Mit dir wird alles anders, Baby! - Dennis Betzholz - E-Book

Mit dir wird alles anders, Baby! E-Book

Dennis Betzholz

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dennis Betzholz' Leben steht in Kürze auf dem Kopf: Er wird Vater. Und er will ein guter sein. Doch wie rüstet man sein Kind am besten für die Welt da draußen? In 42 Briefen, mindestens einer pro Schwangerschaftswoche, bereitet er sich auf seine Vaterrolle vor – mit großen Gefühlen, klugen Gedanken und einem guten Schuss Humor. Worauf kommt es im Leben an? Dennis Betzholz wird diese Frage bald jeden Tag beantworten müssen. Er wird Vater. In 42 Briefen an sein Kind denkt er darüber nach, wie es ihm gelingen kann, einen guten Menschen großzuziehen. Mal witzig, mal tiefsinnig, mal kämpferisch geht er auf die Suche nach dem Kern des Mensch-Seins: Er philosophiert über Werte, den Zufall, die Liebe und Dankbarkeit, aber auch Besitztum, Ressourcen und Freiheit. Er erzählt Geschichten von sich und von Weggefährten – und erkennt, dass er mit seinen Lebensweisheiten auch danebenliegen kann. Ein charmantes Plädoyer, sich angesichts der Verantwortung nicht kirre machen zu lassen, eine Liebeserklärung an die nächste Generation und ein Glücks-Beschleuniger für werdende Eltern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 260

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dennis Betzholz

Mit dir wird alles anders,

Briefe eines werdenden Vaters an sein Kind

Knaur e-books

Über dieses Buch

»Ich will dir ein guter Vater sein. Aber was ist das eigentlich: ein guter Vater? Und wie rüsten gute Eltern ihr Kind für die Welt, die da draußen lauert? Was will ich dir beibringen? Was kann ich dir überhaupt beibringen?«

In 42 bezaubernden Briefen an sein Baby denkt Dennis Betzholz darüber nach, wie er seine Rolle als Vater bestmöglich ausfüllen kann und was er seinem Kind auf den Weg mitgeben möchte. Eine wunderbare Liebeserklärung an sein Kind, voll inspirierender Gedanken und amüsanten Geschichten, die vor allem eines verraten: unbändige Vorfreude auf den Nachwuchs.

Inhaltsübersicht

Über die Briefe der nächsten WochenÜber das WartenÜber die LiebeÜber die Stadt und das LandÜber VerantwortungÜber SorgenÜber die WeltÜber erste und letzte MaleÜber FamilieÜbers AndersseinÜber RespektÜber das GlückÜber das ErwachsenwerdenÜber DrogenÜber HeldenÜbers LesenÜbers ScheiternÜbers StreitenÜber VorurteileÜber PapasÜber die SterneÜbers ReisenÜber RessourcenÜber das Gute im MenschenÜbers ZaudernÜber GeldÜber FrauenÜber NamenÜber das TräumenÜber gutes BenehmenÜber SchwächenÜber GenussÜbers ÜbenÜber den TodÜber HoffnungÜber ZeitÜber EhrlichkeitÜber den ZufallÜber WeihnachtenÜber die ZukunftÜber FreiheitEpilogDank
[home]

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen.

Aurelius Augustinus

[home]

Über die Briefe der nächsten Wochen

Liebes Kind!

Das erste Mal, als ich über dich nachgedacht habe, warst du eine Zeichnung in einem Aufklärungsbuch. Es hieß Peter, Ida und Minimum. Familie Lindström bekommt ein Baby. Ich legte es tagelang nicht aus der Hand, erforschte die nackten Körper, die sich im Bett rekelten, ohne zu verstehen, was sie taten. Sie sahen glücklich dabei aus. Es musste wohl schön sein, ein Baby zu bekommen.

Beim zweiten Mal warst du eine kindlich-naive Idee vom Leben. Wie ich mir die Zukunft vorstelle, fragte mich das Freundschaftsbuch eines Schulkameraden. Ich trug mit meinem Füller ein: Abitur machen, studieren, eine Familie gründen. Dein Papa war schon mit neun ein elender Spießer.

Beim dritten Mal warst du die Drohung meines Vaters, der mir mit 18 vorsichtshalber ein Kondom zusteckte. Es war ein Werbegeschenk, das er von einer Dienstreise mitbrachte. »Wir freuen uns, wenn Sie kommen«, stand darauf. Darunter die Adresse eines Kfz-Betriebs. Na ja. Als ich das Verhüterli eines Tages endlich hätte gebrauchen können, war es längst abgelaufen.

Beim vierten Mal warst du eine Zahl. Ich war gerade ein paar Monate mit deiner Mama zusammen, da fragte sie mich: »Wie viele Kinder willst du eigentlich mal haben?« Diese Frage klingt zwar unschuldig, aber sie kann, im schlimmsten Fall, über die Zukunft einer Partnerschaft entscheiden. Ich überlegte daher kurz, aber gewissenhaft. Und antwortete taktisch: dass wir doch am besten mit dem ersten Kind anfangen sollten.

Beim fünften Mal warst du schließlich ein fester Plan. Wir wollten ein Kind. Aber zunächst wollten wir heiraten. Meine Freunde nannten diese Abfolge ganz schön konservativ, meine Eltern alternativlos, und mein Opa fragte, wie es denn sein könne, dass wir, ohne verheiratet gewesen zu sein, überhaupt zusammenwohnten.

Und nun, beim sechsten Mal, bist du ein Zeitpunkt. Noch ein Jahr, bis du kommst. Ob ich ein Hellseher bin, fragst du dich? Nein, nein. Lass mich dir das genauer erklären.

 

Es war ein warmer Samstagvormittag im August, als mir klar wurde, dass du unser Leben auf den Kopf stellen wirst und ich mich schleunigst darauf vorbereiten muss. Gute Freunde hatten ihre Liebsten zu einem Brunch in ein ländliches Café auf einem ehemaligen Bauernhof eingeladen. Sie waren vor gut einem Jahr Eltern geworden. Ob sie nun die Geburt feierten oder das Leben an sich oder das Glück, trotz des Kindes noch ein paar Hundert Euro für einen Brunch übrig zu haben, erschloss sich mir aus der Einladung nicht.

Ich ging trotzdem hin, allerdings ohne deine Mama, die ihren Chef auf eine Segelregatta nach Dänemark begleiten musste. Zuvor aber hatte sie noch eine Karte besorgt, auf der stand: Leben bedeutet, Dinge von der To-do-Liste auf die Scheiß-egal-Liste zu verschieben. Wir hatten keinen blassen Schimmer, wie unpassend diese Granatenweisheit für junge Eltern ist. Aber dazu gleich.

Zunächst solltest du wissen, dass sich die Spezies Eltern notgedrungen mit ihresgleichen umgibt. Schwangerschaftsvorbereitung, Kreißsaal, Rückbildungsgymnastik, PEKiP-Kurse, Spielplätze, Kita-Anmeldung, überall lauern hormonüberschüssige Gleichgesinnte, die ebenfalls Menschen suchen, mit denen sie sich austauschen können. Gerne auch bei einem Ingwertee und veganem Kuchen. Unsere Freunde zogen diese Menschen offenbar magisch an. Zu ihrem Unter-freiem-Himmel-Brunch kamen 40 Erwachsene und 20 Kleinkinder. Eine Armada an Kinderwagen reihte sich zwischen den Holztischen auf. Plastikbagger und Förmchen lagen wie Tretminen auf dem Rasen. Auf den Tischen stapelten sich, je nach Alter des Kindes, Spucktücher oder Bilderbücher. Ich saß an einem Bilderbuchtisch.

Neben mir nahmen junge Eltern Platz. Er trug Sonnenbrille und Dreitagebart, sie ein blumiges Sommerkleid und Sohn Jonathan auf dem rechten Arm. Ein Paar wie vom Cover der Nido. Dachte ich.

»Kannst du bitte mal Jonathan eincremen?«, fragte Jonathan-Mama Jonathan-Papa.

»Ich mache das doch schon unter der Woche vor der Kita«, nörgelte der zurück.

Jonathan-Mama zog eine Schnute. Wäre sie jetzt allein mit ihm zu Hause, so verriet ihr Blick, würde sie ihm nun aufzählen, was sie so den ganzen Tag als Vollzeitmutti leistet und dass er ja wohl auch das Kind haben wollte. Stattdessen kramte sie wortlos die Tube aus einem Jutebeutel und rieb Jonathan derart viel mit Sonnenmilch ein, dass er aussah wie Michael Jackson in seinen blassesten Tagen.

Um Eltern kennenzulernen, muss man nur einem einzigen Gebot folgen: Sei aufmerksam! Eltern füttern ihr Kind, wechseln seine Windeln, lesen ihm vor, suchen es, rennen ihm hinterher, gehen mit ihm spazieren, ziehen ihm eine Mütze auf, ziehen sie wieder ab, trösten es, erklären ihm die Welt, säubern seine Kleidung, verjagen Wespen, legen es schlafen, ein Leben wie eine nicht enden wollende To-do-Liste, doch irgendwo dazwischen wenden sie sich für einen winzigen Augenblick von ihrem Kind ab und den Tischnachbarn zu. Und genau das ist der Moment, in dem man sie ansprechen sollte.

»Habt ihr eigentlich viele Erziehungsratgeber gelesen?«, fragte ich interessiert in die Runde. Die Alphadaddys winkten belustigt, fast schon trotzig ab, als hätte ich wissen wollen, ob sie seit der Schwangerschaft Viagra benötigen. Außer Jonathan-Papa. Dem rutschte einen Tick zu schnell heraus: »Nur zwei Bücher.« Noch im selben Moment bereute er seine Ehrlichkeit und lächelte verlegen bis grenzdebil. »Aber nicht bis zum Ende«, schob er entschuldigend hinterher. Man musste jedoch kein Verhaltensforscher sein, um zu erkennen, dass er damit unter den Männern am Tisch in der Nahrungskette auf das Niveau einer Ameise zurückgefallen war.

Der Brunch war in vollem Gange, da gesellte sich auch die Gastgeberin an unseren Tisch. Sie arbeitete bei einem großen deutschen Handelsunternehmen. Ihr Vertrag war auf 15 Monate befristet, ihr Mann arbeitete ebenfalls Vollzeit. Das Kind brachten sie mit zwölf Monaten in die Kita. Unsere Freundin haderte mit der Doppelbelastung und dass sie ihr Kind unter der Woche nur für die Gutenachtgeschichte sehe. Ihr Mann, der früher Feierabend hat, betreue das Kind. Und dann sei da ja noch das Grundstück, das sie gekauft haben und für das sie noch ein Fertighaus auswählen müssten. »Aber dafür finden wir seit Monaten keine Zeit. Mit Kind«, sagte sie, »hat man nie Zeit!«

Mit diesen Eindrücken fuhr ich zurück nach Hamburg. Ich dachte dabei an dich. Ich fragte mich, ob du für uns auch eine Belastung sein wirst, eine nicht enden wollende To-do-Liste, von der nichts, aber auch rein gar nichts auf die Scheiß-egal-Liste zu verschieben ist. Und ob deine Mama und ich uns auch deinetwegen ankeifen werden? Ich war in meinem Leben viel zu oft ein Zauderer. Ich wägte so lange die Vorteile und Nachteile einer Idee ab, bis die Chance vorüber war. Typisch Generation Y. In dieser Sache aber nicht. Diesmal habe ich keinen Zweifel: Ich will dein Vater werden. Ich will dich kennenlernen, so bald wie möglich.

Doch eines habe ich an diesem Tag begriffen: dass ich auf dieses erste Treffen vorbereitet sein will. Bevor sich mein Leben verändert und ich mich womöglich mit ihm und der Alltag zwischen Windelnwechseln und Karriere die guten Vorsätze frisst. Wenn du mich fragst, worauf es ankommt im Leben (und das wirst du täglich tun, ohne es auszusprechen), will ich dir eine gute Antwort geben. Doch dafür brauche ich Zeit. Zeit, um dir Gefühle zu beschreiben und dir die Welt zu erklären. Zeit, dich an einen bestimmten Ort zu führen oder zu einem bestimmten Menschen. Zeit, dir von mir und anderen zu erzählen, von früher, heute oder morgen. Wenn es stimmt, was die anderen sagen, werde ich diese Zeit nicht mehr haben, wenn du da bist. Deshalb will ich dir vorab Briefe schreiben. Sie sollen mir und dir als Grundpfeiler dienen, als Inspiration, als Erinnerung an das, was ich vor deiner Geburt gefühlt habe, die Ängste eines werdenden Vaters ebenso wie dessen unbändige Vorfreude.

Das hat noch einen weiteren Vorteil. Denn bist du erst bei mir, werde ich in dir nicht mehr den Menschen sehen, der du sein wirst. Ich werde dich dann zu lieb haben. Ich werde mich, falls du Fußball spielst, mit deinem Trainer anlegen, wenn er dich wieder nicht eingewechselt hat, obwohl jeder andere sieht, dass du – wie ich früher – aus fünf Metern Entfernung einen abgestellten Umzugswagen verfehlst. Ich hingegen sehe nur deine Enttäuschung, wie du dein nicht verschwitztes Trikot in die Sporttasche stopfst und auf dem Heimweg wortlos aus dem Autofenster starrst.

Ich werde dir Vorschriften machen, die keinen Sinn ergeben, und sauer werden, wenn du dich ihnen widersetzt. Ich werde Sätze sagen, wie »Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …«, und mir insgeheim wünschen, dass du niemals ausziehst.

Ich werde Angst um dich haben. Und meine Angst wird mich die Dinge enger sehen lassen, meine Perspektiven werden dich beschränken wie einen Goldfisch in einem viel zu kleinen Aquarium. Dabei sollst du den Ozean kennenlernen, seine Farbenpracht, seine Weite, seine Artenvielfalt, seine Stille, das Getriebenwerden und Treibenlassen, aber auch seine Gefahren, seine Dunkelheit, seine Verletzlichkeit.

Ich will dir ein guter Vater sein. Ich will das wirklich gut machen. Aber was ist das eigentlich: ein guter Vater? Und wie rüsten gute Eltern ihr Kind für die Welt, die da draußen lauert? Was will ich dir beibringen? Was kann ich dir überhaupt beibringen?

Nach dem Brunch machte ich noch einen Abstecher über die Mönckebergstraße, Hamburgs berühmte Einkaufsmeile. An jeder Ecke buhlen dort Kleinkünstler um die Aufmerksamkeit und das Kleingeld der Passanten. Vor Starbucks stand diesmal ein Mittzwanziger mit verwegenen Locken und Gitarre. Er sang Father and Son von Cat Stevens. Hunderte Male hatte ich dieses Lied in meinem Leben bereits gehört. Es zählte zu meinen Lieblingsliedern. Doch diesmal bewegte es mich mehr denn je. Ich blieb stehen und hörte ihm zu, während zwei junge Frauen, die bei einem Junggesellinnenabschied mitmachten, dazu tanzten. Cat Stevens schrieb das Lied ursprünglich für ein Musical, in dem es um die Russische Revolution ging: Der Sohn beschloss gegen den Willen seines Vaters, sich an der Revolte zu beteiligen. Doch Stevens erkrankte an Tuberkulose, das Musical wurde verschoben. Stevens veröffentlichte das Lied trotzdem. Es hat nun keinen Bezug mehr zu Russland oder zur Revolution, sondern beschreibt den Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn. »You’re still young, that’s your fault, there’s so much you have to know«, sagt der Vater. Und der Sohn antwortet: »Now there’s a way, and I know that I have to go away.« Und ich verweilte und spürte, dass die Liedzeilen zu meiner Situation passten: Es gab so viel, was ich noch lernen musste. Und doch war es Zeit. Zeit, loszugehen. Auf eine Reise, die Fragen und Antworten bereithält und die geradewegs zu dir führt.

 

Dein Papa

[home]

Zeit der Ungeduld

Über das Warten

Mein liebes Kind,

mein erster Brief liegt jetzt schon mehrere Wochen zurück, um ehrlich zu sein, sind es schon mehrere Monate, und mir wird erst jetzt klar, wie arrogant ich war, als ich ihn schrieb. Ich hatte einfach vorausgesetzt, dass es dich geben wird. Niemand käme je auf die Idee, davon auszugehen, dass im nächsten Moment das Glück um die Ecke tänzelt und einem direkt in die Arme. Warum erwarte ich das ausgerechnet vom größten Glück meines Lebens? Von der kleinsten großen Liebe?

Ich dachte, wenn ich es mir nur allzu sehr wünsche, wird es schon wahr. Im Nachmittagsfernsehen funktioniert das doch auch, selbst bei Teenagern: Justin verliebt sich in Chantal, und schon in der nächsten Einblendung ist sie schwanger. Auch im Freundeskreis schien es, als kämen die Kinder vom Lieferando-Kurier: aussuchen, Datum und Uhrzeit wählen, fertig.

Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Es heißt, wenn du nicht danach suchst, wirst du ihn finden, diesen einen Menschen, der keine Hände braucht, um dich zu berühren, und keine Augen, um dein wahres Ich zu sehen. Diese eine Person, bei der es ausreicht, du selbst zu sein, weil das die beste Version von dir ist, das Original. Und bei der du an den nächsten Morgen denkst, nicht an die bevorstehende Nacht, weil du dir nichts sehnlicher wünschst, als ihr Lächeln zu sehen, noch bevor du dir den Schlaf aus den Augen reibst.

Doch was taten wir als junge Burschen: Wir suchten.

Unsere ganze Jugend haben wir damit verbracht, uns einzureden, dass wir nur wegen der Kumpels abends rausgehen, für den Rausch und die Musik. Für den Geruch von Trockeneis, der uns die Sinne benebelte, und den Geschmack von Bier, der uns spätestens nach Mitternacht fahl auf der Zunge lag. Wir quetschen uns die Pickel aus, schmierten Gel in die Haare und rasierten den Flaum über der Oberlippe ab. Wir kramten die beste Unterhose aus dem Schrank, man weiß ja nie. Stunden später zappelten wir in der Hip-Hop-Area, weil da die schnieken Mädels feierten, dabei hassten wir Hip-Hop. Aber welches Mädchen stand schon auf Typen, die auf die Backstreet Boys abgingen? Möge doch bitte endlich das Glück um die Ecke tänzeln! Und so zogen wir durch die Klubs – und die Nächte wie nicht eingelöste Versprechen an uns vorbei. Woche für Woche. Monat für Monat. Bis ein Teenagerleben später deine Mama vor mir stand. Und ich dieses Lächeln sah, ein leicht alkoholisiertes, und ich nichts mehr wollte, als am nächsten Morgen neben ihr und ihrem Kater aufzuwachen.

»Woher kennst du derart hübsche Frauen?«, fragte ich meinen Vermieter, der mich an den kantigen Türstehern vorbei in diese Kleinstadtdisco schleppte. Noch vor der Garderobe war ihm diese atemberaubend schöne Frau um den Hals gefallen: Ihr graziler Körper steckte in High Heels, einer Leggins mit Blumenmuster und einem hautfarbenen Shirt, das sie wenig später wegwarf, weil es damals schon kaputt war. Die braunen, schulterlangen Haare hatte sie zum Dutt frisiert.

Christoph, dessen Eltern die 20-Personen-WG gehörte, in der ich wohnte und der selbst dort lebte, gab mir eine Antwort, die mich nicht überraschte: »Die sieht nicht nur super aus, die ist sogar wahnsinnig nett!« Attraktive Frauen stehen aus unerklärlichen Gründen immer unter Verdacht, hochnäsige Zicken zu sein. Nach der flüchtigen Begegnung an der Garderobe schloss ich das für sie aber aus. Sieben Stunden später verließen sie und ich den Tanztempel, spazierten am Rheinufer entlang und schauten in den Nachthimmel, in dem die Sterne nur für uns zu leuchten schienen. So fing sie an, die Geschichte unserer zukünftigen kleinen Familie, deine Geschichte.

Das Warten auf ein Kind lässt sich, wie ich in meinem Freundeskreis feststellte, in verschiedene Phasen unterteilen:

Mein Kumpel Lukas, den wir alle nur Lou nennen, war in Phase eins. Er hatte gerade geheiratet. Nun sollte ein Baby her. »Das Schönste am Kinderkriegen ist das freie Training«, gackerte Lou und stieß mir mit seinem Ellenbogen jovial in die Seite.

Mein Freund Lars war in Phase zwei. Er steckte seit zwölf Wochen im freien Training fest. Als wir Teenager waren, haben wir auch das Warten auf das richtige Mädchen gemeinsam durchgemacht, doch irgendwie schien er mir damals entspannter: Nun erzählte er mir, dass er sich gerade im Internet darüber informiert habe, wie man die fruchtbaren Tage errechnet. Sollte ich auch mal machen, sagte er. Seine Frau glaube auch zu wissen, dass die Wärme des Laptops seine Samenzellen abtöte. Seit sie das gelesen hat, dürfe er seinen Laptop nicht mehr auf seinen Schoß stellen, während er im Internet surft. Einen Essensplan habe er von ihr auch bekommen. Einen Essensplan, fragte ich irritiert. Ich hörte durchs Telefon, wie sich Lars mit einem sanften Altersstöhnen aus seiner Liegeposition hochwand, als wollte er einen Vortrag halten: Um schwanger zu werden, erklärte er mir, brauche es vor allem B-Vitamine, Betacarotin, die Vitamine C und E sowie Selen und Zink. Das fördere die Sexualhormone und unterstütze die Ei- und Samenzellen dabei zu reifen. Außerdem brauche es eine ausreichende Jodversorgung.

Meine Freundin Larissa und ihr Mann Timo befanden sich in Phase drei. Timo wollte neulich beim Frühstück von ihr wissen, welche Lebensmittel viel Jod enthalten. Ich fragte, ob Timo zufällig meinen Kumpel Lars kenne. Larissa sah mich nur verdutzt an. Ich winkte ab. Gestern habe ihr Mann nun auch noch den Vorschlag gemacht, zusammen in ein Romantikhotel zu fahren. Was soll das bringen, fragte ich. Na ja, Fußballer fahren ja vor der Saison auch in ein Trainingslager, um sich nur auf sich und das große Ziel zu fokussieren, soll er gesagt haben. Ich fand das einleuchtend und erkundigte mich, ob Timo vielleicht zufällig meinen Kumpel Lou kenne, und winkte diesmal schon vor ihrer Antwort ab.

Sollte ich Phase vier jemals erreichen, würde ich Lou für seinen blöden Spruch einen positiven Schwangerschaftstest per Post schicken. Anonym, versteht sich. Ich werde, um sicherzugehen, einen kleinen Zettel beilegen: »Wegen des Unterhalts melde ich mich dann. Kuss G.«

Von Phase fünf habe ich vor ein paar Monaten im Spiegel gelesen. Dort stand, dass jedes siebte Paar in Deutschland ungewollt kinderlos ist. Das sind etwa eine Million Paare. EINE MILLION! Ich konnte die Zahl kaum glauben.

Die Kinderwunschzentren platzen deshalb aus allen Nähten, im Schnitt sitzt dem Magazin zufolge in jeder Schulklasse ein Kind, das sein Leben der Reproduktionsmedizin zu verdanken hat. Dabei ist auch das Geschäft der Babymacher kein Garantieschein: Die Wahrscheinlichkeit, nach dem Sex mit dem zeugungsfähigen Partner schwanger zu werden, liegt in der Natur bei rund 21 Prozent, im Kinderwunschzentrum bei rund 39 Prozent. Etwa bei der Hälfte kommt am Ende ein Baby zur Welt. Die Chance lassen sich die Paare pro künstlichem Befruchtungsversuch 2500 Euro kosten, die gleiche Summe übernimmt bei den ersten drei Versuchen die Krankenkasse.

Natürlich wärst auch du mir das Geld wert. Kein Auto, kein Urlaub, kein Schmuck könnte je diese Gier in mir auslösen. Diese Gier nach Zukunft, die Gier nach dir, nicht obwohl, sondern weil ich weiß, dass du nicht mir, sondern nur dir selbst gehörst und dich eines Tages aus dem Staub machst. Du sollst nur wissen: Wunder geschehen nicht auf Knopfdruck, man kann sie nicht erzwingen. Sie geschehen, wenn die Zeit reif ist. Wann das so weit ist, fragst du? Ich finde, Albert Einstein hat darauf mal eine treffende Antwort gegeben: »Es gibt nur zwei Arten zu leben. Entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder.«

Natürlich haben auch wir uns unsere Gedanken gemacht. Doch angesichts des Leids so vieler Menschen, von dem ich vorher nichts ahnte, schäme ich mich für jeden Zweifel, der in letzter Zeit über mich gekommen ist. Das Problem ist nur: Man weiß nie, zu welcher Gruppe man gehört, zu den Ungeduldigen oder den Unfruchtbaren. Aber will man das wirklich wissen? Gehört es nicht dazu, überrascht zu sein, wenn das Glück plötzlich um die Ecke biegt?

Wir haben uns dazu entschieden, uns nicht kirre zu machen. Wir warten weiter aufs Happy End. Ob die Story wieder so gut ausgeht wie damals, mit der Frau und dem leicht alkoholisierten Lächeln? Ob auch du eines Tages Hip-Hop tanzt?

 

Dein Papa

[home]

Die heiße Phase

Über die Liebe

Liebes Kind,

ich schreibe dir aus einem Romantikhotel im Harz, in das Mama und ich vorgestern gefahren sind. Den Frühstücksraum teilen wir uns hier ausschließlich mit Menschen, die dem Sterben näher sind als dem Gebären. Aber was erwartet man auch vom Harz? Nun wandern wir auf den Brocken, flanieren durch Quedlinburg, besuchen Glasbläsereien und sehen uns an bezaubernden Fachwerkhäusern blind. Wir haben beschlossen, Larissa und Timo keine Postkarte zu schicken.

Ich bin gestern 33 Jahre alt geworden, und damit ging ein Jahr zu Ende, das wahnsinnig aufregend war. Der beste Tag des Jahres: Ich habe deine Mama geheiratet. Viele behaupten, das sei der schönste Tag im Leben. Aber wie soll das gehen, wenn du noch gar nicht da warst?

Du wirst dir nur schwer vorstellen können, dass es eine Zeit gab, in der Mama und ich keinen Ehering trugen, sondern nur Flausen im Kopf hatten. Dabei waren wir doch gerade selbst noch Kinder. Verantwortung übernehmen hieß eben noch, das Tamagotchi zu füttern, bevor es verhungert. Ich kaufte mir nach Schulschluss saure Pommes und Fußballsammelkarten am Kiosk, und es war mir egal, wenn ich dadurch den Bus verpasste. Warten war okay. Ich hatte das ganze Leben ja noch vor mir. Ich trug eine Helly-Hanson-Jacke, hörte die Backstreet Boys, spielte Gameboy und trank Ahoi-Brause. Ja, die Neunziger waren trashig, aber es waren unsere Neunziger, so wie die 2020er deine Zwanziger sein werden. Nur ohne »I’ve been looking for freedom« und Wolfang Petrys längster Single der Welt.

Aber was mache ich mich eigentlich so verrückt? Seit 200000 Jahren zeugen die Menschen Kinder und ziehen sie groß. Selbst Adam und Eva haben das hinbekommen, und ich schätze, dass es da noch keine Erziehungsratgeber gab. Was vielleicht aber auch dazu führte, dass ihr Sohn Kain seinen jüngeren Bruder Abel erschlagen hat. Da haben wir es schon: Wie erziehe ich dich, was erzähle ich dir, was lebe ich dir vor, damit du nicht irgendwann deine Geschwister umbringst?

Ich frage bei Gelegenheit mal deinen Opa. Der hat mir vor nicht allzu langer Zeit selbst noch gesagt, wo es langgeht. Nein, keine Taschengelderhöhung! Kleb den Popel nicht unter die Esstischplatte! Und wehe, du schaust noch einmal heimlich Eis am Stiel! Vermutlich wird er sagen: Wenn du dein Kind liebst, geht der Rest von allein. Natürlich werde ich dich mit Liebe überschütten, mit dir kuscheln, dir den Rücken kraulen, dir zuhören und dir die Hand halten, wenn deine Zähne zu wachsen beginnen. Als wäre das eine Frage. Aber wird das ausreichen? Ist Liebe der Generalschlüssel?

Mit der Liebe ist es ja ein wenig kompliziert. Mit acht Jahren dachte ich, dass ich krank wäre, weil es in meinem Bauch kribbelte und mein Herz lauter klopfte als sonst, nur weil SIE da war. Wir ließen in meinem Kinderzimmer die Rollläden herunter und knipsten das Licht aus. Wir tasteten nacheinander, berührten unsere Gesichter, hielten uns wie zufällig an der Hand und taten so, als hätten wir uns versehentlich den Lippen des anderen genähert. Wir kicherten, verstummten – und kicherten weiter. Der erste Kuss war eine verschämte Berührung. Natürlich ohne Zunge! Die Zunge hatten wir damals nur, um sie anderen herauszustrecken. Wir waren Kinder. Ich verbrachte viel Zeit mit ihr. Nur samstags nicht. Da liefen Knight Rider und Das A-Team. Ich träumte von ihr, aber noch mehr davon, eines Tages ein sprechendes Auto zu haben oder zumindest einen Freund wie Hannibal. Liebe, das war das, was wir für unsere Eltern empfanden.

Und dann war er da, der Drang, sich abzunabeln, zu lieben und geliebt zu werden. Als ich eines Tages zu wissen glaubte, was Liebe ist, sagte deine Uroma zu mir: »Von einem schönen Teller allein wird man nicht satt.« Ich war Mitte 20 und wohnte mit einer Frau zusammen, die zwar gut aussah, mir aber nicht guttat – so zumindest sehe ich das heute. Sie verdrehte die Augen, wenn ich ihr von meinen Träumen erzählte. Ich glaube, dass sie mir meine Flausen austreiben wollte, dass sie »Ich liebe dich« sagte und eigentlich »Ich liebe dich, wenn du dich änderst« meinte. Deine Uroma hatte dafür ein Gespür. Sie war eine kleine Frau mit lockigen grauen Haaren, die Zeit ihres Lebens kochte, backte, nähte, putzte und Opas Rente zusammenhielt, eine moderne Frau der 60er-Jahre. Ich verbrachte die Vormittage meiner Kindheit bei ihr und Opa, weil meine Eltern arbeiteten. Und obwohl die Zechensiedlung einer Ruhrgebietsstadt nicht die Heimat der Sorglosen war, sah ich meine Oma nie weinen. Bis zu diesem Tag, als sie mich mit der Schöne-Teller-Metapher wachrütteln wollte. So richtig half es nicht.

Ein halbes Jahr später starb sie. Sie hinterließ mir ein Ausfüllbuch, das ich ihr mal geschenkt hatte und in dem sie aus ihrem Leben erzählen konnte. Sie schrieb die letzten Seiten noch im Sterbebett voll. Ja, so war sie: erst die Familie, dann die anderen. Selbst dann, wenn der Tod der Fremde war, der vor der Tür stand. Ein paar Tage später blätterte ich in dem Buch. Auf einer der hintersten Seiten wurde sie vom Buch aufgefordert, eine Weisheit niederzuschreiben, die sie ihrem Enkel mit auf den Lebensweg geben will. Du ahnst, welche sie dort nannte. Sie war ihr Vermächtnis an mich.

Ich habe mich nach dem Lesen gefragt, was eigentlich der Unterschied zwischen Liebe und Gewohnheit ist. Bleibe ich wegen der gemeinsamen Wohnung bei meiner Freundin, weil es bequemer ist, als neu anzufangen und mich irgendwann wieder neu erklären zu müssen, warum ich meine Träume nicht ignorieren will wie einen leichten Husten? Oder bleibe ich, weil ich mir keinen anderen Ort vorstellen kann, an dem ich lieber wäre als bei ihr? Ich dachte mehrere Wochen darüber nach. Dann zog ich aus.

Auch ohne Omas Rat wäre ich heute wahrscheinlich nicht mehr mit der Frau zusammen. Aber wäre ich womöglich noch länger geblieben? Ich wäre dann sicher nicht ins Rheinland gezogen. Ich wäre nicht an diesem Freitag im Mai in die Diskothek gegangen. Ich hätte dort nicht deine Mama getroffen. Ich wäre heute nicht mit ihr verheiratet. Und du stündest nicht in den Startlöchern. Tust du doch, oder?

Ich bedaure sehr, dass du deine Uroma nicht mehr kennenlernen wirst. Aber du wirst sie spüren, ohne es zu merken. Sie ist in dir. In mir. Und du – ich sowieso – wirst instinktiv darauf achtgeben, nie auf schöne Teller hereinzufallen!

Und sollte es doch mal geschehen, sei bitte fair zu dir selbst. Man lernt nie aus. Selbst Papas lernen täglich dazu. Du wirst auch meinen Blick auf die Liebe verändern, sanft und unaufhörlich. Du wirst zunächst mein Herz erobern, es zu deinem Territorium erklären und dich darin breitmachen. Du wirst Pflöcke einschlagen, anfangs für jedes zahnlose Lachen einen, später mit jedem Bild, das du malst, und jedem Satz, den du sagst. Und eines Tages wirst du einen Teil meines Herzens wieder freigeben und ein weiteres erobern, jedenfalls dann, wenn dein Glück um die Ecke tänzelt. Die Spuren, die du in meinem hinterlässt, bleiben. Denn Liebe ist kein Land, das man ausrauben kann und geplündert zurücklässt. Liebe ist eine Reise an den schönsten Ort der Welt, der mit jedem Reisenden, der ihn erreicht, immer schöner wird.

Ich ende an dieser Stelle. Deine Mama meint, die Wirkung des Romantikhotels sei nicht zu überlesen. In diesem Sinne: Auf die Romantik! Auf die Liebe! Auf den Tag, an dem du mich eroberst!

 

Dein Papa

[home]

Schwangerschaftswoche 4

Über die Stadt und das Land

Mein liebes Kind,

wir sind wieder zurück aus dem Harz, zurück in unserer Hamburger Wohnung, die sich mit ihren 65 Quadratmetern und der sechsspurigen Hauptstraße davor noch beengter anfühlt als vor den Tagen. Der Harz ist so etwas wie die Schallplatte: Die war auch mal total hip, dann völlig out und wird nun von ein paar Liebhabern wiederentdeckt. Wenn der Harz also eine Schallplatte ist, dann ist Hamburg Spotify. Hier geht alles – und noch viel mehr!

Dort, wo alles geht, wollen alle hin. Und wo alle hinwollen, wird es meist eng und teuer. Massenmenschhaltung, sagt dein Opa, ein Bauer, dazu. Wären wir Schweine, stünden längst schon Umweltaktivisten vor unserer Haustür und würden uns in einer Nacht-und-Nebelaktion befreien, spottete er mal. Landwirte-Humor! Der hat auch leicht reden: Er lebt auf seinem Bauernhof in Schleswig-Holstein mit mehr als 300 Quadratmetern Wohnfläche, gigantisch großem Garten, einer Koppel, auf der zwei Pferde grasen, und einem Teich, der als See durchgehen könnte. Auf dem Hof haben sich ein als Genossenschaft geführter Bioladen und ein Imker niedergelassen, in einer großen Halle lagert Getreide. Der Unterschied zu unserem Leben in Hamburg könnte nicht gewaltiger sein. Wir zahlen fast tausend Euro für unseren warmen Stall, pardon, unsere Wohnung mit zwei Balkonen, von denen wir einen nicht benutzen können, weil man dort innerhalb weniger Minuten entweder vom Autolärm schwerhörig werden oder durch den Feinstaub ersticken würde. Der andere ist so klein wie zwei Umzugskartons.

Auf dem sitze ich gerade und lasse aus Platzmangel meine Füße über das Geländer baumeln. Trotz der Enge ist dies ein schöner Ort, um einen Brief an dich zu schreiben. Wenn ich über den Laptop hinwegschiele, sehe ich das Kontrastprogramm von dem, was ich sehe, wenn ich morgens aus dem Haus gehe: Denn während vor dem Klinkerbau die raue Großstadt tobt, Pendler hupen und Radfahrer schimpfen, hat sich dahinter die Pracht der Jahreszeiten eingenistet, Bäume, Eichhörnchen, Vögel, eine unschätzbare Ruhe, die so überraschend kommt wie Kühe im Ruhrgebiet.

Eine Großtante von mir, die auf einem Bauernhof in Bayern arbeitete, besuchte uns vor 25 Jahren mal in Oberhausen, einer Stadt mitten im Pott. Wir holten sie vom Bahnhof ab, und auf dem Weg zu uns kamen wir an einer grünen Weide vorbei. Ich habe keine Ahnung, was sie bei uns erwartet hatte – vielleicht rauchende Schlote, rußbedeckte Tischdecken über der Wäscheleine, Menschen mit Kohlestaub im Gesicht? –, jedenfalls rief sie auf einmal völlig ekstatisch: »Ja, mei, hier gibt’s ja Kühe!« Meine Eltern beruhigten sie und sagten, dass die nur sonntags aus Bayern eingeflogen werden, wenn die Zechen geschlossen haben und die Bergleute mal Natur erleben wollen. Wir lachten, die Großtante guckte etwas schief. Ich glaube, sie hielt das für bare Münze.

Ich schreibe diese Sätze und bin mit den Gedanken doch nicht ganz bei der Sache. Ich warte auf deine Mama, die eigentlich jeden Moment von der Arbeit kommen müsste. Ich habe eben einen Schwangerschaftstest gekauft. Seit vier Tagen stelle ich Mama immer dieselbe Frage, wenn sie morgens frisch geduscht aus dem Bad kommt: Und, hast du sie? Deine Tage? Heute Morgen genügte bereits ein vielsagender Blick: Und? Seit sechs Tagen lautet die Antwort: Nein. Vier Tage überfällig. Das kann Zufall sein. Das kann aber auch der Anfang von allem sein. Ich bin aufgeregt.

Eben noch stand ich im Drogeriemarkt bei uns gegenüber. Ich fühlte mich wie damals, als ich zum ersten Mal Kondome kaufte. Man denkt, der ganze Laden starrt einen an. Man wird unfreiwillig zum Gedankenleser: Ach, der junge Mann hat heute Nacht etwas vor! Aha. Soso. Man fühlt sich nackt, ausgezogen von der Fantasie der anderen, die doch nur die eigene ist. 15 Jahre später liegt nun dieser Test auf dem Laufband der Kassiererin, und ich meine, in ihrem »Haben Sie eine Kundenkarte« unterschwellig den Satz gehört zu haben: Ach, der junge Mann hatte also vor ein paar Wochen etwas vor! Aha. Soso.

»7,80