Mnemophobia - Kaja Bergmann - E-Book

Mnemophobia E-Book

Kaja Bergmann

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Beschreibung

Nemo, 20 Jahre alt, verschanzt sich in einem Leuchtturm an der Nordsee. Für ihn ist die Welt schwarz geworden an jenem Tag, an dem er einen Autounfall verursachte: Nemo verlor sein Augenlicht, seine Freundin Merle saß mit ihm im Wagen … Nichts will er mehr, als zu vergessen, die schmerzhaften Erinnerungen an den Unfall zu verdrängen. Merle, der Kater Casper, seine Freunde Darius und Luna - um sie kreist Nemo. Und dann ist Luna tot … Der neue All-Age-Thriller von Kaja Bergmann für Leser ab 14 Jahren - mit unerwarteten Wendungen, spannend bis zur letzten Seite!

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Seitenzahl: 157

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Kaja Bergmann

Mnemophobia

Thriller

EDITION 211

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2015 by EDITION 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Eva Weigl

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-058-7

www.bookspot.de

Zitat

Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich.

Prolog

Obwohl meine Fingerknöchel bereits bluteten, schlug ich weiter zu. Schlug auf die Erinnerung ein und hoffte, sie durch meine rohe Gewalt vertreiben zu können. Wollte sie nicht in meinem Kopf, nicht meine Gedanken durchwühlen und zerrütten, nicht meinen Geist lähmen und nicht meine Angst ködern lassen. Nicht.

»Hau ab!«, schrie ich wie von Sinnen und schlug weiter, ein matschiges, kleines Häufchen Elend unter meinen weiß-roten Fäusten. Ein Häufchen Erinnerung. Zusammengesunken und triefend im Nebel, leblos und doch gefährlich. Bloß nicht ins Gesicht sehen. Einfach weiterschlagen.

»Raus aus meinem Kopf!« Meine Stimme, kratzend irgendwo zwischen Wahnsinn und Realität. Ist es nicht ein und dasselbe? Schon immer gewesen?

»Kann nicht … will dich nicht … ertragen …«

Mein Gesicht kalt und nass, kleine, romantisch plätschernde Gebirgsbächlein auf meinen Wangen. Meine Fäuste hart und verkrampft, wären sie nicht voll Blut, die Knöchel träten weiß hervor.

Ich schlug weiter, immer weiter, prügelte jegliche Regung aus der Erinnerungsleiche heraus, wollte nicht daran denken, nie mehr denken, keine Vergangenheit, keine Zukunft, kein Jetzt.

Ein letzter Schlag noch, dann sank ich kraftlos zusammen, das Leben wich kurz aus mir und vereinigte sich mit dem der Erinnerung zu einem letzten Tanz. Tanzen ist okay, tanzen, aber nicht erinnern. Nie wieder.

Sonntag, 2. November 2014, 16:04 Uhr

Meine Finger verkrampften sich so stark um das nasskalte Geländer, dass ich Angst bekam, sie würden zerbrechen. Ein kurzes Klirren, ein schmerzhaftes Reißen, und sie zerstöben in alle Himmelsrichtungen. Der Nordseewind trüge sie davon, eine leise Melodie auf den Lippen und die Splitter meiner Finger in den Händen. Dann ließe er sie fallen, mitten in die tosende, eisige See, das Salz würde sie langsam zersetzen, würde es weh tun, so weit entfernt von meinem Körper?

Eine leichte Berührung an meiner Wange. Ich zuckte zusammen, ganz kurz nur, der Finger war kalt.

Nemo, malte der Finger, lass uns gehen. Merle nahm meine verkrampfte Hand und zog sie mit sich, weg vom kalten Geländer und den rauschenden Wellen, die sanfte Spritzer auf meinen Wangen hinterließen. Ein zarter Finger wischte sie fort.

Sonntag, 2. November 2014, 18:05 Uhr

Die Farbe roch irgendwie vergammelt. Wie lange hatte ich sie nicht mehr benutzt? Haben Farben ein Verfallsdatum? Komisch, dass ich sie so oft gesehen, so oft ausgequetscht und auf der Leinwand verschmiert hatte, ohne je darauf zu achten, wann sie verfielen. Ob sie verfielen. Egal. Nicht nachdenken. Malen.

Ich griff neben mich, ertastete einen kleinen, sehr schmalen Haarpinsel. Stärke 1 vermutlich. Höchstens. Meine Palette lag auf dem winzigen Beistelltisch rechts von mir, wie immer wackelte er ein wenig, als ich mich auf ihm abstützte und auf die Farbtube drückte. Ich nahm die Palette in die Hand, führte meinen Pinsel dorthin, wo ich den Klecks vermutete und strich sacht über die Leinwand. Eine Spirale. Ging in sanfte Wellenlinien über. Irgendwo, weit draußen in meinen Gedanken. Schlugen sich nieder. Welche Farbe? Egal. Ich spürte Wellen, spürte sie tief in mir und musste sie nach außen kehren. Einfach malen, nicht nachdenken, bloß nicht nachdenken, einfach malen.

Eine Berührung. Ich zuckte zusammen, verschmierte die weichen Wellenlinien zu mörderischen Ecken und hob den Kopf. Merle strich mir sanft über die Augenbinde, ihr Finger hielt auf meinen geschlossenen Lidern. Sie zögerte einen Moment, der Finger verweilte kurz, ein leichter, kaum merklicher Druck. Dann war er plötzlich fort, war wieder da, an meinem Arm, wanderte über meinen Pullover nach unten und schrieb Nass auf meinen Handrücken.

»Natürlich bin ich nass«, murmelte ich leise. »Ich stand eben drei Stunden lang im Regen.«

Zieh dich um, zeichnete Merle. Du zitterst.

»Tu ich nicht.« Mein Pullover triefte, mein T-Shirt auch, und meine Haut darunter fühlte sich eisig an. Kalte Tropfen perlten an meiner Brust hinab, sickerten aus meinen Haaren und landeten auf dem Boden. Konnte sie aufkommen hören. Platsch.

Merles Finger blieb beharrlich. Doch.

Ich schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. »Nein«, erwiderte ich mit bebender Unterlippe.

Doch.

Ich lächelte, nahm ihre Hand und zog sie zu mir heran. Sie war ganz warm, warm und trocken, wie war das möglich? Obwohl ich fürchtete, sie zu durchnässen, ließ ich nicht los, schlang meine Arme um ihren Rücken und presste mich so dicht an sie, dass ich ihren Herzschlag hören konnte. Er spielte in einem zauberhaften Duett, bildete einen gleichmäßigen Grundschlag zu den auf den Boden fallenden Tropfen.

»Okay«, flüsterte ich und musste schlucken. »Okay, ich hol einen trockenen Pullover.«

Widerstrebend löste ich mich von ihr, stand ein paar Augenblicke lang da, einfach nur – da. Zögerte. Im Zögern war ich gut. Schon immer gewesen. Meine Gedanken sperrten sich, ich wollte ihre Hand nicht loslassen. Nie wieder. Aber schließlich tat ich es doch. Ließ sie los und taumelte aus dem Raum, tastete mich die Treppe hinauf in mein Zimmer, an den Kleiderschrank. Meine Hände glitten fahrig über das spröde Holz, fanden den Griff nicht, wohin war er plötzlich verschwunden? Noch einen Versuch, ich hatte keine Lust auf Verstecken, seit drei Monaten versteckte sich alles vor mir, die Welt, die Farben und – Merle. Warum auch Merle? Endlich fand ich den verdammten Griff, meine Finger zitterten so stark, dass ich schon fürchtete, ihn nicht drehen zu können, doch es gelang. Ich streifte mir den triefenden Pullover über den Kopf und zog die Augenbinde runter. Mit geschlossenen Lidern tastete ich nach einer neuen, sie musste im Fach direkt vor mir sein. Tatsächlich. Sie lag dort und versteckte sich nicht, wartete treuherzig und schmiegte sich zart in meine Hand. Ich nahm sie aus dem Schrank, wischte mir über das nasse Gesicht und band den Stoff vor meine Augen. Und plötzlich war die Welt wieder warm, warm und trocken. Grausam.

Erste Erinnerung

Die Welt schwarz. Plötzlich war sie schwarz, obwohl ich wusste, dass ich nicht mehr ohnmächtig war. Doch die Dunkelheit blieb.

»Wo bin ich?« Meine Stimme rau und fern. Hinterließ blutige Spuren in meinem Hals.

»Nemo … Du bist im Krankenhaus.«

Krankenhaus? Warum war ich im Krankenhaus?

»Ich kann nichts sehen.«

»Ich weiß.«

»Bist du das, Luna?« Meine Stimme wollte nicht sprechen. Ich zwang sie trotzdem. Manchmal war Härte der einzige Weg. Später wirst du mir dankbar sein.

»Was ist passiert?«

»Du hattest einen Unfall.«

»Wo ist Merle?«

Ich hörte nicht mehr, was Luna antwortete, denn in diesem Moment legte sich eine warme Hand in meine. Ein sanfter Finger malte mir einHauf den Handrücken. Dann einI. E. R. Hier.

»Merle, warum sagst du nichts?«

Kann nicht.

Und da begriff ich. Ein Gedanke räusperte sich in meinem Kopf und sagte in einer typisch arroganten, allwissenden Erzählhaltung: »Und das war der Unfall, durch den Nemo sein Augenlicht und Merle ihre Stimme verlor.«

Mein Schrei schaffte es, mich zu betäuben …STOP!

Montag, 3. November 2014, 02:14 Uhr

Das Tosen der Wellen war ohrenbetäubend. Laut, so wunderbar laut, übertönte meine Gedanken und paralysierte mein abartig gutes Gehör. Klasse. Nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nicht mehr denken. Bloß nicht mehr denken. Keine Erinnerungen mehr, einfach hier stehen und springen, vielleicht springen.

Vorsichtig kletterte ich über das glitschige Geländer, stellte mich auf die andere Seite und fühlte, wie es sich hart in meinen Rücken presste. So hart, wollte mich von meinem erbärmlichen Absatz stoßen. Gut, von mir aus.

Ich genoss den Wind, der mir salzige Tropfen ins Gesicht spuckte, genoss, wie er durch meine Haare fuhr und wie ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Noch hielten meine Hände fest, wollten leben und hatten sich wie ein Schraubstock um das Geländer geklammert. Sie würden noch loslassen. Früher oder später würden sie loslassen.

Ich scheiterte daran, den Gedanken zu verdrängen, dass ich wahrscheinlich gerade aussah wie Kate Winslet, mit dem Rücken am Geländer stehend, den Kopf nach unten gesenkt, bereit zu springen. Nur, dass ich die Wellen nicht sehen konnte. Gut, Kate mit Sicherheit auch nicht, wahrscheinlich sah sie nur einen grünen Fußboden, der in eine grüne Wand mündete. Und vor all dem Grün ein unscheinbares Geländer. Ich hatte nur das. Und eine Menge Schwarz. Kein Grün. Nie gehabt. Dafür war ich wirklich bereit, zu springen.

Meine linke Hand löste sich vom Metall, schwebte steif in der Luft. Der Wind zog mich aufs Meer, riss an meinen Kleidern, Salzkörnchen verfingen sich in meinen Haaren, die Luft schmeckte nach Leben.

»Nemo? Scheiße, Nemo, was tust du denn da?«

Ich verlor das Gleichgewicht, stürzte, hing nur noch mit einer Hand am Geländer. Ein breites Lächeln umspielte meine Lippen, gleich war es vorbei, keine Gedanken mehr, keine Erinnerungen, kein Leben. Endlich. Gleich würde ich wieder sehen.

Gerade, als meine rechte Hand den Schmerzen nachgab, trotzig ihre Finger löste, gerade, als ich mich freute, freute auf ein Ende, als ich kurz davor war, zu fallen – gerade da schlossen sich zwei Hände um meinen Unterarm.

»Nemo, was soll der Scheiß?!« Die Stimme ächzte, zu viel Anstrengung, mein Körper wollte nicht mehr hinauf. Doch der Stimmenträger kannte kein Erbarmen, zerrte mich nach oben, fort von den tosenden Wellen, fort von dem Wind, hinein ins schmerzende, traurige Leben. Irgendwie ging es viel zu leicht. Der Stimmenträger war zu stark, ich hatte keine Chance. Kälte und Erstaunen ließen mich erstarren und hilflos musste ich zusehen (haha!), wie er mich über das Geländer hievte und ich unsanft auf ihn fiel. Und Leben in mich zurückkehrte. Schade.

Montag, 3. November 2014, 02:19 Uhr

»Warum hast du das gemacht?!«, schrie ich und schlug wild um mich, traf etwas Weiches, das unter mir lag. Ein Stöhnen drang herauf, griff mit voller Wucht mein Gewissen an, doch das hielt stand. Ich holte aus und wollte erneut zuschlagen, da wurde plötzlich meine Hand abgefangen. Nicht gerade behutsam, leider.

»Hey, lass die Scheiße!« Während sich Darius hochrappelte, hielt er mein Handgelenk fest umschlossen, zwang mich somit ebenfalls auf die Beine, und auch als ich stand, ließ er nicht los.

»Warum hast du das gemacht?!«, schrie er, der Regen peitschte mir weitere Tropfen ins Gesicht, als wäre ich nicht nass genug.

»Ich?«, rief ich zurück. »Warum DU?«

»Du bist ein Vollidiot!« Darius war tatsächlich wütend. »Du solltest ’ne Therapie machen, ganz ehrlich!«

Er schüttelte mich, ließ mein Handgelenk los. Endlich. Doch ich konnte mit der plötzlich neu gewonnenen Freiheit nicht umgehen und stolperte nach hinten, fiel auf die Erde, spürte das nasse Gras in meinem Rücken und fing an zu schluchzen. Kam mir unglaublich schwach vor, zu schwach, um zu leben, zu schwach, um mich umzubringen. Was für ein Glück, dass ich meine Tränen nicht sehen konnte. Und Darius wahrscheinlich auch nicht, denn der Regen auf meinen Wangen tarnte sie. Juhu.

Ich hörte, wie sich Darius neben mich kniete und fühlte seine unbeholfene Hand auf meiner Schulter. »Tut mir leid«, sagte er leise. »Aber warum machst du denn so was?«

»Warum wohl?«, meine Stimme zitterte erbärmlich. »Es ist alles meine Schuld! Ich kann nicht sehen, ich kann nicht leben und Merle …« Der Wind verschluckte die letzten Wortfetzen.

»Aber das ist doch … das ist doch keine Lösung«, sagte Darius vorsichtig.

»Klar, würde ich auch sagen, wenn ich du wäre!«, rief ich zwischen zwei Schluchzern. »Du kannst sehen, du kannst die Farben sehen und die Menschen, du hast deine Luna, ihr seid glücklich … Meine Welt ist schwarz, eigentlich bin ich sowieso schon so gut wie tot!«

Darius antwortete nicht, allerdings konnte ich ein ersticktes Husten hören. Unterdrückte er etwa gerade ein Lachen? Nein … oder?

»Tut mir leid.« Ich konnte ein verhaltenes Grinsen spüren. »Aber du bist einfach zu melodramatisch.«

»Freut mich, dass du das so lustig findest!«, rief ich wütend.

»Na ja, aber als ich dich eben über das Geländer gezogen habe … ich bin mir schon vorgekommen wie DiCaprio.« Er lachte leise.

Einen Moment lang stockte mir der Atem, dann fiel ich in sein Lachen ein. Muss ein komisches Bild gewesen sein: Zwei durchnässte, lachende Typen mitten in der Nacht auf einer stürmischen Landzunge, während sich vor ihnen die Nordsee auftürmt. Bauen wir einen Kamerakran und machen eine Aufnahme aus der Vogelperspektive!

Darius wurde als Erster wieder still. Einen Moment lang schwebte sein Lachen noch in der Luft, dann trug der Wind es davon, malte mit ihm ein paar Van-Gogh-Spiralen in den ewig schwarzen Himmel, und schließlich war sein Pinsel wieder trocken, die Farbe verblasst, das Lachen verklungen.

»Versprich mir, dass du das nicht noch mal versuchst«, sagte er ernst.

Ich seufzte. »Du weißt, das kann ich nicht.«

»Bitte. Denk an mich. Und an Luna. Wir würden uns ewig Vorwürfe machen, wenn wir es nicht verhindern könnten. Du bist ganz schön egoistisch, weißt du das?«

Ich lachte wieder. »Netter Versuch. Aber ich war schon immer Egoist, das weißt du doch.«

Darius nahm meine Hand. »Versprich es mir.«

Ich wandte ihm den Kopf zu und zog meine Hand langsam aus seiner.

»Nein«, sagte ich leise.

Seine Verzweiflung war nahezu greifbar. »Du hättest in den letzten Wochen mehr essen sollen, weißt du das?«, sagte er tonlos. »Vielleicht wäre es mir dann nicht so leicht gefallen, dich hochzuziehen.« Ich antwortete nicht, verschränkte meine Finger und zog die Arme auseinander. Diese Übung dehnt die obere Rücken- und Nackenmuskulatur.

»Was machst du eigentlich mitten in der Nacht hier?«, fragte ich endlich und sprach damit eine viel zu spät in mein Gehirn getrottete Frage aus, die herzhaft gähnte und sich schmatzend am Kopf kratzte.

»Ich suche Luna. Sie war übers Wochenende bei ihrer Familie, aber eigentlich wollte sie schon heute … äh, gestern Nachmittag da sein.«

»Es gibt so Dinger, die nennen sich Handys …«, erwiderte ich leise und versuchte, meinen Körper unter Kontrolle zu halten, der erneut beginnen wollte, zu zittern. Natürlich scheiterte ich. War ja nichts Neues.

»Scherzkeks.« Darius war nicht sauer. Schade. Vielleicht. »Sie geht nicht ran.«

»Und da rennst du mitten in der Nacht los und suchst sie? Hier?« Ich lachte laut auf. »Und du denkst, ich hätte ’nen Schaden!«

Ich spürte sein warmes Lächeln. Warum spürte ich so was? Bestimmt lächelte er gar nicht. Man konnte sich nie sicher sein. Ich konnte mir nie sicher sein.

»Kennst du das, wenn man vor lauter Müdigkeit nicht schlafen kann?«, fragte er ruhig. Die Melancholie in seiner Stimme verstärkte mein Zittern.

»Ja.« Jetzt lächelte ich auch. Wahrscheinlich. Auch da konnte ich nicht mehr sicher sein. »Ich wollte auch nicht schlafen.«

»Ach was. Ist ja ganz was Neues.« Darius rappelte sich auf, ich hörte neben mir das schmatzende Geräusch des erleichterten Grases und wusste, dass er nicht mehr auf ihm lag.

»Komm hoch.« Er griff nach meiner Hand, ich ließ mich bereitwillig von ihm auf die Beine ziehen. »Ich bring dich nach Hause.«

»Weil ich das ja selbst nicht finde.« Ich versuchte, nicht ganz so beleidigt zu klingen, wie ich mich fühlte und scheiterte auch hier. Toller Tag heute. Oder tolle Nacht.

»Ganz genau. Du könntest noch ins Meer fallen. Aus Versehen, natürlich.«

Darius legte mir den Arm um die Schultern und navigierte mich sanft fort vom Meer, zurück aufs Land, zurück ins dichter wuchernde Gras, auf den Deich und tiefer hinein in mein Leben.

»Mach dir nicht so viele Sorgen«, nuschelte ich, als wir auf dem alten Klinkerpfad angekommen waren.

Darius lachte nur traurig. Mein Gewissen verlor seine Standhaftigkeit, ihm wurde schlecht und es überschüttete mich mit Vorwürfen.

»Versuch ein wenig zu schlafen, ja?«, bat Darius müde. »Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.« Sein Arm löste sich von meiner Schulter.

Zitternd stand ich im Regen, hustete und rieb mir die Schläfen. »Haha, sehr lustig. ’Ne bessere Floskel ist dir nicht eingefallen? Macht Mut, wirklich!« Als keine Antwort kam, merkte ich, dass er schon längst in der Dunkelheit verschwunden war. Dunkelheit. Der immerwährende Zustand, der mich stets umfangen hielt und von der Welt trennte.

Zweite Erinnerung

Vielleicht hätte ich mir damals kein schwarzes Auto kaufen dürfen.

»Ist es noch weit?« Merles Stimme klang erschöpft, erschöpft und doch so wunderschön, nach zartem Glockenspiel und Leben. Wie immer.

»Das hast du schon vor fünf Minuten gefragt!«, lachte ich und sah kurz zu ihr hinüber. Sie saß erschöpft auf dem Beifahrersitz, ihre roten Locken klebten gelangweilt an der Stirn und auf ihren Sommersprossen glänzten winzige Schweißperlen. Sie blickte mir in die Augen, unter den langen Wimpern blitzte ein müdes, blaues Lächeln und ich musste mich beherrschen, um auf die Straße zu sehen, anstatt mich rüberzubeugen und sie zu küssen.

»Ich weiß …«, hauchte sie und ihre Stimme spielte e-Moll. Sie strich mir ein paar dunkle, lange Strähnen aus der Stirn und wieder fragte ich mich, warum ich nicht praktisch genug veranlagt war, endlich mal zum Friseur zu gehen.Auch Haare schneiden ist eine Form von Selbstverstümmelung.

Merles Kuss fühlte sich leicht an, leicht und ein bisschen matt. Wie ein lauer Windhauch an einem warmen Septembermorgen.

»Ich liebe dich«, murmelte sie leise.

Ich wollte etwas erwidern, etwas Nettes, Liebenswertes, etwas, das ihr erzählte, wie viel sie mir bedeutete. Doch die drückende Hitze senkte sich über mich, nahm mir die Luft zum Atmen. Ich versuchte zu schlucken, mein Hals fühlte sich rau und wund an. Als ich meine rechte Hand vom Lenkrad hob und mir über die Stirn fuhr, zeugte ein dunkler Fleck auf dem Gummibezug von der unerträglichen Hitze, die meine Sinne benebelte und meinen Körper austrocknete.

Die Luft wurde schwer, meine Gedanken wurden schwer, das Lenken wurde schwer und der Baum war hart. Zu hart und zu plötzlich für einen alten, schwarzen Polo.

Merles Schrei gellte in meinen Ohren, er erzählte von Überraschung und Schrecken. Mit weit aufgerissenen Augen saß ich in der ersten Reihe, vermisste die Tüte Popcorn auf meinem Schoß und sah zu, wie sich der Polo fast schon elegant vor dem Baum zusammenfaltete, wie Metallteile an der Scheibe vorbeiflogen und Scherben, wunderschöne, in der Sonne glitzernde Scherben, die sich einbildeten, sie seien Schmetterlinge.

Der Airbag erinnerte mich an ein sich selbst aufblasendes Schlauchboot, als Kind hatte ich immer davon geträumt, ich würde ihn einmal aufgehen sehen. Zehn Jahre später und ein Kindheitstraum ging in Erfüllung, Glück liegt manchmal verborgen in der Zeit.

Merles Haar ein roter Strich in der Landschaft, bildete mit dem Grün des Baumes einen hübschen Komplementärkontrast, rot auch das Blut …STOP!

Montag, 3. November 2014, 04:32 Uhr