handtasche, den Ladestand ihres Handys und hatte am Ende immer noch eine halbe Stunde, in der sie in einem der Sessel im Arbeitszimmer darauf wartete, dass man sie abholte.

4Was sollen wir nur tun?!

Auch im fernen Friedenau wurde gewartet. Anastasia war die Wartende, doch anders als Luna saß sie nicht ruhig in einem Sessel, sondern tigerte durch ihr Zimmer, in Erwartung ihres Mitbewohners Fjodor, der sie vorhin, in der Küche, um ein Gespräch gebeten hatte, des Vorfalls wegen, wie sie sofort begriff, in der Nacht, bevor sie Mischa kennengelernt hatte.

»Es dauert bestimmt nicht lang«, hatte Fjodor gesagt.

Und darauf sie: »In einer halben Stunde. Wäre das okay? Ich komm dann zu dir rüber.«

Er müsse etwas für sich klären, hatte Fjodor gesagt, was ihr auf verquere Weise gefiel, da auch sie etwas für sich klären musste, Mischa betreffend, von dem sie seit sechsunddreißig Stunden keine Nachricht hatte, was ihr nicht gefiel, obwohl sie sich tapfer sagte, dass sie kein Recht dazu hatte, so wie Mischa kein Recht hatte und der Vorfall mit Fjodor allein sie und Fjodor betraf.

Und so war sie völlig ruhig, als sie zu ihm ging.

Sein Zimmer war das denkbar schlichteste; außer Tisch und Stuhl und Schrank gab es bloß eine kleine Christus-Ikone, die über dem Bett hing, das Bett, das weiterhin das Bett war, so wie Fjodor Fjodor war, fremd und vertraut in einem.

»Bitte sei nicht böse«, begann sie. »Ich habe lange überlegt, was es bedeutet, da es ja immer etwas bedeutet, wenn auch nicht unbedingt für jeden dasselbe.«

Und mehr musste sie nicht sagen.

Fjodor war komplett in Schwarz gekleidet und wirkte in keiner Weise überrascht, eher bekümmert als enttäuscht, auf eine versöhnliche Art und Weise.

»Aber du weißt es noch, du erinnerst dich«, sagte er, was ja nun wirklich keine Frage war.

»An alles erinnere ich mich, Fjodor. Und ich danke dir.«

Mit einem Unterton des Bedauerns sagte sie das, als hätte unter anderen Umständen mehr daraus werden können, wenn das Kloster nicht gewesen wäre, wenn Mischa nicht gewesen wäre.

»Ich habe gestern mit Kyrill gesprochen, und er sagt, dass ich sofort einziehen kann.«

»Oh, das freut mich«, sagte sie. »Und bedeutet was?«

»Es bedeutet, dass es meine letzten Tage hier sind.«

»Und? Freust du dich?«

»Ich muss vor allem beten lernen, das wird das Schwierigste«, meinte er.

Beten sei Arbeit, man dürfe nie aufhören damit, behaupte jedenfalls Kyrill, und Kyrill müsse es wissen.

»Kyrill, ja«, sagte sie.

Und Fjodor: »Ich habe ihm von uns erzählt, ich hoffe, das ist nicht schlimm.«

Da sie diesen Kyrill nicht kannte, hatte sie es eher nicht so gern, bevor sie sich neuerlich sagte, dass es ja nur ein Vorfall gewesen war.

»Und?«

»Ich soll mich bedanken bei dir. Es ist niemandem Böses geschehen, also ist das Gute geschehen. So sagte er.«

Was Anastasia jetzt doch beinahe versöhnte und sogar ein bisschen freute.

Noch viel mehr hätte sie sich über eine Nachricht von Mischa gefreut, doch Mischa hatte andere Sorgen.

Er war viel zu spät ins Schostakowitsch gekommen, wo zu seinem Erstaunen keine Musik lief, dafür zwei größere Gruppen lärmend an zwei Tischen saßen und gerade ausgiebig nachbestellten.

Onkel Wladimir war schlecht gelaunt, weil eine der Boxen einen Wackelkontakt hatte, außerdem gab es Ärger mit einem Kunden, der behauptete, seine Frau sei erkrankt, nachdem sie eine Flasche Krimsekt aus dem Schostakowitsch getrunken habe, was nun wirklich ein Witz war; die Frau war dem Onkel gut bekannt, sie trank gerne einen über den Durst, Sekt und Rotwein durcheinander, was sich bekanntlich schlecht vertrug.

Zu Mischa sagte er bloß: »Wie siehst du denn aus? Kann man sich auf dich verlassen? Nein, verlassen kann man sich leider nicht.«

Mischa war versucht, ein umfassendes Geständnis abzulegen, aber der Onkel erahnte es auch so und schickte ihn kurzerhand nach Hause ins Bett.

Und da lag Mischa nun und machte die Entdeckung, dass er eifersüchtig war. Er hatte keine Erfahrung mit diesem Gefühl und begriff fürs Erste nur, dass er bestimmt kein Recht dazu hatte, und ebendas schien Eifersucht zu sein, dass man anfing, auf Rechte zu pochen, die man nicht hatte.

Mischa schüttelte mehrfach den Kopf über sich, was nichts daran änderte, dass er sich die unterschiedlichsten Szenen ausmalte, die teilweise auf einem von Luna erwähnten Ball und teilweise in ihrem japanischen Bett spielten und ihn regelrecht marterten. Verschiedene Männer liefen durchs Bild, große, erwachsene Männer, die alles wussten und im Begriff waren, unaussprechliche Dinge mit Luna zu tun oder mit Lunas Zustimmung bereits getan hatten, obwohl Mischa wenig Genaues sah, sondern sich vage zusammenreimte, wie sie jemandem Kaffee ans Bett brachte oder über das nächtliche Berlin flog und überhaupt alles tat, was sie mit ihm, Mischa, getan hatte und rückblickend sicher ganz dumm und lächerlich fand.

Kurz: Er fühlte sich entsetzlich, sosehr er zwischendurch über sich lachte und staunte, in welche Zustände man geraten konnte, ihr irgendwann eine Nachricht schickte, die unbeantwortet blieb, und zwischendurch schlief und wieder wach wurde, worauf seine Qualen von vorne begannen.

Eine der Sprechstundenhilfen von Dr. Muhlack holte sie ab. Luna stand schon seit Minuten unten auf der Straße, als sie mit einer dunklen Limousine vorfuhr und sofort ausstieg, um Luna auf der Beifahrerseite die hintere Tür zu öffnen.

»Arbeiten Sie nicht bei Dr. Muhlack?«, fragte Luna überrascht, worauf die Frau zurückgab, dass das gut sein könne, sie jedoch nicht befugt sei, sich mit Luna zu unterhalten, und lediglich preisgab, wohin sie die verehrte Ballkönigin bringe, raus aus Berlin zu einer Villa am Heiligen See.

Nach gut einer halben Stunde waren sie da.

Die Villa war nur schwach erleuchtet, in der Dämmerung konnte man sich keine genaue Vorstellung von ihr machen, aber sie war groß, sie war weiß, von der Straße aus nicht sonderlich spektakulär, was von der Seeseite sicher anders aussähe.

Eine Frau mittleren Alters trat an den Wagen, und seltsam, sie war ebenfalls eine von Dr. Muhlacks Sprechstundenhilfen und genauso wortkarg wie die erste, obwohl Luna sicher war, schon dutzendmal einen Termin bei ihr vereinbart zu haben.